1. KAPITEL
Leandros Petronades lag auf dem Sonnendeck seiner Motoryacht und sah zufrieden auf die Bucht von San Estéban. Der Anblick der luxuriösen Ferienanlage, die sich über dem malerischen südspanischen Fischerdorf erhob, verschaffte ihm Genugtuung. Zum einen war sie genauso exklusiv geraten, wie er es sich vorgestellt hatte, zum anderen hatte sich seine Investition schon kurz nach Abschluss der Bauarbeiten doppelt und dreifach rentiert.
Vor allem Letzteres erfüllte ihn mit Stolz. Als sein Vater Aristoteles vor vier Jahren überraschend verstorben war, hatte er, Leandros, praktisch über Nacht die Leitung des Konzerns übernehmen müssen. Doch inzwischen war er längst ein anerkannter und erfolgreicher Geschäftsmann, von dem man erwartete, dass seine Geldanlagen sensationelle Gewinne abwarfen.
Ums Geldverdienen allein war es ihm bei diesem Projekt allerdings nicht gegangen. Dafür hing sein Herz viel zu sehr an dem Bauvorhaben, für das er sich schon engagiert hatte, als es noch eine fixe Idee seines Freundes Felipe Vazquez gewesen war. Gemeinsam hatten sie hart dafür gearbeitet, dass aus dem Traum ein konkreter Plan wurde, der schließlich Form angenommen hatte.
Inzwischen waren die Arbeiten abgeschlossen, und für ihn, Leandros, gab es nichts mehr zu tun. Die Luxusvillen waren verkauft, das Fünf-Sterne-Hotel auf lange Zeit ausgebucht, und der Golfplatz galt schon jetzt als Geheimtipp. Der einst verschlafene Ort war zu neuem Leben erwacht, und im Hafenbecken lagen die Luxusyachten jener Reichen und Berühmten vor Anker, denen die Costa Smeralda oder die Côte d’Azur zu überlaufen waren.
Seine Yacht würde jedoch in wenigen Tagen auslaufen, und dieser Gedanke machte ihn schwermütig. Während der jahrelangen Bauarbeiten hatte sie ihm als Wohnung und Büro gedient. Nun aber sollte sie in die Karibik überführt werden. In drei Wochen würden sein Bruder Nikos und dessen Braut Carlotta sie dort übernehmen, um ihre Flitterwochen mit einer Kreuzfahrt zu verbringen.
Dass er, Leandros, von Bord musste, stand also unwiderruflich fest. Noch hatte er sich allerdings nicht entschieden, wohin er gehen sollte. Die Vorstellung, nach Athen zurückzukehren und als Leiter eines Weltkonzerns wieder in die Tretmühle des Alltags zu geraten, behagte ihm ganz und gar nicht.
“Selbstverständlich muss es ein Feuerwerk geben”, hörte er eine sanfte, aber entschlossene Frauenstimme sagen. “Das sind wir den vielen Menschen einfach schuldig, ohne deren unermüdlichen Einsatz das Projekt nicht so erfolgreich geworden wäre. Deshalb soll es bei dem Fest am Namenstag des Schutzpatrons von San Estéban auch an nichts fehlen.”
Je länger Leandros zuhörte, desto mehr hellte sich seine Stimmung auf. Das Geschick, mit dem Diantha ihre Arbeit machte, imponierte ihm ebenso wie die ruhige und sachliche Art, die sie dabei an den Tag legte. Egal, welchen Auftrag er ihr erteilte, stets konnte er sich darauf verlassen, dass alles perfekt lief. Nicht selten schien sie seine Gedanken sogar im Voraus zu erahnen und hielt lästige Dinge von ihm fern.
Da sie nicht nur in beruflichen Dingen auf einer Wellenlänge lagen, fühlte er sich in Dianthas Nähe ausgesprochen wohl. Inzwischen spielte er sogar ernsthaft mit dem Gedanken, sie zu heiraten.
Dass er sie nicht liebte, fiel nicht weiter ins Gewicht, denn den Glauben an die große Liebe hatte er schon vor Jahren verloren. Doch Diantha war schön, klug und mit Sicherheit eine fantastische Liebhaberin – zumindest nahm er es an, denn davon überzeugt hatte er sich noch nicht. Außerdem war sie Griechin, finanziell unabhängig und nahm seine kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch.
Bei der Suche nach einer Heiratskandidatin waren das für einen Geschäftsmann wie ihn nicht zu unterschätzende Vorteile. Schließlich bestand seine Hauptaufgabe darin, die Position der Petronades-Gruppe am Weltmarkt zu festigen und nach Möglichkeit weiter auszubauen.
Da Diantha Christophoros selbst aus einer angesehenen Unternehmerfamilie stammte, hatte sie dafür Verständnis. Deshalb war nicht zu befürchten, dass sie sich beklagen würde, wenn er bis spät in die Nacht arbeitete. Genauso wenig würde sie von ihm erwarten, dass er sie mehrmals täglich anrief und alles liegen und stehen ließ, sobald sie mit den Fingern schnippte.
Angesichts solcher Vorzüge war Diantha im Grunde die ideale Ehefrau für ihn. Lediglich ein Punkt sprach gegen eine baldige Hochzeit mit ihr, und bevor der nicht aus der Welt war, wollte er sich seine Absichten nicht einmal andeutungsweise anmerken lassen.
Denn noch war er mit einer anderen verheiratet. Zumindest auf dem Papier. Und da er seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Ehefrau hatte, wäre die Scheidung nur eine Formsache. Er brauchte lediglich seinen Anwalt anzurufen, und in wenigen Wochen würde Isobel endgültig der Vergangenheit angehören.
Schon der Gedanke an sie reichte, um ihm die Stimmung zu verderben. Leise fluchend erhob Leandros sich aus dem bequemen Liegestuhl, nahm eine gekühlte Flasche Bier aus der kleinen Bar des Sonnendecks und stellte sich an die Reling.
Diese kleine Hexe, dachte er verbittert, ehe er die Flasche an den Mund setzte und einen kräftigen Schluck trank. In letzter Zeit hatte er erfreulich selten an Isobel gedacht. Doch wie seine heftige Reaktion bewies, waren die Wunden, die sie hinterlassen hatte, auch nach drei Jahren noch nicht verheilt.
Selbst von seinem Platz an der Reling aus konnte er Diantha hören, die im Salon seiner Yacht stand und am Telefon die letzten Details des großen Festes organisierte, mit dem die Ferienanlage offiziell eröffnet werden sollte. Auch ohne sich umzudrehen, meinte er die schwarzhaarige Frau mit den dunkelbraunen Augen und dem gebräunten Teint, die immer elegant gekleidet war, vor sich zu sehen.
Nicht zuletzt darin unterschied sie sich wohltuend von Isobel, die es vorzog, ihre makellose Figur aufreizend zur Schau zu stellen, anstatt sie dezent zu betonen.
Das Bild der jungen Frau, das er unwillkürlich vor Augen hatte, verfehlte nicht seine Wirkung. Doch damit war er vertraut, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Sie waren übereinander hergefallen wie zwei liebestolle Teenager und hatten aus einem Impuls heraus geheiratet. Mit derselben hingebungsvollen Leidenschaft, mit der sie sich anfangs geliebt hatten, hatten sie sich später gestritten. Lediglich die Trennung hatte sie davor bewahrt, sich gegenseitig zu vernichten. Sie waren beide viel zu jung gewesen.
Trotzdem löste die Erinnerung daran eine Bitterkeit aus, die es Leandros ratsam erscheinen ließ, sich jeden Gedanken an Isobel zu verbieten. Wie die Zeit in San Estéban würde auch sie bald der Vergangenheit angehören.
Leandros war entschlossen, die bevorstehenden Veränderungen für einen Neuanfang zu nutzen. Er war inzwischen einunddreißig Jahre alt, und die Vorstellung, zu heiraten und vielleicht sogar eine Familie zu gründen, hatte durchaus ihren Reiz – vorausgesetzt, es würde sich die richtige Frau …
“Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen, oder warum blickst du so finster drein?”
Leandros hatte Diantha nicht kommen hören. Ihr Lächeln zeugte ebenso von tief empfundener Zuneigung wie der Ausdruck in ihren braunen Augen.
Er konnte sich nicht erinnern, Isobel je lächeln gesehen zu haben – zumindest nicht ohne Hintergedanken. Und statt Zuneigung hatte er in ihren großen Augen stets nur Aufsässigkeit gelesen.
“Ich versuche, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass die schöne Zeit in San Estéban ein Ende hat”, erwiderte er schließlich. Dann sah er wieder gedankenverloren auf die Bucht. Hierher hatte er sich vor fast drei Jahren zurückgezogen, um wieder zu sich selbst zu finden. Es hatte unendliche Mühe gekostet, doch schließlich war es ihm gelungen, die innere Leere wieder auszufüllen. Einen besseren Ort als San Estéban hätte er dafür nicht finden können. Entsprechend unbehaglich zu Mute war ihm bei der Vorstellung, Abschied zu nehmen.
Er war so in Gedanken versunken, dass er Diantha fast vergessen hatte. Erst als sie ihm die Hand auf den Arm legte, erinnerte er sich daran, dass sie direkt neben ihm stand.
Als er sich zu ihr umdrehte, zog sie die Hand wieder zurück. Sie wirkte fast ein wenig erschrocken, denn noch ließ ihre Beziehung eigentlich keine Berührungen zu.
Diantha war die beste Freundin seiner Schwester Chloe, und er war Ehrenmann genug, sie während ihres Aufenthalts auf seiner Yacht mit dem gebotenen Respekt zu behandeln. Und so schwer es ihm in diesem Moment auch fiel, er war entschlossen, sich an seine guten Vorsätze zu halten.
“Dass dir der Abschied schwerfällt, kann ich mir gut vorstellen”, sagte Diantha verständnisvoll. “Aber vielleicht ist es das Beste so. Du bist schon so lange hier, dass du es für normal hältst, auf einer schicken Yacht zu leben und dich um nichts kümmern zu müssen. Um dich vor dem wirklichen Leben zu verstecken, bist du allerdings noch zu jung, findest du nicht?”
“Da könntest du Recht haben”, stimmte Leandros ihr zu, auch wenn es ihm ein wenig unheimlich war, dass sie ausgesprochen hatte, was er empfand. “Deshalb habe ich vor, gleich nach dem Fest nach Athen zurückzukehren und mich dem wirklichen Leben zu stellen, wie du es nennst.”
“Das freut mich”, gab sie unumwunden zu. “Und deine Mutter wirst du damit sehr glücklich machen.”
Ehe er etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und ging zurück in den Salon. Er sah ihr nachdenklich hinterher. Sie trug ein elegantes blaues Sommerkleid, das ihrer Figur schmeichelte, und das schwarze Haar hatte sie zusammengebunden und hochgesteckt. Äußerlich wie innerlich entsprach sie geradezu perfekt dem Bild einer jungen Griechin aus gutem Hause, die Schönheit, Anmut und gutes Benehmen in sich vereinigte.
Erneut hätte der Kontrast zu jener Frau, an die er unwillkürlich denken musste, nicht größer sein können. Isobel waren sämtliche Konventionen seiner Heimat ein Gräuel gewesen, und lieber wäre sie gestorben, als sich ihnen zu unterwerfen. Das lange rote Haar hatte sie stets offen getragen, und ein Kleid hatte sie nur angezogen, wenn es unbedingt sein musste. Sie hatte knappe Shorts bevorzugt, die ihre faszinierenden schlanken Beine zur Geltung brachten, und enge Tops, die die Blicke der Männer zwangsläufig auf ihre perfekt geformten Brüste lenkten.
Außerdem hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, als Interesse an den Gefühlen seiner Mutter zu äußern, ergänzte Leandros in Gedanken, als Diantha durch die gläserne Schiebetür ging.
Schulterzuckend stellte er sich wieder an die Reling und trank einen Schluck Bier. Isobel und seine Familie waren vom ersten Tag an wie Feuer und Wasser gewesen. Kein gutes Haar hatten sie aneinander gelassen, und keine der beiden Seiten hatte auch nur versucht, auf den anderen zuzugehen.
Diantha hingegen mochte seine Mutter sehr gern, und zu seiner großen Freude beruhte die Zuneigung auf Gegenseitigkeit. Als beste Freundin seiner Schwester ging sie seit Kindertagen in seinem Elternhaus ein und aus, und deshalb kannte er sie schon seit vielen Jahren.
Richtig Notiz von ihr genommen hatte er allerdings erst, als sie vor einer Woche an Bord gekommen war. Ursprünglich hatte Chloe ihm bei der Organisation des Fests helfen wollen, das in wenigen Tagen stattfinden sollte. Doch da sie bereits die Hochzeit ihres Bruders Nikos vorbereitete, war Diantha kurzerhand eingesprungen.
Er rechnete es ihr hoch an, weil sie erst wenige Tage zuvor aus Washington zurückgekommen war, wo sie vier Jahre mit ihren Eltern gelebt hatte. Entsprechend überrascht war er gewesen, als ihm statt des kleinen Mädchens von früher eine attraktive junge Frau gegenüberstand, die mehr Vorzüge hatte als die meisten ihrer Altersgenossinnen.
Dazu gehörte auch, dass außer einer kurzen und harmlosen Romanze mit seinem Bruder Nikos nichts Nachteiliges über ihren Lebenswandel bekannt war. Vor allem das machte sie als Partnerin ungleich geeigneter als diejenige Frau, mit der er noch immer verheiratet war.
Erst als Leandros die leere Bierflasche abstellte, bemerkte er den Mann, der auf der Mole stand und seine Kamera direkt auf ihn und seine Yacht gerichtet hatte. Pressefotografen verabscheute er von jeher. Zum einen hatten sie nicht den geringsten Respekt vor seiner Privatsphäre, und zum anderen verdiente seine derzeitige Ehefrau mit dieser zweifelhaften Tätigkeit ihren Lebensunterhalt.
Ihre erste Begegnung hatte gewissermaßen durch das Objektiv ihres Fotoapparats stattgefunden, das sie auf ihn und den roten Ferrari gerichtet hatte, vor dem er stand. Um besonders effektvolle Bilder zu bekommen, hatte sie wie verrückt mit ihm geflirtet, bis er sich schließlich dazu erweichen ließ, allerhand lächerliche Posen vor dem Sportwagen einzunehmen. Wenige Stunden später hatten sie miteinander geschlafen, und danach …
Leandros verbot sich den Gedanken an das, was nach dieser ersten Begegnung geschehen war. Nie wieder wollte er an Isobel denken. Es wurde höchste Zeit, sie ein für alle Mal aus seinem Leben zu streichen, und die Scheidung würde es ihm sicher sehr erleichtern.
Als Isobel den Brief las, der in der Post gewesen war, gingen ihre Gedanken in eine ganz ähnliche Richtung. Er stammte vom Anwalt ihres Noch-Ehemannes, der ihr mitteilte, dass Leandros die Scheidung eingereicht hatte.
Die Nachricht war aus heiterem Himmel gekommen, und auch wenn ihr der Schritt konsequent schien, hatte es sie schockiert, auf diesem Weg davon zu erfahren. Deshalb war Isobel erleichtert, dass ihre Mutter noch schlief und sie allein an dem kleinen Küchentisch saß.
Im Grunde ist die Scheidung längst überfällig, dachte sie und las erneut die Zeilen, mit denen das Ende einer Ehe angekündigt wurde, die niemals hätte geschlossen werden dürfen. Trotzdem verschwammen ihr die Buchstaben vor den Augen, je mehr sie sich darüber klar wurde, dass mit dem Brief das letzte Kapitel eines vier Jahre andauernden Irrtums angebrochen war.
Möglicherweise scheute Leandros vor dieser Einsicht genauso zurück wie sie. Warum sonst hatte er so lange gebraucht, um sich zu diesem Schritt durchzuringen?
Oder hatte er andere Beweggründe für den unvermittelten Entschluss, sich scheiden zu lassen? Vielleicht hatte er ja eine Frau kennen gelernt, bei der ihm nicht nur sein Herz, sondern auch sein Verstand sagte, dass er mit ihr den Rest seines Lebens verbringen wollte.
Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hätte ihr diese Vorstellung eigentlich nicht mehr wehtun dürfen. Dass sie es trotzdem tat, konnte Isobel sich nur damit erklären, dass sie vor Liebe zu Leandros manchmal fast verrückt geworden war.
Zumindest zu Beginn ihrer Beziehung, musste sie einschränken. Doch damals waren sie noch zu jung gewesen, um zu wissen, dass leidenschaftliche Hingabe allein …
Um von der Erinnerung an zurückliegende Zeiten nicht überwältigt zu werden, zwang Isobel sich, den Brief erneut zu lesen. So stieß sie auf den Vorschlag, dass sie und Leandros sich in Athen treffen sollten, um die Scheidung – selbstverständlich in Gegenwart ihrer Anwälte – so schnell wie möglich über die Bühne gehen zu lassen. Nach Einschätzung von Leandros’ Anwalt Takis Konstantindou sollte eine gütliche Einigung innerhalb weniger Tage möglich sein. Da es Leandros nicht möglich wäre, nach England zu reisen, bot er an, sämtliche Unkosten zu übernehmen, die ihr entstehen würden.
Was ihn daran hindern sollte, sich in ein Flugzeug zu setzen und nach London zu fliegen, war ihr unbegreiflich. Der Mann, den sie in Erinnerung hatte, lebte ohnehin aus dem Koffer, weil er öfter auf Reisen als zu Hause war.
So gesehen grenzte es an ein Wunder, dass sie sich überhaupt kennen gelernt hatten. Der Zufall hatte sie bei einer Automobilausstellung in den Londoner Messehallen zusammengeführt, auf der Isobel im Auftrag einer Illustrierten Fotos gemacht hatte. Damals war sie zweiundzwanzig Jahre alt, oder besser gesagt, jung gewesen, denn die Unbekümmertheit, die sie auszeichnete, war eher Ausdruck von völliger Unerfahrenheit als von Selbstbewusstsein gewesen. Sonst hätte sie möglicherweise einen großen Bogen um den unverschämt gut aussehenden Mann mit dem verführerisch dunklen Teint gemacht, der ihr auf einem Stand mit sündhaft teuren Sportwagen auffiel.
Zunächst hielt sie den makellos gekleideten und überaus charmanten Südländer, der unverhohlen mit ihr flirtete, für einen Mitarbeiter der Firma Ferrari. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, dass der Mann den teuren Sportwagen, vor dem sie ihn fotografierte, nicht verkaufen, sondern kaufen wollte – und das, obwohl er bereits mehrere davon besaß.
Erst viel später erfuhr sie, wer Leandros wirklich war. Doch da war es bereits zu spät, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Denn direkt vom Messestand aus brachte er sie zunächst in ein Restaurant und noch am selben Abend in sein Hotelzimmer, wo sie wie zwei liebestolle Teenager übereinander herfielen.
Selbstverständlich entging Leandros nicht, dass er der Erste war, mit dem sie schlief. Das Wissen darum entfachte seine Leidenschaft in einer Weise, die ihr unvergesslich bleiben würde. Mit unvergleichlicher Raffinesse und Geduld weihte er sie in den nächsten zwei Wochen in die Geheimnisse der Liebe ein und brachte ihr mehr über ihren Körper, ihre Sehnsüchte und Wünsche bei, als sie sich je erträumt hatte.
Als sich seine Rückkehr nach Griechenland nicht länger hinauszögern ließ, weigerte er sich strikt, ohne sie abzureisen. Deshalb heirateten sie Hals über Kopf, um vom Standesamt direkt zum Flughafen zu fahren.
Erst als Leandros sie zu einem Privatjet brachte, auf dem das Logo des Petronades-Konzerns prangte, begann Isobel, Fragen zu stellen. Er amüsierte sich darüber, dass sie einen der reichsten Männer der Welt geheiratet hatte, ohne es zu wissen. Dann führte er sie in seine Privatkabine. Dort liebten sie sich, bis das Flugzeug zur Landung ansetzte. So glücklich wie an jenem Tag war sie, Isobel, nie wieder gewesen.
Doch dazu hatte Leandros ihr auch keinen Anlass gegeben. So blieben von einer vierjährigen Ehe letztlich nur wenige Stunden, an die sie gern zurückdachte. Denn kaum hatten sie sein Elternhaus erreicht, war der Zauber verflogen. “In diesem Aufzug kannst du meiner Mutter unmöglich gegenübertreten”, sagte Leandros abfällig.
“Was stimmt denn an meinem Aussehen nicht?”, fragte Isobel verwundert.
“Nichts”, lautete seine vernichtende Antwort. “Der Rock ist eindeutig zu kurz, und das Haar solltest du lieber hochstecken. Es gibt bei uns gewisse Traditionen, an die selbst du dich halten musst.”
Sie zog sich weder um, noch steckte sie das Haar hoch. Sehr schnell musste sie jedoch begreifen, dass ihre provozierende Art nur dann willkommen war, wenn sie mit Leandros allein und nach Möglichkeit ein Bett in der Nähe war. Im Kreis seiner Familie trug ihr dasselbe Verhalten dagegen schnell den Ruf ein, ein billiges Flittchen zu sein. Und ihr Ehemann hielt es nicht für nötig, sie vor solchen Verleumdungen in Schutz zu nehmen.
Mit diesem Tag hatte eine Entwicklung begonnen, die zwangsläufig zu dem Brief hatte führen müssen, den Isobel noch immer in den Händen hielt. Es war tatsächlich an der Zeit, dass sich der Vorhang über einen Abschnitt ihres Lebens senkte, der schon vor Jahren geendet hatte.
Einzig gegen das Verfahren, das Leandros über seinen Anwalt vorschlug, hatte sie noch Einwände. Denn wie sollte sie nach Athen fliegen, wenn sie ihre Mutter nicht einmal für einige Stunden allein lassen konnte?
“Wann landet sie?”
Leandros saß am Schreibtisch seines Athener Büros. Erst vor wenigen Tagen war er aus San Estéban zurückgekommen, aber der Alltagstrott hatte ihn längst wieder eingeholt. Es lag nun einmal in der Natur der Sache, dass der Leiter eines Weltkonzerns keine ruhige Minute hatte, weil ständig jemand etwas von ihm wollte. Vor lauter Terminen blieb ihm nicht einmal die Zeit, den Papierberg abzuarbeiten, der sich auf seinem Schreibtisch aufgetürmt hatte.
Im Grunde war er vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst, denn selbst bei privaten Anlässen traf er auf Geschäftspartner, die sich an seine Fersen hefteten und nicht eher lockerließen, bis sie ihr Anliegen losgeworden waren. Erschwerend kam hinzu, dass er die ganze Arbeit allein schultern musste, weil sein jüngerer Bruder Nikos vollauf mit der Vorbereitung seiner Hochzeit beschäftigt war.
Je näher der große Tag rückte, desto nervöser wurde ihre Mutter. Als ältester Sohn hatte er, Leandros, von seinem verstorbenen Vater nicht nur die Leitung des Konzerns, sondern auch die Rolle des Familienvorstands übernommen. Deshalb glaubte seine Mutter, ihn alle zehn Minuten anrufen und an seine Pflichten als Gastgeber erinnern zu müssen. Auf den vorsichtigen Einwand, dass er noch etwas anderes zu tun hätte, reagierte sie in schöner Regelmäßigkeit mit einem Panikanfall, der stets mit einer Litanei darüber endete, dass er die falsche Frau und die auch noch heimlich geheiratet hätte.
Am liebsten hätte er seinem jüngeren Bruder geraten, es ihm nachzutun und Carlotta Santorini in einer abgelegenen Dorfkapelle das Jawort zu geben. Wenn es einen Moment in seiner Ehe gab, an den er gern zurückdachte, dann war es die Trauung. Nie würde er den Moment vergessen, als er Isobel den Ehering an den Finger gesteckt und sie mit ihrem unnachahmlichen Lächeln zu ihm aufgesehen und geflüstert hatte: “Ich liebe dich und werde dich immer lieben.”
Um ihr den Treueschwur zu glauben, hatte er nicht fünfhundert geladene Gäste gebraucht – und dass alles anders gekommen war, hätten auch tausend Zeugen nicht verhindern können.
“Heute Abend.”
Es dauerte eine Weile, bis Leandros sich erinnerte, was er Takis Konstantindou gefragt hatte.
“Hast du ihr die Suite im Athenäum reserviert?”, erkundigte er sich nun.
“Das wollte ich”, erwiderte Takis. “Sie hat es allerdings abgelehnt und sich auf eigene Faust ein Hotel gesucht.”
“Weißt du, welches?”
“Meines Wissens hat sie im Apollo gebucht – aber erst, nachdem man ihr zugesichert hat, dass das Haus für Rollstuhlfahrer geeignet ist.”
Takis’ Erklärung traf Leandros gänzlich unvorbereitet. “Warum das denn?”, fragte er entgeistert. “Hatte sie einen Unfall, oder warum sitzt sie im Rollstuhl?”
“Dass sie im Rollstuhl sitzt, habe ich nicht gesagt”, wandte sein Anwalt ein. “Ich weiß nur, dass sie drei Zimmer gebucht hat, und eines davon ist behindertengerecht ausgestattet.”
“Dann solltest du schnellstens herausfinden, für wen es ist”, forderte Leandros ihn unmissverständlich auf. Der Gedanke, dass Isobel an den Rollstuhl gefesselt war, war ihm schier unerträglich.
“Selbst wenn sich deine Befürchtung bestätigen sollte, brauchst du an deinem Entwurf für eine gütliche Einigung nichts zu ändern. Das Angebot, das du ihr machst, ist absolut angemessen.”
Takis war offenbar nicht entgangen, wie schockiert er war. Wie seine zynische Bemerkung verriet, irrte er sich allerdings hinsichtlich der Gründe.
“Glaubst du wirklich, es ginge mir ums Geld?”, fragte Leandros empört. “Isobel ist meine Frau, und auch wenn die Ehe gescheitert ist, fühle ich mich nach wie vor für sie verantwortlich – erst recht, wenn sie an den Rollstuhl gefesselt ist.”
“Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten”, entschuldigte sich Takis verlegen.
“Mir vielleicht nicht”, erwiderte Leandros unversöhnlich. Aber Isobel, fügte er in Gedanken hinzu, weil er genau wusste, was Takis unter “angemessen” verstand.
Wenn es nach seiner Familie ginge, hätte Isobel keinen einzigen Cent von ihm bekommen. Sie hielten seine Frau für ein billiges Flittchen, und entsprechend abfällig dachten und sprachen sie über sie. Zu seiner Schande musste er sich jedoch eingestehen, dass er nie eingeschritten war – und schon gar nicht in Isobels Anwesenheit. Trotzdem irrten sie gewaltig, wenn sie ihr die Schuld daran gaben, dass die Ehe so schmählich gescheitert war. Ganz so einfach war es leider nicht.
“Mir ist völlig klar, wie ihr über sie denkt”, sagte er deshalb. “Aber ich erwarte von euch, dass ihr sie mit dem gebührenden Respekt behandelt. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?”
Takis war doppelt so alt wie er und außerdem sein Patenonkel. Trotzdem war er so eingeschüchtert, dass er es bei einem zustimmenden Nicken beließ.
“Versuch, möglichst viel herauszubekommen, bevor wir uns mit ihr treffen”, trug Leandros ihm auf. “Und jetzt entschuldige mich”, fügte er hinzu. “Ich muss zu einer dringenden Besprechung.”
Takis schien fast ein wenig erleichtert zu sein, dass das Gespräch beendet war, denn er verabschiedete sich schnell, ohne ihm die Hand zu reichen.
Als er endlich allein war, lehnte sich Leandros in seinem Sessel zurück. Dass Takis sein Verhalten nicht nachvollziehen konnte, überraschte ihn nicht. Schließlich war es ihm selbst ein Rätsel.
Vor zwei Wochen hatte er seinen Patenonkel von der Yacht aus angerufen und ihn beauftragt, die Scheidung einzureichen. Takis’ Nachfragen hatte er ebenso kurz wie emotionslos beantwortet, und damit war die Angelegenheit für ihn erledigt gewesen. Doch vor zwei Wochen hatte er seine Frau ja auch noch als Hexe beschimpft. Eine kleine Bemerkung von Takis hatte ihn allerdings jäh daran erinnert, dass sie im Grunde ein unerfahrenes und unsicheres Geschöpf gewesen war, das er aus der vertrauten Umgebung herausgerissen und der Athener High Society zum Fraß vorgeworfen hatte.
Leise fluchend stand er auf und lief unruhig durchs Zimmer. Was war bloß los mit ihm? Quälten ihn wirklich Reuegefühle? Oder hatte er schlicht und ergreifend Angst davor, dass die Isobel, der er am nächsten Tag gegenübertreten würde, nur noch ein Schatten der lebenslustigen, unbekümmerten Frau war, die er einst gekannt und geliebt hatte?
Was wäre, wenn sie tatsächlich im Roll…?
Das Telefon klingelte und verhinderte, dass er den entsetzlichen Gedanken zu Ende dachte.
Es war Diantha, die ihn freundlich daran erinnerte, dass seine Mutter ihn pünktlich zum Abendessen erwartete. Ihre fröhliche Stimme zu hören tat ihm unendlich gut, und als Leandros einige Minuten später den Hörer wieder auflegte, sah er sich darin bestätigt, dass Diantha wie für ihn geschaffen war.
Durch das Gespräch mit ihr war die Anspannung von ihm abgefallen, und endlich konnte er wieder an jene Dinge denken, die wirklich wichtig waren – etwa die Besprechung, auf der man ihn sicher schon erwartete.
“Hast du nicht schon genug Probleme am Hals?”, fragte Silvia Cunningham mit der ihr eigenen Offenheit. “Oder warum ziehst du dich so an?”
“Was hast du denn an mir auszusetzen?” Isobel stellte sich vor den Spiegel. Sie trug ein maßgeschneidertes braunes Kostüm, dessen Rock nicht übertrieben eng geschnitten war und erst kurz über dem Knie endete. Die eng anliegende Jacke war hochgeschlossen, und darunter verbarg sich eine fast altmodische cremefarbene Bluse, die sie bis oben zugeknöpft hatte. Das Haar hatte sie sorgfältig gekämmt und mit einem Schildpattkamm hochgesteckt. Darüber hinaus war sie sehr dezent geschminkt, denn ihr Make-up beschränkte sich auf einen unauffälligen Lippenstift, einen Hauch Lidschatten und einen kaum merklichen Strich Mascara.
Alles in allem sah sie geradezu züchtig aus – jedenfalls für ihre Verhältnisse, musste sie einschränken, als sie das trotzige Funkeln in ihren großen grünen Augen bemerkte.
“Dein Aufzug ist die reine Provokation”, erwiderte ihre Mutter. “Der arme Kerl wird Höllenqualen leiden, wenn du ihm so gegenübertrittst. Das Kostüm ist so eng, dass selbst ein Blinder …”
“Für meine Figur kann ich nichts”, fiel Isobel ihr ins Wort. “Die habe ich genauso von dir geerbt wie die Farbe der Haare und der Augen.”
“Vergiss den Trotzkopf nicht”, ergänzte Silvia. “Du bist offenbar wild entschlossen, ihn nachträglich dafür zu bestrafen, dass er dich damals …”
“Er mich?” Isobel warf ihrer Mutter einen strafenden Blick zu. “Vielleicht darf ich dich daran erinnern, dass ich mich von ihm getrennt habe.”
“Vielleicht darf ich dich daran erinnern, wie inständig du gehofft hast, dass er kommt und dich zurückholt.”
Schön, dass du mir das ausgerechnet jetzt unter die Nase reibst, dachte Isobel. “Ich muss jetzt los”, sagte sie stattdessen und suchte nach ihrer Handtasche.
“Willst du das Ganze nicht lieber dem Anwalt überlassen?”, fragte Silvia besorgt.
“Fang bitte nicht schon wieder damit an”, bat Isobel inständig. Sie hatten schon unzählige Male darüber gesprochen, und allmählich war sie die Ermahnungen und Belehrungen ihrer Mutter leid.
“Dass ihr euch scheiden lasst, wird sicher höchste Zeit”, erklärte ihre Mutter trotzdem und versuchte mühsam, sich aufzurichten. “Aber ich verstehe nicht, warum du so darauf versessen bist, die Details selbst zu klären. Und wenn ich sehe, wie du angezogen bist, wird mir angst und bange.”
Trotz der Krücken, auf die sie sich jetzt stützte, kostete es sie größte Anstrengung, sich aufrecht zu halten. “Setz dich bitte wieder”, bat Isobel und stellte ihr einen Stuhl hin. “Du sollst dich doch nicht überanstrengen.”
“Ich setze mich erst, wenn du dich nicht mehr wie ein bockiges kleines Kind benimmst”, erwiderte Silvia bestimmt.
“Wer benimmt sich hier denn wie ein bockiges kleines Kind?” Auch wenn die Situation eigentlich zu ernst war, musste Isobel unwillkürlich lachen.
Um zu wissen, woher sie ihren Dickkopf hatte, brauchte sie nur ihre Mutter anzublicken. Von ihr hatte sie neben ihrem Aussehen vor allem die Entschlossenheit und den unbeugsamen Willen geerbt.
Vor allem Letzterer wurde seit Silvias schwerem Autounfall vor zwei Jahren auf eine harte Probe gestellt. Die Heilung ging nur schleppend voran, und die Verletzungen an der Wirbelsäule waren so schwer, dass Silvia auf unabsehbare Zeit auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Glücklicherweise war ihr Lebensmut ungebrochen, und so gab sie die Hoffnung nicht auf, eines Tages wieder völlig zu genesen. Manchmal übertrieb sie es jedoch derart, dass sie sich in Gefahr brachte. Erst vor wenigen Wochen war sie schwer gestürzt. Zum Glück hatte sie sich bis auf einige blaue Flecken nichts getan.
Isobel hatte sich trotzdem schwerste Vorwürfe gemacht, weil sie ihre Mutter an jenem Tag allein gelassen hatte, um den Auftrag einer Illustrierten zu erledigen. Seitdem wagte sie es nicht, ihre Mutter länger als einige Stunden allein zu lassen.
Der Brief von Leandros’ Anwalt hatte sie deshalb vor ein schier unlösbares Problem gestellt. Schließlich war sie auf die Idee gekommen, Silvia nach Athen mitzunehmen. Das war zwar nicht der Weisheit letzter Schluss, aber immer noch besser, als vor Sorge um sie zu vergehen.
Zu ihrer Überraschung zeigte sich ihre Mutter einsichtig und nahm auf dem Stuhl Platz. Sie war sichtlich erschöpft.
“Natürlich verfolge ich mit meiner Kleidung eine bestimmte Absicht”, räumte Isobel ein und nahm ihrer Mutter die Krücken ab. “Aber es geht mir nicht darum, dass Leandros seinen Schritt bereut”, fügte sie hinzu, ehe sie in die Hocke ging und Silvias Hand umfasste.
“Ich konnte ihm einfach nichts recht machen”, erklärte sie traurig. “Immer hatte er etwas an mir auszusetzen, ganz egal, ob es um meine Kleidung oder mein Verhalten ging. Jetzt soll er mit eigenen Augen sehen, dass ich durchaus in der Lage bin, mich so gesittet zu kleiden und zu benehmen wie jede andere Frau auch – jedenfalls solange man mich nicht zu etwas zwingen will, was ich nicht bin.”
Silvia brauchte ihrer Tochter nur in die Augen zu sehen, um Gewissheit zu haben, dass diese sich etwas vormachte. Genauso sicher war, dass Leandros einen ganz anderen Eindruck haben würde, wenn Isobel ihm in dieser Aufmachung gegenübertrat.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. “Das wird Lester Miles sein”, sagte Isobel und stand auf, um ihren Rechtsanwalt zu begrüßen.
“Pass bitte auf dich auf, Kleines”, mahnte Silvia sie und hielt ihre Hand fest umklammert. “Er hat dir wirklich genug wehgetan.”
Der unvermittelte Gefühlsausbruch ihrer Mutter machte Isobel zutiefst betroffen. “Vielleicht hat er das wirklich”, gestand sie. “Aber eins ist sicher. Absichtlich hat er mir nie wehgetan. Dafür hat er mich viel zu sehr geliebt, Mum.”
Normalerweise nannte sie ihre Mutter beim Vornamen, und dass sie nun “Mum” sagte, bewies Silvia mehr als alles andere, wie aufgewühlt ihre Tochter innerlich war.
Was ist bloß in mich gefahren? fragte sich Isobel, als Silvia endlich ihre Hand losließ. Wie komme ich dazu, einen Mann in Schutz zu nehmen, der sich Dinge herausgenommen hat, die auch nach so langer Zeit noch unverzeihlich sind? Insofern war Silvias Angst, dass Leandros ihr wehtun könnte, völlig unbegründet. Schlimmer als das, was er ihr vor drei Jahren angetan hatte, konnte es gar nicht werden.
Erst als es erneut klopfte, erinnerte Isobel sich daran, dass es höchste Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen. “Es dauert sicher nicht lange”, versicherte sie ihrer Mutter, während sie zur Tür ging.
“Meinetwegen brauchst du dich nicht zu beeilen”, erwiderte Silvia überraschend. “Clive hat ein Auto gemietet und will mit mir eine Stadtrundfahrt machen.”
Offenbar bleibt mir heute nichts erspart, dachte Isobel bitter, als ihr klar wurde, dass ein weiteres Problem der Lösung harrte.
Clive Sanders war ein Nachbar und seit Jahren ein guter Freund – und wenn es nach ihm gegangen wäre, auch mehr. Bislang hatte sie sich gegen seine Annäherungsversuche erfolgreich zur Wehr setzen können. Das hatte ihn allerdings nicht davon abhalten können, “zufällig” zur selben Zeit nach Athen zu reisen – was er ohne Silvias ausdrückliche Ermunterung kaum gewagt hätte.
Isobel hatte erst davon erfahren, als Clive und sie sich im Foyer des Hotels förmlich in die Arme gelaufen waren. “Freust du dich denn gar nicht?”, hatte er gefragt, als sie ihn mit großen Augen angesehen hatte.
Doch nichts lag ihr ferner. Auch so mischten sich schon zu viele Menschen ungefragt in ihr Leben ein. Auch so meinten schon zu viele Menschen, besser als sie selbst zu wissen, was gut und richtig für sie war.
“Versprich mir, dass du dir nicht zu viel zumutest”, ermahnte sie ihre Mutter, als sie die Tür erreichte.
“Clive wird schon auf mich aufpassen”, erwiderte Silvia. “Schließlich ist er ausgebildeter Physiotherapeut.”
Als Isobel die Tür öffnete, zuckte Lester Miles förmlich zusammen, ehe er sie von Kopf bis Fuß musterte. Es war ihm unschwer anzusehen, dass auch er ihren Aufzug für unpassend hielt. Und wenn schon, dachte sie trotzig. Leandros sollte eine Lektion bekommen, die er sein Lebtag nicht vergessen würde, und dafür war das Lederkostüm genau richtig.
“Sind Sie so weit?”, fragte sie Lester und ging los, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie war plötzlich so entschlossen, dass sie sich fragte, warum sie überhaupt einen Anwalt hinzugezogen hatte. Andererseits konnte es nichts schaden, wenn jemand in der Nähe war, der ihr die richtigen Stichworte geben konnte. Denn sie hatte nicht weniger vor, als sich für all die Kränkungen und Demütigungen zu rächen, die Leandros ihr angetan hatte.
Geld interessierte sie nicht im Geringsten, und sie selbst besaß nichts, was eine “gütliche Einigung” erforderte, von der im Brief des Anwalts die Rede war – es sei denn, Leandros wollte den goldenen Ehering zurückhaben oder den Schmuck, den er ihr zum Entsetzen seiner gesamten Familie geschenkt hatte.
“Dass ausgerechnet du die Juwelen trägst, ist ja wohl ein schlechter Witz”, hatte seine Schwester Chloe gespottet, als sie sie mit den kostbaren Stücken sah. “Sie haben wirklich etwas Besseres verdient.” Und den entgeisterten Blick seiner Mutter hatte sie, Isobel, bis heute nicht vergessen.
Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, hatte sie den Schmuck aus London mitgebracht. Nun lag er im Tresor einer Athener Bank. Wenn Leandros ihn wiederhaben wollte, würde er ihn bekommen – allerdings nicht ohne eine entsprechende Gegenleistung. Es interessierte sie brennend, wie hoch sein Angebot ausfallen würde. Vor allem aber freute sie sich auf die Genugtuung, ihm die verdammten Diamanten auszuhändigen und den Raum mit keiner anderen Entschädigung zu verlassen als ihrem wiedergewonnenen Stolz.
Die Taxifahrt durch den Athener Berufsverkehr dauerte sehr lange. Lester Miles nutzte die Zeit, um sich mit ihr abzusprechen.
“Ihre Verhandlungsposition könnte nicht besser sein, Mrs. Petronades”, teilte er ihr mit. “Da es keinen Ehevertrag gibt, steht Ihnen die Hälfte des Vermögens Ihres Mannes zu.”
Plötzlich glaubte Isobel zu wissen, was Leandros unter einer “gütlichen Einigung” verstand. Doch der Einsatz, um den es ging, hatte sich drastisch erhöht. Und wo ein Milliardenvermögen zu verteilen war, spielte selbst der wertvollste Schmuck eine untergeordnete Rolle.
“Die Verhandlungen stehen und fallen damit, wer von Ihnen an der Scheidung das größere Interesse hat”, fuhr der Anwalt fort. “Und da die Initiative von Ihrem Mann ausgeht, haben Sie die weitaus besseren Karten.”
“Ich scheine Sie unterschätzt zu haben”, gab Isobel zu. “Wissen Sie denn zufällig auch, warum er ausgerechnet jetzt die Scheidung eingereicht hat?”
“Beweisen kann ich es nicht”, antwortete er. “Aber wenn mich nicht alles täuscht, ist eine andere Frau dafür verantwortlich. Zumindest haben mir meine Informanten berichtet, dass sich eine gewisse Diantha Christophoros längere Zeit auf der Yacht Ihres Mannes aufgehalten hat.”
Bei der Erwähnung der ebenso bezaubernden wie vermögenden jungen Frau drohte sie in einen tiefen Abgrund zu stürzen.
“Die Dame entstammt einer der angesehensten Dynastien Griechenlands”, berichtete Lester, was sie schon wusste, um dann fortzufahren: “Eine Verbindung der beiden Familien würde die wirtschaftliche Macht des Petronades-Konzerns beträchtlich erhöhen. Gerüchten nach steht die Hochzeit Ihres Mannes unmittelbar bevor. Für diese Theorie spricht, dass Ihr Schwager Nicolas in der kommenden Woche eine gewisse Carlotta Santorini heiratet. Auch sie stammt aus einer angesehenen Unternehmerfamilie. Deshalb gehe ich davon aus, dass Ihr Mann – verzeihen Sie den Ausdruck – seinem Bruder zuvorkommen will. Bei solchen Konzernen in Familienbesitz geht es mitunter heute noch zu wie früher an Königshäusern. Der Erstgeborene übernimmt die Leitung, und alle anderen werden bestenfalls abgefunden.”
Mit jedem Wort ihres Anwalts war Isobel elender zumute geworden, und irgendwann konnte sie die Tränen nur noch mit äußerster Mühe zurückhalten.
Verdammter Mistkerl!, verfluchte sie stumm jenen Mann, dem die Gefühle anderer im schmutzigen Spiel um Macht und Einfluss nicht das Geringste bedeuteten.