3. KAPITEL

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Isobel endlich ein Taxi gefunden hatte. Nun saß sie auf der Rückbank und sehnte sich vor allem nach einer ausgiebigen Dusche. Zur Mittagszeit war es in Athen unerträglich heiß, und vielleicht würde sie mit dem Schweiß auch die Erinnerung an den beschämenden Vorfall fortspülen können.

Wenn sie aufblickte, sah sie, dass der Fahrer sie im Rückspiegel musterte. Offensichtlich hielt er sie für eine Prostituierte, die von einem Freier kam. Doch daraus konnte sie ihm nicht einmal einen Vorwurf machen, denn so ähnlich fühlte sie sich auch.

Wie konnte Leandros mir das nur antun?, fragte sie sich verzweifelt und drohte den Kampf gegen die Tränen endgültig zu verlieren – vor allem weil ihr schmerzlich bewusst war, dass sie nicht ganz unschuldig daran war. Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich leicht, sagte ein altes Sprichwort, und genau das war ihr widerfahren.

Unwillkürlich sah sie auf ihre rechte Hand, an der bis vor wenigen Minuten ihr Ehering gesteckt hatte. An das Gefühl, ihn nicht mehr zu tragen, würde sie sich erst noch gewöhnen müssen. Gleichzeitig wollte sie allerdings nichts weniger, als sich daran zu gewöhnen. Denn auch wenn Leandros sich unverzeihlich benommen hatte, musste sie sich in die bittere Erkenntnis fügen, dass sie diesen rücksichtslosen und sexbesessenen Kerl immer noch liebte.

Das war ihr klar, seit Lester Miles angedeutet hatte, dass Leandros sich scheiden lassen wollte, um Diantha Christophoros heiraten zu können. Fiel ihm denn wirklich nichts Besseres ein, als ihre Vorgängerin auch zu ihrer Nachfolgerin zu machen?

Ich hasse dich, verfluchte Isobel stumm den Mann, mit dem sie noch immer verheiratet war. Doch dass sie ihn liebte, entsprach genauso der Wahrheit. Und diese unselige Mischung aus Liebe und Hass zerrte mehr an ihren Nerven, als sie ertrug. So ging es ihr seit mittlerweile drei Jahren. Aber noch immer war sie nicht im Stande, die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen.

Als das Taxi endlich vor ihrem Hotel hielt, atmete sie erleichtert auf. Ohne sich um den befremdeten Blick des Portiers zu kümmern, ging sie auf direktem Weg zum Aufzug. Aus Pflichtgefühl klopfte sie zunächst an der Zimmertür ihrer Mutter. Zu ihrer großen Erleichterung erhielt sie keine Antwort. Offenbar hatten Silvia und Clive ihre Stadtrundfahrt noch nicht beendet.

Umso besser, dachte Isobel und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Als Erstes zog sie das Lederkostüm aus und nahm sich dabei fest vor, es nie wieder anzuziehen – und schon gar nicht bei dreißig Grad im Schatten!

Die Dusche hatte die erhoffte Wirkung, und als Isobel sich abtrocknete, waren ihr Stolz und ihr Selbstwertgefühl einigermaßen wiederhergestellt. Und falls sie je vergessen haben sollte, warum sie Leandros verlassen hatte, so hatte er ihr die Gründe nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Auf einen Mann, der lediglich seine Lust an ihr stillen wollte, konnte sie getrost verzichten. Und auf sein verdammtes Geld erst recht, ergänzte sie, als sie die weit geschnittene olivgrüne Baumwollhose und ein passendes T-Shirt anzog.

Sie würde die Scheidungsvereinbarung ungelesen unterschreiben und am Abend des nächsten Tages geschieden, aber glücklich nach London zurückkehren. Dann konnte Leandros Diantha heiraten und einen Sohn zeugen, der ihn eines Tages an der Spitze des Konzerns ablösen würde.

Zumindest legte Lesters Formulierung nahe, dass es Leandros in erster Linie darum ging, allen Erbschaftsstreitigkeiten vorzubeugen. Und dass er sich mit der Vaterrolle nur anfreundete, weil wirtschaftliche Überlegungen ihn dazu zwangen, kam für sie nicht überraschend.

Trotzdem konnte Isobel nicht verhindern, dass ihre Augen sich erneut mit Tränen füllten. Wie gern hätte sie Leandros nicht nur einen, sondern vier oder fünf Söhne und genauso viele Töchter geschenkt! Doch Leandros hatte keine Kinder gewollt – zumindest nicht von ihr. Offenbar schien ihm eine schwarzhaarige Schönheit aus einer der angesehensten Dynastien Griechenlands als Mutter seiner Kinder geeigneter als eine rothaarige Engländerin aus einfachen Verhältnissen, die seinen hohen Ansprüchen bestenfalls im Bett …

Der bloße Gedanke drohte Wunden in ihr aufzureißen, von denen sie geglaubt hatte, sie wären längst verheilt. Aus Angst, in der Enge ihres Hotelzimmers verrückt zu werden, beschloss Isobel, nach Piräus zu fahren und sich ziellos durch den Hafen treiben zu lassen.

In dem einen Jahr, das sie in Athen gelebt hatte, war sie häufig dort gewesen – und zwar ohne ihren Mann, der vor lauter Terminen nicht die Zeit fand, sich um sie zu kümmern. So war ihm völlig entgangen, dass sie die Stadt auf eigene Faust erkundete und dabei Eindrücke sammelte, die ihm und seiner Familie als Angehörige der Oberschicht zwangsläufig verborgen bleiben mussten.

Leandros hatte gerade den Motor seines Ferrari abgestellt, als die Hoteltür aufging und Isobel ins Freie trat. Einen Moment schien sie unschlüssig, welche Richtung sie einschlagen sollte. Schließlich setzte sie ihre Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg.

Auf den Weg wohin?, fragte sich Leandros, als er der gertenschlanken, anmutigen Gestalt nachsah, deren Pferdeschwanz bei jedem Schritt leicht wippte. Wie oft hatte er Isobel früher heimlich beobachtet, wenn sie die Villa auf dem Lykavittos mit unbekanntem Ziel verließ! Und wie damals trug sie jene Kleidung, die er, zunächst im Spaß, später im Ernst, ihren “Kampfanzug” genannt hatte. Die olivgrüne Baumwollhose hatte sie immer dann aus dem Schrank geholt, wenn sie nach einem Ehekrach Reißaus genommen hatte und stundenlang in der Stadt herumgezogen war, ohne ihm je zu erzählen, was sie dort gemacht hatte.

Doch er hatte nicht das Recht, sich zu beklagen, denn dass es in erschreckender Regelmäßigkeit zu heftigen Wortgefechten gekommen war, hatte er durch sein Verhalten heraufbeschworen. Jede Bitte Isobels hatte er als Zumutung empfunden und entsprechend ungehalten darauf reagiert, dass sie ihm kostbare Zeit stehlen wollte. Erst viel später hatte er begriffen, dass nicht Aufsässigkeit, sondern Einsamkeit sie aus dem Haus trieb.

Einem Impuls folgend, stieg Leandros aus dem knallroten Sportwagen und legte das Jackett und die Krawatte ab, um sich an Isobels Fersen zu heften.

Ein entsetzlicher Gedanke hielt ihn davon ab. Sicher war sie auf direktem Weg zu ihrem Geliebten gegangen und hatte ihm unter Tränen berichtet, in welchem Fiasko das Wiedersehen mit ihrem Ehemann geendet hatte. Möglicherweise hatte sich der neue Mann an ihrer Seite aber als genauso schlechter Zuhörer erwiesen wie der alte und auf ihren Kummer dieselbe Antwort gehabt. Die Vorstellung, dass Isobel direkt aus dem Bett dieses Muskelprotzes kam, drohte ihn um den Verstand zu bringen. Einen Moment erwog Leandros ernsthaft, ihre Abwesenheit zu nutzen, um sich ihren Liebhaber vorzuknöpfen.

Doch als sie um eine Häuserecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand, entschied er sich anders. Rache erforderte einen kühlen Kopf, und solange er rasend vor Eifersucht war, konnte er keinen klaren Gedanken fassen.

Isobel verließ die U-Bahn bereits eine Station vor dem Hafen und ging den restlichen Weg zu Fuß. Mit jedem Schritt legte sich ihre Anspannung, und als sie schließlich ihr Ziel erreichte, hatte sie die Geschehnisse des Vormittags zwar nicht vergessen, aber doch wenigstens verdrängt.

Eine Stunde lang durchstreifte sie ziellos den Hafen von Piräus und beobachtete die Fischer, die ihren Fang von den farbenfrohen Kuttern luden. Touristen verirrten sich nur selten hierher, und selbst vielen Einheimischen war der Ort nicht geheuer. Sie hingegen liebte es, in das rege Treiben einzutauchen und sich als Teil einer Welt zu fühlen, die ihr viel vertrauter war als das Leben an den Hängen des Lykavittos oder in Kolonáki, wo die Villen der Superreichen standen. Hier hatte sie nicht nur Land und Leute, sondern auch deren Sprache kennen und schätzen gelernt.

Wenn es nach Leandros und seiner Familie gegangen wäre, würde ich mich heute noch nicht verständigen können, dachte sie wütend. Sie sprachen perfekt Englisch und hatten nicht eingesehen, warum sie, Isobel, sich die Mühe machen sollte, Griechisch zu lernen. Nur wie sollte man in einem Land heimisch werden, wenn man die Sprache nicht beherrschte?

Gegen Mittag wurde es so heiß, dass Isobel beschloss, in ihr Lieblingsrestaurant zu gehen. Essen konnte sie noch nicht. Trotzdem freute sie sich darauf, auf der schattigen Terrasse eine Tasse Kaffee zu trinken und dabei den Ausblick auf den Saronischen Golf und die vorgelagerten Inseln zu genießen.

Zu ihrer großen Freude erkannte Vassilou, der Besitzer des Restaurants, sie sofort wieder und begrüßte sie geradezu überschwänglich. Da die meisten Athener die Mittagspause traditionell zu Hause verbrachten, war das Lokal nur mäßig besucht. So fand Vassilou Zeit, sich zu ihr zu setzen und sich davon zu überzeugen, dass ihre Sprachkenntnisse in den vergangenen Jahren nicht gelitten hatten.

Wenig später gesellte sich ein alter Kapitän zu ihnen, der zwar nicht mehr zur See fuhr, dafür aber viele mehr oder weniger glaubhafte Schauergeschichten erzählte. Allmählich kamen andere Männer hinzu, und als Vassilous Sohn ein Tablett mit griechischem Mokka brachte, musste er sich einen Stuhl holen, um sich mit an den Tisch setzen zu können.

Isobel genoss es unendlich, mit diesen freundlichen und warmherzigen Menschen zusammenzusitzen und ganz selbstverständlich in das Gespräch einbezogen zu werden. Denn so erleichtert sie vor drei Jahren gewesen war, Leandros und alles, was sie an ihn erinnerte, hinter sich zu lassen, der Abschied von den gastfreundlichen Menschen war ihr unendlich schwer gefallen.

Plötzlich meinte sie zu merken, dass sich hinter ihr jemand dem Tisch näherte. In der Annahme, die kleine Runde würde sich um einen Gast erweitern, sah sie sich nicht einmal um. Umso mehr erschrak sie, als ihr jemand unvermittelt die Hand auf die Schulter legte.

Auch ohne ihn zu sehen, wusste sie, dass Leandros sie aufgespürt hatte. Der Schock darüber war so groß, dass ihr beinah die Mokkatasse aus den Händen geglitten wäre. Die anderen Gäste schienen nicht weniger überrascht, denn das Gespräch verstummte, und die Blicke aller waren auf den Mann gerichtet, dem trotz seiner legeren Kleidung anzusehen war, dass er normalerweise in anderen Kreisen verkehrte.

“Kalimera”, begrüßte Leandros die Männer auf Griechisch. “Jetzt weiß ich endlich, warum meine Frau die Mittagspause so gern im Hafen verbringt. Wer würde sich durch einen solchen Kreis nicht geehrt fühlen?”

Der Versuch, an die Eitelkeit seiner Landsleute zu appellieren, war ein Erfolg. Zu ihrem Missfallen musste Isobel beobachten, dass die Männer lächelten und weitersprachen. Dabei heißt es immer, Frauen wären eitel, dachte sie ernüchtert und straffte sich, um die Tasse auf den Tisch zu stellen. Vor allem aber wollte sie damit Leandros’ Berührung entgehen. Doch so leicht ließ er sich nicht abschütteln. Vielmehr nutzte er die Gelegenheit, um ihr die Hand in den Nacken zu legen und sich vorzubeugen. Spätestens als sie seinen Atem auf der Wange spürte, wusste sie, was ihr bevorstand.

Leandros vertraute darauf, dass sie ihm vor so vielen Zeugen keine Szene machen würde. Als er sie auf die Wange küsste, verzog sie zwar unmerklich das Gesicht, ließ es aber widerstandslos geschehen. Noch mehr als die gänzlich unangebrachte Begrüßung irritierte sie die Reaktion ihrer Tischnachbarn. Offensichtlich hatten sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, denn binnen weniger Sekunden stand einer nach dem anderen auf und zog sich diskret zurück.

Erst nachdem auch der Letzte an einem anderen Tisch Platz genommen hatte, setzte sich Leandros zu ihr. Er trug weder ein Jackett noch eine Krawatte, und die obersten Knöpfe seines Hemds waren geöffnet. Das gedämpfte Licht unter der Markise verlieh seinen Gesichtszügen eine Sanftheit, die so gar nicht zu dem knallharten Geschäftsmann passen wollte. Eher fühlte sich Isobel unwillkürlich an jenen unverschämt gut aussehenden jungen Mann mit dem verführerisch dunklen Teint erinnert, in den sie sich einst verliebt hatte.

“Hast du nichts Besseres zu tun, als mir nachzuspionieren?”, fragte sie betont unfreundlich.

“Ich wusste gar nicht, dass du so gut Griechisch sprichst”, sagte er leise. Der gequälte Ausdruck in seinen dunklen Augen verriet jedoch, wie sehr ihr Sarkasmus Leandros verletzt hatte.

“Woher solltest du das auch wissen?” Um sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, ging Isobel in die Offensive. “Du hast ja nicht einmal versucht, es mir beizubringen – wahrscheinlich weil du mich für zu dumm gehalten hast.”

“Für dumm habe ich dich nie gehalten”, wandte er ein.

“Umso besser”, ignorierte Isobel die kaum verhohlene Beleidigung. “Glücklicherweise dachten deine Landsleute genauso. Vielleicht entspricht mein Wortschatz nicht ganz deiner Vorstellung, aber schließlich waren meine Lehrer einfache Leute, mit denen du dich niemals abgeben …”

“Tu nicht so scheinheilig!”, fiel Leandros ihr schroff ins Wort. “Oder findest du es etwa fair, wenn jemand der eigenen Familie vorgaukelt, die Landessprache nicht zu beherrschen, obwohl er jedes Wort versteht?”

“Ganz fair ist es vielleicht nicht”, gab sie zu. “Aber so habe ich manches erfahren, was mir sonst sicher verborgen geblieben wäre.”

“Zum Beispiel?”

“Zum Beispiel, wie sehr mich deine Familie verachtet und den Tag herbeigesehnt hat, an dem du deinen Fehler wiedergutmachst und mich zum Teufel jagst.”

“Du wolltest doch gar nicht, dass sie dich mögen”, wandte Leandros ein. “Vom ersten Tag an hast du die Menschen abgelehnt, die mir etwas bedeuten – vermutlich weil sie mir etwas bedeuten.”

“Meine Erinnerung sagt mir etwas völlig anderes”, erwiderte Isobel entschieden. “Keiner der Menschen, die dir etwas bedeuten, hat mir den Hauch einer Chance gegeben. Vom ersten Tag an haben sie mich wie eine Aussätzige …”

“Dazu hast du dich doch selbst gemacht”, unterbrach er sie nun erneut.

Der Vorwurf war so lächerlich, dass sie nicht anders konnte, als laut aufzulachen. Doch das brachte Leandros erst richtig in Rage. “Alles, was meiner Familie und meinen Freunden heilig ist, hast du mit Füßen getreten”, warf er ihr wutentbrannt vor. “Sämtliche Traditionen hast du ignoriert und nie begriffen, dass in Griechenland andere Regeln gelten als in England – erst recht für eine Frau”, fügte er verächtlich hinzu. “Der einzige Ort, an dem du dich halbwegs normal aufgeführt hast, war unser Ehebett.”

Mit jeder Anschuldigung, die auf sie niederprasselte, war Isobel tiefer in ihren Stuhl gesunken, und der letzte Vorwurf traf sie besonders. Meinte Leandros wirklich die Frau, die er geheiratet und zu lieben behauptet hatte? Meinte er jedes Wort so, wie er es gesagt hatte?

“Allmählich frage ich mich, warum ich dich nicht schon viel eher verlassen habe”, sagte sie benommen. “Offenbar hast du mich genauso verachtet wie deine Familie.”

“Ich habe dich geliebt”, widersprach er bestimmt.

“Vielleicht sollte dir mal jemand den Unterschied zwischen Liebe und Sex erklären”, erwiderte sie verbittert.

Dass Leandros es wagte, das Wort Liebe in den Mund zu nehmen, schlug dem Fass den Boden aus. Wenn er sich überhaupt je für seine Frau interessiert hatte, dann in besagtem Ehebett. Ansonsten hatte er sich möglichst von ihr fern gehalten und ihr stets das Gefühl gegeben, dass sie ihm kostbare Zeit stahl. Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Muss das ausgerechnet jetzt sein? Das passt mir im Moment gar nicht. So und ähnlich hatten die Formulierungen gelautet, mit denen er sie abgespeist hatte.

Zugehört hatte er ihr erst, als sie irgendwann den Spieß umgedreht und ihm im Bett die kalte Schulter gezeigt hatte. Dann hatte er ihr plötzlich zuhören können – wenn auch sehr ungeduldig und nicht aus Interesse an ihren Sorgen und Nöten, sondern an ihrem Körper. Und wie der Vormittag bewiesen hatte, waren ihm echte Gefühle heute so fremd wie damals.

“Warum bist du mir gefolgt, Leandros?” Die Frage drängte sich ihr förmlich auf, und entsprechend scharf stellte Isobel sie.

“Eigentlich wollte ich mich für mein Benehmen vorhin entschuldigen”, lautete die überraschende Antwort.

“Entschuldigung angenommen”, erwiderte sie, doch zu weiteren Zugeständnissen war sie nicht bereit. “Und wenn das alles war, was du von mir wolltest, kannst du jetzt ja gehen.” Und zwar für immer, fügte sie in Gedanken hinzu.

Doch erneut musste sie erleben, wie schwer es war, Leandros aus der Ruhe zu bringen. Anstatt ihrer unmissverständlichen Aufforderung nachzukommen, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und lächelte herausfordernd.

“Hast du es so eilig, zu deinem Liebhaber zu kommen?”, erkundigte er sich dann.

“Was?” Isobel war fassungslos und konnte nur mühsam den Impuls unterdrücken, mit der Kaffeetasse nach ihm zu werfen.

Aber darauf wartete Leandros sicher nur. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich zu so etwas hinreißen ließe, und auch nicht das erste Mal, wenn er sie dafür zur Rechenschaft ziehen würde, indem er sie in das nächste Bett zerrte. Und dass keines in der Nähe war, würde ihn nicht davon abhalten können, die Drohung in die Tat umzusetzen.

Welche Drohung?, fragte sich Isobel unwillkürlich, als sie sich dabei ertappte, dass der Gedanke verbotene Wünsche und Begierden in ihr wachrief. Obwohl sie wusste, welche Gefahr sie damit heraufbeschwor, sah sie auf, um sich sein Gesicht einzuprägen – nur für den Fall, dass er ihre Aufforderung doch noch befolgen und gehen würde.

Was sie sah, war ihr nicht unbekannt. Trotzdem war sie überrascht, denn es schien ihr, dass er in den vergangenen drei Jahren noch – einen Moment suchte sie nach dem richtigen Wort – schöner geworden war.

Ja, es war das richtige Wort, denn große und athletische Südländer mit verführerisch dunklem Teint und welligem schwarzem Haar gab es wie Sand am Meer. Und jeder von ihnen mochte ein mehr oder weniger talentierter Liebhaber sein. Doch Leandros hatte etwas, das ihn unvergleichlich machte.

Da die obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet waren, konnte sie den Ansatz seines Brusthaars sehen, das seinen Oberkörper bedeckte. Die Kraft, die er ausstrahlte, enthielt zugleich ein zärtliches Versprechen, das alle Sinne gleichzeitig elektrisierte. Mit einem einzigen Blick seiner dunklen Augen konnte er das unstillbare Verlangen wachrufen, ihn zu berühren, seinen Duft einzuatmen und seine Haut mit den Lippen zu schmecken. Mit einem einzigen Kuss seines sinnlichen Mundes konnte er eine Frau willenlos machen und sie förmlich danach flehen lassen, von ihm in das Labyrinth der Leidenschaft geführt zu werden, aus dem es kein Entrinnen gab.

Doch Isobel war sich schmerzlich bewusst, dass sie nicht die Einzige war, auf die er diese Wirkung ausübte. Und sollte Diantha Christophoros bis dahin nicht gewusst haben, welch hingebungsvoller und fantasiereicher Liebhaber er war, so waren nach mehreren Wochen auf seiner Yacht vermutlich auch die letzten Zweifel daran verflogen.

“Ich spreche von dem blonden Hünen, den du aus London mitgebracht hast. Wartet er im Hotel auf dich?”

Seine hämische Frage erinnerte Isobel jäh daran, dass er es darauf abgesehen hatte, sie zu demütigen. Zunächst war sie versucht, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen und ihm in den schillerndsten Farben von Stunden der Erfüllung vorzuschwärmen, die Clive ihr geschenkt hatte. Aber sie wollte lieber bei der Wahrheit bleiben.

“Clive ist Physiotherapeut”, erwiderte sie deshalb, “und kümmert sich um meine Mutter. Zumindest tagsüber”, fügte sie hinzu, als sie Leandros’ triumphierendes Lächeln bemerkte. “Außerdem kann es dir doch egal sein, wer wo auf mich wartet. Oder hast du etwa nicht die Absicht, Diantha zu heiraten?”

Wenn sie gehofft hatte, Leandros damit beeindrucken zu können, sah sie sich umgehend eines Besseren belehrt. “Dafür müsste ich mich erst von dir scheiden lassen”, antwortete er gelassen. “Und das habe ich nicht vor – nicht mehr, um genau zu sein.”

“Vergiss nicht, dass ich ein Flittchen bin”, sagte sie sarkastisch, um ihre Verunsicherung zu überspielen.

“Das macht dich ja so begehrenswert”, erklärte er ungerührt. “Es gehört so untrennbar zu dir wie das rote Haar, die grünen Augen oder der unvergleichliche Schmollmund. Alles an dir ist die reinste Provokation, ganz egal, ob du bei dreißig Grad im Schatten ein Lederkostüm trägst oder dich anziehst, als wärst du auf dem Kriegspfad.”

Sein Tonfall war so emotionslos, als würde Leandros übers Wetter reden. Seine Augen hingegen funkelten angriffslustig. “Sieh dich vor”, warnte Isobel ihn. “Ich bin nicht nur so angezogen.”

Du solltest dich vorsehen”, erwiderte er selbstgefällig. “Es endet ja doch damit, dass wir machen, was ich will.”

“Und was willst du?”

“Dich”, sagte er prompt. “Und zwar sofort. Ich kann es kaum erwarten, meine Lippen um die Spitzen deiner Brüste zu schließen, die sich unter deinem T-Shirt abzeichnen. Oder wäre es dir lieber, wenn ich dir den Vortritt lassen und den Reißverschluss meiner Hose öffnen würde, damit deine Lippen mir Erleichterung verschaffen können?”

Sie kannte Leandros gut genug, um zu wissen, dass er die ungeheuerliche Frage ernst meinte. Und dass er sie für so schamlos hielt, brachte sie sofort zur Besinnung.

“Ich fürchte, das wirst du selbst übernehmen müssen”, erwiderte sie und stand auf, um das Restaurant auf schnellstem Weg zu verlassen. “Und in Zukunft fragst du vielleicht lieber Diantha”, fügte sie hämisch hinzu.

Doch zum zweiten Mal an diesem Tag musste Isobel erleben, wie das Raubtier in Leandros erwachte. Kaum hatte sie den ersten Schritt gemacht, packte er sie und zog sie auf seinen Schoß.

Das alles war so schnell und lautlos vor sich gegangen, dass sie nicht einmal protestieren konnte. Es gelang ihr erst, als sie Leandros ansah und in seinen Augen las, was als Nächstes folgen würde.

“Untersteh dich!”, warnte sie ihn, obwohl sie wusste, dass es bereits zu spät war. Denn im selben Moment presste er den Mund auf ihren und unterband jeden weiteren Protest, indem er die Zunge zwischen ihre bebenden Lippen schob.

Ehe sie wusste, wie ihr geschah, endete der Kuss auch schon wieder. Als Leandros auch noch die Hände zurückzog, stand Isobel benommen auf und trat einige Schritte zurück. Jetzt erst merkte sie, dass sämtliche Gäste die Szene beobachtet hatten, und vor Scham wäre sie am liebsten im Boden versunken. Doch dass ihr der eigentliche Schock noch bevorstand, wurde ihr schmerzlich klar, als Leandros sich von seinem Platz erhob.

Im selben Augenblick befiel sie der schreckliche Verdacht, dass er sich schweigend umdrehen und sie dem Gespött seiner Landsleute aussetzen würde. War er ihr deshalb gefolgt? Hatte er es darauf angelegt, sie in aller Öffentlichkeit zu demütigen und dann ebenso kommentarlos zu gehen, wie sie es am Vormittag getan hatte?

Ein metallenes Geräusch riss Isobel aus ihren Gedanken. Zunächst glaubte sie, Leandros hätte einige Münzen auf den Tisch geworfen – nicht um ihren Kaffee zu bezahlen, sondern um sie vollends zu erniedrigen. Erst als er sich unvermittelt setzte, überwand sie sich und sah auf den Tisch. Doch was sie erblickte, besänftigte sie nicht.

“Willst du ihn nicht wieder aufsetzen?”, fragte Leandros mit sichtlicher Genugtuung.

“Ich glaube nicht …”

“Tu, was ich dir sage”, unterbrach er sie schroff. “Solange wir verheiratet sind, muss ich darauf bestehen, dass du deinen Ehering trägst.”

“Das dürfte sich kaum lohnen”, erwiderte Isobel trotzig und nahm wieder Platz. “Schließlich steht unsere Scheidung unmittelbar bevor.”

“Irrtum”, entgegnete er triumphierend. “Ich habe doch klipp und klar gesagt, dass ich mich nicht mehr scheiden lassen will.”

“Ich aber!”, behauptete sie nachdrücklich, um wenigstens sich selbst zu überzeugen. Denn dass Leandros ihr nicht glaubte, stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben. Und je länger er sie ansah, desto mehr lief sie Gefahr …

“Wie du meinst”, sagte er in diesem Moment, beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ihr Blick auf seine Hände gerichtet war, nahm er seinen Ehering vom Finger und legte ihn neben ihren.

Isobel wusste sofort, was Leandros mit dieser Geste bezweckte, und hielt unwillkürlich den Atem an. Mit klopfendem Herzen sah sie auf die beiden goldenen Ringe, die, von der Größe abgesehen, identisch waren. Und in beide waren dieselben Worte eingraviert.

Der Juwelier hatte sich zunächst über ihren Wunsch gewundert. Schließlich hatte er ihrem Drängen nachgegeben und den hoffnungslos romantischen Text in die Innenseiten der Ringe graviert. Denn da sie überstürzt und deshalb nur standesamtlich geheiratet hatten, wollten sie den Treueschwur, der für gute wie für schlechte Zeiten galt, auf andere Weise abgeben. Und die Worte Nichts soll uns trennen waren ihnen besonders geeignet erschienen, weil sich in ihnen außer dem symbolischen Versprechen der Wunsch nach körperlicher Nähe ausdrückte.

Je blasser Isobel wurde, desto sicherer wurde sich Leandros, dass er es wagen konnte, aufs Ganze zu gehen. “Es gibt genau zwei Möglichkeiten”, sagte er, wohl wissend, für welche sie sich entscheiden würde. “Entweder gehen wir jetzt auseinander und lassen die Ringe hier liegen, oder wir stecken sie wieder an und überlegen gemeinsam, wie wir mit der Situation umgehen.”

Nervös befeuchtete sie sich die Lippen. Früher hatte sie das häufig gemacht, um ihn zu provozieren, und so musste Leandros sich beherrschen, um nicht aufzuspringen und sie zu küssen, bis sie endlich zur Besinnung kam. Isobel gehörte zu ihm, und je eher sie es einsah, desto schneller könnten sie …

Du hast doch die Scheidung …”

“Erst musst du den Ring anstecken”, fiel er ihr ins Wort.

Er sah ihr deutlich an, wie sehr sie mit sich kämpfte. Zunächst schien es, als würde sie sich weigern, aber dann streckte sie doch die Hand aus.

Als Leandros beobachtete, wie sie ihren Ehering ansteckte, fiel eine zentnerschwere Last von ihm. Um Isobel zu zeigen, wie glücklich er war, folgte er ihrem Beispiel. Doch kaum saß sein Ring wieder dort, wo er hingehörte, hielt sie erneut eine Überraschung für ihn bereit – dieses Mal allerdings eine unliebsame.

“Und was passiert jetzt?”, fragte Isobel bissig. “Willst du unsere Anwälte zusammentrommeln und die Scheidungsformalitäten klären?”

Ihr aggressiver Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie nah sie den Tränen war. Auch über die Gründe dafür machte sich Leandros nichts vor. Der Ring, den sie trug, war der sichtbare Beweis, dass sie nichts weniger wollte, als sich scheiden zu lassen. Allerdings war sie viel zu stolz, um es zuzugeben.

“Im Gegenteil”, erwiderte er deshalb. “Wir sollten irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können.”

“Lass dir bitte etwas anderes einfallen, Leandros”, lehnte sie seinen Vorschlag entrüstet ab. “Du würdest es ja doch nicht beim Reden belassen.”

“Dann lass uns heute Abend zusammen essen gehen”, schlug er vor. Dass sie ihn durchschaut hatte, nötigte ihm ein reumütiges Lächeln ab.

“Das geht nicht”, entgegnete sie. “Ich bin schon verabredet.”

Die Antwort schockierte ihn, und die Eifersucht, die er schon überwunden geglaubt hatte, erwachte wieder. “Ich eigentlich auch”, sagte er mit einer Kälte, über die er selbst erschrak. “Allerdings wäre ich bereit gewesen, Diantha abzusagen. Wir könnten natürlich auch zu viert ausgehen. Und wenn dir nicht nach Gruppensex ist, könnten wir es ja mit einem Partnertausch versuchen. Vielleicht weiß ich nach einer Nacht mit dir wieder, was ich an Diantha habe. Dann hätten sich alle Probleme von selbst erledigt.”

Ein Blick zu Isobel machte Leandros schmerzlich bewusst, dass er in seiner Wut einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Sie war aschfahl und wirkte benommen. Es grenzte an ein Wunder, dass es ihr trotzdem gelang aufzustehen.

“Dein Vorschlag klingt durchaus reizvoll”, sagte sie bemüht emotionslos. “Allerdings bin ich mit meiner Mutter verabredet, so dass aus unserer Orgie wohl nichts wird”, fügte sie hinzu, ehe sie sich umdrehte und das Lokal verließ.