FÜNF

Ich schätze, rein theoretisch könnte es eine Zeit geben, zum Beispiel am frühen Nachmittag, in der es Steve Walsh länger als fünf Minuten ohne einen Schuss Kaffee oder einen Schluck Rotwein aushält – so wie es rein theoretisch im Leben russischer Frauen um die dreißig eine kurze Phase zwischen hochhackigem Exhibitionismus und den fülligen Konturen mittleren Alters geben muss. Doch wann immer ich Steve Walsh sah, pfiff er sich das eine oder andere Rauschmittel ein. Wie den meisten expatriierten Alkoholikern half es ihm, sich einzureden, dass er keiner war: Er bestellte den Wein per Glas, auch wenn er an einem Abend zwölf oder zwanzig Gläser trank, was für sein Portemonnaie zwar schlechter, für sein Selbstwertgefühl aber besser war. Als ich ihn zum Mittagessen traf, um ihm von Mascha und mir zu erzählen, hatte er sich bereits vom Kaffee zum Wein vorgearbeitet.

»Und?«, fragte Steve, nachdem ich ihm den aktuellen Stand unserer Beziehung zusammengefasst hatte. »Hat sie dich schon aufgefordert, ihr was zu kaufen? Diamanten? Ein Auto? Eine Busen-OP

»So läuft das bei uns nicht.«

»Wie denn?«

»Mit uns ist es anders, Steve.«

»Glaubst du etwa, sie ist wegen deines Aussehens mit dir zusammen?«

Dem Buchstaben des Gesetzes nach war Steve Brite, doch hatte er sich schon so lang und an so vielen fernen Orten redlich darum bemüht, England aus dem Weg zu gehen – ehe er nach Moskau kam, war er, wenn ich mich nicht irre, drei, vier Jahre in Mexiko gewesen, davor auf dem Balkan und davor irgendwo, woran ich mich und er sich vermutlich auch nicht mehr erinnern kann –, dass er, als ich ihn kennenlernte, zu einem jener verlorenen Auslandskorrespondenten geworden war, über die man bei Graham Greene lesen kann, ein Bürger der internationalen Republik des Zynismus. Er nutzte mich aus, zapfte mich an, um Hinweise zu bekommen, die ich ihm nicht geben sollte – Hinweise darauf, welches Kartell sich was von wem lieh, um welche Öl- oder Aluminiumfirma zu übernehmen, Gleichungen der Gier, die ihm halfen, sich auszurechnen, wer im Kreml aufstieg, wer abstieg, wer der nächste Präsident werden würde und wer auf dem Weg ins Gefangenenlanger in Magadan war. Steve tat, als prüfte er meine Angaben, dann brachte er sie in seinen Artikeln für den Independent und irgendeine kanadische Zeitung unter, von der seine Arbeitgeber in London nichts wussten. Ich nutzte ihn auf meine Weise aus, etwa für Gespräche in Englisch, die sich nicht um Boni drehten. Also profitierten wir beide voneinander. Mit anderen Worten: Wir waren Freunde. Ich glaube sogar, er war mein einziger wahrer Freund in Moskau.

Sein Haar war fettig blond, und auch wenn er einmal attraktiv gewesen sein dürfte, sah er inzwischen doch ziemlich zerknittert und riojagerötet aus. Ein wenig hatte er Ähnlichkeit mit Boris Jelzin.

»Steve«, sagte ich, »lach jetzt nicht, aber ich glaube, ich habe mich verliebt.«

Du bist nie besonders eifersüchtig gewesen, hattest aber auch nie besonderen Grund, eifersüchtig zu sein. Also denke ich, du wirst es verkraften.

»Verdammte Scheiße«, sagte Steve und wedelte mit seinem Glas.

Wir aßen Bœuf Stroganoff im französischen Restaurant im hinteren Teil des Smolenski-Shoppincenters, wo die Mätressen der Minigarchen zwischen ihren Pediküren überteuerten Tee tranken. Wenn ich mich recht erinnere, war es schon fast Ende November. Gerade war der erste schwere Schnee gefallen, war über Nacht gekommen, als spielte er uns einen Streich und schuf in einer Stunde eine neue Stadt. Hässliches wurde schön, Schönes zauberhaft. Der Rote Platz verwandelte sich in eine Filmkulisse – auf der einen Seite das weißgesprenkelte Mausoleum, der schneebestäubte Kreml, auf der anderen das wie ein Rummelplatz leuchtende Warenhaus GUM. Über Bauplätze und Kirchhöfe schnüffelten Meuten optimistischer Köter durch den Schneematsch. Taxifahrer schraubten ihre Preise in die Höhe: Seit wann Ausländer in Moskau lebten, erkannte man daran, wie lang sie im Schnee standen und mit den Fahrern verhandelten. Bettelnde Babuschkas hatten ihre erpresserische Winterhaltung eingenommen, knieten auf dem Bürgersteig mit ausgestreckten Armen im eisigen Weiß. Und trotz Pelzmänteln und Gesichtsgrimassen merkte man den Russen an, dass sie, zumindest relativ, glücklich waren. Denn sieht man einmal von Fatalismus und Borschtsch ab, ist es der Schnee, der sie zu dem macht, was sie sind.

»Sie liebt mich auch, glaube ich. Wenigstens könnte sie es. Jedenfalls mag sie mich.«

»Hat sie das gesagt?«

»Nein.«

»Hör zu«, sagte er, »wenn sie es sagt, dann meint sie es ernst. Sie meint es in eben der Sekunde ernst, in der sie es sagt. Zwanzig Minuten später meint sie es genauso ernst, wenn sie dir die Kreditkarte klaut. Sie meinen es immer ernst.«

»Bist du schon mal verliebt gewesen, Steve?«

»Weißt du was, Nick? Du solltest deine moralischen Grundsätze vergessen. Sonst bist du erledigt.«

Ich wechselte das Thema und beschloss, Steve zu fragen, ob er mir nicht helfen könne, den Freund meines Nachbarn Oleg Nikolaewitsch zu finden. Wie versprochen war ich bei der Polizei gewesen, konnte aber nichts erreichen. Mascha hatte mich begleitet: Oleg Nikolaewitsch dagegen entschuldigte sich im letzten Moment damit, eine dringende Verabredung zu haben und deshalb nicht kommen zu können, doch glaube ich, dass ihn letztlich eine tiefsitzende Furcht vor Uniformen abgehalten hat. Der picklige, spätpubertäre Beamte, mit dem wir redeten, trug Jeans und hörte Gangsta-Rap. Über seinem Tisch hing ein Schild mit der Aufschrift: ›Blumen oder Schokolade kann ich nicht trinken‹, daneben waren Schwarzweißporträts von Russlands verschlagenem Präsidenten und von Erwin Rommel zu sehen. Der Beamte musterte uns mit diesem besonderen Blick, den offenbar nicht nur Russlands Frauen, sondern auch einige russische Männer in ihrem Repertoire haben – die kommerzielle Version einer Anmache, eine Art ›Gib-mir-Cash‹-Lächeln. »Er will Geld«, flüsterte Mascha auf Englisch. Ich weigerte mich, und der Beamte sagte, da es keinen konkreten Hinweis auf ein Verbrechen gebe, könne er nichts machen. Als wir gingen, fügte er noch hinzu, falls ich es einmal eilig hätte, zu einem wichtigen Termin oder zum Flughafen zu kommen, könne er mir eine Motorradeskorte besorgen. (»Na ja«, sagte Oleg Nikolaewitsch, als ich ihm erzählte, wie es uns auf dem Polizeirevier ergangen war, »solange wir leben, besteht die Möglichkeit, dass wir eines Tages glücklich sind.«)

Ich dachte, Steve würde vielleicht einen freundlichen Polizisten kennen, einen umgänglichen Agenten oder Einbrecher, jemanden, der einige Nachforschungen anstellen, ein paar Erinnerungen wecken oder ein schlechtes Gewissen provozieren konnte.

Steve sagte, es täte ihm leid, aber die ihm bekannten Polizisten seien keine von der Sorte. Und er riet mir, meine Zeit nicht zu vergeuden, Konstantin Andrejewitsch sei vermutlich tot – bestimmt in den Fluss gefallen oder unters Auto gekommen, oder er hatte den falschen Fusel gesoffen und war im Wald einfach umgekippt.

»Lass sie nicht zu nah an dich heran«, riet ihm Steve. »Die meisten werden kaum sechzig. Bleib nur lang genug hier, und um dich herum sterben die Leute. Kennst du zwei Russen über sechzig, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass einer von denen bald ins Gras beißt. Vor allem die Männer. Die saufen sich zu Tode, noch ehe sie ihre Rente kriegen. Wenn du dich in der Metro langweilst, versuch’s mal mit folgendem Spiel: Zähle alte Männer. Die russische Version von I Spy

»Noch irgendeine Idee, Steve? Ich meine, wie ich Oleg Nikolaewitsch helfen kann, seinen Freund zu finden? Im Ernst, mein Nachbar ist ein netter alter Kerl. Hat aber kein Geld und kein krischa, gar nichts. Ich fürchte, ich bin seine beste Hoffnung.«

»Wir sind in Russland«, erwiderte Steve. »Bete.«

Ich gab es auf und fragte ihn stattdessen, ob er etwas über meinen neuen Kunden wisse, den Kosaken. Ihn fand er viel interessanter.

»Kleiner Typ?«, fragte Steve. »Helle Augen, schleimiger Blick?«

Ja, sagte ich, ganz genau.

»Das ist kein Ölspezialist«, sagte Steve. »Der arbeitet für den FSB.« Falls dir die Initialen nichts sagen, der FSB ist die Neuausgabe des KGB, nur ohne Kommunismus und ohne Regeln. »Man erzählt sich, er sei Anfang der Neunziger irgendwo im Ural wegen Mordes verurteilt worden. Der FSB hat ihn aus dem Gefängnis geholt, aufgenommen und nach Fernost geschickt, um dort bei Wilddiebereien zu helfen. Ich habe ihn selbst nie kennengelernt, war aber einmal auf der Insel Sachalin in einer Bar, als mich ein schottischer Hubschrauberpilot auf ihn aufmerksam machte. Ich meine, mich zu erinnern, dass der Pilot gesagt hätte, dieser Mann sei in Kamtschatka in den Kaviarschmuggel verwickelt gewesen, bis er zum Lachs versetzt wurde. Man hat ihn sogar für den Posten des stellvertretenden Inselgouverneurs aufgestellt, dann aber woandershin verschifft. Wahrscheinlich hat er sich in Sachen Fisch so gut gemacht, dass er ins Ölteam befördert wurde. Straftaten, Business, Politik, Spionage – das typisch russische Karussell.«

»Vielleicht hat er beim FSB aufgehört, um ins große Geschäft einzusteigen«, sagte ich.

»Sie sind alle im Geschäft«, erwiderte Steve, »aber sie hören nie auf, im Geheimdienst zu sein. Es gibt keine Ex-KGB-Leute, genau wie es der Präsident immer sagt.«

Ich fragte ihn, ob er irgendwas über das geplante Ölterminal im Norden wisse, das wir mit einem Kredit finanzierten. Unser Vorhaben schien reibungslos zu laufen: Der Kosake sollte bald seine erste Finanztranche erhalten. Die Banken, die ihm das nötige Geld liehen, hatten ein Cashflow-Modell sowie eine Machbarkeitsstudie für das Projekt erstellt, ausgearbeitet von der üblichen Schar Fachberater, dazu kamen von uns an die hundert Seiten mit Verzichtsklauseln und Haftungsfreistellungen. Der Form halber suchten wir um Garantien für die Zusammenarbeit beim Gouverneur der Region nach, in der das Terminal gebaut wurde, bei Narodneft hinsichtlich der Ölmenge, die nach Fertigstellung durchgepumpt werden sollte, und beim Kosaken bezüglich der Kapitalbeträge, die für Rückzahlungen auf einem Treuhandkonto bereitgestellt werden sollten. All dies, hatte man uns versichert, sei in die Wege geleitet worden. Und auf dem Baugelände laufe alles nach Plan, so der Kosak: Er gehe davon aus, dass zu Beginn des nächsten Sommers das erste Öl vom Terminal in die Tanker gepumpt werde. Zur einzigen Verzögerung war es bislang gekommen, als Wjatscheslaw Alexandrowitsch, der Inspektor, sich die Anlage ansehen wollte und ihm von Seiten des Kosaken mitgeteilt wurde, es hätte einen kleinen Brand gegeben, weshalb er seinen Besuch lieber um einige Wochen verschieben sollte.

»Klingt plausibel«, sagte Steve. »Die Russen haben ihre Pipeline-Kapazitäten mehr oder weniger erschöpft, weshalb sie dringend neue Exportwege suchen. Noch in seinem letzten Fernsehtelefonat hat sich der Präsident dazu geäußert: ›Für Russlands Wirtschaft bedeutet dies eine große Herausforderung, weshalb wir jede Hilfe und Investition seitens unserer ausländischen Partner begrüßen‹, das übliche Blabla. Off-Shore-Öl ist angeblich die neue große Sache. Kann man auf den europäischen Markt bringen, ohne dass man sich auf die bolschewistischen Nachbarn verlassen muss, mit denen sich die Russkis sowieso ständig in den Haaren liegen. Irgendwo haben sie eine eisfreie Bucht – ich glaube, im Golfstrombereich –, und die wird dafür genutzt. Wer sind die Partner?«

Nur die Logistikfirmen und Narodneft, antwortete ich.

»Interessant. Hör zu, ich gehe davon aus, dass eure Banken okay sind. Die Russen haben das Öl; sie müssen es verkaufen und kennen die Regeln: Die eigenen Leute können sie abzocken, solange sie nett zu den Ausländern sind. Aber irgendwas steckt immer für sie drin, Nick. Ich vermute, sobald sie Profit machen, benutzen sie das Logistikgeschäft, um was von den Einnahmen für sich abzuschöpfen, damit Narodneft den ganzen Gewinn nicht mit der Allgemeinheit teilen muss. Du weißt, was der Name Narodneft bedeutet?«

»Sicher.«

»›Volksöl‹. Blöder Witz.«

Steve war einmal vom Amt für Auswärtige Angelegenheiten einbestellt worden, um sich anschreien zu lassen, weil er ohne schriftliche Erlaubnis nach Tschetschenien gefahren war und dort für seine Zeitungen Gespräche mit selbsterklärten russischen Kriegsverbrechern aufgezeichnet hatte. Das Ministerium drohte damit, ihm das Visum zu entziehen, und die Gerüchteküche wollte, er habe zurückgeschrien, sollten sie doch, sollten sie ihn doch rauswerfen, wäre ihm eine große Freude. Falls dies wirklich passiert war, hatte er geblufft, denn wie alle Journalisten, die ich je in Moskau kennenlernte, hatte Steve sich in Russland verliebt. Hier gab es so viele Nobelrestaurants mit importiertem Bier, wie er sich nur wünschen konnte, und doch hatten sich genügend schlechte Angewohnheiten der alten Schule bewahrt, um jeden Schreiberling mit Kolumnenmaterial zu versorgen und auf dieser Seite der Welt zu halten, fern von dem, wovor man floh. Die meisten, Steve ganz besonders, kaschierten ihre Liebe mit einer Art moralischem Machismo. Es war, als fühlte er sich geradezu vertraglich verpflichtet, in allem und jedem das Schlimmste zu sehen – oder zumindest doch so zu tun. Degeneriert, wie er war, konnte er manchmal ein ziemlich frömmlerisches Arschloch sein.

»Ich bin mir nicht sicher, Steve«, sagte ich. »Du weißt doch, dass eine solche Vorgehensweise für die großen Ölgesellschaften üblich ist: Für neue Investitionen gründet man eine separate Firma, damit die Schulden nicht in den Bilanzen auftauchen. Das machen die westlichen Firmen genauso, nicht allein Narodneft.« Es stimmte, ein solcher Schachzug war ein normales Buchführungsmanöver. Allerdings verteidigte ich den Kosaken vielleicht auch bloß, weil Steve mich wegen Mascha auf den Arm genommen hatte.

»Aber Narodneft ist keine westliche Firma, Nick. Hör zu«, antwortete er und nahm noch einen Schluck, »du musst verstehen, dass die Sowjetunion das Gegenteil dessen bewirkte, was man sich einst erhofft hatte. Statt dass sich alle gegenseitig liebten, interessierte man sich am Ende einen Dreck füreinander. Nicht für die Öffentlichkeit, nicht für die Aktienbesitzer, nicht einmal für dich.«

Ich wusste, wohin das führte: Nicht der Kommunismus hatte Russland ruiniert, eher war es umgekehrt, und drei Weingläser später würden wir beim Erstarken des KGB-Staates sein, dem Erbe von Iwan dem Schrecklichen und den Vorzügen, die man den Frauen von Sankt Petersburg zu Recht nachsagte. Ein Blick in seine toten, fleckigen Augen verriet mir, dass Steve eifersüchtig war auf Mascha und mich, überhaupt auf jeden, der Hoffnung und Ehrgeiz genug besaß, glücklich sein zu wollen. Sein mäandernder Vortrag über russische Geschichte streifte gerade die Langzeitwirkungen des mongolischen Jochs, als ich ihn unterbrach.

»Ich fühle mich beschissen«, log ich und schob den Teller von mir. »Großes Gelage mit Mascha letzte Nacht. Ich glaube, ich muss los. Tut mir leid, Steve. Wir holen den Abend bald mal nach, okay?«

»Wir fühlen uns doch alle beschissen«, sagte Steve, sah zum Kellner, zog eine Augenbraue hoch und tippte ans Glas. »Liegt an diesem verfluchten Russland. An der Sauferei. Der Umweltverschmutzung. Diesem Drecksfraß. Den verdammten Flugzeugen. Und an diese Scheiße, die bei Regen vom Himmel fällt, will man nicht mal denken. Russland ist wie Polonium. Es greift sämtliche Organe auf einmal an.«

»Woran arbeitest du im Moment?«, fragte ich, als ich mir den Schal umband.

»Energiewirtschaft. Große Sache«, sagte er. »Viel größer als dein kleiner Ölterminal.«

»Und der Schwerpunkt diesmal? Geschäft oder Politik?«

»In Russland«, antwortete Steve, »gibt es keine Geschichten über Geschäfte. Und es gibt auch keine Geschichten über Politik. Auch keine Liebesgeschichten. Es gibt nur Kriminalgeschichten.«