Kapitel II: Alles muss raus!
Tim zog die Nase hoch. Er stand in seinem Designeranzug am offenen Grab seines Vaters und trug eine verspiegelte Sonnenbrille.
Seine Augen waren nicht auf den Sarg, sondern blicksicher auf die versammelten Vorstandsleute gerichtet.
Auf die Gewerkschaftsvertreter.
Auf die Arbeitgebervertreter.
Auf die Politiker.
Auf die Pressemeute.
Es kotzte ihn an.
Einige von den Gesichtern konnte er den Geschichten seines Vaters zuordnen: Feinde, allesamt, wie sie da standen und Trauer, Betroffenheit und Mitleid heuchelten.
Der Einzige, der lachte, war der Reporter, der am Rand der Menge stand und sich mit einem Mitarbeiter des Friedhofs unterhielt.
Tim fand es erfrischend, dass es dem Mann egal war, wo er sich befand. Der Termin, das nahm Tim an, war ihm ebenso egal. Er hatte den Auftrag, Fotos von den Konzerngrößen zu schießen, die endlich menschliche Regungen zeigten, ohne dass es um gestiegene Aktienkurse oder eigene Lohnerhöhungen ging.
Das Defilee der scheinbetrübten Heuchler begann.
Einer nach dem anderen kam nach vorne. Chanel, Yves Saint Laurent, Etro, Cavalli, Joop und andere Designerdüfte schlugen Tim entgegen; als die Firmenleitungen durch waren, roch er das Axe, Rexona und Maverick der Arbeitervertreter. Klassenunterschiede mal anders.
Tim nickte immer nur, murmelte danke und war mit seinem Verstand ganz woanders: bei seiner Zukunft.
Rädchen sein?
Einer von ihnen werden?
Was gab es als Alternative?
Endlich war die Händeschüttelei vorbei. Er ging am Grab vorbei den Kiesweg entlang und wollte zu seinem Auto. Nach Hause. Nachdenken.
„Tim, warte mal“, wurde er angesprochen, und Joop umschwappte seine Nase. Das grüne.
Es war Gerd Fransenmacher, den sein Vater immer Fratzenmacher genannt hatte. Vorstandssprecher und designierter neuer Vorstandsvorsitzender. Finger schlossen sich um seinen Ellbogen, und er wurde zur Seite gezogen, hinter einen großen, uralten Buchsbaum. „Wir müssen sprechen.“
Tim wandte sich ihm zu. „Wir können auch schreiben“, erwiderte er.
Fransenmacher lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, dass ich dich damit belästige, aber es geht um einen wichtigen Entschluss. Dein Vater hält zehn Prozent der Aktien des Unternehmens, und die Börse ist sehr empfindlich. Hast du dir als Alleinerbe schon Gedanken gemacht, was aus dem Paket werden soll? Willst du es behalten oder …?“
Tim sah in Fratzenmachers nervöses Gesicht. „Ist das ein Angebot, Herr Fransenmacher?“
„Nein, nein.“ Er biss sich auf die Unterlippe.
Es war also doch ein Angebot.
Tim sah sich um und bemerkte, dass bereits mehrere Aufsichtsratsmitglieder stehen geblieben waren und zu ihnen schauten. Die ersten zückten ihre Handys, und gleich darauf klingelte tatsächlich sein eigenes. Das für geschäftliche Dinge.
„Unglaublich, oder? Da will jemand was von dir, obwohl jeder weiß, dass heute die Beerdigung ist“, meinte Fransenmacher leichthin.
„Ja, Leute gibt es.“ Tim sah ihn an und wartete auf die Zahl. „Und?“
Fransenmacher tat so, als verstünde er nicht und hob die Augenbrauen. Als sich Cavalli zu ihnen gesellen wollte – als Alibi einen Umschlag mit vermutlich einer Kondolenzkarte in der Hand – scheuchte er ihn mit einem Blick weg. „Was und, Tim?“
„Wie viel würden Sie mir bieten, Herr Fransenmacher?“ Er steckte die Hände in die Taschen. „Und es wäre mir sehr recht, wenn Sie mich mit meinem Nachnamen ansprechen würden.“
Aus Angst, dass er doch ans Telefon ging und den Deal mit jemand anderem machte, sagte Fransenmacher rasch: „Einunddreißig Millionen. Für alles.“
„Und wer kauft es dann? Sie bestimmt nicht.“ Tim nahm das Handy raus und sah auf die Nummer auf dem Display. Schnittke – Etro, Sandelholz. Er hob den Kopf und sah Schnittke hinter einem Grabmal hervorwinken, und er lächelte. Klar lächelte Schnittke. Er wollte ja was von ihm. „Sind es die Russen? Die können nämlich mehr bieten.“
Cavalli wollte sich wieder nähern, wurde aber von Hugo Boss und Jil Sander abgedrängt.
Tim schaltete sein Handy aus und ging zur Aussegnungshalle. „Herrschaften! Folgen Sie mir bitte!“, rief er laut, und der Reporter, der eben schon hatte gehen wollen, kehrte eilig zurück. Es lag etwas in der Luft. Mehr als Duft.
„Was hast du vor, Tim?“ Fransenmacher eilte neben ihm her.
„Nochmals: Ich bin erwachsen und habe mittlerweile einen Doktortitel. Wäre schön, wenn Sie mich wie einen Erwachsenen ansprechen würden.“ Tim stieg auf die Parkbank vor dem Eingang zur Halle, und der Reporter machte die ersten Aufnahmen.
Tatsächlich waren ihm Fransenmacher, Boss, Sander und Cavalli gefolgt, andere reckten die Hälse und trauten sich noch nicht.
„So, hergehört. Sie sind alle begierig auf das Aktienpaket meines Vaters, und mein Vater kann ja nicht mehr dagegen sein“, sprach Tim laut und grüßte mit der Hand zum Grab hin. „Machen wir doch eine Versteigerung daraus.“ Er lockerte seinen Schlips.
„Tim, bitte“, zischte Fransenmacher und sah ertappt nach rechts und links „Ich habe verstanden, dass es ungebührlich war, dir …“
„Hier, der Herr Fransenmacher hat mir eben hinter dem Buchsbaum einunddreißig Millionen geboten. Höre ich mehr?“, rief Tim und zückte Stift und Papier, um sich Notizen zu machen. „Höre. Ich. Mehr?“
Die Hochpreisduftmenschen sahen sich abschätzend und unsicher an. War es ein Scherz? War ein Gebot taktlos? War der Erwerb unter diesen Umständen überhaupt rechtens? Am Ende hatte man sich für nichts blamiert und stand als Leichenfledderer in der Zeitung.
Tim grinste. „Sieht gut aus, Gerd, alter Fratzenmacher. Einunddreißig Millionen zum ersten, zum zweiten und zum dr…“
Sander hob die Hand. „31,5“, sagte er deutlich.
Die ersten Beerdigungsgäste kamen angelaufen, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Das Klicken des Fotoapparates wollte gar nicht mehr enden.
„Sehr schön!“, jubelte Tim. „Danke sehr. Also, höre ich mehr?“
Boss stieg gleich darauf mit 32 Millionen in das Rennen ein.
Am Ende war Tims Parkbank umlagert von wohlriechenden Anzugträgern und Damen im Businesskostüm, die sich überboten, um an das Paket zu gelangen. Es wurde gerufen und telefoniert, noch mehr telefoniert und überboten.
Nach einer Viertelstunde war es vorbei, und das Aktienbündel ging für 53,29 Millionen an Boss.
Rexona, Axe und Maverick standen fassungslos auf dem Kiesweg.
* * *
Mitschnitt Telefonanruf, beschlagnahmtes Band aus dem Büro der amerikanischen Söldnereinheit Hard Solution im Zuge der Ermittlungen des FBI wg. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung
Auszug aus der Ermittlungsakte des Verfassungsschutzes zu „Kommando Flächenbrand“
Teilnehmer:
– unbekannter Mann, deutscher Akzent
– Mr. Jack Russell, Major a. D., Leiter der Söldnereinheit Hard Solution
Unbekannter Mann: Es geht um Folgendes, Sir. Ich bräuchte ein paar Tage in Ihrem Boot-Camp für die Spezialausbildung von mir und ein paar Freunden.
Russell: Okay, das kostet 10.000 Dollar pro Woche und Person. Für die Ausbildung. Für 900 Dollar obendrauf bekommen Sie und Ihre Freunde noch Unterkunft und Verpflegung.
Unbekannter Mann: Mh, klingt nicht schlecht. Was ist denn da alles dabei?
Russell: Also, das übliche Nahkampftraining, leichte und schwere Handfeuerwaffen, Einsatz unter Gefechtsbedingungen …
Unbekannter Mann: Was ist denn mit Sprengstoffen? Und Panzerfäusten?
Russell: Lacht. Nee, Sir. Das machen wir nicht. Das ist illegal. Außerdem kenne ich Sie gar nicht. Sie könnten ja irgendein Terrorist sein …
Unbekannter Mann: Oh, nein! Nein, um Himmels willen! Ich bin Franzose.
Russell: Stimmt, dann sind Sie eher ein Feigling. Lacht. Haben uns damals im verfickten Irak ganz schön alleine gelassen, die Froschfresser. Damit meine ich nicht Sie, sondern Ihre Regierung.
Unbekannter Mann: Um ehrlich zu sein, Sir, meine Freunde und ich wollen als Söldner in den Irak oder nach Syrien gehen und Geld verdienen. Ein paar Muslime wegballern und so. Bei uns ist das nicht erlaubt. Ich bin aufrechter Christ und denke, dass die Kreuzfahrer damals schon recht hatten, als sie nach Jerusalem gefahren sind und den Arabern in den Arsch getreten haben.
Russell: Meine Rede, Sir! Pause. Jerusalem … haben unsere Jungs das nicht am Anfang der Offensive eingenommen? Als wir damals durch den Irak gerauscht sind wie ein Wirbelsturm?
Unbekannter Mann: Genau. Zusammen mit Hurghada, war die erste Offensive! Gott, wie haben meine Freunde und ich uns gefreut! Muss lachen und räuspert sich. Deswegen habe ich nach den Spezialsachen gefragt. Jemand muss die Ehre Frankreichs verteidigen. Wenn Sie uns ausbilden, machen wir das! Die Pommes frites sollen wieder von Amerikanern gegessen werden können, ohne an den peinlichen Namen Home Fries denken zu müssen.
Russell: Okay, Sie gefallen mir. Ich schaue mir Sie mal an. Man kann vielleicht noch einmal über alles reden. Aber nicht am Telefon. Doch Sie wissen ja: Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Auch beim Abhören. Lacht.
Unbekannter Mann: Lacht. Schön, dass wir uns verstehen. Am Geld sollen die Möglichkeiten nicht scheitern, Mister Russell. Auf die Hurghada-Offensive!
Russell: Auf Hurghada!