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Irgendwann Mitte Februar fuhr Tatjana Wladimirowna erneut nach Butowo, diesmal, soweit ich weiß, mit Katja. Ich traf sie alle bald darauf, als wir im Park bei Kolomenskoje unweit der zugefrorenen Moskwa Ski fuhren. Du hast nicht gewusst, dass ich Ski fahren kann? Kann ich auch nicht.

Wir ließen Tatjana Wladimirowna in einem schmuddeligen kleinen Café am Parkeingang zurück; und sie winkte uns fort, um sich dann Tee und Bliny zu bestellen. Mascha und Katja hatten ihre eigenen Ski mitgebracht, die länger und schmaler als jene waren, an die ich mich von meiner Woche Abfahrtslauf zu Studienzeiten erinnerte (Saufspiele, ins Waschbecken der Skihütte pinkeln, ein verknackster Knöchel). Ich lieh mir Ski von einem Kiosk am Tor, dazu ein paar Fellstiefel, die aussahen, als wären sie schon beim Einmarsch der Russen in Finnland getragen worden.

Der entlang des Friedhofszauns auf meiner Straße aufgeworfene Schnee glich mittlerweile entfernt dem vielschichtigen italienischen Dessert, das du so gern magst: Oben weißlich, cremig darunter, dann folgt eine mit Müll gespickte Lage (Flaschenscherben, Chipstüten und einsame, abgelegte, in körnig weißer Lava gestrandete Schuhe), darunter dann, am Boden, eine Grundschicht übler, schwarzer Schmiere. In Kolomenskoje aber war der Schnee immer noch weiß, irrsinnig weiß. Bis auf die ersten zwei, drei Zentimeter war er hart, und es tat weh, wenn man hinfiel, was ich jedes Mal tat, wenn ich einen Hang hinabfuhr oder hinaufstapfte, wobei ich ein- oder zweimal auch die Brille verlor, um dann mit meinen monströsen Handschuhen im Pulverweiß herumzutappen und sie zu suchen.

Bei Mascha und Katja wirkte das Skilaufen ganz natürlich, ebenso natürlich, wie sie auf hohen Absätzen dahingleiten und tanzen konnten. Sie lachten, wenn ich hinfiel, fuhren aber langsamer, bis ich sie wieder einholte. In einem Eichenhain stand eine Holzhütte im Park, die angeblich von Peter dem Großen erbaut worden war, außerdem eine alte Kirche, die man – was für all diese Gebäude zu gelten schien – zu Ehren irgendeines legendären Sieges über die Polen errichtet hatte. Die Kirche war geschlossen und von Gerüsten umstellt, doch hingen lange, makellose Eiszapfen wie Stoßzahnketten von den horizontalen Gerüstbrettern herab. Ein Mann mit einem Schlitten, glöckchenbehangen und von drei weißen Pferden gezogen, bot Fahrten in den Wald an. Meine Begleiterinnen trugen Skianzüge, dünne, wasserdichte Hosen und aerodynamische Jacken. Ich nicht, und ich begann zu schwitzen, dann wurden die Kleider klamm. Doch als wir auf einem Hügelkamm über einem See hielten, der zugefroren unter uns mitten in einem blattlosen Wald lag, kümmerte mich das nicht mehr. Es war atemberaubend schön.

Als wir zum Café zurückkamen, gingen sie, wie ich mich erinnere, nacheinander auf die Toilette, um Jeans anzuziehen und sich um ihre Frisur zu kümmern, während ich an Tatjana Wladimirownas Seite allmählich wieder auftaute.

»Gut gemacht, Kolja«, sagte sie, als wir erneut alle zusammensaßen. »Bald sind Sie einer von uns. Ein echter Russe.«

»Vielleicht«, sagte Mascha. »Er kann zwar überhaupt nicht Ski fahren, aber dafür liebt er die banja.« Sie sah mich an, im Mundwinkel ein angedeutetes Lächeln, das Grinsen eines sinnlichen Triumphs. Ich wurde rot.

Tatjana Wladimirowna erzählte von ihrer Fahrt nach Butowo. Es habe nicht so ausgesehen, als wäre an der Wohnung viel getan worden, sagte sie, doch hätte Stepan Mikhailowitsch erklärt, dass man zurzeit Leitungen verlegen würde. Und die Hauptsache sei, sagte Tatjana Wladimirowna, dass es schön sei dort im Schnee, so schön, mit den von Winterstiefeln hinterlassenen Spuren unter den Bäumen und um den Teich im Wald gegenüber ihrer neuen Wohnung.

Als sie noch ein Mädchen gewesen sei, fuhr Tatjana Wladimirowna fort, hätten sie, ehe sie nach Leningrad zogen, sich ihre eigenen Ski aus Baumborke gemacht. Für den Winter wurde Gemüse in großen Gläsern eingelegt, Kohl, rote Bete und Tomaten; und im November hätten sie ein Schwein geschlachtet und davon fast bis zum Tauwetter gelebt. Ihre Familie sei arm gewesen, erzählte sie, nur hätten sie nicht gewusst, dass sie arm waren. Mir fiel ein kleiner blonder Oberlippenbart auf, den ich zuvor nicht an ihr bemerkt hatte. Ich glaube, sie hat ihn hell gefärbt.

»Wissen Sie«, sagte sie, »aus dem Fenster der Wohnung in Butowo kann man eine Kirche sehen. Haben Sie eine Ahnung, was das für eine Kirche ist, Kolja?«

Ich erinnerte mich an die Kirche, von der sie sprach, jene weiße Kirche mit den goldenen Kuppeln, doch wusste ich nicht, welchem Heiligen oder Zaren sie gewidmet war.

»Das ist eine ganz besondere Kirche«, fuhr Tatjana Wladimirowna fort. »Man hat sie zur Erinnerung an die vielen Menschen gebaut, die von Stalin ermordet wurden. Es heißt, allein in der Nähe dieser Kirche seien zwanzigtausend erschossen worden. Vielleicht noch mehr. Niemand weiß es genau … Ich bin nicht so religiös wie meine Mutter; den Glauben haben wir in Leningrad verloren; trotzdem finde ich, es ist gut, dass ich diese Kirche bald von meinem Fenster aus sehen kann.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mascha und Katja blieben ebenfalls stumm. An der Innenseite der Fenster rann das Kondenswasser in breiten Streifen herab.

Schließlich fragte Tatjana Wladimirowna: »Und, Kolja? Wollen Sie einmal Kinder haben?«

Ich weiß nicht, warum – es hatte irgendwas damit zu tun, dass das Leben weiterging, dass man daran zumindest glauben musste –, aber die Frage schien ganz natürlich an die Frage nach Stalins Kirche und den Massengräbern anzuschließen. Ich versuchte, nicht zu Mascha hinzusehen, spürte aber, wie sie sich auf ihre Tasse Tee konzentrierte und sich von mir abwandte.

»Ich weiß nicht, Tatjana Wladimirowna«, sagte ich. »Wahrscheinlich schon.«

Was nicht ganz stimmte. Ich hatte auf Bekannte, die Vater geworden waren, immer mit einer Mischung aus Verachtung und animalischer Angst reagiert und mir ihre krabbelnden, grabschenden Babys angesehen, diese entschlossenen, doch unkontrollierten Schildkrötenbewegungen, ohne das Geringste dabei zu empfinden. Keine Angst, ich habe mich geändert. Ich weiß, du willst Kinder, das ist in Ordnung.

An jenem Nachmittag sagte ich nur, was Mascha meiner Meinung nach hören wollte, was wohl die meisten Frauen hören wollen. Und hätte sie mir da gesagt, dass sie schwanger war, hätte ich es womöglich behalten wollen, hätte mich vielleicht sogar gefreut – nicht auf das Baby, aber darauf, dass es bedeutete, wir würden zusammenbleiben, vielleicht auf immer. Zugleich aber frage ich mich, ob ich nicht tief drinnen wusste, dass es mit uns kein glückliches Ende nehmen würde, ob es nicht gerade dieses Verhaftetsein im Hier und Jetzt war, was mir an ihr am besten gefiel. Ich glaube, ich habe gemerkt, dass irgendwas fehlte oder irgendwas zu viel war, auch wenn ich mir größte Mühe gab, es zu vertuschen.

»Ich will Kinder«, sagte Katja. »Vielleicht sechs. Oder sieben. Aber erst, wenn ich mit dem Studium fertig bin.« Sie ist eine schlichte Seele, dachte ich, ein offenes Buch, ein Märchen.

»Und Mascha«, erklärte Tatjana Wladimirowna liebevoll, »kann ich mir sehr gut als Mutter vorstellen.«

»Ich will Kinder, ja«, sagte Mascha mit leiser, angespannter Stimme, ohne aufzusehen, »aber nicht in Moskau.«

»Maschinka«, sagte Tatjana Wladimirowna, nahm eine meiner Hände und griff mit der anderen Hand nach Maschas Fingern, »wenn ich eines in meinem Leben ändern könnte, dann das. Pjotr Arkadjewitsch und ich, wir haben Pech gehabt, und natürlich war da seine Arbeit, und wir hatten zusammen ein gutes Leben, aber letzten Endes …«

»Genug davon«, sagte Mascha, als meinte sie es ernst, und zog ihre Hand fort.

Unter ihrem grauen Pony huschten Tatjana Wladimirownas Blicke zwischen uns hin und her. Getauter Schnee machte den Boden zu unseren Füßen glitschig.

Wir bestellten Wodka und ›Hering im Pelzmantel‹ (marinierter Fisch, begraben unter einem Belag Rote Bete und Mayonnaise). Wir besprachen die Vereinbarungen für den Wohnungstausch.

Ich sagte, dass ich mich um die Eigentumsbescheide kümmerte und glaubte, in wenigen Wochen alle nötigen Unterlagen beisammenzuhaben.

»Danke, Nicholas«, erwiderte Tatjana Wladimirowna. »Vielen herzlichen Dank.«

Dann redeten wir über Geld.

Ich glaube, es war das erste Mal, dass wir im Detail über Geld redeten. Mascha sagte, da die neue Wohnung in Butowo weniger wert sei als Tatjana Wladimirownas alte Wohnung, wolle ihr Stepan Mikhailowitsch fünfzigtausend Dollar geben. (In Moskau dachte und redete man damals in Dollar, bestach auch mit Dollar, zumindest, wenn größere Summen im Spiel waren; legale Transaktionen wurden allerdings in Rubel abgewickelt.)

Anfangs sagte sie, sie habe keine Ahnung, was sie mit so viel Geld anfangen solle. Dann aber gab sie zu, dass ihre Pension nicht ausreiche, niemand komme mit der Pension aus – allerdings habe sie dank ihrer Arbeit ein wenig Geld gespart, und als Überlebende der Belagerung von Leningrad bekomme sie vom Staat eine kleine Rente zusätzlich, außerdem noch ein wenig für den Beitrag, den ihr Mann für die sowjetische Sache geleistet hatte. Trotzdem, sagte sie, wäre es nett, eines Tages nach Sankt Petersburg zurückkehren zu können …

»Nimm es«, sagte Mascha.

»Nimm es«, sagte Katja.

»Tatjana Wladimirowna«, sagte ich, »ich finde, Sie sollten das Geld annehmen.«

Erneut musterte sie unsere Gesichter. »Ich nehme es«, sagte sie dann und klatschte in die Hände. »Vielleicht fahre ich doch noch nach New York! Oder nach London!«, rief sie und blinzelte mir zu.

Wir lachten und tranken.

»Auf uns!«, sagte Tatjana Wladimirowna und leerte ihr Glas in einem Zug. Sie lächelte, und ihre feine Haut, immer noch straff über den hohen russischen Wangenknochen, erinnerte einen Moment lang an die Haut des glücklichen Mädchens auf dem Foto von der Krim im Jahre 1956.

*

In jenem Februar – vierzehn Tage ehe meine Mutter zu Besuch kommen wollte – fing ich mir eine mörderische Moskauer Erkältung ein. Wie Musiker, die erst ein Solo spielen, ehe sie gemeinsam das Finale anstimmen, stellte sich jedes Symptom einzeln vor: die laufende Nase, dann der schmerzende Hals, darauf die Kopfschmerzen und schließlich alles zusammen. Mascha verordnete mir Cognac mit Honig und verbot Blowjobs. Ich musste zwei, drei Tage im Bett bleiben, sah mir lustlos einige DVDs mit amerikanischen Spielfilmen an und hörte das Dröhnen eines Schneepflugs durchs Fenster dringen, den Lärm der vorsintflutlichen Mülllaster und manchmal, von unten, Georges trauriges Miauen.

Als ich wieder ins Büro im Paweletskaja-Turm kam, hockte Olga, die Tatarin, auf dem Rand meines Schreibtisches und zeigte mir die Papiere, die sie mittlerweile für Tatjana Wladimirownas neue Wohnung beisammenhatte. Die Privatisierung sei legal gewesen, bestätigte eine Bescheinigung, eine weitere hielt fest, dass der Bürgermeister gegenwärtig nicht die Absicht hegte, das Gebäude einreißen zu lassen. Ein dritter Bescheid belegte, dass außer Tatjana Wladimirowna niemand das Recht hatte, dort zu wohnen. Auf einer der Listen stand neben ihrem Namen der ihres Gatten, doch war er durchgestrichen, und jemand hatte darüber das Wort ›verstorben‹ geschrieben. Wir konnten nun ebenfalls die bautechnischen Unterlagen mit den Abmaßen der Räume vorweisen, den Lageplan und die Einzelheiten hinsichtlich Wasserrohre und Stromleitungen. Wie ein modernes Gemälde mit Farbklecksen waren sämtliche Unterlagen mit Stempeln übersät. So viele Papiere, dachte ich, und trotzdem gehörte einem die Wohnung nicht endgültig. Der Zar, der Präsident oder wer sonst gerade an der Macht war, konnte sie einem wieder nehmen, wann immer ihm danach war.

»Was brauchen wir noch?«, fragte ich Olga.

»Jetzt fehlt nur noch der Übertragsbescheid vom Grundstücksamt. Und die alte Dame muss sich von einem Arzt bescheinigen lassen, dass sie weder betrunken noch verrückt ist.«

Das sei nötig, erklärte Olga, weil die Russen manchmal ihre Wohnungen verkauften, ein paar Monate später aber erklärten, sie seien bei Geschäftsabschluss beduselt, high oder sonstwie nicht bei Sinnen gewesen, weshalb sie den Verkauf annullieren und ihre Wohnung zurückwollten. Oder irgendein lang verloren geglaubter Neffe tauchte wieder auf und beanspruchte die Wohnung für sich. Für die richtige Summe ließe sich vor einem russischen Gericht zwar so ziemlich alles beweisen, aber die Bescheinigung einer Klinik mache es schwerer, den Tausch anzufechten, erklärte sie.

Ich sagte Olga, sie sei ein Engel.

»So ein Engel nun auch wieder nicht«, erwiderte sie, was aber eher traurig als kokett klang.

»Und wie steht’s mit der Wohnung in Butowo?«

»Was diese andere Wohnung angeht«, antwortete sie, »gibt es ebenfalls Fortschritte. Das Gebäude wurde rechtmäßig auf dem Grund und Boden der Stadt Moskau errichtet. Für die Wohneinheit der alten Dame, Apartment dreiundzwanzig, ist außer ihr selbst niemand registriert. Die Wohnung wurde ans Abwasser der Stadt und ans Stromversorgungswerk angeschlossen. Besitzer ist eine Firma namens MosStroiInvest.«

Ich sagte, ich sei der Ansicht gewesen, sie gehöre Stepan Mikhailowitsch.

»Vielleicht ist MosStroiInvest seine Firma«, sagte Olga.

Sie hielt die Papiere wie einen Köder über meinen Kopf. »Und? Wann trinken wir jetzt unseren Cocktail?«

Ich dachte an etwas, was Paolo mir kurz nach meiner Ankunft in Moskau gesagt hatte. Er sagte, er hätte, was meine Arbeit als Anwalt in Moskau anginge, eine schlechte, aber auch eine gute Neuigkeit. Die schlechte Neuigkeit sei, dass es Abermillionen unsinnige, unverständliche und widersprüchliche Gesetze gebe. Die gute Neuigkeit aber laute, niemand erwarte, dass man sich daran halte. Ich war mir sicher, dass es eine Möglichkeit gab, mit MosStroiInvest fertig zu werden.

»Bald«, antwortete ich und griff nach den Papieren.

Ich weiß noch, dass Kartoffelgesicht Sergei Borisowitsch gerade aus seinem Winterurlaub in Thailand zurückgekehrt war und wir eine PowerPoint-Präsentation seiner Fotos über uns ergehen lassen mussten. Zumindest soweit es das Geschäftliche betraf, waren wir mit uns zufrieden: Dem Kosaken hatten wir die zweite Kreditrate gewährt, und laut Inspektor Wjatscheslaw Alexandrowitsch würde er beim gegenwärtigen Tempo der Arbeiten vor Ort auch bald mit der restlichen Summe rechnen können. Vom Kosaken war uns daraufhin eine Kiste mit lebenden Krebsen geschickt worden (aus dem Meerwasser beim neuen Terminal, wie er behauptete). Und wenn ich aus meinem Turmfenster blickte, sah ich auf der gegenüberliegenden Platzseite eine Schar Winterdienstler in orangefarbenen Overalls, wie sie von den weißen Dächern den Schnee abfegten, die Firstschrägen hinaufkrochen und sich gefährlich weit in die Dachrinnen vorbeugten.

*

Die Zentralheizung sorgte im Schlafzimmer für eine Bullenhitze. Um kühle Luft einzulassen, hatte ich die Rüschenvorhänge beiseitegezogen und das Fenster geöffnet. Mascha lag auf mir, blickte, die Fäuste auf meine Brust gestemmt, an meinem Kopf vorbei zur Wand und atmete konzentriert wie eine Mittelstreckenläuferin.

Infolge meiner Erkältung hatte ich sie über eine Woche nicht gesehen, und ich nahm an, dass sie einige Tage nicht in Moskau gewesen war – meine Anrufe wurden direkt auf ihre Voicemail umgeleitet – was Mascha jedoch bestritt, als ich sie danach fragte. Plötzlich musste ich daran denken, was Olga mir erzählt hatte, begann mir Sorgen zu machen und wollte die Wahrheit herausfinden.

»Was ist MosStroiInvest, Mascha?«

»Was?«

»MosStroiInvest?«

»Was?« Sie krümmte sich nicht mehr, wippte nicht mehr auf und ab, keuchte aber noch. »Keine Ahnung.«

»Dieser Firma gehört das Haus in Butowo«, sagte ich, »und die Wohnung, in die Tatjana Wladimirowna einziehen will.«

Sie rollte sich von mir ab, blieb rücklings neben mir liegen und betrachtete die hieroglyphischen Risse an der Decke. Wir berührten uns nicht mehr.

»MosStroiInvest … Ich glaube, das ist Stepan Mikhailowitschs Firma. Oder die – wie sagt man? –, die vom Ehemann einer Schwester von Stepan Mikhailowitsch.«

»Von seinem Schwager.«

»Genau, Firma von seinem Schwager. Ja, ich glaube, so heißt Firma. Ja, MosStroiInvest.«

»Es ist besser, in solchen Dingen auf Nummer sicher zu gehen«, sagte ich, »Tatjana Wladimirowna könnte sonst ziemliche Schwierigkeiten bekommen.« Mit russischen Bauunternehmern gab es in jenen Tagen nämlich jede Menge Probleme. Manchmal verkauften sie sämtliche Wohnungen in einem Gebäude, verschwanden, ehe die Bauarbeiten beendet waren, und die Käufer sammelten sich in Protestcamps vor den Häusern, oder sie steckten sich in Brand vor der Firmenzentrale im Weißen Haus gleich neben dem Hotel Ukraina.

Mascha dachte nach, das Gesicht abgewandt, ins Kissen vergraben. Ihr Hals war rot angelaufen. Auf dem Brustkorb waren noch meine Fingerabdrücke zu sehen.

»Es wird keine Probleme geben«, sagte sie, drehte sich auf die Seite, so dass sie mich ansah, umschloss mit beiden Händen meine Finger und schaute mir ins Gesicht. Ihre Augen schimmerten dschungelgrün; die Haut war jung, fest und straff wie die einer Tänzerin, einer Kämpferin. »Und Kolja«, sagte sie, eher reserviert als zärtlich, »wir wollen bloß, dass du Papiere für Verkauf von Tatjana Wladmirownas Wohnung besorgst. Stepan Mikhailowitsch beschafft die anderen, die für Butowo. Darum brauchst du dich nicht zu kümmern, die sind alle soweit fertig. Für dich ist nur nötig, dass du Tatjana Wladimirowna sagst, alle Papiere sind in Ordnung. Das musst du ihr sagen, Kolja.«

Ich gab keine Antwort. Sie streichelte mich.

»Komm zurück«, sagte ich dann, mehr nicht, doch wussten wir beide, was es bedeutete. Ich hatte beschlossen, ihr zu glauben. Ich war auf ihrer Seite.

»Okay«, sagte sie und kam zurück.

Mascha, das muss ich dir sagen, ist ein wirklich außergewöhnlicher Mensch. Diese Selbstbeherrschung, diese Konzentration. Bestimmt hätte sie eine großartige Ärztin werden können. In einem anderen Jahrhundert vielleicht auch eine erstklassige Krankenschwester. Oder eine Schauspielerin – sie wäre sicher eine tolle Schauspielerin gewesen. Sie war eine tolle Schauspielerin.

*

Als ich das nächste Mal zum Bulwar ging, sah ich Schlittschuhläufer auf dem Tschistyje Prudy und traf vor Tatjana Wladimirownas Wohnung einen Mann, den ich nicht kannte, einen elegant wirkenden Mittvierziger mit edlem Wildledermantel. Banker, dachte ich spontan. Am kleinen Finger steckte ein Siegelring, und wenn ich mich nicht täuschte, war der Mann vor kurzem erst bei einem sicher nicht ganz billigen Friseur gewesen. Er roch geradezu nach Geld. Während er gehen wollte, flirtete Katja mit ihm, lächelte, wand sich und reckte ihre Titten vor. Er wünschte mir auf Russisch einen ›guten Abend‹, schlug den Kragen hoch und ging. Der Mann schien mir nicht zu der Sorte zu gehören, die einen Grund haben könnte, Tatjana Wladimirowna zu besuchen.

»Wer war das?«, fragte ich, als ich die Stiefel auszog.

»Weiß nicht«, sagte Katja und lachte.

Sofort glitt Mascha in Socken über das Parkett auf mich zu, packte mich mit beiden Händen und sagte: »Kommt, lasst uns Bliny essen!«

Die Russen feierten Masleniza, ein halbheidnisches Februarfest, das irgendwas mit der Fastenzeit zu tun hat, angeblich auch mit dem Winterende, Tage, an denen die Kirchenglocken läuten und man Pfannkuchen isst. Zu dritt drängten wir uns in Tatjana Wladimirownas Küche, aßen Bliny mit saurer Sahne und Roten Kaviar. Die Küchenfenster waren gegen die Kälte mit Kreppband abgedichtet – eine alte sibirische Angewohnheit, nahm ich an, die sie offenbar nicht ganz abschütteln konnte. Trinksprüche wurden ausgebracht.

»Ich habe für diese Wohnung fast alle Unterlagen beisammen«, sagte ich Tatjana Wladimirowna.

»Meinen herzlichen Dank«, erwiderte sie und küsste mich auf beide Wangen.

»Und Kolja kümmert sich auch um alle Papiere für deine neue Wohnung in Butowo«, setzte Mascha hinzu, ohne mich dabei anzusehen.

»Wunderbar«, antwortete Tatjana Wladimirowna.

Ich lächelte und zog es vor, nichts zu sagen.