Kapitel I: Schnauze voll!

Internet-Chat-Log aus dem Forum „Deutschland – was tun?“

Auszug aus der Ermittlungsakte des Verfassungsschutzes zu „Kommando Flächenbrand“

Teilnehmer: Flächenbrand,

Gründervater,

Freiherrin.

Personen und Aufenthaltsorte bekannt, siehe Anhang.

Flächenbrand: Ihr seid alles Sülzer! Die Idee der RAF, ein neues System in Deutschland zu etablieren, war gut. Aber sie ist es falsch angegangen.

Gründervater: Ho, wir haben einen kleinen Revolutionär bei uns. Na, überhaupt schon mal gegen irgendwas demonstriert oder nur am Fernsehen zugeschaut?

Flächenbrand: Du warst bestimmt bei jedem Sit-in gegen Castor-Transporte dabei und wunderst dich, warum die Züge trotzdem rollen. Nimmt dich etwa keiner ernst, du Armer? Oh, und ich wette, du gehst trotzdem jeden Morgen zur Arbeit.

Freiherrin: Hähähähä, das saß.

Gründervater: Nein, ich bin arbeitslos.

Flächenbrand: Wie lange?

Gründervater: Seit drei Jahren.

Flächenbrand: Verstehe. Du hast also in drei Jahren keinen Job gefunden, in dem du Geld verdienen kannst, richtig? Was hast du gelernt? Krokodilarzt? Da wäre es echt schwer, eine Stelle zu bekommen.

Gründervater: Schlosser, du Arschloch! Versuch du mal, als Schlosser unterzukommen …

Flächenbrand: Okay, Schlosser. Du zeigst deine Systemverdrossenheit, indem du zu Hause sitzt und flennst, deine Frau anscheißt und Playstation spielst, bis sie durchsagen, wann der nächste Castor kommt. Super. DAS nenne ich Handlanger des Systems!

Freiherrin: Boah, der Flächenbrand hat einen Rhetorikkurs gemacht!

Gründervater: Ich zeige wenigstens, dass ich dagegen bin.

Flächenbrand: Gegen was? Gegen Atomkraft? Gegen die Einlagerung allgemein? Gegen die Einlagerung in Deutschland? Dein Strom kommt vermutlich aus deinem eigenen Stromaggregat, betrieben mit Biodiesel aus fairem Handel …

Freiherrin: Flächenbrand ist witzig!!!

Gründervater: Finde ich nicht. Er ist ein nichtstuender Besserwisser.

Flächenbrand: Da täuschst du dich. Bald bin ich ein Bessermacher. Denkt an mich.

Freiherrin: JETZT bin ich neugierig geworden. Planst du was?

Flächenbrand: Klar. Ich sprenge den Reichstag und kündige das hier groß im Internet an, was? Nein, ich habe was anderes vor.

Gründervater: Nicht lange rumgeheimnissen, sondern Karten auf den Tisch!

Flächenbrand: Ich suche noch Leute, die mitmachen. Gemeinsam gegen das System. Wie findet ihr das?

Freiherrin: Schade. Bis eben fand ich seine Beiträge cool. Aber jetzt klingt er nach Pseudosponti und RAF-Imitator …

Gründervater: Komisch, bei mir ist es genau umgekehrt. Ich will sehen, was er vorhat. Mich anmaulen, aber selbst nix hinbekommen und so tun als ob.

Flächenbrand: Dann lade ich doch mal zum konspirativen Treffen. Sagen wir in zwei Tagen, 13 Uhr, im Hagenbeck. Vor dem Löwengehege. Kommt alleine und unbewaffnet.

Freiherrin: War klar, dass er das sagt …

Flächenbrand: Das Erkennungszeichen ist eine Alditüte als Zeichen für unsere Volksnähe.

Freiherrin: Okay, er ist immer noch witzig.

* * *

Es roch nach warmem Toast und frisch gepresstem Orangensaft, der Duft von Kaffee schmuggelte sich darunter; aus den versteckt angebrachten Boxen in den vier Ecken des Frühstücksraums erklang ein leises, unaufgeregtes Beatles-Medley.

Der perfekte Morgen. Für einen Montag.

„Im Grunde“, sagte Tim und sah seinen Vater über den Rand der Morgenzeitung hinweg an, „habe ich die Schnauze voll.“

„So, hast du das?“ Uwe Erich Friedrich Grandmann, Vorstandsvorsitzender eines sehr gut laufenden Immobilienunternehmens, hielt mit dem Schlag, der das Ei köpfen sollte, nicht inne. Er enthauptete es und legte die Oberseite an den Rand des Tellers. Ihm ging es wie immer in seinem Leben ums Gelbe vom Ei. „Von was genau? Dieses Mal?“

„Von allem.“ Tim faltete die Zeitung zusammen. „Was ich heute wieder gelesen habe, bringt mich fast zum Kotzen.“

„Solange es nicht der Kaviar ist. Der war teuer.“ Uwe räusperte sich und sah über den Glasrand seiner randlosen Brille. Natürlich besaß auch eine randlose Brille einen Rand, aber eben keinen aus Metall. Dennoch war der Ausdruck „randlos“ falsch, doch das fiel ihm nur nebenbei ein. „Wird das wieder einer deiner Monologe gegen die Verhältnisse in Deutschland?“ Er würzte das Ei mit Salz und Pfeffer, öffnete die Kaviardose und gab einige schwarze Perlen obenauf. Schlicht und deluxe zugleich.

„Nein. Du würdest eh nicht zuhören.“ Tim, achtundzwanzig Jahre, erfolgreicher BWL-Absolvent und Inhaber eines Doktortitels in Betriebsmanagement, goss sich Tee ein. „Du hast dich mit deinen vierundfünfzig Jahren schon zu sehr angepasst, als dass du noch etwas an den Gegebenheiten ändern möchtest.“ Er lächelte. „Du steckst bis zu den Füßen in den fetten Politikerärschen, damit sie deine Firma schalten und walten lassen.“

„Ganz so ist es nicht, Sohn. Wo drückt denn der Schuh? Sag mir dein Problem, und ich könnte jemanden anrufen, der es regelt …“

Tim deutete auf die Schlagzeile. „Das hier finde ich zum Kotzen!“

Uwe rückte die Brille zurecht. „Eine Werbeanzeige für Potenzmittel?“ Er stellte sich absichtlich dumm.

Tim schnaubte und schlug auf die fetten, schwarz gedruckten Überschriften ein. „Untreuer Banker? Scheißegal, zahlt er Millionen und ist frei. Untreuer Politiker? Scheißegal, scheidet er eben aus dem Bundestag aus, bevor es zum Prozess kommt, und bekommt Pension. Ach ja, nein, er hat ja noch ein Dutzend Nebenjobs: Aufsichtsräte, Ausschüsse, Beraterverträge, da kommen ganz schnell mal 20.000 Euro extra im Monat zusammen. Dann haben sie noch rasch die Gesetze geändert, damit sie bereits nach einem Jahr im Bundestag eine saftige Rente bekommen.“

Uwe nickte. „Ganz recht. Damit du weißt, um was es sich im Leben dreht, haben deine Mutter und ich dir diese Ausbildung gegönnt. Geld und Macht. Darum geht es eben.“ Er nahm einen Bissen vom Ei. „Übrigens stecken mir die Politiker im Arsch. Deshalb heißt es ja auch Po-litiker“, versuchte er einen Scherz, aber sein Sohn lachte nicht. Er wurde ernst. „Was willst du dagegen machen, Tim? Du kannst dich nicht gegen das System und seinen Apparat stellen. Er hat zu viele Räder. Alle kannst du nicht blockieren oder austauschen. Du bräuchtest eine neue Maschine. Und wir beide erleben das nicht mehr.“

„Also machen wir uns zu einem Rädchen in der Maschine?

„Möglichst zu einem wichtigen Rädchen.“

„Sie ist zu gut geschmiert von Leuten wie dir. Alles läuft reibungslos“, kam es über Tims Lippen. Er rührte sich Zucker und Milch in den Tee. „Spenden beruhigen mein Gewissen nicht, im Gegensatz zu deinem.“

„Das tut es wirklich. Und ich kann es absetzen. Bringt bei der Besteuerung Vorteile.“ Uwe kannte Gespräche wie dieses nur zu gut.

Seit etwa einem halben Jahr hatte sein Sohn, zuvor ein vorbildlicher, skrupelloser Geschäftsmann und potenzieller Nachfolger im Immobiliengeschäft, sein Gewissen entdeckt. Glücklicherweise geschah das erst nach Abschluss seines Studiums, sonst wäre er vermutlich zu einem Studiengang wie Philosophie, Theologie oder Soziologie übergegangen.

Uwe hielt es für eine Phase, die vorübergehen würde, wenn seinem Sohn wieder bewusst wurde, dass das Millionen teure Haus, in dem er wohnte, aus gutem Geld und nicht aus warmen Worten gebaut worden war.

Darauf musste er vertrauen und auf Einsicht hoffen, denn es gab keinen Ersatzsohn, den er ins Spiel bringen konnte. Tim musste eines Tages seinen Job weitermachen – allerdings hatte sich seine unangenehme sozialrevolutionäre Art in der Vorstandsetage herumgesprochen und Zweifel an seiner Eignung gesät. Notfalls würde er einen Therapeuten für seinen Sohn engagieren.

Er schabte das Gelbe vom Ei aus. Das Eiweiß blieb zurück. Gehaltlos, wertlos. „Wie wäre es mit Urlaub?“, lenkte er ab. „Ein Freund von mir arbeitet im Burj al Arab als Manager, ich könnte dir und deiner Freundin zwei nette Wochen spendieren. Was hältst du davon?“

Tim warf die Zeitung auf den Tisch und bedeckte den Kaviar mit den Schlagzeilen. „Scheiße, nein! Ich will, dass du dich anders verhältst! Was gegen diese Politiker unternimmst, die angeblich uns Bürger vertreten. Du bist ein einflussreicher Geschäftsmann, du hast Beziehungen und Kontakte, um den Politikern und anderen Mächtigen zu sagen, dass es so nicht mehr länger geht. Tu was, IRGENDWAS!“

Uwe sah seinen Sohn schweigend fast eine Minute an und versuchte zu ergründen, ob der kindliche Ausbruch ein Scherz war.

„Wie naiv. Mein Gott, bist du naiv! Hast du wirklich BWL studiert oder heimlich doch was anderes gemacht?“ Uwe zerdrückte die Eierschale, leerte sein Glas Orangensaft und stand auf. „Ich hoffe, dass du deine alte Ansicht bald wieder zurückbekommst, sonst muss ich einen anderen Job für dich suchen.“ Er ging zur Tür. „Ich spiele noch eine Runde Snooker und gehe dann ins Büro. Ich erwarte dich und die neuen Personalpläne für die FinanzHold um elf Uhr. Bis dahin solltest du deinen moralischen Anflug im Griff haben. Ach ja: Wenn du Gutes tun willst, gründe eine Stiftung, aber lass den übrigen Dingen ihren Gang. Es ist nicht gut, in laufende Maschinen zu greifen und endet immer als hässlicher Betriebsunfall.“

Auf der Schwelle zum Billardzimmer setzte Uwe Erich Friedrich Grandmanns Herz aus.

Endgültig. Und einfach so.