SECHZEHN
Wie gesagt, es war der Geruch.
Die Blumen standen wieder in ihren Beeten in der Mitte des Bulwars, knallbunte Regimenter Tulpen und Stiefmütterchen. Einem geheimen Paragraphen der russischen Verfassung zufolge hatte die Hälfte der Frauen unter vierzig angefangen, sich wie Prostituierte zu kleiden. Sah man hinüber zum Fluss und dem Hotel Ukraina, bildeten Wärme und Abgase diesige Luftspiegelungen über den Casinos entlang der Nowi Arbat. Es war Mitte Juni, und Konstantin Andrejewitsch roch.
Ich hatte früh am Abend meine Wohnung verlassen und war, wie ich mich erinnere, auf dem Weg, um Steve Walsh im American Diner am Majakowskaja-Platz zu treffen. Als ich die Treppe hinab zu Oleg Nikolaewitschs Stockwerk ging, sah ich George auf der Türmatte sitzen. Er war ein alter, arthritischer, weißer Kater mit rosigen Ohren und irritierend rosafarbenen Augen, so fett, als wäre er schwanger, doch mit einem knochendürren Schwanz. Er starrte die Wand an, als litte er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ich beugte mich über ihn und klingelte bei Oleg Nikolaewitsch, mehr als einmal, doch niemand rührte sich. Georges Blick aus rosafarbenen Augen traf sich mit meinem Blick. Ich ließ ihn sitzen, ging die Treppe hinunter zur Haustür und trat in die laue Abendluft.
Oleg Nikolaewitsch sah ich zuerst. Er kehrte mir den Rücken zu, doch wie er da in seinem zerknitterten Anzug stand, den Kopf gesenkt, als wollte er beten oder weinen, wusste ich, dass er es war. Um ihn herum bewegten sich Leute und redeten, er aber blieb vollkommen reglos, allein, und niemand redete mit ihm.
Die Menge blockierte meinen Blick, der Geruch fiel mir allerdings sofort auf – dieser Verwesungsgeruch, der Konstantin Andrejewitsch verraten hatte. Aus etwa zehn Metern Entfernung sah ich seinen Fuß.
Ich sah nur den einen, wie er aus dem Kofferraum des orangefarbenen Schiguli ragte und über dem verschmierten Nummernschild hing. Am Fuß war noch ein Schuh, daran erinnere ich mich, über dem Schuhrand ein bisschen graue Socke, und über der Socke ein Streifen grünlicher Haut.
Vom Knie aufwärts lag Konstantin Andrejewitsch noch im Kofferraum und war zum Glück nicht zu sehen, doch wusste ich sofort, dass er es war, Oleg Nikolaewitschs vermisster Freund. Ich stellte mich neben Oleg Nikolaewitsch, sah die schütteren weißen Wirbel auf seinem gesenkten Kopf und schaute mit ihm drei Minuten oder ein Jahrhundert lang zu Boden, ich und er, getrennt und zusammen. Oleg Nikolaewitsch hatte nicht aufgesehen und nicht zur Seite geblickt, aber ich wusste, er wusste, dass ich da war.
»Schrecklich«, sagte ich schließlich. »Einfach schrecklich.«
Er sah auf, mich an, öffnete den Mund, schluckte und blickte wieder zu Boden.
Fünf, sechs Polizisten standen um den Wagen, zwei, drei redeten in ihre Mobiltelefone. Sie trugen diese komischen blauen Hemden, in denen sich die Moskauer Polizei im Sommer zeigt, Hemden, die sich elastisch um Bauch und Hüfte spannten; drunter klatschte die Waffe an den Schenkel. Sie wirkten wie Gäste bei einem phlegmatischen russischen Barbecue. Auf der Motorhaube saß rauchend der jugendliche Beamte, den ich vor einigen Monaten aufgesucht, aber nicht bestochen hatte, als ich mich, wenn auch nicht allzu intensiv, nach Oleg Nikolaewitschs unglückseligem Freund erkundigte.
»Hi«, sagte ich.
»Hi, Engländer«, antwortete er und freute sich offenbar, mich zu sehen. Er trug schwarze Jeans, ein Leinenjackett und ein dunkles T-Shirt, auf dem vorn ein Glas Guinness prangte.
»Wissen Sie schon, wer es war?«, fragte ich.
Er lachte. Die Akne war schlimmer geworden. »Noch nicht. Vielleicht morgen.«
»Warum wurde die Leiche hiergelassen?«
»Keine Ahnung«, sagte der Beamte. »Sicher wollte man sie fortschaffen, wurde aber gestört. Und wahrscheinlich hat man sich gedacht, es sei zu gefährlich, mit dem alten Mann im Kofferraum durch die Gegend zu fahren. Vielleicht wollten sie ihn auch später abholen und sind nicht mehr dazu gekommen. Sieht aus, als läge er schon eine ganze Weile hier. Womöglich schon seit letztem Jahr.«
Ich erinnerte mich, dass Steve Walsh mir von der Amateurkiller/Profikiller-Methode erzählt hatte. Ich fragte den Beamten, ob sie für Konstantin Andrejewitsch zutreffen könnte.
Er dachte kurz nach. »Möglich«, antwortete er dann. »War jedenfalls schlampige Arbeit. Hammer, fürchte ich, vielleicht auch ein Ziegelstein. Wollen Sie ihn sehen?«
»Nein, danke.«
Ich ging ein wenig beiseite, trat an den Kirchhofszaun. Gelbes Gras kämpfte im Schlamm um sein Leben. Ich rief Steve an.
»Er ist tot«, sagte ich.
»Kommst du deshalb zu spät? Ich dachte, wir gehen hinterher noch in Alfie’s Boarhouse.« Alfie’s war eine Kaschemme in der Nähe vom Zoo, in der russische Mädchen auf Tischen tanzten und von Ausländern mittleren Alters angestiert wurden, Mädchen, die vorgaben, Nutten zu sein, und Nutten, die taten, als wären sie keine. Mir hatte es im Alfie’s immer gefallen.
»Konstantin Andrejewitsch«, sagte ich, »der Freund meines Nachbarn. Er ist tot.«
Ich erzählte Steve von dem Fuß und dem Hammer (oder Ziegelstein).
»Hab dir doch gesagt, dass er tot ist«, sagte Steve. Und dann sagte er: »Bestimmt wegen seiner Wohnung.«
»Was?«
»Wegen seiner Wohnung. Hat er eine Wohnung?«
»Ja«, sagte ich. »Hat er. Hatte er.«
»Tja«, sagte Steve. »Da hast du die Erklärung. Darum ging’s, ganz bestimmt. Es geht doch immer um die Wohnung, wenn es nicht gerade um Wodka oder Ehebruch geht. Irgendwem wird wegen seiner Wohnung eins übergezogen.«
In den neunziger Jahren seien Eigentumsdelikte noch brutaler gewesen, erklärte Steve in jenem nostalgischen Ton, den Moskau-Veteranen immer dann anschlagen, wenn sie über diese von ihnen so geschätzte Dekade mit ihrem Übermaß an Wollust und Diebstahl zurückdenken. Nach dem Ende des Kommunismus gab die Moskauer Regierung die meisten Wohnungen in der Stadt fast umsonst an jene ab, die darin lebten. Sofort, erzählte Steve, fingen die Betrügereien an. Manchmal heirateten die Ganoven den Wohnungseigentümer und holten dann ihre Vettern oder Brüder aus Rostow oder sonst woher, um sie oder ihn zu beseitigen und die Wohnung zu erben. Oder man folterte die armen Trottel, bis sie auf ihre Besitzrechte verzichteten, und löste sie dann in Säure auf oder ertränkte sie in der Moskwa.
»Aber da es in Russland heutzutage zivilisiert zugeht«, fuhr Steve fort, »hat man sich mittlerweile saubere Methoden ausgedacht. Man sucht sich irgendeinen Alten, brät ihm eins über und besorgt sich einen bestechlichen Richter, damit der bestätigt, dass man rechtmäßiger Erbe des Toten ist. Das ist alles, danach gehört einem die Wohnung.«
»Braucht man keine Leiche?«, fragte ich. »Ich meine, muss man den Tod nicht irgendwie nachweisen? Muss der Tote nicht gefunden werden?«
»Mein Gott, Nick, ich dachte, du bist Anwalt. Nein, eine Leiche ist nicht nötig. Wer in Russland fünf Jahre verschwunden ist, gilt als tot. Finito. Aber – und das ist wirklich das Beste – ein wohlwollendes Gericht kann jemanden schon sechs Monate nach seinem Verschwinden für tot erklären. Der Antragsteller muss bloß beweisen, dass der Vermisste zuletzt in einer gefährlichen Situation gesehen wurde. Was nicht besonders schwierig sein dürfte. Der Betreffende könnte auf dem Eis geangelt haben. Oder er war betrunken im Fluss schwimmen. Oder er hat im Wald die falschen Pilze gesammelt. Ist er sechs Monate tot, wechselt die Wohnung den Besitzer. Seit wann wird Konstantin Wienochgleichwitsch vermisst?«
»Weiß nicht«, antwortete ich. »Ich erinnere mich nicht genau. Oktober vielleicht. Ungefähr jedenfalls.«
»Lang genug. So lang, dass die Wohnung sicher längst weiterverkauft wurde.«
Ich glaube, bis zu diesem Moment hatte ich mir einreden können – zumindest insoweit, als ich nicht mehr daran dachte –, dass sie schon nicht so schlimm sein würde, die Sache mit Mascha, Katja und Tatjana Wladimirowna – sicher, nett war es nicht, vielleicht würde es sogar schlimm, aber sooo schlimm nun auch wieder nicht. Nicht so wie das hier. Ich hätte zuhören sollen. Ich hätte es mir denken können. Vielleicht hatte ich es mir auch gedacht und tat trotzdem, als wäre nichts. Doch als Konstantin Andrejewitschs Bein aus dem Kofferraum des Schiguli ragte und Steve mir seinen Vortrag über die Geschichte der Eigentumsvergehen hielt, konnte ich nicht länger tun, als wüsste ich nichts.
»Um einen Richter zu bestechen«, sagte ich, »müssten die Betrüger doch Geld haben, richtig? Sie müssten Freunde haben. Was, wenn sie keine haben? Die Gauner, meine ich. Was, wenn sie nur kleine Ganoven sind, bloß ein paar junge Leute, die nicht aus der Stadt kommen.«
»Die haben ihre Methoden«, sagte Steve. »Man braucht ein Opfer, möglichst ohne Verwandte. Und ich schätze, man braucht auch ein bisschen Geduld und Einfallsreichtum, aber möglich wär’s. Passiert doch ständig auf unterschiedlichste Weise. Ist das perfekte Moskauer Verbrechen. Privatisierung plus explodierende Immobilienpreise plus Skrupellosigkeit ergibt Mord. Aber warum glaubst du, dass es nur kleine Ganoven sind?«
»Glaub ich gar nicht«, ruderte ich zurück. »Ich habe keine Ahnung.« Nach kurzer Pause fuhr ich fort: »Er lag in einem Auto, Steve. In meiner Straße. Im Schnee. Ich meine, das Auto lag unterm Schnee begraben. Allem Anschein nach hat er den ganzen Winter drin gelegen. Er war im Schnee begraben.«
»Ein Schneeglöckchen«, sagte Steve. »Dein Freund ist ein Schneeglöckchen.«
So werden sie genannt, erklärte er mir – so werden die Leichen genannt, die mit Beginn des Tauwetters zum Vorschein kommen. Meist Betrunkene und Obdachlose, die aufgeben und sich in den Schnee legen, aber auch das eine oder andere verschwundene Mordopfer. Schneeglöckchen.
»Hab ich dir doch gesagt, Nicky«, fuhr Steve fort, »wenn das Ende der Welt kommt, dann kommt es aus Russland. Aber was ist, kommst du nun zu Alfie’s?«
Ich legte auf und ging zurück zu Oleg Nikolaewitsch. Er stand jetzt aufrechter, hatte sich aber nicht vom Fleck gerührt.
»Oleg Nikolaewitsch«, sagte ich, »es tut mir sehr leid. Wirklich, es tut mir schrecklich leid.«
»Gott ist im Himmel«, sagte Oleg Nikolaewitsch und schaute auf den Fuß, »und der Zar ist weit weg.«
Ich könnte behaupten, es sei mein Gewissen gewesen, das mich dazu veranlasste. Ich würde dir gern sagen, es sei mein Gewissen gewesen. Vielleicht war es mein Gewissen, vielleicht auch etwas anderes, etwas Hässlicheres, eine Art Ehrfurcht vor dem, worin ich eine Rolle gespielt habe, eine ferne Verwandte des Stolzes. Ich würde ebenso gern behaupten, ich hätte es gleich getan, noch am selben Abend, an dem Abend mit dem Fuß. In Wahrheit aber war es nicht am selben Abend, nicht einmal am nächsten Tag. Allerdings war es bald, ich bin mir sicher, es war sehr bald, innerhalb einer Woche, bestimmt nicht viel länger, dass ich mich aufmachte, Tatjana Wladimirowna zu besuchen. Nur war ich mir keineswegs sicher, sie auch anzutreffen.
Seit dem Tag, an dem wir alle zur Bank gegangen waren, um zu unterschreiben und die Geldscheine zählen zu lassen, hatte ich Mascha und Katja nicht mehr gesehen. Das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, dieses plötzliche Ende. Immer und immer wieder wählte ich Maschas Nummer, hörte aber nur das russische Störzeichen – drei hohe Töne, die so schrill anfingen, dass sie Glas zerspringen oder Hunde durchdrehen ließen, um dann immer höher zu werden – und die entmutigende Bandansage, laut der ihr Telefon abgestellt sei oder keinen Empfang habe. Ich versuchte es erneut, als ich anfing, mir um die alte Frau Sorgen zu machen. Schließlich ging ich zu Tatjana Wladimirownas alter Wohnung und klingelte.
An einem schönen warmen Samstag stand ich im Schatten ihres Hofes und klingelte ein, zwei Minuten lang. Irgendwann öffnete mir eine Japanerin; ich lächelte, ging ins Haus und die Treppe hinauf. Dann klopfte ich an Tatjana Wladimirownas Tür, leise zuerst, als schliefe drinnen ein Baby oder als wollte ich nicht, dass zur Tür kam, wer immer sich drinnen nun aufhielt. Dann klopfte ich lauter und lauter, schneller und schneller, fast, als käme ich vom KGB in einer Nacht, in der es viel zu tun gab. Doch niemand öffnete, nur eine dicke Blondine in Morgenmantel und Lockenwicklern kugelte von oben eine halbe Treppe hinab, umklammerte das Geländer und starrte mich an, bis ich ging.
Draußen blieb ich auf dem Weg um den Teich stehen. Längst war er trocken und staubig; weißgrauer Staub stieg in Wölkchen auf, legte sich auf meine Hosenbeine und schmeckte nach Kreide. Ich ging zur Metro und durch die gläserne Schwingtür, eine schwere Tür, die zurückpendelte und die Passagiere wie ihre Geschichte wieder einzuholen drohte. Ich hatte es aufgegeben, sie offen zu halten, wie ich sie früher für jeden offen hielt, der nach mir kam, ließ sie nun los, ohne zurückzuschauen und verzichtete auf die Gelegenheit, ein wenig Erbarmen in dieser kämpferischen Stadt zu zeigen.
Ich fuhr mit der Metro raus nach Butowo: Theoretisch hätte die Zeit für Tatjana Wladimirowna gereicht, um ihren Umzug zu bewerkstelligen. Der Taxifahrer, den ich mir vor der Station heranwinkte, war ein fröhlich besorgter Usbeke, der erklärte, dass die Muslime sich bald, jeden Augenblick jetzt, gegen die Russen und den Rest der Welt zum letzten Krieg erheben würden. Als wir am Stadtrand in die Straße einbogen, sah ich, dass die gegenüberliegende Seite sich in einen Dschungel verwandelt hatte, Bäume und Büsche wucherten in russischer Sommerhast. Leute tröpfelten in den Wald zwischen den alten Holzhäusern, Babys oder Flaschen im Arm. Wir hielten vor dem Gebäude auf der Kazanskaja, Tatjana Wladimirownas Gebäude – oder das von Stepan Mikhailowitsch, von MosStroiInvest oder von niemandem.
Auf der Gegensprechanlage drückte ich die Nummer der Wohnung, die wir uns im Winter angesehen hatten. Keine Antwort. Ich drückte alle Klingelknöpfe gleichzeitig und in wahlloser Folge. Diesmal funktionierte der Trick nicht. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass die Drähte der Klingelanlage, ein grüner, ein roter und ein blauer, unten lose heraushingen. Ich hämmerte an die Metalltür. Ich ging zur anderen Straßenseite und blickte am Gebäude hinauf.
Da die Sonne hinterm Haus stand, musste ich die Augen zusammenkneifen. Soweit ich erkennen konnte, brannte nirgendwo Licht. Lange starrte ich ins Eckfenster hinter dem Balkon im siebten Stock der Wohnung, die Tatjana Wladimirowna gehören sollte. Keine Spur von Leben. Ich meinte, gerade noch die Küchenschränke an der Rückwand ausmachen zu können, sonst nichts. Der Balkon war leer. Dann wanderte mein Blick weiter nach oben, und ich sah, dass im obersten Stock noch keine Fenster eingesetzt worden waren. Im Penthouse hockte eine fette Moskauer Krähe mitten auf einer vorspringenden Fensterbank.
Ich machte mich auf den Rückweg zur Metro, beschloss aber – Fragen kostete ja nichts –, mich nach dem Gebäude zu erkundigen, da ich wusste, dass ich nie wieder nach Butowo kommen würde. Also lief ich durch das hoch wuchernde Gras im Hof der nächstgelegenen Datscha zur Tür. Den riesigen braunen Hund, der neben dem Holzstapel schlief, habe ich erst hinterher gesehen. Ich klopfte an. Ein älterer Mann machte auf – er könnte um die fünfundsiebzig gewesen sein, vielleicht auch um die fünfzig, schwer zu sagen. Er trug einen Wintermantel, hatte aber weder Schuhe noch Socken an.
Ich entschuldigte mich für die Störung und fragte, ob er mir etwas über das neue Gebäude in der Straße erzählen könne.
»Nein.«
»Nichts?«
Er musterte mich einige Sekunden lang und fragte sich wohl, zu welcher Sorte Betrüger ich gehörte. Die Augen waren blutunterlaufen; der Bart war drei Tage alt, Zähne hatte er nur noch wenige.
»Ich glaube«, sagte er dann, »denen ist das Geld ausgegangen.«
»Wem?«
»Keine Ahnung«, sagte er achselzuckend. »Den Bossen. Es heißt, sie wollen es wieder abreißen.«
»Wer sagt das?«
»Die Leute.«
»Also wohnt da keiner?«
»Keiner«, sagte er. »Ich meine, ich weiß nicht. Je weniger man weiß, desto besser schläft man.« Er schenkte mir ein zahnlückiges, tröstliches Lächeln und schloss die Tür.
Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo Mascha und Katja wohnten, suchte aber alle anderen Orte auf, die mir einfielen, fast alle. Hättest du mich damals gefragt, hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass ich nach Tatjana Wladimirowna suchte, aber das wäre nur die halbe Wahrheit gewesen, und ehrlich gesagt, nicht die wichtige Hälfte. Dann war da noch mein Geld, die fünfundzwanzigtausend Dollar, aber das war auch nicht so wichtig.
Als Erstes probierte ich es im Handygeschäft bei der Tretjakow-Galerie. Es war ein heißer Tag, und der Laden voll mit schwitzenden Kunden, die sich mit Angebotsprospekten Luft zufächelten. Die erste Frau, mit der ich redete, sagte, Mascha hätte gekündigt und sie habe viel zu tun. Der Manager sagte nein, sie besäßen über Mascha keine persönlichen Unterlagen, und er bat mich zu gehen. Also machte ich mich auf den Weg ins Restaurant an der Neglinnaja, wo Katja an Silvester als Kellnerin gearbeitet hatte. Hier gäbe es jede Menge Katjas, witzelte man dort, ich dürfe eine auswählen, aber die gesuchte gehörte nicht dazu.
Nach Odessa war ich mir ziemlich sicher, dass Katja in ihrem Leben noch nie einen Fuß in ein Gebäude der Moskauer Staatsuniversität gesetzt hatte. Trotzdem ging ich hin, zu diesem wilden, aberwitzigen stalinistischen Turm auf dem Spatzenhügel. Ich erinnere mich, dass ein frisch vermähltes Paar Hochzeitsfotos auf jener Promenade machen ließ, die an der gesamten Universität vorbeiführt und einen weiten Blick auf die Stadt bietet, auf Fluss und Kreml, auf die Kirchen und all das Chaos. Die Braut trug ein baiserfarbenes Riemchenkleid, längst nicht so züchtig, wie deins vermutlich sein wird, falls du mich nach dieser Geschichte überhaupt noch willst. Ihre Freundinnen waren bunt wie Pfaue, der zum Bräutigam herangewachsene erste Freund trug wie alle anderen Männer einen dunklen Gangsteranzug. Sie wirkten so rührend verloren. Ich hörte die Gäste ›gorka, gorka‹ rufen (bitter, bitter), das traditionelle Stichwort für das Paar, sich zu umarmen und alle Bitterkeit fortzuküssen, auf dass ihr neues Leben süß werde. Die Standbilder vor der Fassade der Universität, die heroischen Intellektuellen, die Bücher hielten, Globen tätschelten oder dümmlich in die Zukunft stierten, erinnerten mich an die Statuen auf dem Bahnsteig in der Station Ploschad Revoluzii, wo ich Mascha zum ersten Mal gesehen hatte. Der Wachposten am Haupteingang ließ mich nicht in die Eingangshalle; allerdings hätte ich auch nicht gewusst, was ich dort wollte, wäre ich durchgelassen worden. Also blieb ich draußen und fragte hübsche Mädchen in kurzen Röcken und Jungen in billigen Jeans, ob sie Katja kannten, bis ich mich lächerlich fühlte und entsetzlich alt. Als ich ging, fuhr mich ein Skater fast über den Haufen. Der Stern oben auf dem Hauptturm blinzelte im erbarmungslosen Sonnenschein.
Ich rief bei MosStroInvest an. Es dauerte eine Weile – ich glaube, die Firma stand kurz vor der Pleite –, schließlich aber kam ich durch. Sie sagten, von Stepan Mikhailowitsch oder Tatjana Wladimirowna hätten sie nie gehört. Ich nahm an, dass Stepan Mikhailowitsch einen Freund in der Firma oder bei den Bauunternehmern gehabt hatte, jemanden, der ihm den Schlüssel für Butowo lieh. Vielleicht war damit die Idee sogar erst aufgekommen, mit dem Köder. Sie müssen noch weitere ein, zwei Freunde gehabt haben, die ihnen die falschen Papiere besorgten. Und mehr brauchte es eigentlich nicht, nur noch mich, der die echten Papiere für Tatjana Wladimirownas Wohnung verschaffte und die alte Dame bei Laune hielt. Sie müssen sich gesagt haben, dass es die ganze Sache echt aussehen ließ, wenn sie ihr die fünfzigtausend gaben.
Ich glaube, der einzige Ort, den ich noch hätte aufsuchen können, aber wohin ich nicht ging, das war die Datscha, die, von der es geheißen hatte, sie gehöre einem alten Mann, einem ehemaligen Eisenbahnarbeiter – die mit der schrankgroßen banja und dem magischen Schlafzimmer auf dem Dachboden, jene Hütte, in der ich herausgefunden hatte, dass Mascha und Katja keine Schwestern waren. Irgendwie aber war mir der Ort zu heilig, eine Erinnerung, die ich mir gefroren im Wintereis bewahren, nicht durch Sommerschweiß und Enttäuschung verderben wollte. Das ginge einfach zu weit. Du denkst sicher, ich hätte mich an die Polizei wenden sollen, hätte es tun müssen. Ich kann beinahe spüren, dass du das denkst. Aber was hätte ich schon sagen können? Was war denn passiert? Eine Frau hatte ihre Wohnung verkauft. Zwei junge Frauen waren fortgezogen. Nichts war passiert. Und an all dem, was geschehen war, hatte ich meinen Anteil gehabt.
Es gab einen Moment in jenen wenigen Tagen der Suche, da meinte ich, Tatjana Wladimirowna entdeckt zu haben; vielleicht wollte ich es auch nur glauben oder redete es mir ein. Es war auf der Twerskaja, am unteren Ende des Roten Platzes. Ich war unterwegs zu einem sorgenvollen Mittagessen mit Paolo im Sommercafé auf der Terrasse vor dem Konservatorium und meinte, ich hätte ihre Kugelstoßergestalt erkannt, ihren martialischen Schritt – langsam, aber fest entschlossen wie eine vorrückende Armee – ihre Mir-doch-egal-Frisur, und das knapp fünfzig Meter vor mir auf dem Gehweg. Nur drängten sich Leute auf dem Gehweg; Touristenscharen umlagerten einen Stand, der Lenin-T-Shirts verkaufte und Stalinpuppen. Es war wie in einem jener Träume, in denen man läuft und läuft und dennoch nicht vorwärtszukommen scheint. Als ich zu der Ecke kam, an der das Zentrale Telegrafenamt steht, hatte ich sie verloren. Ich blickte über den Rand der halbhohen Mauer auf die Stufen hinab in die Unterführung. Ich folgte der Twerskaja bis zum Levis-Laden. Die alte Frau blieb verschwunden.
Gut möglich, dass sie es war – ich behaupte nicht, dass sie es nicht war. Sie hätte es sein können. Vielleicht spaziert sie auch heute noch durch Moskau oder Sankt Petersburg, mit fünfzigtausend Dollar in der Plastiktüte und einem Babylächeln im Gesicht. Vielleicht haben sie es dabei belassen. Schließlich hatten sie ihre Wohnung, und Tatjana Wladimirowna hätte sie nie zurückerhalten. Dank Olga waren sämtliche Papiere in Ordnung. Es gab nichts, was die alte Tatjana Wladimirowna hätte tun können, niemand, bei dem sie sich beklagen konnte. Höchstens bei mir. Sie hätte gewusst, wo ich zu finden war, wenn sie mich gesucht hätte.
Aber sie kam nie, und ich bezweifle, dass es ihnen gefiele, wenn Tatjana Wladimirowna auf dem Gehweg stünde und für Ärger sorgte oder das Geld ausgäbe, das ebenso gut ihnen gehören könnte. ›Kein Mensch, kein Problem‹ lautet ein altes russisches Sprichwort, und ich schätze, sie werden sich schon darum gekümmert haben, dass es keine Probleme gab. Auch ohne Schnee wäre das nicht schwierig gewesen. So wird es gewesen sein, denke ich, auch wenn ich es mit Bestimmtheit nie erfahren sollte.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Tatjana Wladimirowna selbst damit gerechnet hat, nach Butowo zu ziehen, nicht in ihrem tiefsten Innern. Vielleicht hat sie ja nie erwartet, jemals im Wald Pilze zu pflücken, im Teich zu schwimmen, ihren Geschirrspüler laufen zu lassen und von ihrem neuen Balkon auf die Kirchkuppeln schauen zu können. Ich bin mir nicht sicher, was sie genau erwartet hat, doch fange ich an zu glauben, dass alle von vornherein mehr gewusst haben als ich, Tatjana Wladimirowna ebenso wie Mascha und Katja. Dass sie es mir vorenthalten haben, wie man einem Kind ein schmutziges Geheimnis vorenthält, bis es sich schließlich nicht länger verschweigen ließ. Manchmal denke ich, es habe von Beginn an auf bizarre Weise eine Verschwörung gegen mich gegeben.
Vielleicht auch nicht. Vielleicht – nein, wahrscheinlich, ich will so ehrlich wie nur möglich sein – war es eine Verschwörung gegen mich, um mich vor der Wahrheit zu schützen. Und die Wahrheit wäre, dass ich irgendwo eine Grenze überschritten hatte, in einem Augenblick im Restaurant, hinten in einem Taxi, unter oder auf Mascha oder im Fahrstuhl am Paweletskaja-Platz. Irgendwie war ich zu einem Menschen geworden, der mitmachte, wobei auch immer, der spürte, dass es nichts Gutes war, dem es aber nichts ausmachte, der die Papiere besorgte und so lange lächelte, wie er bekam, was er brauchte. Die Sorte Mensch, von der ich nie geahnt hatte, dass ich dazugehören könnte, bis ich nach Russland kam. Doch ich konnte so sein, und ich war so.
Das war es, was ich lernte, als der Schnee meines letzten russischen Winters zu tauen begann. Bei dieser Lektion ging es nicht um Russland. Geht es nie, denke ich, wenn eine Beziehung endet. Man erfährt über den geliebten Menschen nichts Neues. Neues erfährt man nur über sich selbst.
Ich war der Mann auf der anderen Seite der Tür. Mein Schneeglöckchen, das war ich.