VIER
Hier ist es«, sagte Mascha.
Wir standen vor einem alten, klassizistischen Moskauer Haus mit rissiger Pastellfassade und einem geräumigen Hof, auf dem die adlige Herrschaft einst Pferde gehalten und die Dienerschaft gegen sie intrigiert hatte. Mittlerweile standen da nur noch zwei kümmerliche Bäume mit schlaffen, braunen Blättern sowie drei, vier Autos, immerhin so edel, dass deutlich wurde, hier wohnte Geld. Wir traten durch den Gewölbebogen und gingen in die hintere, linke Hofecke zu einer Metalltür mit uralter Sprechanlage. Feuchtigkeit hing in der Luft, die schwer von etwas, das weder richtig Graupel noch ganz Schnee war, eine russische Feuchtigkeit, die nach Abgasen schmeckte und in Mund und Augen drang, typisches Moskauer Wetter eben, ein Wetter, bei dem man sich wünscht, der Himmel würde endlich zur Sache kommen, und man sich fühlt wie ein verurteilter Gefangener, der zur Schneide der Guillotine hochblickt.
Mascha tippte die Nummer der Wohnung ein. Nach einer kurzen Pause knisterte es. Eine Frauenstimme fragte: »Da?«
»Wir sind’s«, erwiderte Mascha auf Russisch. »Mascha, Katja und Nikolai.«
»Kommt rauf«, sagte die Stimme. »Dritter Stock.«
Man ließ uns ein, und wir gingen die schmutzige Marmortreppe nach oben.
»Sie war mal Kommunistin«, sagte Mascha, »aber ich glaube, das ist sie nicht mehr.«
»Sie ist ein bisschen vergesslich«, sagte Katja, »aber sehr nett.«
»Ich finde, sie ist nicht besonders glücklich«, sagte Mascha, »aber wir geben uns Mühe.«
Sie wartete auf dem Treppenabsatz, eine Frau mit der Figur einer kugelstoßenden Babuschka in Miniaturausgabe und einem Gesicht, das jünger wirkte als ihr graues Haar, dem sie eine praktische, sowjetische Topffrisur verpasst hatte. Sie trug hochgeschnürte schwarze Schuhe, braune Strümpfe und einen sauberen, doch zerschlissenen Wollrock nebst Wolljacke, die gleich verriet, dass das Geld nicht bei ihr daheim war. Sie hatte einen klugen Blick und ein freundliches Lächeln.
»Meine Liebe«, sagte Mascha, »das hier ist Nikolai …« Ich sah ihr an, wie ihr erst jetzt auffiel, dass sie meinen Nachnamen nicht kannte. Wir trafen uns vielleicht zum vierten Mal, die erste Begegnung in der Metro nicht mitgerechnet. Eigentlich waren wir noch Fremde, sind es vielleicht immer gewesen, doch damals fühlte es sich richtig an, ihrer Tante vorgestellt zu werden. Es fühlte sich an, als könnte es mit uns was Dauerhaftes werden.
»Platt«, sagte ich, »Nicholas Platt«, und fuhr dann, während wir uns die Hände schüttelten, auf Russisch fort: »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Kommen Sie herein«, sagte sie lächelnd.
Ich fürchte, ich eile der Geschichte ein wenig voraus, aber ich wollte dir unbedingt erzählen, wie ich sie zum ersten Mal getroffen habe – Tatjana Wladimirowna, die alte Dame.
In diesen Goldrauschtagen – als an der Hälfte der Gebäude im Stadtzentrum Rolex-Reklamen groß wie U-Boote hingen und man für Wohnungen in Stalins Zuckerbäckerhochhäusern Preise wie in Knightsbridge nahm –, hatte das Geld in Moskau seine eigenen Angewohnheiten. Es wusste, irgendwer im Kreml konnte es jeden Moment zurückpfeifen, also entspannte es sich nicht bei einem Kaffee oder einem Spaziergang mit dreirädrigem Buggy im Hyde Park, wie es das Geld in London tat. Moskauer Geld emigrierte auf die Kaimaninseln, zu den Villen auf Kap Ferrat oder sonst wohin, wo man ihm ein warmes Zuhause bot und keine Fragen stellte. Oder es flog so unauffällig wie nur möglich aus dem Fenster, ergoss sich in champagnergefüllte Jacuzzis oder floh mit privaten Helikoptern. Ganz besonders liebte das Geld die Verkäufer der Edelschlitten am Kutosow-Prospekt auf dem Weg zu Kriegsmuseum und Siegespark. Es dekorierte die Mercedes-Karossen und aufgemotzten Hummer mit einem Blaulicht, das man für schlappe dreißigtausend Dollar bei einem willfährigen Beamten im Innenministerium erhielt, ein Notlicht, das die Moskauer Staus teilte wie einst Mose das Rote Meer. Die Wagen sammelten sich um die angesagtesten Restaurants und Nachtklubs wie sich in der Sonne aalende Raubtiere an Wasserlöchern, während das Geld hereinspazierte und sich an Kaviar und Cristal Champagner gütlich tat.
An einem Freitag gegen Ende Oktober – zwei oder drei Wochen, ehe ich Tatjana Wladimirowna an der Tür zu ihrer Wohnung vorgestellt wurde, und etwa ebenso lang nach meiner ersten Nacht mit Mascha – nahm ich die beiden Frauen mit zu Rasputin, damals einer der elitärsten Nachtklubs der Stadt. Er lag an einer Straßenecke zwischen dem Eremitage-Garten und der Polizeistation Petrowka (wo die russische Version von Crimestoppers gedreht wird, angereichert mit allerhand Leichen und jeder Menge gestellter Schießereien). Zumindest hatte ich vor, mit ihnen ins Rasputin zu gehen.
Wir schlängelten uns an den schnittigsten Automobilmonstern vorbei, ausnahmslos mit getönten Scheiben, um am Eingang auf Vertreter dessen zu treffen, was alle Moskowiter nur feis kontrol nennen: zwei, drei himalajagroße Türsteher und eine schnöselige Blondine mit Headset, deren Job darin bestand, ungenügend glamourösen Frauen und Männern mit ungenügendem Einkommen den Einlass zu verwehren. Die Blondine musterte meine Begleitung von oben bis unten auf die für russische Frauen typische, zugleich unverfrorene und herausfordernde Weise. Katja trug weiße Stiefel und einen Minirock mit Leopardenmuster; ich weiß noch, dass Mascha ihr langes Haar zu einer wilden Mähne frisiert hatte, am Handgelenk ein silbernes Armband mit einer Miniaturuhr in Herzform. Wahrscheinlich war es mein Fehler, dass wir aufgehalten wurden. Ich hatte versucht, mich dem vorherrschenden Mafia-Outfit anzupassen, weshalb ich meinen dunklen Büroanzug mit schwarzem Hemd trug, doch sah ich darin vermutlich wie der Chorknabe einer Schulaufführung des Musicals Guys and Dolls aus. Man sah der Frau an der Tür geradezu an, dass sie sich fragte, wie viel Ärger ich machen konnte, falls ich wütend wurde, dass sie also mein krischa einzuschätzen versuchte – jenes menschliche ›Dach‹, das jeder Russe vorzugsweise bei einem Sicherheitsdienst braucht, wenn er irgendwie aus der Klemme, in eine niedrigere Steuerklasse oder an einem Freitagabend ins Rasputin will. Vom Markthändler mit dem ihm freundlich gesinnten Polizisten, der mal ein Auge zudrückt, bis zum Oligarchen mit willfährigem Politiker im Kreml braucht jeder, der es zu etwas bringen will, ein krischa: jemanden, der einem Gehör verschafft oder die nötigen Strippen zieht, vielleicht ein Verwandter, ein alter Freund oder auch nur jemand Mächtiges, dessen kompromittierende Geheimnisse man zum Glück kennt. Die Frau flüsterte mit einem der Türsteher, der uns daraufhin um eine Ecke in einen mit einem Seil abgesperrten Bereich für die Zurückgewiesenen führte. Später würde man uns vielleicht einlassen, sagte er, falls unter den Prominenten dann Platz für uns sei.
Es schneite, ein leichter Oktoberschnee, den die Russen mokri sneg nennen, feuchter Schnee, der auf ihm freundlich gesinnten Flächen liegen bleibt, auf Ästen und Autodächern, sich aber in nichts auflöst, wenn er auf das unfreundliche Moskauer Pflaster fällt. Manche Flocken schafften es nicht einmal bis dorthin, wurden von Aufwinden erfasst, wenn sie an Straßenlaternen vorbeischwebten, und kreiselten im künstlichen Licht wieder nach oben, als hätten sie es sich anders überlegt. Es war kalt – nicht richtig kalt, noch nicht, aber um die null Grad. Wer im Bereich der Zurückgewiesenen stand, zog die Hände in die Ärmel hoch, was uns wie eine Schar von Amputierten aussehen ließ. Diverse Gangster, manch ein Geheimdienstoberst und mittlere Beamte des Finanzministeriums wurden von den Türstehern durchgewinkt, jeder mit seinem persönlichen, hochhackigen Harem im Gefolge. Ich war verstimmt und peinlich berührt, wollte aufgeben und wieder gehen. Dann kam der Kosak.
Er kam mit zwei, drei Männern und vier hochgewachsenen jungen Frauen. Ich rief ihm zu, und er blieb hinter seinen Freunden zurück, die bereits durch die Samtvorhänge ins Innere gingen. Es war einer jener Augenblicke, in denen Bereiche des Lebens, die sich eigentlich fremd bleiben sollten, zusammentrafen, fast, als begegnete man seinem Chef im Foyer eines Kinos oder im Umkleideraum eines Schwimmbades.
»Guten Abend«, sagte er an mich gewandt, starrte aber meine Begleitung an. »Nicht schlecht.«
»Guten Abend«, erwiderte ich.
Ich hatte den Kosaken zuletzt erst vor ein paar Tagen gesehen. Er war in den Paweletskaja-Turm gekommen, um Papiere zu unterschreiben, Versprechungen zu machen, zu rülpsen und sich damit einverstanden zu erklären, dass wir einen Inspektor benannten, der alle paar Wochen zum Ölterminal fuhr und bestätigte, dass das Bauvorhaben nach Plan verlief. So sollte garantiert werden, dass die Rückzahlungen geleistet werden konnten und dass es, wie der von uns aufgesetzte Vertrag mit zahlreichen Details untermauerte, für die Banken etwas zu holen gab, falls der Kosak und seine Freunde ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten. Der entsprechend angewiesene Inspektor sah aus wie ein kleiner Maulwurf und hieß Wjatscheslaw Alexandrowitsch. Wir hatten schon vorher mit ihm bei der Finanzierung eines Hafenausbaus an der Schwarzmeerküste zusammengearbeitet.
»Wollen Sie mich nicht vorstellen?«
»Natürlich, verzeihen Sie«, sagte ich. »Dies sind Mascha und Katja, zwei Freundinnen.«
»Enchanté«, sagte der Kosak. »Und welche von Ihnen ist Nicholas’ Frau?«
Er hatte meine kleine Lüge, dass ich verheiratet sei, längst durchschaut, doch schien es ihm nichts auszumachen. Ich lief rot an. Katja kicherte. Mascha gab ihm die Hand. Soweit ich weiß, war dies das einzige Mal, dass sie sich trafen, und in gewisser Weise bin ich froh darum. Irgendwie vereinfacht es die Dinge für mich, diese Erinnerung an Mascha und den Kosaken, die sich die Hand geben.
»Probleme?«, fragte er mich.
»Nein«, sagte ich.
»Ja«, korrigierte mich Mascha. Wie immer wirkte sie ruhig, entschlossen und selbstbewusst. Auch das gefiel mir an ihr.
»Eine Sekunde«, sagte der Kosak.
Er ging zu der Blonden mit dem Headset, kehrte uns aber den Rücken zu, so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Ich sah nur seine Schulter, die in unsere Richtung zuckte, woraufhin die Frau zu uns hinüberblickte. Er redete, ihre Miene fiel in sich zusammen, dann ließ sie den Kopf sinken, redete in ihr Headseat und winkte mich zu sich.
Der Kosak sagte: »Genießen Sie den Abend!«
Weißt du, in manchen Actionfilmen sieht man, wie Soldaten aussehen, wenn sie durch ein Nachtsichtgerät beobachtet werden – eingehüllt von einer Art glühendem Wärmeschimmer. Ich glaube, so sah der Kosak ständig aus. Von ihm ging eine Aura der Gewalt aus, die unsichtbar, aber trotzdem für alle zu sehen war.
»Danke«, sagte ich.
»Gern geschehen«, erwiderte der Kosak.
Wir gaben uns die Hand; er hielt meine einen Moment zu lang, zwei Sekunden vielleicht, bloß damit ich wusste, dass er es konnte, falls er es wollte. »Grüßen Sie mir meinen Freund Paolo«, sagte er.
Drinnen war eine Tanzfläche mit drei Bühnentänzern, zwei energischen, barbusigen Schwarzen, zwischen ihnen ein Zwerg mit einem Tigertanga. Katja zeigte zur Decke. Zwei nackte Frauen, goldbesprüht, damit sie wie Putten aussahen, und mit angeschnallten Flügeln, flatterten über unseren Köpfen. Wir strebten zur Bar. Der Boden war aus Glas, darunter ein Aquarium mit Stören und einigen verloren wirkenden Haien. Es gab jede Menge unbezahlbarer Frauen und gefährlicher Männer.
Bei einem Barmann mit dem unterentlohnten, genervten Stirnrunzeln, wie es alle Barmänner überall auf der Welt bei vollem Haus haben, bestellte ich drei Mojitos, dazu eine Runde riskantes Sushi, damals Standardsnack in sämtlichen Moskauer Nachtklubs. Ich fühlte mich wie ein Lotteriegewinner, saß im Rasputin mit all den großen Nummern und ihren chirurgisch aufgehübschten Nutten – ich mit meinem sinnlos dichten Haar, den verkniffenen englischen Gesichtszügen und einem neuen, mittdreißiger Fettpolster am Kinn, nach dem ich jeden Morgen im Spiegel suchte und vergeblich hoffte, es sei von allein wieder verschwunden. Ich kam mir vor, als wäre ich wer, kein Niemand, der in diesem Augenblick wie so viele Bürohengste auch über die London Bridge traben könnte. Ich schätze, genauso sollte ich mich fühlen.
Katja fragte mich über England aus. Das Übliche: Hatte Sherlock Holmes wirklich gelebt? War es schwer, an ein Visum zu kommen? Warum wartete Churchill bis 1944, um die zweite Front aufzumachen? Sie ist ein liebes Mädchen, dachte ich, mit ihrem Mikro-Mini, der Schwester ergeben und mit verständlich enger Perspektive durchaus daran interessiert, es zu etwas zu bringen.
Mascha fragte mich nach meiner Arbeit.
»Kolja«, sagte sie, »kennst du dich nur mit englischem Recht aus? Oder auch mit russischem Recht?«
Ich antwortete, ich hätte englisches Recht studiert, verstünde aber auch einiges vom russischen Recht, insbesondere vom Wirtschaftsrecht.
»Womit hast du es vor allem zu tun?«
Meist mit Krediten, sagte ich, aber auch mit der einen oder anderen Fusion und Unternehmensübernahme.
»Also nicht mit Grundstückskauf und -verkauf?« Ihre Stimme ging beinahe unter im Herzschlagrhythmus der russischen Tanzmusik und dem Gejohle der Ganoven.
Nein, sagte ich, damit nicht. Ich kannte mich zwar ein bisschen mit Immobiliarrecht aus, aber nicht besonders – eigentlich nur, soweit es um langfristige Mietverträge für kommerziell genutzte Gebäude ging.
Ich weiß, diese Fragen hätten mich stutzig machen sollen, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, an Mascha selbst zu denken, daran, dass wir bald zu mir gehen$Z$würden und ob es dies nun war, das berühmte ›wahre Leben‹.
Katja sagte, sie wolle noch zu einer Geburtstagsparty. Ich bot ihr an, dass wir sie begleiteten, aber sie lehnte ab, sagte, das sei unnötig, und lief allein Richtung Bolschoi-Theater in den frühen Schnee und die zügellose russische Nacht davon.
Ich schlug vor, ein Taxi zu nehmen, aber Mascha sagte, sie wolle lieber zu Fuß gehen. Also liefen wir zurück zum Puschkin-Platz, vorbei an der hübschen Kirche, die von den Kommunisten verschont worden war, an dem Stripklub linker Hand, gleich neben dem Puschkin-Kino (in dessen Kabinen im oberen Stock einige Monate später eine Gruppe ungarischer Geschäftsleute lebendig verbrennen sollte) und dem Kasino gegenüber, vor dem in angekipptem Glaskasten ein Sportwagen steht. Der feuchte Schnee ließ die Stadt sanfter aussehen; wie auf einem impressionistischen Gemälde verwischte er die Ränder der Gebäude. Vor uns funkelte der Platz mit seinen ›All-You-Can-Eat‹-Restaurants und der Statue des berühmten Dichters in all seinem Neonglanz wie ein farbenfrohes Mongolenlager.
Mascha erzählte mir an jenem Abend, dass sie sich wegen Katja Sorgen machte, da sie nur einander hätten, ihre Tante einmal ausgenommen, erzählte, wie sie stets davon geträumt habe, hierherzukommen, aber wie schwierig es doch sei. Um ihren Job zu bekommen, musste sie dem Manager fünfhundert Dollar zahlen, die übliche Bestechungssumme, und sie hatte sechs Monate gearbeitet, um das geliehene Geld zurückzahlen zu können. Sie hoffe, sagte sie, eines Tages irgendwo leben zu dürfen, wo es sicherer sei und sauberer.
»Wie in London«, sagte ich, »wie zum Beispiel in London.« Ich ging zu schnell vor, das war mir klar, besonders wenn ich daran denke, wie es zwischen dir und mir lief. Aber irgendwie schien der Gedanke gar nicht so abwegig, zumindest nicht am Anfang. Ich will ehrlich zu dir sein. Ich denke, das ist für uns beide jetzt das Beste.
»Vielleicht«, sagte sie und griff nach meiner Hand, als wir die rutschigen Stufen zur Metrostation hinuntergingen, in der wir uns getroffen hatten. Unten angekommen, ließ sie mich nicht wieder los.
Auf der anderen Seite der Twerskaja spazierten wir eine Weile in der Mitte des Bulwar. Wie jedes Jahr, wenn die Saison vorbei war, hatte die Stadtbehörde sämtliche Blumen aus den Beeten reißen lassen, hatte sie mitten in der Nacht davongekarrt wie zum Tode verurteilte Gefangene, damit sie nicht in aller Öffentlichkeit starben. Die Russen trugen ihre Übergangsmäntel; die der Frauen waren aus Wolle oder mit Leopardmuster, leichte Mäntel, mit denen man vorliebnahm, bis es Zeit für die eingemotteten Fellmäntel wurde. Wie eingesalzene Fleischstücke auf der Schlachtertheke lagen auf den Parkbänken schneeberieselte Penner und Obdachlose. Schmelzende Flocken betüpfelten die Motorhaube des Schiguli in meiner Straße.
Sobald wir in der Wohnung waren, schob Mascha eine CD ein, zog den Mantel aus, und dann geschah, langsam, wie zuvor schon einige Male, auch alles Weitere im Takt der Musik.
Anschließend ließ sie ein Bad ein. Sie zwängte sich hinter mich in die Wanne, so dass ich am Steiß ihr kurzgeschnittenes Schamhaar spürte; die langen Beine schlangen sich um meinen weichen Bauch. Aus allernächster Nähe sah sie nun die Haarbüschel auf meinen Schultern und in der oberen linken Rückenhälfte, diese asymmetrischen Scherze der Natur, auf die wohl niemand besonders stolz ist. Dann sang sie halb, halb summte sie ein sentimentales russisches Volkslied und fuhr mit den feuchten Fingern durch mein Haar. Mir kam es wie eine neue Weise des Nacktseins vor, unsere Körper weder Prunkstücke noch Waffen, nur schlaff und offen. Sich so miteinander im Wasser zu suhlen, fühlte sich ehrlich an und die streifige Kunstmarmorwanne mit den nicht funktionierenden Jetdüsen wie unser kleiner Mutterleib.
In der Wanne, das weiß ich noch, erzählte sie, wie stolz sie als kleines Mädchen auf ihren Vater gewesen war und wie sich alles verändert hatte, damals, als das alte Imperium unterging und man aufhörte, ihrem Vater ein Gehalt zu zahlen. Zu jener Zeit fing er ernsthaft zu trinken an, sagte sie und berichtete dann, wie man ihr, als sie noch sehr jung gewesen war, in der Schule beigebracht hatte, irgend so einen Blödmann aus der Stalinzeit zu verehren, der ihren Vater anzeigte, weil er Korn hamsterte. Lieder hatten sie über ihn gesungen, Bilder von ihm gemalt, von diesem kleinen sibirischen Scheißer, bis ihre Lehrerin eines Tages sagte, sie sollten aufhören, diese Lieder zu singen, und die Bilder sollten sie zerreißen. Da hatte sie dann gewusst, dass etwas Schreckliches geschehen war.
»Hast du dich nicht befreit gefühlt?«, fragte ich. »Als es mit dem Kommunismus vorbei war?«
»In Murmansk«, erwiderte sie, »haben wir uns nur arm gefühlt. Und uns war kalt. Die Leute dort sagten: ›Freiheit kann man nicht essen.‹«
Als sie siebzehn war, erzählte sie, musste ihre Mutter operiert werden. Wie für alles, für das in der Theorie die Regierung aufkam, von der Hebamme, die einen zur Welt brachte, bis zur Grabesstelle, musste gezahlt werden – musste der Arzt bestochen und die Medizin gekauft werden, die Seife, aber ebenso das Garn, mit dem sie hinterher vernäht wurde. Also ging Mascha nach nur einer Woche wieder vom College ab, um auf dem Marinestützpunkt in der Kantine zu arbeiten. Noch heute schickte sie jeden Monat Geld an ihre Mutter. Übrigens hatte ich gut geraten: Sie sei vierundzwanzig, sagte sie, Katja zwanzig.
Ich fragte sie, wie es für sie war, von der Schule abzugehen und zu arbeiten, der Mutter zuliebe auf jede Chance zu verzichten.
»Das war normal«, antwortete sie. »Weißt du, Kolja, damals hatten wir keine großen Hoffnungen. Schlechtes Essen, schlechte Männer, jede Menge Pech. Daran war nichts Neues.«
Natürlich offerierte sie die richtige Mischung, ihre Stärke und ihr Unglück. Sie war hart im Nehmen und weltgewandt, irgendwie älter als ich und doch auch jünger (dabei war unser Altersabstand für Moskauer Verhältnisse durchaus respektabel). Zugleich wirkte sie machtlos und beinahe einsam. Sie zapfte das richtige Gemenge von Hoffnungen an: die Hoffnung, jemanden zu retten, zumindest die Hoffnung, jemanden retten zu können, die wohl allen Menschen gemein ist, und die Hoffnung, selbst gerettet zu werden.
Ich wusste, ich besaß nicht so viel Geld, wie sie vermutlich erwartete, aber ich meinte, ihr Sicherheit bieten zu können.
Ich fragte sie, auf was für einem Schiff ihr Vater gedient hatte. Sie antwortete, das dürfe sie niemandem sagen, erst recht keinem Ausländer. Dann aber lachte sie laut und meinte, jetzt käme es vermutlich auch nicht mehr drauf an.
»Er war auf einem Schiff – wie sagt man? –, einem Schiff gegen Eis. Das Weg macht für andere Schiffe.«
»Ein Eisbrecher?«
»Genau, ein Eisbrecher. Er war auf atombetriebenem Eisbrecher. Großvater war auch auf Eisbrecher. Im Krieg er hat geholfen Eis für Schiffe aus dem Westen zu brechen. Vielleicht für dein Großvater.«
»Wie hieß sein Schiff? Das von deinem Vater, meine ich?« Ich hielt es für eine weitere Frage, die man stellen sollte, wenn man sich über Matrosen unterhielt.
Sie sagte, sie sei sich nicht sicher, sie hätte es vergessen. Dann dachte sie einige Sekunden nach und antwortete: »Petrograd. Eisbrecher war nach Petrograd benannt, wegen Revolution.« Sie lächelte wie man lächelt, wenn man aus dem Gedächtnis eine verloren geglaubte, doch kostbare Erinnerung zutage fördert.
Am Morgen, als sie noch schlief und ich mir ihren Kopf auf dem Kissen im Profil besah, entdeckte ich, auf zwei Drittel Nasenlänge, eine kleine, von vorn unsichtbare Delle – vermutlich die Folge eines Schlags ins Gesicht von ihrem Vater oder einem raubeinigen Matrosenfreund. Mitten auf den mondweißen Hinterbacken fand ich zueinander passende, dunkle Hautflecken. Und mir fielen die winzigen, gerade erst sichtbaren Falten in ihren Augenwinkeln auf. Ich weiß noch, dass meine Zuneigung dadurch bloß stärker wurde, machten sie Mascha doch zu etwas Realem, etwas Körperlichem, zu einem Menschen, der sterben konnte, allerdings nicht nur sterben.
Später, als wir in der Küche unseren Tee mit Zitrone tranken – aus Ikea-Bechern, auf Ikea-Stühlen, ein Großteil meiner Wohnungseinrichtung stammte von Ikea, einer Firma, die in Moskau längst so unvermeidlich war wie Tod und Steuerhinterziehung (und Leberzirrhose) –, erzählte sie mir erneut von ihrer Tante, jener, die in Moskau wohnte. Sie sagte, sie und Katja würden sie so oft sehen, wie sie nur könnten, bloß sei das nicht oft genug. Sie sagte, sie würde mich ihr gern bald vorstellen.
»Vielleicht nächste Woche«, sagte sie. »Oder dann die Woche. Sie lebt allein in Moskau und wird glücklich, wenn wir sie besuchen. Sie wird dich mögen. Ich glaub, sie kennt nicht viele Ausländer. Vielleicht gar keinen. Bitte.«
Ja, sagte ich. Natürlich käme ich mit zu ihrer Tante. Mascha trank ihren Tee, küsste mich auf die Nase und ging zur Arbeit.
Bis Mitte November fehlten nur wenige Tage. All der mokri sneg war geschmolzen, bloß Reste vom Eis, das sich beim Kälteeinbruch im Oktober gebildet hatte, überdauerten zurückgezogen in Pflasterspalten und den Wunden der Straßen wie ein in einen Hinterhalt geratenes Vorkommando, das auf Verstärkung wartete. Tatjana Wladimirowna sagte: »Kommt herein.«
Man kann über die Sowjets sagen, was man will, aber sie waren die unübertroffenen Weltmeister des Parketts. Parkett in Form der verschränkten Bumerangs der Chruschtschow-Ära breitete sich hinter der schlichten Wohnungstür in alle Richtungen aus, unterbrochen nur von einem verschlissenen turkmenischen Läufer mitten im Flur. An der Decke hing ein glitzernder Leuchter aus kommunistischen Tagen, prächtig anzusehen, solange man ihm nicht zu nahe kam.
Wir zogen die Schuhe aus und folgten Tatjana Wladimirowna über den Flur. Ich habe ihre Wohnung viel genauer in Erinnerung, als mir lieb ist. Wir gingen am Schlafzimmer vorbei, zwei Einzelbetten, nur eines gemacht, ein dunkler Kleiderschrank und eine weiße Kommode mit einem Zierspiegel. Ein zweites Zimmer stand halbvoll mit Packkartons, dann kam die Tür zum Bad, danach die Küche mit dem abgetretenen Linoleum und einem primitiven Kühlschrank. An den Wänden des Wohnzimmers hing eine braune, seltsam haarige Tapete, die sich an einer Stelle bereits von der Decke löste, ein Buchregal quoll über mit alten, sowjetischen Enzyklopädien und Berichten, ein grüner Fries bedeckte einen großen Holztisch. Darauf war die Art russischer Partykost ausgelegt, vor der mich nur graute, so üppig wie ungenießbar. Vermutlich hatte sie das Essen eine ganze Monatsrente gekostet und vierzehn Tage Arbeit in der Küche, dieser verschwitzte Fisch, dazu in Aspik eingelegte, unidentifizierbare Fleischteile von irgendwelchen Tieren, in Stückchen gebrochene russische Schokolade, kalt werdende Bliny, Sauerrahm und ein besonders süßer Käse, der in Röllchen gebraten wird.
Die Fenster blieben geschlossen, und die Heizung – noch wie in der alten Zeit zentral von der Stadtverwaltung reguliert – war unmenschlich warm. Tatjana Wladimirowna deutete auf ein kratziges Sofa. »Tee«, sagte sie, eine Feststellung, keine Frage, und ging.
Die beiden Frauen setzten sich und begannen zu flüstern. Ich stand wieder auf und schaute mich neugierig um. Tatjana Wladimirownas Wohnung wies zum Bulwar hin und zum Tschistyje Prudy (dem ›sauberen Teich‹ – typisches russisches Wunschdenken, zumindest was die Wasserqualität betraf, auch wenn der Teich in einem zunehmend attraktiver werdenden Teil von Zentralmoskau lag). Ein großes Fenster blickte auf den Weiher und die Bäume, die ihn umsäumten. Das Beduinenzelt auf der Plattform im Wasser, im Sommer ein Restaurant, war längst abgebaut, und die Gondeln, von denen sonst überteuerte Serenaden geboten wurden, lagen aufgebockt am Strand. Am gegenüberliegenden Ufer stand ein seltsames, blaues, mit den Reliefs realer und imaginärer Tiere verziertes Gebäude, eine Schönheit, wie man sie in dieser Stadt manchmal zufällig findet, frappierend wie Blumen auf einem Schlachtfeld. Ich konnte Eulen erkennen, Pelikane, zweiköpfige Greife, doppelzüngige Krokodile und zum Sprung ansetzende, doch irgendwie verzagt wirkende Jagdhunde. Der unentschlossene Novemberhimmel erinnerte mich an einen Schwarzweißfernseher, dessen Bild noch nicht eingestellt worden war.
An einer Zimmerwand hing eine Reihe Teller mit klassischem Sankt Petersburger Blaugoldmuster, daneben eine Urkunde von einer technischen Fachhochschule in Nowosibirsk. Das Radio war ein alter Bakelitapparat in Mahagoniimitat, groß wie eine Truhe, die sich oben öffnen ließ. Im Bücherregal standen zwei gerahmte Schwarzweißfotos. Auf dem einen hockte ein junges Paar auf windumtosten Felsen am Meer; sie lachte und schaute ihn an, er, vorzeitig kahl, trug eine strenge Brille und schaute ernst in die Kamera. Das Paar wirkte in einem Maße glücklich, wie es meiner Meinung nach Menschen in der Sowjetunion gar nicht gewesen sein konnten. In der unteren rechten Ecke der Aufnahme stand in weißen Druckbuchstaben ›Jalta 1956‹. Das zweite Foto zeigte ein Mädchen, das langgestreckt in einer Art übergroßem Hamsterrad steckte, mit den Händen den Rand umklammerte und offenbar an einer Übung in Synchrongymnastik teilnahm: Zwei weitere Räder mit einem Mädchen in ihrem Innern rollten ins Bild. Als ich den Kopf schief legte und genauer hinsah, stellte ich fest, dass das Mädchen im Rad identisch war mit der jungen, schlanken Frau auf dem Strandfoto, vielleicht einige Jahre jünger. Sie trug Tennisshorts, die aufregender aussahen als vermutlich beabsichtigt, ein breites Grinsen im Gesicht. Das war sie, kapierte ich schließlich mit schief angewinkeltem Kopf. Das war Tatjana Wladimirowna.
Hinter dem Bufett auf dem Tisch hing noch ein Foto, das einen Mann mit Brille zeigte, wie er, ein wenig älter diesmal, an ebendiesem Tisch saß, auf dem geordnete Papierstapel, ein Aschenbecher und ein altmodisches Wählscheibentelefon zu sehen waren. Er hatte sein Gesicht nur halb dem Fotografen zugewandt, als wäre die Arbeit zu wichtig, um sie ganz vergessen zu können.
»Das ist mein Mann«, sagte Tatjana Wladimirowna auf Russisch. Sie stand hinter mir mit einem kleinen, silbernen Samowar in der Hand. »Pjotr Arkadjewitsch.«
Sie machte Tee auf russische Weise, schenkte einen Schuss extrem starkes Gebräu aus der Kanne ein und goss dann dampfend heißes Wasser aus dem Samowar dazu. Anschließend reichte sie uns kleine Teller mit Marmelade sowie Teelöffel, damit wir die Marmelade zum Tee essen und abwechselnd nippen und schlürfen konnten, allerdings in einem Rhythmus, den ich nie ganz hinbekam.
Wir redeten. Manchmal erinnerte mich unsere Unterhaltung an ein Bewerbungsgespräch, manchmal an einen Vortrag des Touristenverbandes über russische Geographie.
»Was sind Sie von Beruf, Nikolai?«
»Ich bin Anwalt.«
»Und was ist Ihr Vater von Beruf?«
»Er ist Lehrer. Und meine Mutter ist Lehrerin. Mittlerweile sind sie aber beide in Pension.«
»Mögen Sie Moskau?«
»Ja, sehr sogar.«
»Und wo sind Sie in unserem Russland noch gewesen, außer in Moskau?«
Ich sagte, ich hätte mir ein, zwei Klosterstädte in der Nähe von Moskau angesehen, ihre Namen aber leider vergessen.
Sei ich denn noch nicht in Sibirien gewesen, um ›unseren großen Baikalsee‹ zu sehen? Ob ich denn wisse, dass er der größte See der Welt sei? Und dass es elf verschiedene Arten Lachs in den Flüssen von Kamtschatka gebe?
Ich schaltete auf Autopilot. Meine Blicke wanderten zu Maschas wohlgeformten Schenkeln, aber dann erwähnte Tatjana Wladimirowna etwas, wie es alte Russen oft tun, was in mir das Gefühl weckte, unendlich naiv zu sein, so als wäre ich, verglichen mit dem, was sie selbst durchgemacht und erlebt hatte, erst gestern geboren worden – eine extreme Version jenes Gefühls, das einen vielleicht mit zwölf Jahren überkommt, wenn die Eltern Unverständliches über Steuern reden oder davon, dass sich jemand scheiden ließ. In Russland dagegen ist es Onkel Soundso, der in ein Gulag kam und nie zurückkehrte, oder irgendeine profane, alltägliche Heldentat oder Unziemlichkeit – jemand hatte bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr mit den Eltern in einem Zimmer gelebt, die Post war zensiert worden, oder man hatte drei Tage lang für Kartoffeln angestanden.
Sie fragte mich, ob ich in Sankt Petersburg gewesen sei. Nein, noch nicht, antwortete ich, doch wolle mich meine Mutter besuchen, bald hoffentlich (es stimmte, sie hatte tatsächlich damit gedroht), und wir hätten vor, zusammen hinzufahren.
»Ich bin aus Sankt Petersburg«, sagte sie. »Aus Leningrad. Ich wurde in einem Dorf in der Nähe von Leningrad geboren.«
In dem Dorf, fuhr sie fort, hat ihre Mutter Kühe gemolken und heimlich gebetet. Ihr Vater arbeitete in einer Kolchose. Nach seinem Tod zogen sie in die Stadt, erzählte Tatjana Wladimirowna weiter, kurz vor dem Großen Vaterländischen Krieg; damals war sie sieben oder acht Jahre alt. Während der Belagerung verlor sie eine Schwester und ihre Mutter. Ein älterer Bruder, fuhr sie immer noch lächelnd fort, wurde in der Schlacht um Kursk getötet. Einige Jahre nach dem Krieg zog sie mit ihrem neuen Mann, dem Mann auf den Fotos, nach Nowosibirsk, einer Universitätsstadt in Sibirien. Es war schon seltsam, sagte sie, aber in Sibirien hätten sie sich beinahe frei gefühlt, freier als vorher in Leningrad oder später in Moskau. Ihr Mann war Wissenschaftler, und – hier drohte mich mein Russisch im Stich zu lassen, doch bin ich mir nicht einmal sicher, ob mein Englisch dafür genügt hätte – ich glaube, er half, eine Farbe zu entwickeln, die in Raketensilos oder etwas Derartigem Verwendung fand und die Hitze aushielt, die beim Zünden der Raketen entstand.
»Er war bedeutender Wissenschaftler«, sagte Katja auf Englisch.
»Deshalb hat Tatjana Wladimirowna auch diese große Wohnung im Zentrum von Moskau«, ergänzte Mascha auf Russisch. »Wegen seiner Verdienste fürs Vaterland.«
»Ja«, sagte Tatjana Wladimirowna. »1962 hat Kamerad Chruschtschow meinem Mann diese Wohnung gegeben. Damals war es ein Problem, wie man Raketen abschießen kann, ohne die Silos in Brand zu setzen. Pjotr Arkadjewitsch hat hart gearbeitet, aber am Ende die Antwort gefunden.«
Sie selbst arbeite auch noch, sagte sie, Teilzeit, als Führerin beim Gorki-Park in einem Museum, das irgendeinem berühmten russischen Wissenschaftler gewidmet war, von dem ich noch nie gehört hatte. Sie bewies jene Zurückhaltung, die alte Leute manchmal gegenüber jüngeren an den Tag legen, breitete im Eiltempo ihre Lebensgeschichte aus, um uns nicht zu viel unserer kostbaren jugendlichen Zeit zu stehlen. Ich mochte Tatjana Wladimirowna. Ich mochte sie auf Anhieb, und ich mochte sie bis zum Schluss.
»Also, Nikolai«, sagte sie, »was halten Sie von unserem kleinen Plan?«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete, und sah zu Mascha hinüber, die ihre überkreuzten Beine öffnete und nickte.
»Ich finde, es ist ein ausgezeichneter Plan«, sagte ich in dem Bemühen, ihr zu gefallen.
»Glaube ich auch«, sagte Tatjana Wladimirowna, »wirklich ausgezeichnet.«
Alle lächelten.
»Nikolai!«, rief Tatjana Wladimirowna, sprang auf und wechselte das Thema: »Mädchen! Ihr habt ja noch nichts gegessen.«
Ihr Lob auf den Lippen, standen wir um den Tisch, während Tatjana Wladimirowna uns Teller gab und dafür sorgte, dass ich den Fisch bekam, den ich nicht mochte. Ich achtete meinerseits darauf, mir möglichst viele kalte Bliny zu nehmen, unter denen ich ihn verstecken konnte.
Wir setzten uns wieder. Tatjana Wladimirowna fragte Katja nach ihrem Studium.
»Ziemlich anstrengend«, erwiderte Katja, »aber interessant.«
Wir verfielen in ein wohlwollendes, doch etwas verlegenes Schweigen.
»Fisch muss schwimmen!«, erklärte Tatjana Wladimirowna, stand auf, ging in die Küche und kam mit einer ungeöffneten Flasche Wodka sowie vier alten, mit Schneeflocken gravierten Schnapsgläsern zurück. Sie schenkte ein, und wir erhoben uns, um mit ihr anzustoßen.
»Auf euren Erfolg, Kinder!«, sagte Tatjana Wladimirowna und kippte den Wodka auf typisch russische, effektive Weise.
Wir drei standen ihr nicht nach. Ich spürte den Wodka hinten in der Kehle, dann im Magen, darauf die Wärme in der Brust und das schlagartig einsetzende Hochgefühl, das den Wodka zu einem solchen Fluch macht. Ich fühlte Farbe in meine Wangen steigen, den Leberschaden, die über die Zunge drängenden Indiskretionen. Ich hatte keine Schwierigkeiten mehr, danach zu fragen, wie denn der Plan aussah.
Zehn Minuten später (›Auf Russland!‹, ›Auf uns!‹, ›Auf die Königin von England!‹) fragte ich Mascha auf Englisch, ob sie mit mir aufbrechen wolle. Sie sagte nein, sie müsse noch mit Tatjana Wladimirowna reden. Ich wusste, es war unhöflich zu gehen, ehe die Flasche leer war, doch sagte ich Tatjana Wladimirowna, ich müsse leider noch zu einem Termin.
»Aber Sie haben ja fast nichts gegessen«, protestierte sie, blickte auf meinen überladenen Teller und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Tut mir leid«, sagte ich, doch sei es mir eine große Freude gewesen, sie kennengelernt zu haben.
Ich küsste Katja und Mascha auf die Wangen. Tatjana Wladimirowna folgte mir, als ich über das Parkett zu Schuhen und Mantel ruderte.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich. »Und noch einmal herzlichen Dank. Hoffentlich auf bald.«
»Aber Sie haben ja nichts gegessen«, wiederholte sie erneut, als sie die Tür hinter mir schloss. Ich eilte die Treppe hinunter, entfloh der drückenden, beklemmenden Kinderlosigkeit.
Am selben Tag, wenn auch einige Zeit später, traf ich auf dem Treppenabsatz zwischen unseren Stockwerken Oleg Nikolaewitsch in schwarzem Anzug, Hemd und schwarzem Filzhut. Er wirkte auf düstere Weise geradezu untadelig, nur ein paar vereinzelte Katzenhaare klebten am Revers. Offenbar hatte er sogar seinen Bart getrimmt, und er sah aus, als sei er auf dem Weg zu seiner eigenen Beerdigung.
»Wie geht es Ihnen, Oleg Nikolaewitsch?«, fragte ich, immer noch ein wenig beschwipst.
»Normal, Nikolai Iwanowitsch«, erwiderte er. »Wie heißt es doch auf Englisch? Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Ich kann bloß unseren Nachbarn Konstantin Andrejewitsch nicht finden.«
»Wie schade«, sagte ich, »tut mir leid.«
»Mein Freund Konstantin Andrejewitsch«, fuhr er fort. »Er wohnt in dem Haus hinter der Kirche und geht nicht ans Telefon.« Er glotzte mich an, als würde ich ihm jeden Moment antworten: Ach, dieser Konstantin Andrejewitsch. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Der sitzt oben in meiner Küche.
Stattdessen versuchte ich zu lächeln und zugleich bekümmert dreinzusehen. »Bestimmt ist alles in Ordnung«, sagte ich und weiß noch, dass ich dachte, dieser Konstantin Andrejewitsch, wer immer er auch sein mochte, hatte bestimmt das Telefon ausgestöpselt oder sich eine vorübergehende Taubheit angesoffen. Trotzdem gab ich mir redlich Mühe, Oleg Nikolaewitsch ernst zu nehmen.
»Gut möglich, dass er zu seinem Bruder nach Twer gefahren ist.«
»Gut möglich«, erwiderte ich.
»Aber vielleicht«, sagte er, »können Sie mir auch helfen, ihn zu finden.«
»Das würde ich nur zu gern«, sagte ich, »allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich etwas für Sie tun kann.«
»Das können Sie«, antwortete er. »Sie sind doch Anwalt. Ein Amerikaner.«
»Ich bin kein Amerikaner.«
»Na ja«, beharrte er, »Sie haben eine Kreditkarte. Und eine Sekretärin. Sie können mit der Polizei reden. Oder mit dem Büro des Staatsanwalts. Ich aber bin ein alter Mann. Und das hier ist Russland.«
»Na gut«, sagte ich. »Natürlich. Wenn ich helfen kann, dann will ich es versuchen. Versprochen, Oleg Nikolaewitsch.«
Er kam auf mich zu, und einen Moment lang glaubte ich, er wolle mich umarmen oder mir einen Hieb verpassen, doch legte er bloß eine Hand auf meine linke Schulter und hielt mir den Mund so nahe ans rechte Ohr, dass, als er sprach, mir seine Zunge praktisch in den Gehörgang drang.
»Verehrter Nikolai Iwanowitsch«, sagte er, »nur ein Idiot muss immerzu grinsen.«