DREIZEHN

Ende März begann der braune Moskauer Schnee zu tauen und wollte erneut gefrieren, als die Temperatur für ein, zwei Tage wieder fiel, hielt sich aber als ekelhafter Matsch – sliakot, wie ihn die Russen nennen –, bei dessen Anblick man fast erwartete, dass ein haariger, prähistorischer Arm daraus hervorlangte, um einen hinabzuziehen. Gehweg und Gosse wurden in meiner Straße langsam auch auf der Seite wieder sichtbar, auf die man den Schnee geschaufelt hatte; Zentimeter um Zentimeter zogen sich die Gletscherberge zurück. Ein einzelner Scheinwerfer lugte schließlich aus dem Haufen, unter dem der Schiguli begraben worden war, und blinzelte mich an wie ein trübes, blutunterlaufenes Auge.

Es war Ende März, vielleicht auch der erste Tag im April. Wir wollten uns bei Tatjana Wladimirowna treffen, damit sie den Vorvertrag unterschrieb, den ich dank der von ihr bewilligten Vollmacht ausgearbeitet hatte: Ihre Wohnung am Teich im Tausch für eine neue Wohnung in Butowo, plus fünfzigtausend Dollar; Zeitpunkt der Übergabe ein Tag Anfang Juni. Ich lief durch den Nachmittagsmatsch zu ihrem Haus und weiß noch, dass ich in der Unterführung am Puschkinplatz einen alten Mann Akkordeon spielen sah, im Schoß ein wie betäubtes Kätzchen, doch hatte ich es eilig und gab ihm nichts.

Ich war früh dran. Vielleicht kam ich absichtlich zu früh und wollte vor Katja und Mascha da sein, obwohl ich den Grund dafür nicht hätte nennen können. Nach jenen wenigen Minuten im Wartezimmer der Anwaltskanzlei, als Katja ein besseres Angebot erhalten hatte und gegangen war, saß ich nun zum zweiten Mal allein mit Tatjana Wladimirowna zusammen. Und ehe Katja und Mascha an diesem Nachmittag auftauchten, fand ich heraus, dass Tatjana Wladimirowna nicht ihre Tante war, es auch nie gewesen war, weder im Englischen noch im Russischen, noch in sonst irgendeinem Sinne. Es war meine letzte Gelegenheit.

Ich zog die Schuhe aus. Sie hatte bereits mit dem Packen begonnen. Pappkartons stapelten sich auf dem Flurparkett, noch geöffnet und mit Papieren und Krimskrams vollgestopft (aus einem Karton ragte der Arm eines Leuchters wie der Arm einer Leiche aus einem Sarg), daneben standen ein, zwei dieser riesigen, gemusterten Taschen, wie man sie auf Flughäfen Immigranten schleppen sieht. Im Wohnzimmer schien jedoch nichts angerührt worden zu sein. Fast wie Ausstellungsstücke in einem ›So-lebte-man-früher‹-Museum waren die Fotos aus der Stalinzeit noch da, die Aufnahmen der gelenkigen Tatjana Wladimirowna mit ihrem toten Gatten, dazu die modrigen Enzyklopädien und das mittelalterliche Telefon, ebenso mein Tee im Doppeldeckerbus. Die phantasmagorischen Tiere sahen mich über den Teich hinweg durch den diesigen Nachmittag an. Tatjana Wladimirowna brachte Tee und Marmelade.

Ich gab ihr die kitschige Schneekugel mit der Kathedrale, die ich ihr in Sankt Petersburg gekauft hatte. Sie lächelte wie ein Kind, küsste mich und stellte sie auf den Tisch zwischen dem Telefon und das Bild von ihrem Mann.

Sie fragte, ob mir Sankt Petersburg gefallen habe. Eigentlich hatte ich die Stadt anstrengend und seltsam gespenstisch gefunden, doch rettete ich mich mit einer Notlüge und sagte, Sankt Petersburg sei sehr schön, die schönste Stadt der Welt. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihr einen Anlass bot oder sie von sich aus anfing, doch führte das Gespräch gleichsam zwangsläufig von meinem Stadtbesuch wieder zu ihrer Vergangenheit, nur redeten wir diesmal von der Zeit der Belagerung.

Sie sagte, wenn sie heute an Leningrad zurückdenke, sei es immer kalt gewesen und hätte ständig geschneit – sie warf einen Blick auf mein Geschenk und lächelte –, obwohl sie wisse, dass es Zeiten gegeben haben müsse, in denen es Sommer gewesen war, heiß und hell. St. Isaak, fuhr sie fort, war damals natürlich keine Kathedrale. Die Kommunisten hatten daraus ein Museum des Atheismus gemacht oder ein Schwimmbad, was genau, wisse sie nicht mehr; offenbar verlor sie langsam den Verstand.

»Alles«, sagte sie, »war wie auf den Kopf gestellt. Anfangs hörten wir Radio. Es hieß, wir seien Helden, Leningrad sei eine Heldenstadt, also fühlten wir uns wie Helden. Dann aber wurden die Menschen zu Tieren, verstehen Sie? Und all die übrigen Tiere waren nur noch etwas zum Essen. Wir hatten einen Hund; er war nur ein kleiner Hund, aber wir mussten ihn vor den Leuten verstecken. Gestorben ist er trotzdem, und letzten Endes haben wir ihn dann selbst gegessen. Es wäre besser gewesen, wir hätten ihn gegessen, als er noch dick war!«

Sie lachte – ein kurzes, wildes, russisches Lachen.

»Am reichsten waren die Leute, die viele Bücher besaßen«, erzählte sie. »Die wurden verbrannt, verstehen Sie?«

»Ja«, sagte ich, obwohl ich es natürlich nicht verstand.

»Bücher waren zum Verheizen. Hunde wurden gegessen. Pferde waren auch zum Essen, manchmal sogar, wenn sie noch lebten. Fielen sie auf der Straße um, rannten die Leute mit einem Messer nach draußen. Aus Stiefeln und Schuhen kochte man Suppen.«

Sie hielt inne, schluckte, versuchte weiterhin zu lächeln.

»Ich war im Keller … ich weiß noch, nach dem Krieg, im Kinderlager, da bekam ich ein Eis. Sie sagten, ich hätte Glück gehabt.«

Ich fragte: »Möchten Sie wirklich zurück nach Sankt Petersburg?«

»Vielleicht.« Etwa fünf Sekunden lang schloss sie die Augen, um sie dann wieder aufzuschlagen. »Nein.«

Ich fragte, ob Maschas und Katjas Familien während der Belagerung in Leningrad gewohnt hatten.

»Weiß ich nicht«, sagte sie. »Damals lebten viele Menschen in Leningrad. Zu Beginn natürlich mehr als später.«

»Haben Sie denn nicht zusammengewohnt?«

»Wieso?«

»Ich dachte, sie hätten vielleicht zusammengewohnt.«

»Warum denn?«

»Weil sie verwandt sind.«

»Verwandt? Nein, wir sind nicht verwandt.«

Ja, ich war überrascht, wenn auch vielleicht nicht völlig überrascht. In diesem Moment beschloss ich jedoch, mir nichts anmerken zu lassen. Ich zog es vor, meine letzte Gelegenheit nicht zu nutzen.

»Tut mir leid, Tatjana Wladimirowna«, sagte ich. »Ich habe mich wohl geirrt. Ich dachte, Sie seien ihre Tante.«

»Ihre Tante? Nein«, erwiderte Tatjana Wladimirowna und schüttelte den Kopf, lächelte aber. »Ich habe keine Familie mehr. Niemanden.« Sie wandte den Blick ab und wiegte sich leicht hin und her.

»Woher kennen Sie die beiden dann?«, fragte ich so gefasst wie nur möglich. Ich wollte sie nicht beunruhigen, musste aber die Fakten wissen. »Woher kennen Sie Katja und Mascha?«

»Das war ziemlich seltsam«, sagte sie und rückte sich auf dem Sofa zurecht, als bereite sie sich auf eine lange, spannende Geschichte vor. »Ich habe sie in der Metro getroffen.«

*

Ich komme auf Tatjana Wladimirowna zurück, versprochen, aber erst will ich noch einmal vorgreifen, nur ein paar Stunden. Lass mich dir erzählen, was später am selben Tag geschah. Ich denke, es hilft, mein Verhalten zu verstehen – falls du es denn verstehen willst. Mir hilft es allemal: Im Rückblick kommen mir die beiden Begegnungen wie Teile desselben Ereignisses vor, eine einzige kleine, über einen Nachmittag und einen Abend verteilte Offenbarung.

Nachdem wir uns von Tatjana Wladimirowna verabschiedet hatten, begleitete mich Paolo zu einem Treffen mit dem Kosaken und mit Wjatscheslaw Alexandrowitsch, dem Inspektor. Es war ein Sonntag, denke ich, trotzdem mussten wir sie unbedingt sehen. Am darauffolgenden Tag sollten die Banken die letzte und größte Tranche des Kredits freigeben: zweihundertfünfzig Millionen Dollar, plus oder minus eine Million. Der Kosake hatte uns in ein Bürogebäude in der Nähe der alten britischen Botschaft eingeladen, in der Uferstraße direkt am Fluss, gleich gegenüber von den fleischfarbenen Mauern des Kremls. Wie wir später herausfanden, gehörte ihm das Büro gar nicht. Ich bezweifle sogar, dass der Kosake damals überhaupt ein Büro besaß. Er hatte nur seinen Hummer, jede Menge Chuzpe und sein krischa.

Wir fuhren im spiegelverkleideten Lift in den dritten oder vierten Stock und betraten ein Zimmer mit imposantem Konferenztisch und über den Fluss blickenden Fenstern. Es war schon spät an diesem tristen Nachmittag, doch war noch zu sehen, wie unten auf dem Fluss das Eis riss und brach, wie das Wasser große Schollen abschüttelte, sie übereinanderschob oder einfach beiseitedrängte, eine mächtige Schlange, die ihre Haut abstreifte. Entlang der Uferstraße ragten gelbe und graue Gebäude in den schmutzig dämmrigen Himmel, aus deren oberen Fenstern Licht blitzte, als schwebten UFOs im Tiefflug durch diese trübe Suppe.

Es gab Wodka (sowie, um den Anschein zu wahren, Schwarzbrot und eingelegte Gurken).

»Was zu trinken?«, sagte der Kosak und ging zielstrebig zur Anrichte.

»Nur einen«, erwiderte Paolo.

»Okay«, sagte ich.

»Nein, danke«, sagte Wjatscheslaw Alexandrowitsch.

Paolo kannte ihn schon, weil er bei anderer Gelegenheit bereits mit uns zusammengearbeitet hatte, ich aber war bisher nur einmal mit ihm zusammengetroffen, zu Beginn des Winters, als wir ihn für die Sache mit dem Ölterminal einstellten. Er war ein kleiner, blassgesichtiger Mann mit vollem Haar, dicker sowjetischer Brille und besorgtem Blick. Ich denke, wenn man wollte, könnte man behaupten, er sähe wie eine komprimierte oder gestutzte Version meiner selbst aus. Sein Anzug roch nach Zigaretten und Breschnew. Ich weiß noch, dass er sich Wattebäusche in die Ohren gestopft hatte, eine Vorsichtsmaßnahme, zu der einige abergläubische Russen greifen, wenn sie mit einer Erkältung nach draußen gehen.

Die Wodkaflasche war wie eine Kalaschnikow geformt. Der Kosak fasste sie am Kolben an und schenkte vier große Schnapsgläser ein. Als er mir mein Glas hinhielt, sah ich, dass seine Manschetten kleinen Dollarscheinen glichen.

»Nur ein Schluck«, sagte er zu Wjatscheslaw Alexandrowitsch, fragte nicht, stellte fest, als er ihm das Glas gab, das er nicht wollte.

»Auf uns!«, rief der Kosak, kippte den Wodka in einem Zug und wischte sich dann mit beerdigungsschwarzem Ärmel den Mund ab. Paolo und ich stießen an und tranken. Der Wodka war beste Qualität, weich, ohne Nachbrennen, fast ohne Geschmack.

Wie ein Taucher vor dem Sprung ins Wasser holte Wjatscheslaw Alexandrowitsch tief Luft, dann trank er aus. Er keuchte; die Maulwurfsaugen blinzelten und tränten hinter der dicken Brille.

Der Kosak lachte und klopfte ihm auf den Rücken. Die beiden Männer dürften etwa gleich groß gewesen sein, doch war der Kosak wie ein massiger Knastgewichtheber gebaut, Wjatscheslaw Alexandrowitsch dagegen wirkte schlaff und hatte einen Wanst, eine dieser schlecht sitzenden Figuren, die es schaffen, zugleich fett und schmächtig auszusehen. Er stolperte vor, fing sich wieder und versuchte zu lächeln.

»Gut gemacht«, sagte der Kosak. »Also, setzen wir uns.«

Wir trafen uns, um die Papiere abzuzeichnen, die von den Banken benötigt wurden, ehe der letzte Scheck ausgestellt oder der Geldtransferknopf gedrückt werden konnte. Wir hatten jeder laminierte Kopien der Zusicherungserklärung vom Gouverneur der Arktisregion sowie Narodnefts Zusagen für hohe Öllieferungen. Den Banken lagen die politischen Risikoabsicherungen vor und unser vertrauenerweckender, buchlanger Vertrag. Es fehlte nur noch Wjatscheslaw Alexandrowitschs neuster Fortschrittsbericht.

Ich machte mir Notizen und war der Einzige, der nicht rauchte. Wjatscheslaw Alexandrowitsch sog hastig an seiner Zigarette, wirkte aber mit jedem Zug weniger entspannt. Er berichtete, der Supertanker sei nun vollständig umgebaut und warte darauf, von den Schleppern zum Bohrplatz gezogen zu werden. Die zwölf Anker, die ihn an Ort und Stelle halten sollten, waren versenkt, der Meeresboden entsprechend vorbereitet. Wjatscheslaw Alexandrowitsch erhob sich, um uns durch seine Präsentation zu führen, die auf einen Bildschirm an der Wand projiziert wurde. Dazu gehörten maßstabsgerechte Zeichnungen und Fotos von scharfkantigem Equipment, das sich unermüdlich in den Schlamm baggerte. Eine der Aufnahmen zeigte einen Abschnitt Rohre, die wie ein achtlos entsorgter Leichnam halb im Eis vergraben lagen, eine andere ein verschwommenes Bild, angeblich vom Grund des arktischen Meeres. Einmal hakte die Präsentation, und ich sah, wie Wjatscheslaw Alexandrowitsch der Schweiß von Hals und Nase tropfte, als er sich am Computer zu schaffen machte.

Zum Schluss sagte er, er sei zuversichtlich, dass alle Vorbereitungen getroffen worden waren, um baldmöglichst mit verlässlichem Ölexport beginnen zu können. Dann senkte er den Blick auf die Tischplatte und rauchte, als hinge sein Leben davon ab.

»Gute Neuigkeiten!«, sagte der Kosak.

Paolo und ich beratschlagten uns. Zugegeben, ich war an dem Abend nicht ganz bei der Sache, doch ging es eigentlich sowieso nur um eine Formalität. Selbst wenn wir gewollt hätten, wäre es zu spät gewesen, den Banken Zurückhaltung zu empfehlen. Und wir wollten nicht: Wjatscheslaw Alexandrowitsch schien gründlich gearbeitet zu haben, und Narodneft war noch im Boot. Wir brauchten nicht lang. Paolo sagte, seiner Meinung sollten die Banken das Geld freigeben. Ich stimmte zu. Wir sagten es dem Kosaken.

»Okay«, erwiderte er und zupfte an seinem Pony.

Der eigentliche Grund aber, warum ich jenen Abend in Erinnerung habe – der Grund, warum er für mich mit Tatjana Wladimirowna zusammenhängt – ist nicht unsere Zusammenkunft oder die Folter, die der Kosak so meisterhaft an Wjatscheslaw Alexandrowitsch verübte, sondern das, was im Anschluss geschah. Es war das einzige Mal, dass ich Paolo jemals wütend erlebte, selbst wenn ich die späteren Ereignisse einbeziehe, auch das einzige Mal, dass wir uns jemals gestritten haben, gehörte er doch zu den Menschen, die ganz darauf ausgerichtet sind, Streitigkeiten in Einigkeit umzumünzen, akzeptable Formulierungen zu finden, unangenehme Realitäten zu übertünchen.

Wir schlossen die geschäftlichen Angelegenheiten ab. Durch die plötzlich angebrochene Nacht funkelte der erleuchtete Kreml über den Fluss, und der Kosak lud uns zur Feier des Tages zum Abendessen ein. »Wer weiß«, sagte er, »was noch nach dem Essen kommt.« In seinen Augen flackerten Vergewaltigungen, Plünderungen, Geldwäschepläne.

Wjatscheslaw Alexandrowitsch entschuldigte sich und ging. Paolo, der Kosak und ich liefen die Straße hinunter zum Hummer mit den getönten Scheiben. Paolo schlug den Kragen seines italienischen Mantels hoch. Ich weiß noch, dass der Kosak eine dieser Pelzmützen aufhatte, die aus dem Fell irgendeiner bedrohten Tierart genäht werden, eine der Mützen, die auf den Köpfen russischer Männer sitzen und die Ohren frei lassen, damit sie beweisen können, was sie doch für tolle Kerle sind. Im Wagen gab es ein Plasma-TV, einen Kühlschrank und einen Fahrer mit einer dunkelroten Narbe quer über einer Wange. Er fuhr das Fenster herunter, ließ die eisige Spätwinterluft herein, griff mit der anderen Hand unter den Beifahrersitz und holte ein Polizeiblaulicht vor, das er aufs Dach knallte. Dann drückte er einen Knopf, und wir brausten in die Dunkelheit davon, mit Blaulicht am Fluss entlang – vorbei an einem Hotel, in dem der Sonntagsbrunch zweihundert Dollar kostete und jenem Haus an der Uferstraße, einem Gebäude mit schlechtem Karma, in dem in den dreißiger Jahren Stalins Handlanger gelebt hatten, bis sie nicht mehr lebten; auf dem Dach drehte sich mittlerweile ein Mercedesstern. In der Kropotkinskaja stand entlang der Kathedralenmauer eine Reihe alter Frauen, klagte Choräle ins gelbe Straßenlicht und wartete, welche rücküberführte Reliquie – eine heilige Haarlocke, der Splitter einer heiligen Kniescheibe – heute drinnen ausgestellt werden würde. Sie sahen unwirklich aus, diese Frauen, wie Komparsen auf einem Filmset, hier in dieser Stadt der Neonlust, der frenetischen Sünde. An der Ampel gab es einen Stau; der Kosak fluchte und trat gegen die Rückseite des Fahrersitzes.

In Ostoschenka hielten wir vor einem elitny-Restaurant/Schrägstrich/Klub. Ich glaube, der Laden hieß Absinth. Das Blaulicht wurde ausgestellt. Im Gehwegschneematsch stand bibbernd eine Schlange Möchtegern-Oligarchen, die hofften, vom hiesigen feis kontrol-Supremo durchgelächelt zu werden. Für den Kosaken teilte sich die Menge wie zuvor der Verkehr angesichts seines Blaulichtes. Er trug eine dieser ledernen Männerhandtaschen, gerade groß genug für eine der kleinen, halbautomatischen Waffen, wie sie unter den betuchten, muskelstarken Typen in Moskau damals der letzte Schrei waren – dermaßen modische Accessoires, dass sie irgendwie bedrohlich wirkten, fast, als wollten sie sagen: ›Versucht ruhig, mich zu klauen.‹ Der Kosak zog etwas aus der Tasche, winkte den Türstehern damit zu und betrat das Gelobte Land. Wir stiefelten hinter ihm drein und reichten unsere Mäntel einer hübschen Garderobiere.

»Was war das?«, fragte ich, als wir uns setzten.

»Was?«, fragte der Kosak zurück und zitierte mit herrisch lässiger Fingerbewegung einen Kellner zu sich. Zigarettenqualm, russischer Techno und der Duft von De-luxe-Frauen machten die Luft zum Schneiden dick.

»Was haben Sie den Türstehern gezeigt?«

Er öffnete die Tasche und holte eine Karte heraus, auf der einen Seite ein doppelköpfiger Adler, auf der anderen sein Passfoto. Laut dieser Karte arbeitete er für das Wirtschaftsministerium im Kreml. Seine Finger spielten mit der illegalen Karte. »Verboten«, sagte er, »heißt nur teuer.«

Wir bestellten uns Cocktails, und als sie kamen, brachte der Kosak einen Trinkspruch aus, dann noch einen und noch einen: »Auf unsere Freundschaft … auf unsere Zusammenarbeit … mögen Ihre Familien sich mehren und gedeihen … mögen Ihre Länder stets in Frieden miteinander leben … mögen Sie uns eines Tages im Norden besuchen kommen.« Ein russischer Trinkspruch ist der feuchtfröhliche Traum von einem anderen Leben.

»Es gibt da etwas, was ich Sie fragen möchte«, sagte ich.

»Nur zu«, erwiderte der Kosak, öffnete weit die Arme und setzte eine unschuldige Miene auf.

»Haben Sie schon mal von einer Firma namens MosStroiInvest gehört?«, fragte ich neugierig.

»MosStroiInvest? MosStroiInvest? … Nein, ich glaube nicht. Oder doch, vielleicht. Warum?«

»Ich habe eine Bekannte, die etwas von MosStroiInvest kaufen will. Eine Wohnung, und ich hätte gern gewusst, wie verlässlich diese Firma ist.«

»Verstehe«, sagte der Kosak. »Ich werde ein paar Nachfragen anstellen, okay? Ich höre mich bei meinen Freunden im Baugewerbe um und gebe Ihnen Bescheid. Nächste Woche vermutlich. In Ordnung?«

»Danke.«

»Und jetzt«, sagte der Kosak, »gibt es da etwas, was ich Sie fragen möchte, mein Freund. Über diese beiden jungen Frauen.« Er drohte mir mit einem Finger.

»Was für Frauen?«, wollte Paolo wissen.

»Haben Sie es mit einer von ihnen getrieben?«, fragte der Kosak. »Oder mit beiden? Etwa mit beiden zusammen?«

»Sie sind Schwestern«, antwortete ich.

»Was es umso interessanter macht«, sagte der Kosak. Ich glaube, das wurde ihnen antrainiert, diesen russischen Schlapphüten: etwas über einen herauszufinden, irgendeinen kleinen, nichtssagenden Brosamen an Information, den sie dann gegen dich verwandten, so dass man sich fragte, woher sie das wussten, was sie vielleicht außerdem noch wussten, wem sie es weitersagen könnten; und man begann, sich Sorgen zu machen.

»Sind es gute Mädchen, Nicholas?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Seien Sie vorsichtig«, sagte der Kosak. »In unserem geliebten Russland können die Menschen manchmal weniger freundlich sein, als es den Anschein hat. Verstehen Sie?«

Das Handy des Kosaken schlug an (sein Klingelton war ›The Final Countdown‹). Er meldete sich, murmelte irgendwas und brachte dann einen letzten Toast aus, den Lieblingsspruch der Moskauer Flachköpfe: ›Möge der Schwanz stets steif und reichlich Geld vorhanden sein!‹ Dann gab er dem Kellner seine Kreditkarte, küsste uns auf beide Wangen, sagte ›ciao‹ zu Paolo und ging.

Danach habe ich nie wieder mit ihm geredet und ihn auch nicht mehr gesehen, zählt man die wenigen Male nicht mit, bei denen ich ihn, Monate später, in den Nachrichten am Fernsehschirm entdeckte – während des letzten Krieges im Kaukasus, als er bereits stellvertretender Verteidigungsminister geworden war und ich meinte, ihn grinsend im Hintergrund zu entdecken, als der Präsident sich mit einer Ansprache an das wütende russische Volk richtete.

»Barbar«, flüsterte ich vor mich hin oder irgendwas ähnlich Unhöfliches.

Ich weiß nicht, woran es lag, ob daran, dass er fand, ich täte ihm unrecht, oder daran, dass er insgeheim glaubte, ich hätte recht, ob seine Frau ihm wegen eines neuen BMWs zusetzte oder wegen eines Faceliftings, keine Ahnung, jedenfalls flippte Paolo aus.

»Denkst du denn, du bist so viel besser, Nicholas?«, fragte er mit entblößten Zähnen und sah im veilchenfarbenen Restaurantlicht plötzlich alt aus. Seine Grammatik schien unter dem Druck nachzugeben. »Glaubst du denn, du englischer Gentleman, in London so etwas läuft völlig anders ab? Kann sein, sie gehen subtiler vor, ecco, netter, sauberer« – er tat, als wüsche er sich die knochigen Hände –, »aber im Grunde ist es da wie hier. In Italien auch. Überall dasselbe. Stark und schwach, Macht, keine Macht, Geld Geld Geld. Das hat mit Russland nichts zu tun. So ist das Leben. Mein Leben, Nicholas, und deins auch.«

Vielleicht musste ich an das denken, was ich Tatjana Wladimirowna vorher gesagt hatte. Und sicher hat etwas in mir gehofft – an jenem Abend stärker noch als sonst –, dass ich besser sei, als ich es war. Besser, als ich bin. Ich sagte ihm, ich fände, er hätte unrecht. Ich sagte, so wären wir nicht. Wir hätten Regeln, hätten Grenzen. Ich sagte, ich sei nicht so.

»Nein?«, sagte Paolo. »Dann lass mich dir noch was sagen, du englischer Gentleman. Dank diesem Kosaken machen wir unsere Boni, kapiert? Kein Kosak, kein Bonus. Und du bist dir sicher, dass du anders bist? Ganz sicher? Du und ich, wir sind die Flöhe auf dem Hintern des Kosaken.«

Das war noch nicht alles. Im gelblichen Weiß von Paolos Auge schwamm ein bräunlicher Tropfen Blut. Nach einer Weile gingen mir die Argumente aus. Ich wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster auf die lächerliche Kuppel der Kathedrale. Teenager rauchten und küssten sich im Schneematsch unweit der Statue irgendeines vergessenen Revolutionärs.

Das war die Lektion, eigentlich dieselbe Lektion, die ich von Tatjana Wladimirowna gelernt hatte: Dass wir nicht anders waren. Ich war nicht anders. Vielleicht war ich sogar schlimmer.

Ich hob mein fast leeres Cocktailglas und sagte: »Malen wir Lippenstift ins Schweinegesicht!«

»Okay«, sagte Paolo, »auf den Lippenstift im Schweinegesicht!«

Wir stießen an.

*

Sie hätten sich in der Metro kennengelernt, erzählte Tatjana Wladimirowna, genau wie Mascha und ich. Sie sagte, sie sei auf dem Dorogomilowskaja-Markt gewesen, um Karpfen zu kaufen – den sie, wie sie nicht zu erwähnen vergaß, lebend heimbrachte, um ihn eine Weile in der Badewanne zu halten –, und die beiden jungen Frauen hatten ihr in der Station Kiewskaja mit den Tüten geholfen. Ich stellte sie mir vor, wie sie Tatjana Wladimirowna flankierten und mit ihr unter den irreführenden Mosaiken über die ukrainisch-russische Freundschaft in die Halle zwischen den Bahnsteigen gingen. Es sei im Juni gewesen, fuhr Tatjana Wladimirowna fort, und ich konnte mir die beiden vorstellen mit ihrem offenen Lächeln, kräftig und charmant im Sommerkleid, während Tatjana Wladimirowna in kurzärmliger Bluse und viel zu dickem Rock schwitzte.

Sie sagte, trotz der kurzen Zeit seien die beiden inzwischen wirklich so etwas wie eine Familie für sie geworden, doch nein, eigentlich sei sie nicht ihre Tante. Ich saß da, knetete meine Hände und sagte nichts. Meine Hände sahen wie die Hände von jemand anderem aus. Ich nehme an, sie hatten sich gesagt, Tante klänge plausibler, nicht so belastend, und wenn sie achtgäben, käme die Wahrheit sicher gar nicht heraus.

»Keine Sorge«, sagte Tatjana Wladimirowna lächelnd, »es ist nicht wichtig.« Rückblickend frage ich mich, ob sie mir nicht sagen wollte: »Überhaupt kein Grund zur Beunruhigung.«

Ich ging auf die vierzig zu. Ich hatte mich auf Moskau eingelassen, auf Mascha, und nun ließ ich mich auf dies hier ein. Es war nur ein weiterer Schritt, den ich mit einer Lüge kaschierte, um damit leben zu können. Ehrlich gesagt, sie fiel mir nicht einmal besonders schwer. Gewiss war die Wahrheit – die Wahrheit über mich, meine ich, und darüber, wie weit ich gehen konnte – von Anfang an sichtbar und sehr nah gewesen, so als warte sie nur darauf, dass ich sie entdeckte.

Ich wechselte das Thema, trank meinen Tee und sagte, ich sei froh, dass der Winter zu Ende gehe. Ich erzählte, dass wir daran dächten, nach Odessa zu fahren. Als Mascha und Katja kamen, verloren wir kein Wort über das, was mir von der alten Frau gesagt worden war. Tatjana Wladimirowna hatte offenkundig beschlossen, es zu vergessen. Sie servierte Kuchen und Schokolade und unterschrieb die Formulare, die sie unterschreiben musste.

Später hob ich fünfundzwanzigtausend Dollar von der Bank ab, fuhr mit Mascha in einen leeren Jazzklub unweit vom Konsistorium und traf mich mit Stepan Mikhailowitsch in dunklen Privatgemächern, um ihm das Geld zu geben (mit theatralischer Geste weigerte er sich, es nachzuzählen). Olga, der Tatarin, sagte ich, sie bräuchte sich nicht mehr um die Papiere für die Wohnung in Butowo zu kümmern. Wir hätten sie bereits beisammen. Und wie versprochen ging ich mit ihr in die schicke Bar des Hotels gleich neben dem Bolschoi-Theater.