Kapitel III: Und es begab sich zu einer Zeit
Tim blieb hinter einer Palme verborgen und betrachtete das Löwengehege.
Er hatte sich einen falschen Bart angeklebt, einen billigen Trainingsanzug besorgt, Mütze und Sonnenbrille machten die Verwandlung zum Prekariaten Mitte zwanzig perfekt.
Oder war man Prek-Arier, sozusagen reinrassig unterprivilegiert?
Tim grinste.
Er war gespannt, wie Gründervater und Freiherrin aussahen. Die Alditüten, das Zeichen des Volkes, würden sie offenbaren.
Es dauerte nicht mehr lange, und eine junge Frau erschien.
Flächenbrand schätzte sie auf Anfang dreißig, sie war hübsch und erinnerte ihn an die Schauspielerin Kate Beckinsale. Die schwarzen Haare trug sie kurz. Jeans, Bluse, Jeansjacke und Stiefel. In ihrer Linken hielt sie eine Alditüte. Sie blieb vor dem Gehege stehen und betrachtete die gelangweilten Tiere.
Gleich danach erschien ein Mann.
Tim gab ihm etwas mehr als vierzig Jahre, und er trug einen verschlissenen grauen Anzug, der perfekt zur Alditüte in seiner Rechten passte. Er wirkte ein wenig wie Russell Crowe, nur mit langen Haaren und einem Vollbart.
Gründervater und Freiherrin. Tim grinste. Oder er hatte keinen von beiden vor sich, sondern nur ein paar zufällige Zoo-Besucher. Alditüten kamen weit herum, bis in den Hagenbeck.
Er verließ seine Deckung, seine Tüte wild schlenkernd, und ging auf sie zu, bevor sie miteinander Kontakt aufnehmen konnten. „Tach, Leuts“, sagte er jovial. „Jemand Lust auf Flächenbrand?“
„Aha, der Meister der Rhetorik! Ich bin Freiherrin“, sagte die Frau grinsend.
„Gründervater“, meinte der Mann etwas säuerlich. „Eine saudumme Idee. Das hier. Vor dem Löwengehege.“
„Es ist ein Zeichen. Der Löwe steht für die Gesellschaft. Im Grunde machtvoll und doch eingesperrt von ein paar schwachen Menschen, die ihm was zu essen geben und ihm ansonsten nichts erlauben“, erwiderte Flächenbrand. „Außerdem behaupten sie, es nur gut mit ihm zu meinen, und dass sie sich um ihn sorgen. Aber die Freiheit geben sie ihm dennoch nicht wieder.“
„Außer der Freiheit zu ficken, wann sie wollen“, fügte Freiherrin an und zeigte auf die Tiere, die jetzt kopulierend übereinander lagen.
„Wie im echten Leben.“ Tim musterte sie und freute sich. „Keine Namen. Wir sind ja immerhin kurz davor, eine terroristische Vereinigung zur Erneuerung Deutschlands zu bilden.“
„Schon klar. Und was ist nun?“, knurrte Gründervater. „Hören wir jetzt was von deiner tollen Idee? Was soll an der so gut sein, dass sie funktioniert?“
Tim langte in seine Tüte und verteilte Handys. „Darauf sind unsere Nummern gespeichert, wir werden auch bald eine eigene Internetadresse haben. Daran arbeite ich noch“, erklärte er. „Zur Koordinierung der Aktionen werden wir nur über die Handys sprechen.“
Freiherrin sah sich um. „Ich frage mich gerade, wo die versteckten Kameras sind. Verstehen Sie Spaß und so.“
„Das hier“, sagte Tim düster, „ist kein Spaß. Wir stürzen das System. Wenn du daran nicht glaubst, kannste gehen.“ Er deutete auf die Bank, die neben dem Weg stand. „Wir plaudern erst mal ein bisschen.“
Sie setzten sich.
Tim verteilte Büchsenbier und Rohesser. „War kackschwierig, gutes Dosenbier zu besorgen“, sprach er mit imitiertem Asi-Jargon. „Das ist sozusagen unser trinkbarer Prek-Arier-Ausweis.“
Gründervater nahm ihm das übel. „Wenn du mich verarschen willst, nur weil ich arbeitsloser Schlosser bin …“
„Nee“, winkte er ab. „Nur Spaß.“ Er deutete auf Freiherrin. „Also, warum bist du hier?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Neugier?“
„Und haste versucht, vorher schon mal was zu verändern, wie unser Gründervater hier?“
„Ja. Habe ich. War in einer großen Volkspartei.“
Tim trank schlürfend. „Hochgebumst?“
„Hochgeblasen. Kann ich besser“, gab sie zurück und prostete ihm zu. Gründervater musste laut lachen.
„Jetzt ohne Spaß: Warum ist nichts draus geworden?“
Sie wurde ernst, und auch wenn sich ihre Augen auf die fickenden Löwen richteten, sah sie durch sie hindurch. „Unten angefangen, Vorsitzende der Jugendabteilung geworden, und ich war echt gut. Engagiert. Demos, Bürgeraktionen, und es hat Spaß gemacht. Die Jungen wollten mich für den Stadtrat aufstellen. Aber da sagten die alten Männer und Frauen: ‚Nee, Kleine. Sei du erst mal ein paar Jahre bei der Partei, dann kannst du mal auf die Liste kommen. Auf Platz 30, Nachrückerin. Die guten Plätze gehen an Jupp, Willi und Heinz, weil der schön spendet. Und Jupp ist Vorsitzender der Partei, der muss in den Stadtrat. Und Willi, also der Willi, der ist der Kumpel von Jupp’s.“ Freiherrin trank und sah wütend aus. „Flachpfeifen, allesamt. Abnicker und Zustimmer.“
„Kenne ich“, sagte Gründervater. „Habe ich auch mal versucht, was politisch zu bewegen. Aber man braucht seine Heerscharen, und die hatte ich nicht. Das Parteiensystem, wie wir es haben, ist für den Arsch, das kann ich euch sagen. Da haben die Guten kaum eine Chance, nach oben zu kommen. Und wenn sie nach oben kommen, werden sie von denen ausgebremst, die sich ihr lukratives Nest aus Amt und Geld gebaut haben. Als ob sich einer vom miesen Rest dafür interessiert, was er dem Wähler versprochen hat. Hauptsache ins Amt gewählt, einen sicheren Posten ergattert und seine Mannen im Rathaus untergebracht, damit es mit der Wiederwahl hinhaut. Ohne mich! Da erreiche ich mit Demonstrieren mehr.“
Tim klemmte die Dose zwischen die Knie und klatschte in die Hände. „Da habe ich aber zwei sehr schön frustrierte Mitstreiter. Der Frust macht euch wütend, was? Das ist gut. Wut brauchen wir.“ Er ballte die Faust und rief theatralisch: „Denn wir sind wütende Terroristen der Freiheit!“
„Ich lege keine Bomben“, sagte Freiherrin sofort. Sie schaute sich wieder um. Sie glaubte noch immer, in eine TV-Show geraten zu sein.
„Wir töten doch niemanden“, rief Tim sofort. „Nee, den Fehler hat die RAF begangen. Machen wir aber nicht.“
„Ich habe noch immer nicht gehört, was du vorhast.“ Gründervater leerte seine Bierdose. „Und was ist denn deine Motivation?“
„Yeah, unser Flächenbrand hat mit Sicherheit studiert.“ Freiherrin rieb den Stoff der Trainingsjacke zwischen Daumen und Zeigefinger. „Das ist doch Maskerade. Im Chat klang durch, was du draufhast.“
„Meine Motivation: Mich kotzt alles an. Und das nehme ich nicht länger hin, weil es zu viele andere tun“, erklärte Tim ruhig. „Alle maulen, schimpfen auf die Politiker und die Wirtschaft und die Banken, aber anstatt etwas dagegen zu unternehmen – maulen sie weiter. Zahlen Steuern und Abgaben, zahlen höhere Preise für weniger Ware und mehr Zinsen für Kredite. Alle werden reich, nur die normalen Bürger nicht.“ Er schauderte gespielt. „Uh, bei so viel Aufbegehren werden die Politiker und Banker und Anzugträger in den Vorstandsetagen aber mächtig Angst bekommen!“ Er trat mit dem rechten Fuß auf. „Revolution! Das muss hier mal passieren.“
„Revolution. In Deutschland.“ Freiherrin lachte ihn aus. „Das wird nix. Die Deutschen sind alles, aber keine Revolutionäre.“
„Das geht nie im Leben“, erhielt sie von Gründervater Beistand. „Es sei denn, man stellt einigen den Fernseher ab. Dann stehen sie auf und schauen aus dem Fenster.“
„Hey, es gab schon ein paar gute Versuche. Ich sage nur Paulskirche. Oder Hambach.“ Tim zeigte sich starrköpfig.
„Und was ist dabei herausgekommen?“, stichelte Freiherrin. „Die Restauration.“
„Nicht bei uns!“ Tim legte mit einer großspurigen Geste die Arme auf die Banklehne. „Wir sind siegreich und bringen die Türme von Politik und Geld zum Einsturz! Ihr werdet sehen.“ Er sah zuerst zu Freiherrin. „Du“, er wechselte zu Gründervater, „und du, ihr werdet die anderen beiden Zellen bilden …“
„Ich will endlich hören, was du vorhast!“, rief Gründervater genervt, und die Löwen sprangen auseinander. Coitus interruptus praecarius.
„Hey, leiser, Schlosserlein! Sonst werden wir vom BND geschnappt, bevor wir überhaupt angefangen haben“, rügte ihn Tim, beugte sich nach vorne und holte drei neue Dosen aus der Tüte, verteilte sie. „Also, hier mein kleines Referat.“ Er öffnete den Verschluss, prostete ihnen zu, schaute in die Sonne und schloss die Lider. „Wisst ihr, was Deutschland fehlt? Ich sage es euch: Es gibt keine eigene deutsche Terroristengruppe mehr. Alle zittern vor islamischen Attentätern, aber was haben wir denn noch? Nach der RAF blieb es ruhig. Die haben sich mal eben so aufgelöst, weil sie keinen Bock mehr hatten. Seitdem wollte niemand mehr aus politischen Gründen gegen die deutsche Regierung ins Feld ziehen und für das Volk kämpfen. Das ist der Knackpunkt.“ Tim schaute zu Freiherrin. „Gleichzeitig sind Politikverdrossenheit und Korruption allerorten verbreitet. Wir haben mächtige und von der Politik hofierte Konzerne und unantastbare Bosse, einknickende Politiker, Geld verteilende Lobbyisten. Plus“, er hob den Zeigefinger und sah Gründervater an, „Nahrungsmittelskandale. Das Fleisch würden nicht mal mehr die Löwen fressen. Und obwohl die Zeitungen täglich voll mit dem ganzen Sumpf sind, passiert …?“ Er wartete, was seine Mitstreiter sagen würden.
„Nichts“, knurrte Gründervater.
„Gar nichts“, präzisierte Freiherrin seufzend.
„Eben! Aber wir haben die enorme Unzufriedenheit im normalen Volk, das sich nicht in der Lage sieht, etwas gegen die Mächtigen und Machtmissbraucher zu unternehmen“, fuhr Tim fort. „Das könnten wir, indem wir das System verachten und Punks werden, was aber nicht mein Stil ist.“
„Sehe ich“, unterbrach ihn Freiherrin und feixte.
„Odarr wirrr werrrdänn Nazis und strrrräben nach einarrr Rrrückkehrrr des Drrrrritten Rrrreichs!“ Tim imitierte dabei die Sprechweise des Führers. „Ist aber auch nicht so meine Welt. Ich bin lieber frei. Ergo: Deutschland braucht eine neue Terroristengruppe. Eine für das Volk. Eine wie uns.“ Er sinnierte. „Stimmt schon. Paulskirche und Hambach sind gescheitert – weil die Intellektuellen aufbegehrt haben. Die Franzosen waren 1789 erfolgreich, weil sie die Volksmenge auf ihrer Seite hatten. Um es polemisch zu sagen: Wir haben ja wohl mehr Pöbel als Dichter und Denker in Deutschland. Ist schon eine rein mathematische Sache.“
„Das klingt gut, gebe ich zu“, sagte Gründervater und bat mit einer Geste um eine nächste Dose. „Aber wie stellen wir das an? Zu dritt?“
„Wir? Wir sind nur der Zünder, meine Freunde. Der Zünder für den Flächenbrand. Daher ist unser Namen, wenn es euch recht ist: Kommando Flächenbrand.“ Tim erhob sich und ging vor ihnen auf und ab. Als kein Protest kam, redete er weiter. „Wir sind gegen die Gegebenheiten in Deutschland und zetteln einen Aufstand der kleinen Leute an. Stimmvieh war gestern. Wir rufen den Krieg gegen Politiker, Konzerne und ihre Bosse sowie die Korruption aus. Und zwar sind wir so lange im Krieg, bis sich die Verhältnisse in Deutschland gewandelt haben. Da sich das Volk nicht mehr auf legalem Wege gegen die Ungerechtigkeiten wehren kann, braucht es uns.“
Freiherrin schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Also doch Bomben.“
Tim hob beschwichtigend die Hände „Warte doch mal. Ich erkläre doch gerade den Hintergrund. Ich werde einen super Hacker für unser Kommando einkaufen, der von Kreditkartenfälschung bis hin zum Systemcrash alles machen kann. Er wird uns eine eigene Homepage bauen. Außerdem werden wir auf nahezu allen Blog-Plattformen, Gästebüchern und sonst wo unsere Einträge hinterlassen, sodass keiner, aber auch gar keiner mehr an uns vorbeikommt. Fast achtzig Prozent der deutschen Haushalte haben einen Internetzugang und noch mehr einen Computer. Das ist doch schon mal ein guter Ansatz.“
„Virtuelle Revolution“, meinte Gründervater abwertend. „Damit kriegen wir höchstens ein paar Junge und YouTuber oder Hipster, aber nicht die Masse. Und die anderen machen lieber Online-Petitionen. Klicken ist einfacher als aufstehen.“
„Lass doch mal“, warf sich Freiherrin dazwischen. „Ich finde das klasse.“
Tim grinste. „Und das war es auch noch nicht. Ich engagiere uns eine amerikanische Söldnerfirma, die uns drei zuerst taktisch weiterbildet und uns einen Ausbilder für Waffen und Sprengstoffe aller Art stellt. Wir bekommen in den Staaten Unterricht, danach zeigen wir in Deutschland unseren Leuten, wie alles funktioniert. Das Camp für unsere Zellen wird auf einem Privatgrundstück in der Lausitz eingerichtet.“ Er weidete sich an der Überraschung der beiden. „Echt. Ich mache keinen Scheiß.“
„Waffen. Sprengstoff“, echote Freiherrin nüchtern, dann rastete sie aus. „Mensch, Flächenbrand! Ich habe dir gesagt …“
„Hast du im Lotto gewonnen?“, fiel ihr Gründervater ins Wort. „Das kostet doch alles ein Heidengeld.“
„Macht euch darum keine Sorgen.“ Tim winkte ab. „Die Waffen habe ich aus alten Russenbeständen gekauft, den Sprengstoff habe ich in einem Steinbruch gestohlen. Stehlen lassen. Wir sind also schon mal bewaffnet und gefährlich.“ Er sah Freiherrin in die blauen Augen. „Wir töten niemanden, wir verbreiten nur Angst. Das schwöre ich!“
„Und wie?“, fragte sie aufgebracht.
„Durch Humor. Angst durch Humor, wie es damals schon Eulenspiegel gemacht hat. Man könnte uns auch militante Kabarettisten nennen. Unsere ersten Aktionen werden Streichen ähnlich sein und sich gegen Politiker und Konzerne richten. Wir führen sie vor, stellen sie bloß: Alles kommt auf den Tisch. Kontodaten mit Zahlungseingängen, Querverbindungen zu anderen Konten, Spesenabrechnungen, internationale Transaktionen.“
Gründervater lachte laut. „Oh, das klingt ja supereinfach.“
„Für meinen super Hacker schon. Der macht in diesem Stadium der Revolution die Hauptarbeit.“
Freiherrin tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. „Könnte jedenfalls dazu führen, dass wir die Großen ärgern.“
„Und wie! Denn wir brauchen keine Sondergenehmigungen, keine Durchsuchungsbefehle. Die halten sich nicht an die Gesetze – wozu sollten wir es dann tun?“, erklärte Tim enthusiastisch.
Gründervater sah schon deutlich neugieriger aus. Etwas von dem Feuer der Begeisterung hatte ihn erreicht. „Aber was machen wir dabei?“
„Den Hacker füttern“, kicherte Freiherrin. Auch sie war von der Idee einer Revolution bezaubert.
„Wir haben Wichtiges zu tun. Wir beschaffen die entsprechenden Bilder der ehrenwerten Damen und Herren, um sie zu überführen.“ Tim hob die Hand und zählte an den Fingern auf. „Die Bilder und Neuigkeiten kommen ins Netz, dort in alle Social-Kanäle und auf unsere Homepage, wir beliefern sämtliche Tageszeitungen und Magazine damit. Sie werden vielleicht nicht die Beweise drucken, aber sie werden Berichte über uns bringen! Kommando Flächenbrand wird starten. Und sobald wir uns in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht haben, kommt Stufe zwei. Ich dachte dabei an Anschläge auf Einrichtungen der Parteien und auf Konzerngebäude. Ich möchte die Schadenfreude der Menschen sehen und ihnen zeigen, dass die Großen nicht unantastbar sind. Dass sie vor den Gerichten davonkommen, bedeutet nicht, dass sie uns, den militanten Kabarettisten und Kommando Flächenbrand, entgehen!“
„Sachschäden“, betonte Freiherrin deutlich. „Alles andere werde ich nicht mitmachen.“
„Mehr werden wir auch niemals tun“, bekräftigte Tim. „Tote lassen die Stimmung kippen, das hat man bei der RAF gesehen. Menschen entführen, Menschen umbringen – was bringt es denn? Das System muss fallen, der Apparat muss verschwinden. Aber dazu braucht man viele Hände, die anpacken, denn der Apparat ist scheißschwer. Ein Volk kann das, eine Handvoll Terroristen nicht.“
Gründervater nickte. „Ich gebe zu, Flächenbrand, deine Taktik hat was.“
„Danke.“ Tim grinste so breit, dass man meinte, die Mundwinkel schnellten bis zum Hinterkopf. „Wir müssen den Menschen zeigen, dass sie die Macht haben. Stellt euch mal vor, dass durch uns … sagen wir … zehn Millionen Menschen eine Tankstelle boykottieren. Dass durch uns dreißig Millionen Menschen ein Produkt nicht mehr kaufen. Dass fünf Millionen durch uns nach Berlin vor den Reichstag marschieren und wahre Demokratie fordern. Das ist die Macht des Volkes!“
„Mal angenommen“, sagte Freiherrin nachdenklich, „es funktioniert. Angenommen, es funktioniert wirklich und die Menschen in Deutschland stehen auf: Was kommt danach?“
Tim zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung.“
Sie blinzelte. „Wie, keine Ahnung?“
„Keine Ahnung eben.“
„Du kannst doch keine Revolution planen, ohne einen Entwurf für die Zeit danach zu haben!“, rief sie verblüfft.
Gründervater schüttelte den Kopf. „Brauchen wir auch nicht. Wir haben ja schon einen: Demokratie. Wenn wir ihr zum Sieg verhelfen, haben wir gewonnen. Echte Demokratie, bei der alle dem Volk und nicht das Volk allen dient.“
„Weise Worte, Gründervater.“ Tim hob die Hand und reckte die Bierdose. „Stoßen wir an. Auf die Gründung von Kommando Flächenbrand!“
Freiherrin und Gründervater zögerten keine Sekunde.
* * *
Internet-Chat-Log aus dem Forum „Widerstand gegen den Staat – Deutschland muss untergehen!“
Auszug aus der Ermittlungsakte des Verfassungsschutzes zu „Kommando Flächenbrand“
Teilnehmer:
– Flächenbrand,
– Lady Escape,
– Delete
– Schwerer Ausnahmefehler
– Punky
– Hittla
Personen und Aufenthaltsorte bekannt, siehe Anhang.
Hittla: Schwules Deutschland! Wir bräuchten einen Mann wie Adolf Hitler, dann hätten wir alle Arbeit und weniger Kriminalität. Und auch keine Ausländer und Flüchtlinge, die uns die Jobs wegnehmen.
Schwerer Ausnahmefehler: Klar. Weil die Verbrecher wie du im Arbeitslager säßen! Jeder Ausländer und Flüchtling würde härter arbeiten, um Geld zu verdienen als du.
Delete: Hittla ist ein scheiß Nazi!!!!
Hittla: Klar bin ich ein Nazi, aber ich habe wenigstens ein Ziel. Ihr seid alles Lutscher! Wir bekommen wieder die Macht in Deutschland, man sieht es ja an den Länderparlamenten, in denen wir schon sitzen!
Lady Escape: Die NPD und die DVU, oder wie sie heißen, die bringen ja wohl gar nix.
Hittla: Hahaha! Die habe ich gar nicht gemeint. Wir sind überall, heimlich, überall. Die Doofen zeigen ihre Springerstiefel, die Schlauen tragen Anzüge, und die Cleversten seht ihr gar nicht. Wir bereiten alles vor, ihr werdet euch noch umschauen, wenn in Deutschland plötzlich wieder Ordnung herrscht. Das geht rrrrratzfffatz!
Flächenbrand: Freue mich jetzt schon auf euren Endsieg.
Delete: Hat ja damals prima geklappt. Sieg an allen Fronten, und 1945 waren wir Weltmeister!
Hittla: Gebe ich zu, ist dumm gelaufen.
Flächenbrand: Weil Hitler und seine Ideologie dumm waren, vielleicht? Aber eines stimmt schon: Der Staat, wie er jetzt ist, muss weg.
Punky: Genau! ANARCHIE!
Flächenbrand: Anarchie ist ja wohl die beschissenste aller Weisen zu leben!
Punky: Wieso? Jeder kann machen, was er will! Freiheit für alle! Keine Macht für niemand!
Flächenbrand: Und wenn der Nazi der Meinung ist, dass er dich nicht leiden kann und dich umhaut? Oder dein Haus will und eine Schrotflinte besitzt wie seine zehn Kumpels? Remember? Keine Regeln. Olé, olé, super Anarchie, kann ich da nur sagen.
Hittla: Sage ich doch. Wer Stärke möchte, muss Stärke zeigen! Deutschland hat da einiges nachzuholen.
Schwerer Ausnahmefehler: Ging es nicht darum, dass wir einen anderen Staat wollen?
Hittla: Sicher!
Flächenbrand: Auf alle Fälle! Aber MIT Demokratie. Mit Politikern, die sonst nichts tun, als in ihren Bereichen tätig zu sein. Keine Nebentätigkeiten mehr.
Lady Escape: Du willst kein neues System, du willst das alte behalten.
Flächenbrand: Wenn man bedenkt, wie revolutionär echte Demokratie ist, WÄRE es sehr wohl ein neues System!
Delete: Hahaha, gar nicht dran gedacht!
Flächenbrand: Hier habe ich mal aufgelistet, was ein Politiker noch so alles macht. Bei einem kamen achtzehn weitere Tätigkeiten zusammen. Neben seinem Mandat im Bundestag. Und dann habe ich hier noch einen gefunden, Martin Rinnsler, Bundestagsabgeordneter, jährlich etwa 84.000 Euro Diäten plus 43.000 Euro steuerfreie Kostenpauschale. Der ist 55 Jahre, und die Haupteinnahmequelle des Typen ist: Hauptgeschäftsführer in einem Unternehmen! Das bringt ihm gut 310.000 Euro ein. Alles in allem mehr, als eine Kanzlerin verdient. Jetzt erklär mir mal einer, wie jemand Hauptgeschäftsführer sein kann UND Berufspolitiker.
Schwerer Ausnahmefehler: Geht doch gar nicht!
Hittla: Alle korrupt. Beim Führer hätte es das nicht gegeben.
Flächenbrand: Es gibt eine Liste mit Industrieunternehmen, die Hitler damals Geld gegeben haben, damit er ihnen Aufträge verschafft. Oder sie in Ruhe lässt. Wie würdest du das nennen?
Hittla: 88!
Delete: Ich habe Hittla aus dem Forum gebannt.
Schwerer Ausnahmefehler: Hätte ruhig früher passieren können. Aber zurück zum Thema.
Flächenbrand: Rinnsler, okay, er macht nichts Ungesetzliches. Aber es ist trotzdem scheiße. Am Ende dieser Legislaturperiode hat er 23 Jahre im Bundestag verbracht, und wisst ihr, was das bedeutet?
Schwerer Ausnahmefehler: Höchstversorgung. Etwa 4837 Euro im Monat.
Flächenbrand: Richtig!!! Hey, gut! Du weißt Bescheid! Wenn du jetzt noch Hacker bist, hätte ich einen Job für dich!
Schwerer Ausnahmefehler: Ich komme vielleicht darauf zurück.
Delete: Ist das echt wahr? Die Kohle bekommt der?
Flächenbrand: Nein. Er bekommt noch mehr. Weil er vier Jahre lang parlamentarischer Staatssekretär war, hat Rinnsler noch Anspruch auf weitere 3000 Euro Pension. Wird aber nur zum Teil verrechnet, und – Tada! – noch mehr Geld auf der Bank.
Lady Escape: Ich werde Politikerin! Auf der Stelle!
Delete: Haste gut erkannt. Genau das ist der Antrieb der meisten, die in der Politik sind: die Kohle. Oder sie kippen spätestens dann um, wenn sie genug vom Geld korrumpiert sind.
Flächenbrand: Wie gesagt – alles legal, was Herr Rinnsler macht. Aber ist das noch moralisch vertretbar? Wie kann man so noch einen Draht zum Volk haben? Wie versteht man eine Familie, die mit 1300 Euro auskommen muss, wenn man nicht weiß, wohin mit dem Zaster?
Schwerer Ausnahmefehler: Ich finde genauso schlimm, dass Banken, Großkonzerne und Wirtschaftsverbände sich Abgeordnete halten. Ich habe gehört, dass eine Gewerkschaft ihren Funktionären anbietet, nach der Wahl weiter für sie tätig zu sein. Wer in den Bundestag einzieht, bekommt die Hälfte seiner alten Bezüge, bei anderen sind es im Landtag sogar 80 Prozent! Im Landtag! Da kann man sehen, wie tief die legale Korruption nach unten reicht. So kann man ein Abstimmungsverhalten auch beeinflussen. Versteckter Wahlbetrug.
Flächenbrand: Tja, dagegen ist der Lohn vom Bürger an die Politiker – sprich die Diäten – ein Klacks, was?!
Lady Escape: Hm, was bedeutet das? Wir heben die Löhne der Politiker an und verbieten Nebentätigkeiten?
Flächenbrand: Wäre mein Vorschlag. Geht aber nur mit neuen Politikern. Die alten sind zu fett, zu träge, zu sehr im System. Die würden da niemals mitmachen.
Punky: Revolution! ANARC… ach nee, lieber keine Anarchie. Sonst kommt Hittla wieder …
Schwerer Ausnahmefehler: Ich meine, das zieht sich ja auch durch die Ausschüsse. Da sitzen Menschen drin, die Betriebsräte sind und nach wie vor vom Konzern bezahlt werden, während sie Gesetze ablehnen, die dem Konzern schaden könnten.
Flächenbrand: Jau, Treffer! Ich habe da auch schon gestöbert und lecko mio! Da gibt es einen Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung und Forschung, der jahrelang jährlich 80.000 Euro für Textübersetzungen von einem Stromkonzern bekam. ÜBERSETZUNGEN, dass ich nicht lache! Und genau der Konzern gehört zu den größten Empfängern staatlicher Forschungsförderung und ist Lieferant eines Forschungsreaktors … und rein zufällig hat er ein Tochterunternehmen, das Kraftwerke baut.
Schwerer Ausnahmefehler: Mein persönlicher Liebling ist eine Dame, die für mehr Kohle für Ökostrom ist.
Punky: Hä?
Schwerer Ausnahmefehler: Windkrafträder und Solaranlagen, die liefern Strom, und Stromkonzerne sind gezwungen, den Strom für viel Geld zu kaufen. Und die Dame wollte, dass diese Vergütung noch höher wird.
Punky: Aha.
Flächenbrand: Sauber! Und was ist noch mit der Dame?
Schwerer Ausnahmefehler: Die Dame ist kaufmännische Geschäftsführerin einer Solarstromgesellschaft, die gegen garantierte Entgelte Energie ins Stromnetz einspeist. UND sie hat Anteile an einer Solarzellenfirma und wohnt in einem Ökohaus. Das Strom erzeugt!!!!
Lady Escape: Scheiße …
Schwerer Ausnahmefehler: Gell? Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.
Flächenbrand: Revolution! Meine Rede. Sag mal, Schwerer Ausnahmefehler, bist du Hacker?
Schwerer Ausnahmefehler: Ich war mal im CCC Deutschland.
Punky: Hä?
Lady Escape: Chaos Computer Club.
Flächenbrand: Ich schicke dir mal eine PM, Schwerer Ausnahmefehler.
Hittla: Äch bin wieder da! 88!
Delete: Oh, Mann …