Un-utopische
kurzgeschichtliche Streitschrift, teil-satirisch

Der Nachbar

(erweiterte Version; Original: 2008)

Zweitausendjederzeit, Brüssel, Europaparlament, Sondersitzung des Ausschusses Entwicklung (DEVE) zur Nahrungsmittelknappheit in Zentral- und Südafrika

Aufgaben des DEVE (Quelle: Homepage des Europäischen Parlaments, 2008):

1. die Förderung, Anwendung und Überwachung der Politik der Union in den Bereichen Entwicklung und Zusammenarbeit, insbesondere:

a. den politischen Dialog mit den Entwicklungsländern, bilateral sowie in den einschlägigen internationalen Organisationen und interparlamentarischen Gremien,

b. die Hilfe für die Entwicklungsländer und die Kooperationsabkommen mit ihnen,

c. die Förderung demokratischer Werte, der verantwortungsvollen Regierungsführung und der Menschenrechte in den Entwicklungsländern;

2. Fragen im Zusammenhang mit dem AKP-EU-Partnerschaftsabkommen und die Beziehungen zu den zuständigen Organen;

3. die Beteiligung des Parlaments an Wahlbeobachtungsmissionen, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Ausschüssen und Delegationen.

Ghandi King Zulu stand am Rednerpult und sah über die vielen leeren Plätze hinweg.

Er musste nicht einmal überschlagen, um die Zahl der Zuhörer zu ermitteln, ein simples Durchzählen genügte. Er kam auf fünf von weit über fünfzig möglichen: jeweils ein Vertreter Frankreichs, Deutschlands, Spaniens, Luxemburgs und der Niederlande aus irgendwelchen sogenannten Volksparteien.

Die meisten Menschen in den Ländern, aus denen die Abgeordneten stammten, kannten nicht mal die Namen derer, welche sie vor und für Europa vertraten. Oder wussten, was sie machten. Wie absurd manche Abstimmungen verliefen und wie widersprüchlich Politik gemacht wurde. Welcher normale Mensch kümmerte sich politisch um Europa? Brüssel war für die meisten ein abstraktes Wort ohne Inhalt. Oder sie dachten an Pralinen, Waffeln oder das Atomium.

Ghandi King Zulu dagegen wusste sehr viel über das politische System.

Fünf. Das war kein gutes Zeichen.

Noch bevor er seinen Appell vorbringen konnte, fühlte er Wut in sich aufsteigen.

Wut über die Ignoranz, über die Arroganz. Nicht mal über die Länder, die nicht erschienen waren, sondern über deren Abgeordneten, die oftmals mehr verdienten als die Staatsoberhäupter ihrer Ursprungsländer. Über die Abgeordneten, die Sitzungsgelder kassierten, ohne anwesend zu sein. Die freitags nach Hause fuhren und sich vorher mit gepackten Koffern in Anwesenheitslisten eintrugen, um noch mehr Sitzungsgelder zu kassieren.

Ja, er hatte sich informiert.

Nein, er hatte es nicht glauben wollen, dass Europas Vertreter sich so verhielten.

Bis er den Saal betreten hatte.

Fünf. Seine Finger klammerten sich Hilfe suchend an die glatt geschliffenen Pultseiten, er zwang sich zur Ruhe.

Ghandi King Zulu, dreiundvierzig Jahre alt, gebürtiger Brite mit einem deutschen und einem englischen Pass, war Sohn eines kenianischen Einwanderers und einer indischstämmigen Britin.

Er hatte lange warten müssen, bis er als Redner für die Organisation Ärzte ohne Grenzen vor dem Ausschuss des hohen europäischen Hauses auftreten durfte.

Eigentlich hatte er vor dem Plenum sprechen wollen, aber man hatte ihm nur den Ausschuss zugebilligt. Als Erklärung diente der Hinweis, dass dort die Experten säßen.

Fünf.

Ghandi King Zulu wunderte sich, warum man bei dem sehr einfachen, logischen Thema Spezialisten benötigte. Wo jemand hungerte, musste geholfen werden. Und zwar schnell, sonst brauchte man gar nicht mehr zu helfen.

Er hatte einen Professorentitel in Medizin, Fachgebiet Innere Medizin, einen Lehrauftrag an der Universität Cambridge und seine Abschlüsse mit summa cum laude gemacht.

Seinen Urlaub verbrachte er immer dort, wo er in Afrika am dringendsten für Ärzte ohne Grenzen gebraucht wurde, und er spendete alles, was er nicht zum Leben brauchte, den Menschen vor Ort. Es gab eine Bibliothek, eine Nähschule, eine Grundwasseraufbereitungsanlage und eine Dorfschule, die seinen Namen trugen.

Ghandi King Zulu sah sich nicht als notorischen Samariter, den Religion oder gesellschaftlicher Zwang dazu brachten, Zeit und Geld ins Seelenheil oder öffentliches Ansehen zu investieren.

Aus der Kirche war er ausgetreten, weil er keinen vorgeschriebenen Gott benötigte, um glücklich zu sein und gute Taten zu vollbringen. Er benötigte nicht die Drohgebärden eines himmlischen Herrschers, um sich durch Gebete und Buße in ein angenommenes Paradies zu bringen, für dessen Existenz es keinen Beweis gab. Glauben bedeutete noch immer „nicht wissen“.

Er hatte studiert, kannte die Werte der alten Philosophen, die ohne Gott auskamen, und einiger Religionen, die für gegenseitige Freundlichkeit sowie Freiheit plädierten. Seinen unentwegten humanitären Einsatz hängte er nicht an die große Glocke.

Er tat, weil er es wollte. Nicht, weil man es von ihm verlangte.

Heute jedoch musste er andere dazu bringen, etwas zu spenden. Er kam sich merkwürdig vor, um etwas zu bitten, was bei den europäischen Nationen im Vergleich zu Afrika im Überfluss vorhanden war: Nahrungsmittel.

Ihm kam eine Liedzeile des deutschen Liedermachers Reinhard Mey aus den 70ern in den Sinn, die ihm ein Freund geschickt hatte, falls er sie in seiner Rede nutzen wollte:

Das war die Schlacht am kalten Büfett

Und von dem vereinnahmten Geld

Geh’n zehn Prozent, welch noble Idee,

Als Spende an „Brot für die Welt“ – hurra!

Als Spende an „Brot für die Welt“

„Sehr geehrte Damen und Herren“, sagte er und stellte sich vor und lächelte in die kleine Runde. „Ich bin von verschiedenen afrikanischen Staaten gebeten worden, in Europa vorzusprechen und um unbürokratische Hilfe zu bitten. Die Nahrungsmittellieferungen der privaten und staatlichen Hilfsorganisationen genügen nicht mehr, um die einfachen Menschen mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Selbst die Brot-, Milch- und Getreidepreise in den reicheren nordafrikanischen Ländern sind horrend, sodass es schon zu heftigen Unruhen gekommen ist.“ Während er sprach, beobachtete er die Vertreterinnen und Vertreter.

Deutschland bohrte in der Nase, aber hörte zu. Niederlande las etwas, was Zulu nicht einsehen konnte. An seinem Platz stand ein Trolley, der lange Griff war ausgezogen, ein Mantel lag darüber, als wollte er gleich aufstehen und gehen. Frankreich hatte den Laptop geöffnet und schrieb. Spanien fielen immer wieder die Augen zu, nur Luxemburg saß hellwach an ihrem Platz.

Spezialisten sehen anders aus. Ghandi King Zulu startete voller böser Vorahnungen dennoch seine Folien, die er zum täglichen Bedarf und zum Istzustand erstellt hatte, über die Gesundheit der einfachen Menschen in Zaire, Angola und Somalia, aber auch darüber, welche Unruhen es in Algerien, in Tunesien und sogar Ägypten sowie Südafrika gegeben hatte, da viele Flüchtlinge vor dem Hunger aus Zentralafrika nach Süden und Norden zogen. Völkerwanderungen. Exodus überall, auf der Suche nach dem Gelobten Land. Dem besseren Land.

Er verzichtete auf reißerische Fotos mit verhungerten Menschen und weinenden Kindern. Jeder Europäer kannte sie und war mittlerweile abgestumpft.

Seine Zahlen sollten überzeugen, durch unbestechliches, rechnerisches Grauen. Nüchterne Zahlen, die Tragödien schrieben.

Dagegen setzte er die Zahlen der Hoffnung, Tonnen an Soforthilfe, mit der Leben gerettet werden konnten.

„Der Welternährungsgipfel der UN hatte im Jahr 2008 festgeschrieben, dass bis 2015 die Zahl der Hungernden um die Hälfte reduziert sein muss“, kam er zum Ende seines appellierenden Vortrags, ohne den Blick von seiner Rede zu heben. „Milliarden von Euro sollen dazu bereitgestellt werden. Während diese noch gesammelt werden, sterben in Afrika Menschen. Tausende jeden Tag. An den Folgen des Hungers. Ich bitte Sie daher dringendst, die notwendigen Tonnen an Nahrungsmitteln schon jetzt bereitzustellen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu, die Menschen zum Äußersten bringen kann.“ Er hielt einen Moment inne. „Bitte, Europa, helfen Sie Afrika! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.“

Er hatte sich in seinen Vortrag, an dem er einen Monat lang gefeilt hatte, immer mehr hineingesteigert.

Das einsame Klatschen ließ ihn sich umschauen.

Spanien war eingeschlafen, das Kinn auf die Handballen gestützt. Frankreich hackte noch immer auf die Tastatur ein, Deutschland telefonierte. Luxemburg war es, die begeistert geklatscht hatte. Holland war in der Zwischenzeit gegangen. Es war ja Freitag.

Ghandi King Zulu wollte noch nicht gehen. Er fühlte, dass es größerer Überzeugung bedurfte. „Wenn es noch Fragen gibt?“

Deutschland hob zögernd die Hand. „Verstehen Sie die Frage richtig, Herr Zulu. Wir sind auch bereit, einige Tonnen Nahrung und Wasseraufbereitungsanlagen zur Verfügung zu stellen. Aber woher sollen wir denn Ihrer Meinung nach das viele Essen für sämtliche Brennpunkte nehmen?“

Zulu lächelte nachsichtig. „Wie ich in meinem Vortrag ausführte, lagern die Streitkräfte Europas immense Vorräte an konservierten Nahrungsmitteln, von Trockenmilch bis Dosenbrot. Gleichzeitig werden die Mannstärken der Heere immer weiter verkleinert. Das sind tote Rationen. Bevor man sie wegwirft, sollten sie besser dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden. Das wäre nur ein Ansatz von vielen.“

„Vertragen denn Afrikaner Schwarzbrot?“, fragte Luxemburg spontan und errötete, weil sie merkte, dass ihre Frage mindestens komisch war.

Zulu tat ihr den Gefallen, sie richtig zu deuten. „Sicherlich ist es nicht die Standardnahrung beispielsweise in Somalia, aber die Verdauung wird sich anpassen. Hauptsache, der Magen bekommt etwas zu tun, denken Sie nicht?“

„Und wenn wir die Nahrungsmittel runtergeflogen haben, was dann?“, warf Frankreich über den Rand des Laptops hinweg ein. „Es wird reichen bis zur nächsten Hungersnot, oder? Die afrikanischen Staaten müssen bessere Vorsorge für solche Fälle treffen. Ich meine, es trifft die Staaten nicht unvorbereitet. Meistens sieht man das Elend ja kommen. Silospeicher sind eine nützliche Erfindung.“

Zulu atmete tief ein. „Ich verstehe, was Sie meinen, und kann Ihnen versichern, dass die afrikanische Bevölkerung liebend gerne Vorsorge treffen und himmelhohe Speicher bauen würde“, gab er zurück und klang harscher als geplant. „Wenn sie etwas hätte oder es keinen Krieg gäbe, der sie von den Feldern treibt.“

„Es gibt afrikanische Länder, bei denen es funktioniert“, erwiderte Frankreich schnippisch. „Man muss eben haushalten mit dem Getreide. Dann kann man auch einen Teil wieder aussäen und ernten.“

„Sie wollen mir und den Millionen afrikanischer Bauern nicht ernsthaft erklären, wie man Landwirtschaft betreibt? Ich denke nicht, dass sie zu blöd zum Anpflanzen sind“, entgegnete er scharf. „Zum einen unterstützen internationale Regierungen afrikanische Despoten oder Pseudodemokraten mit Geldern und wundern sich dann, warum von der ausgezahlten Entwicklungshilfe nichts ankommt. Zum anderen subventioniert Europa die eigenen Bauern, wenn es um den Export geht. Billiges Getreide aus Europa vernichtet die Preise in Afrika und zerstört jeglichen Anreiz, dass ein normaler Landwirt in Afrika etwas anbaut. Das gleiche Spiel wird bei Fleisch betrieben. Das wissen Sie doch sehr genau!“

„Unsere Subventionen müssen sein, sonst können unsere Bauern mit dem internationalen Markt nicht mithalten“, kam es sofort von Deutschland.

Zulu merkte, dass aus dem speziellen Thema eine Grundsatzdiskussion wurde.

Von ihm aus sehr gerne. Er war vorbereitet.

„Subventionen sind in dieser Form Unsinn. Subventionen verzerren sämtliche Marktregeln der Wirtschaft. Es gibt genügend Experten, die sagen: Deutschland sollte sämtliche landwirtschaftlichen Betriebe auf Bio umstellen und nur noch Deutschland beliefern. Komplettversorgung mit gesunden Lebensmitteln zu vernünftigen Preisen.“

„Wenn das alle machen würden, gäbe es kaum noch Überkapazitäten für den Export. Dann könnten wir Afrika jetzt nicht mit unserem Getreide aushelfen“, merkte Frankreich an.

„Falsch! Denn die europäischen Erzeugnisse blieben in Europa. Afrika hätte schon lange seinen eigenen Anbau hochziehen können und wäre in der Lage, sich selbst zu helfen.“ Zulu sah Unverständnis. „Sie wollen ein Beispiel für weitere sinnlose Subventionen? Gut: Tabak. Die EU bezahlte europäischen Tabakbauern eine Milliarde Euro im Jahr, im Jahr, um gegen ausländische Ware mithalten zu können. Gleichzeitig will die EU das Rauchen verbieten und die Gesundheit der Menschen fördern. Wo ist da die Logik? Warum nicht gleich die Subventionen für Umschulungsmaßnahmen der europäischen Tabakbauern nutzen und auf den Feldern etwas Unschädliches, Nachhaltiges in Bioqualität anbauen?“

„Zurück zum Thema“, sagte Deutschland unwirsch. Man sah ihm und allen anderen Abgeordneten an, dass es keinen Spaß machte, mit dem selbst fabrizierten Unsinn konfrontiert zu werden. Weil es die Wahrheit war. „Es geht um Afrika und nicht um EU-Politik.“

„Richtig“, sagte Frankreich, nun wieder tippend. „Auch Frankreich wird einige Tonnen zur Soforthilfe bereitstellen, das habe ich mit meiner Regierung bereits abgesprochen.“

Zulu nickte. „Das ist sehr schön, und ich bin dankbar dafür. Aber Afrika benötigt die Gesamthilfe Europas, nicht die einzelner Länder.“

„Wir können das nicht entscheiden. Dafür sind wir nicht das passende Gremium“, sagte Deutschland. „Wir können nur Empfehlungen aussprechen.“

„Dann empfehlen Sie das bitte dem Plenum!“, sagte Zulu und fühlte sich zunehmend ohnmächtiger. Es nahm kafkaeske Züge an, im europäischen Parlament zu sprechen und Hilfe zu erwarten.

„Wir haben Afrika doch schon was geschickt. Nehmen Sie Simbabwe …“, sagte Luxemburg.

Zulu lachte auf und flüchtete in Sarkasmus. „Entschuldigen Sie bitte, aber in dem Land bekommt die einfache Bevölkerung gar nichts von dem, was Sie dorthin schicken. Weder Geld noch Lebensmittel. Und lassen Sie mich hinzufügen: Schade, wirklich schade, dass Simbabwe kein Öl oder ein Terroristennetzwerk besitzt. Sonst wäre es schon lange im Namen der UNO, der NATO, der USA oder vielleicht der Russen, was mal was Neues wäre, befreit worden. Tschetschenen in Simbabwe sind aber zu unwahrscheinlich. Was wäre wohl los, wenn der Präsident Al Kaida oder den IS unterstützte?“

Nun empörten sich alle. Außer Spanien, das schlief immer noch.

Zulu war in Rage. „Sage ich denn etwas Falsches? Zählen Sie die Länder, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wo gemordet und gefoltert wird, wo vor laufender Kamera tausendfaches Unrecht geschieht und dann, meine Damen und Herren, zählen Sie nach, wohin sich die Heere der Welt oder eines großen Landes zur Rettung in Bewegung gesetzt haben.“ Er hob den Zeigefinger. „Nordkorea? Immer noch ein Unrechtsland!“ Der Mittelfinger schnellte nach oben. „Simbabwe? Tausende umgebracht, und nichts ist passiert.“ Der Ringfinger folgte. „Sierra Leone – Kinder sterben in den Minen, und dennoch werden die Diamanten auf der ganzen Welt gekauft. Erzähle mir keiner, dass die Geheimdienste und zivilisierten Länder nichts davon wissen!“ Er hob beide Arme in die Luft. „Ich habe nicht so viele Finger, wie es Länder gibt, in denen man auf der Stelle einmarschieren müsste, um die Menschenrechte durchzusetzen! Aber wo sind sie, die großen Freiheitsverteidiger der Welt?“

Europa lachte ihn übertrieben aus. Es war das Lachen, wie man es aus Fernsehübertragungen kannte: laut, geschauspielert, falsch und provozierend. Das bis eben schlafende Spanien schrak zusammen und öffnete die Augen.

„Europa engagiert sich in Afrika nicht“, rief Ghandi King Zulu und sah den Saaldiener auf sich zukommen, „weil das Mittelmeer euch von Afrika trennt! Auf dem Balkan, in Serbien, in Bosnien, habt ihr eingegriffen, weil ihr Angst hattet, die Unruhen und Morde würden ein Feuer entfachen, das sich bis zu euch durchbrennt und Italien und Österreich erfasst! Kaum ging es in Georgien los, waren alle da, wollten vermitteln und ihre Meinung sagen. Oder im Krimkonflikt zwischen der Ukraine und Russland.“ Zulu senkte die Stimme. „Verzeihen Sie mir meine lauten Worte. Aber es ist die Wahrheit. Ich flehe Sie nochmals an: Unterstützen Sie Afrika! Lesen Sie meine Aufstellungen und lassen Sie Ihre Regierungen von meinem Anliegen wissen.“ Er sah Spanien an. „Europa fühlt sich wegen des Meeres sicher, auf dessen afrikanischer Seite Flüchtlinge in Nussschalen steigen und beim Versuch ums Leben kommen, ins Paradies zu gelangen. Wenn eines Tages ein zweiter Moses kommt und das Volk ins Gelobte Land führt, wird es gefährlich.“

Durch das Gelächter hörte er Spanien herablassend sagen: „War das eine Drohung, Herr Zulu?“

„Nein“, antwortete er ruhig, sammelte seine Unterlagen ein, schaltete das Mikrofon aus und trat vom Pult weg, bevor ihn der Saaldiener mit Gewalt entfernen würde. „Eine letzte Hoffnung“, murmelte er unhörbar.

Die brauchte Afrika dringend.

* * *

Zweitausendjederzeit, drei Meilen vor der Südküste Siziliens, an Bord der Mari

Es war nicht unbedingt das, was man einen heftigen Sturm nannte, der an diesem frühen Abend auf dem Mittelmeer tobte.

Der Südwind trieb die Wellen vor sich her, die sich mit recht hoher Geschwindigkeit, aber ohne sich weit aufzutürmen, bewegten.

Capitano Ernesto Panna stand auf der Brücke des Küstenwacheschiffs und trank einen Cappuccino. Die Mannschaft hatte ihm zum Geburtstag eine Profi-Kaffeemaschine geschenkt, und sie lief nun ununterbrochen. Niemand an Bord war wacher als der Kommandant der Mari.

Einer der Offiziere, die ihre Schicht im Kommandostand schoben und die Instrumente immer im Auge behielten, sah auf den Radarschirm. „Capitano, ich habe hier was. Sieht aus wie einer der üblichen Seelenverkäufer.“

„Bei dem Wetter?“ Panna nippte an seinem Cappuccino. „Prüfen Sie, ob es kein Wellenecho ist.“

Der Mann drückte auf verschiedenen Tasten an dem Gerät herum.

Laut prasselte der Regen gegen die Fenster der Brücke, die Scheibenwischer schufen sekundenkurze Klarheit auf dem Glas, ehe sich die Tropfen dagegenwarfen und die Dunkelheit zum Verschwimmen brachten.

Es fiepte mehrmals.

„Capitano, ich habe jetzt sieben Meldungen auf dem Schirm“, rapportierte die Wache am Radar. „Sie sind etwa eine Meile von uns entfernt. Sie sind im Schutz des Containerschiffs gekommen. Es hat unsere Signale gestört.“

„Die müssen doch gesehen haben, dass die Seelenverkäufer an ihnen hängen.“ Panna trank seinen Cappuccino leer. Seelenverkäufer. Eine bessere Bezeichnung für die fragilen Boote, die mehr Wracks waren als alles andere, konnte es kaum geben. Die verzweifelten Leute zahlten mehrere Tausend Euro für die Fahrt mit unsicherem Ausgang. „Sieben, ja?“

Es fiepte, und der grüne Monitor hatte neue Punkte bekommen.

„Ich korrigiere: fünfzehn“, sagte der Mann aufgeregt. „Siebzehn … nein, einundzwanzig …“

Porca miseria!“ Panna griff nach dem Hörer und nahm den Kontakt zur Station an Land auf. „Hier Korvette Mari, Capitano Panna. Wir haben Ortungen, mindestens zwanzig Seelenverkäufer, die auf die Küste zuhalten. Sie müssen sich an ein Containerschiff gehängt und es als Schutz gegen unser Radar benutzt haben.“ Er winkte einer Wache zu, dass sie ihm den nächsten Kaffee brachte, dieses Mal einen doppelten Espresso. Er musste wacher sein. „Ich brauche Verstärkung. Die Mari kann unmöglich so viele Menschen aufnehmen. Der Sturm wird an Intensität vielleicht noch zunehmen und …“ Er lauschte. „Überall?“ Er wechselte einen Blick mit dem ersten Offizier neben sich. „Wir haben überall Seelenverkäufer entlang der Südküste? Porca miseria!“ Panna legte auf. „Beide Maschinen volle Kraft voraus, Ruder hart Steuerbord. Wir fangen das erste Boot ab und sehen zu, dass wir die anderen so gut es geht abdrängen können.“

„Siebenunddreißig …“, meldete der Mann am Radar entsetzt. „… Zweiundvierzig.“

„Eine Invasion“, sagte der Erste Offizier und wurde bleich. „Die Seelenverkäufer haben sich abgesprochen und landen gleichzeitig!“

„Ja. Sieht so aus. Die Station hat mir gemeldet, dass sie identische Meldungen auch von anderen Küstenwacheschiffen bekommen hat.“ Er ließ die Mari in Alarmbereitschaft versetzen und die Bordgeschütze klarmachen. „Nur für alle Fälle“, sagte er zu seinem Ersten Offizier und nahm den Espresso entgegen.

„Ist das jetzt eine Invasion oder nicht?“, hakte der Mann nach.

Panna lachte. „Ich denke nicht, dass halb verhungerte Afrikaner eine Gefahr für Italien bedeuten.“

„Fünfundfünfzig“, kam die Radarmeldung.

Der Erste Offizier machte einen Schritt nach vorne. „Capitano! Wenn jeder Kahn mit hundert Mann besetzt ist, dann …“

„Ich weiß. Wir werden sie nicht aufhalten.“ Panna stellte sich neben den Monitor und starrte auf die Punkte, die mit jedem Kreis des hellen Lichtstrahls zahlreicher wurden. Die eingeblendete Zahl der erfassten Objekte stand bei „77“.

„Meine Güte“, stöhnte der Erste Offizier auf.

Panna lehnte sich nach vorne und tippte auf das Symbol, das für das Containerschiff stand. „Den schnappen wir uns. Er muss etwas gewusst haben. Ich denke, dass sie sich darin versteckt haben und die Boote nach und nach zu Wasser lassen.“

Die Mari nahm Fahrt auf und verfolgte das Containerschiff. Dabei passierte sie die afrikanische Armada und fuhr schließlich mit halber Kraft mitten durch sie hindurch, um sich einen Eindruck zu verschaffen.

Panna stand am Fenster, eine Hand hielt den Espresso, die andere die Untertasse, während die Boote vorbeizogen.

Es waren inzwischen zweihundertsiebenundvierzig, von Schlauchbooten bis zu kleinen Fischerkähnen, alle bis an die Bordkante mit Menschen beladen.

Jedes Gefährt, das über die Wellen torkelte oder souverän ritt, hatte als Zeichen seiner Friedfertigkeit eine weiße Fahne gehisst oder am Bug befestigt. Sie zogen rechts und links an der Mari vorbei. Das Meer wimmelte von ihnen.

Panna stellte die Untertasse ab und nahm das Fernglas.

Die schwarzen, dunkel- und hellbraunen Gesichter, die er dicht vor Augen hatte, sahen glücklich und zuversichtlich aus. Viele von ihnen lachten, andere von ihnen fürchteten sich vor dem wirbelnden, wogenden dunklen Wasser.

Etwas suchte der Capitano vergebens: Waffen.

„Sie sind alle unbewaffnet“, sagte er dem Ersten Offizier erleichtert. „Melden Sie das der Station. Es gibt keine Anzeichen für gewalttätige Absichten. Aber die Bürgermeister der Küstendörfer sollten unbedingt informiert werden. Es darf nicht zu Blutvergießen kommen.“ Panna schwenkte die geschliffenen Linsen nach rechts und nach links.

Die Schar der Boote und Kähne wollte einfach nicht kleiner werden. Ohne den Einsatz der Armee würden sie die Menschenflut nicht unter Kontrolle bringen.

„Capitano“, rief der Erste Offizier. „Die Station meldet, dass die Regierung bereits eine Sondersitzung einberufen hat.“

Panna sah die Umrisse des Containerschiffs größer werden. „Bereit machen zum Entern“, sagte er.

* * *

Zweitausendjederzeit, Malta, Valletta (Hauptstadt)

Mitschnitt aus dem Funkverkehr zwischen dem Frischwasser-Tankschiff Aqua und der Hafenmeisterei (Hm)

Aqua: Passt mal auf. Wir haben Schwierigkeiten mit der Steueranlage.

Hm: Ist das ein Problem?

Aqua: Geht so. Der Kahn ist schwer zu manövrieren. Gibt es eine Möglichkeit anzulegen, wo weniger Schiffe sind? Sonst machen wir noch was kaputt.

Hm: Nee.

Aqua: Dann erklärst du aber, warum der Hafen eine neue Kaimauer braucht und die Anlage für die Frischwasseraufnahme im Eimer ist. Los, gebt uns einen Platz, wo es ruhiger ist. Schlepper können uns ja zu den Tankanlagen ziehen.

Hm: Okay, von mir aus. Position wird elektronisch übermittelt, der Lotse weiß Bescheid.

Aqua: Alles klar. Over.

Hm: Nein, Stopp. Gib ihn mir mal.

Aqua: Wen?

Hm: Den Lotsen. Ich sage es ihm selbst, er kennt sich ja gut genug aus.

Aqua: Der ist gerade auf dem Klo.

Hm: Okay, dann warte ich so lange.

Kurze Stille.

Hm: Aqua, euer Tiefgang, der ist nicht korrekt, sehe ich gerade. Habt ihr zu wenig Wasser dabei?

Aqua: Uns ist ein Tank leer gelaufen.

Hm: Warte mal, ich habe gerade die Markierungen an eurem Bug gezählt, und wenn ich mich nicht vertan habe, seid ihr so gut wie leer! Was soll das denn?

Aqua: Ist nicht so einfach zu erklären. Geschrei im Hintergrund, jemand ruft deutlich auf Maltesisch „Überfall“.

Hm: Was ist denn bei euch los?

Aqua: Blinder Passagier, den wir geschnappt haben. Nix Wichtiges.

Hm: Klang für mich aber wie der Lotse. Das war doch Maltesisch!

Aqua: Nee, war er nicht. Ich melde mich wieder, sobald wir angelegt haben. Zehn Minuten später.

Hm: Tankschiff Aqua, bitte melden.

Aqua: Was gibt es?

Hm: Wo ist der Lotse? Ihr habt angelegt und die Gangway und die Rampe ausgelegt, ohne uns zu informieren. Was wird das? Die Schlepper warten … Scheiße, was ist das denn? Was machen die ganzen Leute da?

Aqua: Lacht. Keine Angst. Das sind ein paar Nachbarn, die sich ein bisschen Zucker borgen wollen.

Hm: Das hört ja gar nicht mehr auf! Wie viele Afrikaner habt ihr mitgebracht? Seid ihr verrückt geworden?

Aqua: Also, wenn ich richtig gezählt habe, dann waren das siebentausend. Ungefähr. Können auch ein paar mehr sein. Wenn das zweite Tankschiff anlegt, sind es etwa fünfzehntausend.

* * *

Zweitausendjederzeit, UN Hauptquartier, New York

Ghandi King Zulu hatte seinen nächsten Auftritt vor sich.

Dieses Mal jedoch vor einem Plenum.

Vor einem Plenum, das ihn anhören musste, nachdem nun Tatsachen geschaffen worden waren.

Ein Saaldiener kam auf ihn zu. „Mister Zulu? Sie sind an der Reihe.“

Er atmete tief durch, prüfte den Sitz von Sakko und Krawatte, dann betrat er das Plenum der UN-Vollversammlung.

Die Augen der Welt ruhten endlich auf ihm und damit auf seinen Belangen. Zwangsweise.

Aber das spielte für ihn keine Rolle. Afrika hatte sich Gehör verschafft, nachdem die Appelle jahrelang verhallt waren, die Tränen übersehen und die Toten nur bedauert worden waren.

Er wurde zum Rednerpult geleitet, es gab ein neues Glas und frisches Wasser für ihn.

Noch bevor er etwas sagte, wurde er vom Präsidenten der Vollversammlung angesprochen. „Mister Zulu, danke, dass Sie nach New York gekommen sind, um als Vermittler tätig zu sein.“

„Er ist der Anstifter“, rief der Vertreter Italiens erbost und bekam Applaus von Frankreich, Griechenland, Malta, Monaco und Spanien. „Ihm verdanken wir die konzertierte Aktion! Man sollte ihn festnehmen, anstatt ihn anzuhören!“

Zulu blieb gelassen und erhob mit der Erlaubnis des Sitzungspräsidenten die Stimme. „Ich bin kein Anstifter. Ich bin der Mann, der die friedliche Demonstration initiiert hat. Die Afrikaner, denen es schlecht geht, haben vom Recht Gebrauch gemacht, dagegen zu protestieren. Vorläufig unbefristet.“

„Demonstration kann man das wohl kaum nennen!“, schrie Italien. „Ganze Landstriche in Sizilien und Süditalien sind besetzt, Sardinien ist beinahe vollständig okkupiert. Das ist ein Kriegsakt!“

„Eben“, rief Malta. „Unsere Insel ist nicht mehr in unserer Hand.“

„Wir fordern den sofortigen Rückzug von folgenden unserer Inseln“, bat Griechenland und setzte an, eine Liste vorzulesen, wurde aber von Frankreich unterbrochen.

„Wir verstehen den Willen nach Freiheit und einem guten Leben“, sagte die Grande Nation. „Wer, wenn nicht wir? Aber es darf nicht sein, dass Korsika besetzt ist! Ebenso insistieren wir auf dem Rückzug aus Monaco.“

Zulu ließ die Wortmeldungen auf sich niedergehen und schaute freundlich zu jedem einzelnen Sprecher.

Dann sagte er: „Verstehen Sie die Demonstranten auf Ihren Inseln und in Ihren Ländern als Abordnung des afrikanischen Volkes, das um Hilfe bittet. Gegen den Hunger, gegen die Ungerechtigkeit in ihren Heimatländern. Die Völker der Welt müssen eingreifen, um die Menschenrechte auf dem Kontinent durchzusetzen, nachdem unter anderem die Kolonialisierung durch die westliche Welt ihnen diese genommen hat.“

„Wenn es eine Demonstration sein soll, wurde sie aber nicht angemeldet“, sagte Deutschland, bemüht, bei dem Vergleich zu bleiben.

„Sie wäre wohl nicht genehmigt worden“, konterte Zulu. „Ähnlich wie damals bei den Demonstrationen in Leipzig 1989. Wo wäre die Freiheit und Vereinigung Deutschlands, wenn sich alle an die Regeln gehalten hätten?“

„Das kann man überhaupt nicht vergleichen“, rief Italien. „Die DDR war ein sozialistischer Unrechtsstaat, der …“ Er verstummte.

„Sie wollten eben sagen, dass die Menschenrechte dort nicht geachtet wurden, richtig?“, fragte Zulu. „Damit wären wir wieder beim Thema.“ Er hob den Kopf, ohne Angst oder Demut oder Unterwürfigkeit in den Augen. „Jahrelang war Afrika Europa gut genug, um es auszuplündern. Jetzt verlangt es Unterstützung in Zeiten der Not. Wir haben uns erlaubt, ein Mittel zu ergreifen, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Mehr nicht. Aber wir werden so lange für diese Aufmerksamkeit sorgen, bis uns geholfen wird. Die Boatpeople sind ohne Waffen gekommen, mit weißen Fahnen in die Häfen eingelaufen und friedlich auf die europäischen Mitmenschen zugegangen. Wir haben nicht ein einziges Mal Gewalt ausgeübt. Im Gegenteil, wir wurden von manchen Einheimischen beschimpft und angegriffen. Es hat Tote auf unserer Seite gegeben, ohne dass es einen Grund für das Morden gegeben hat.“

„Im Anschluss wird der Sicherheitsrat tagen und entscheiden, ob diese Menschen eine Gefahr darstellen oder nicht“, sagte Italien grollend. „Und ich kann Ihnen sagen, Mister Zulu, dass wir dafür stimmen werden, mit militärischer Härte gegen die illegalen Störenfriede vorzugehen.“ Zulu blieb gelassen. „Sehen Sie, ich habe in jedem europäischen Land Brüder und Schwestern im Geiste, die mir helfen werden, mir auch dort Gehör zu verschaffen, wo es keine Demonstranten von uns gibt.“

„Oh, das klingt aber mehr nach einem terroristischen Netzwerk“, rief Spanien aus.

„Nein. Und wenn Sie meinen persönlichen Hintergrund kennen würden, wüssten Sie das auch“, verbesserte ihn Zulu sofort. „Wir wissen, dass kein Land der Welt mit Terroristen verhandeln würde. Mit uns dagegen schon. Es ist an der Zeit, um Aufmerksamkeit zu kämpfen, und da keine andere Möglichkeit bleibt …“

Der Präsident lehnte sich nach vorne. „Mister Zulu, wir haben verstanden, dass Sie noch weitere Aktionen in die Wege leiten könnten, von Skandinavien bis sonst wo. Was sind Ihre Forderungen, damit sich die Menschen wieder nach Afrika zurückziehen?“

Zulu nahm eine Mappe aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Er gab der Saaltechnik ein Zeichen, und ein Beamer warf die Forderungen auf die Leinwand. Jeder Monitor bekam die gleiche Einspielung. Es begann mit dem Ende der Subventionen bis hin zu einem Plan zur Belebung der afrikanischen Landwirtschaft.

„Eine Utopie!“, rief Belgien. „Das wird niemals gelingen. Dazu müssten Sie die Unterstützung der jeweiligen afrikanischen Landesregierungen haben.“

„Viele der aufgelisteten Länder sind dazu bereit. Manche Staatsmänner müssen erst davon überzeugt werden, ihre eigenen Bewohner nicht länger wie Sklaven zu halten“, erwiderte Zulu gelassen. „Das wäre dann ebenfalls ein Thema für den Sicherheitsrat. Aber die modernen westlichen Armeen haben leichtes Spiel mit den Kettenhunden der Despoten. Es wird leichter sein als jeder Krieg, der bisher geführt wurde. Die Menschen warten auf ihre Befreiung! Wie die Deutschen damals auf die Befreiung von den Nazis.“

Deutschland lachte auf, was niemand genau zu deuten wusste.

Der Präsident lächelte verkrampft. „Mister Zulu, wie stellen Sie sich das vor? Sie organisieren eine friedliche Invasion und glauben allen Ernstes, dass wir Ihretwegen einfach so das Weltgefüge ändern können? Dass Truppen sich in Bewegung setzen und in eine Auseinandersetzung marschieren?“ Er faltete die Hände und wartete ab.

Zulu atmete tief ein. „Ja, das glaube ich. Weil es endlich an der Zeit ist, dass etwas getan wird. Wenn nicht heute, wann dann?“

„Sie nennen es Demonstration. In meinen Augen ist es Erpressung.“ Der Präsident sah ihm in die Augen.

„Und was die Mehrheit der Welt mit Afrika macht, ist gezielte Ausbeutung, die gegen die Menschenrechte verstößt. Wirtschaftliche Sklaverei! Was wiegt schwerer?“, gab er zurück. „Tatsache ist, dass sich die Demonstranten nicht eher bewegen werden, bis mindestens fünfzig Prozent unserer Forderungen in die Tat umgesetzt sind und der Rest beschlossen wurde.“

„Wir werden den Besatzern gar nichts geben!“, rief Italien wütend. „Sollen sie doch verhungern! Dann werden wir die Leichen ins Meer werfen.“

„Wo sie verhungern, das ist den Verzweifelten egal. Aber sie sterben dieses Mal vor Dutzenden Kamerateams und vor unzähligen Smartphones, welche die Bilder der Sterbenden in die Welt senden. Das Internet wird das Elend zeigen, in den sozialen Netzwerken werden die Menschen diskutieren und sich aufregen und verlangen, dass zum Wohl der Menschen gehandelt wird. Es ist kein anonymer Ort mehr, irgendwo in Afrika, an dem die Menschen zugrunde gehen, sondern sie verenden wie Vieh im fetten, reichen Europa. Im Burghof, mitten in einem Fest des Überflusses und nicht mehr jenseits des Wassergrabens!“

England meldete sich zu Wort. „Mister Zulu, als Ihr Landsmann warne ich Sie: Wir betreiben hier Politik. Das bedeutet, jeder macht abwechselnd einen Schritt auf den anderen zu. Geben und nehmen.“

„Afrika hat genug gegeben und hingenommen.“ Zulu zeigte auf die Einblendung. „Sie kennen meine Forderungen, die ich im Namen der Unterdrückten und Hungernden des ganzen Kontinents stelle. Haben Sie ein Einsehen und beweisen Sie, dass die Worte von Hilfe, von Menschenrechten keine hohlen Phrasen sind.“

Der Präsident richtete sich auf. „Schön, Mister Zulu. Ich tue Ihnen aber keinen Gefallen, wenn ich abstimmen lasse, ob die UN-Vollversammlung gewillt ist, die Forderungen der Demonstranten anzunehmen.“

Bei der folgenden Abstimmung, die offen getätigt wurde, stimmten 74 Prozent dagegen, die Forderungen anzuerkennen. Nur einige arme afrikanische Länder waren dafür.

Zulu musste mit anhören, wie Libyen und andere nordafrikanische Staaten ankündigten, die aus Afrika Geflüchteten nicht mehr an die Küsten zu lassen. Sie hätten entweder keine Papiere besessen oder ihnen sei die Staatsbürgerschaft aberkannt worden.

Wohin sandte man Staatenlose? Die Flughäfen würden bald überquellen vor Verzweifelten.

Zulu sah, dass man sich in Nordafrika Gedanken zum eigenen Schutz gemacht hatte.

Dagegen protestierten vor allem Spanien, Italien und Frankreich, doch das interessierte die Nordafrikaner nicht. Sie hatten eine Möglichkeit gefunden, sich der Ärmsten zu entledigen und den Gestank der Verwesung nach Europa zu bringen. Und ihn dort zu lassen.

Zulu nahm sein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer.

„Was tun Sie, Mister Zulu?“, erkundigte sich der Präsident.

„Ich setze meine Demonstrantenführer in Kenntnis, dass sie nicht gehen sollen.“ Zulu sah zu Italien. „Wir sitzen es aus und sterben dabei. Die Welt kann nicht länger wegsehen.“

Italien schäumte vor Wut.

* * *

Zweitausendjederzeit, Italien, in der Nähe eines kleinen Küstendorfs

Vor Signore Adolphos Zehen lag ein kleines Mädchen am Strand, geschätzte acht Jahre, dunkelbraune Haut, kurze grüne Hose, blaues Shirt. Es schlief im Sand. Und es war alleine.

Der alte Mann starrte auf es nieder und dachte an die Robbenjagd, die er aus dem Fernsehen kannte.

Er hielt seine Angel in der einen Hand, den Eimer mit dem Knüppel darin in der anderen. Das runde Holzstück brauchte er normalerweise, um Fische zu töten, bevor er sie ausnahm.

Es würde sich auch eignen, um dem Mädchen den Schädel einzuschlagen und es zurück ins Meer zu werfen.

Er sagte sich: Das Meer würde die kleine Leiche gar nicht bemerken. Es wäre ein Stück mehr in dem großen Wasserleib, und die Fische würden es fressen; und das Salzwasser würde es auflösen; und die Überbleibsel würden auf den Grund sinken, zu den anderen, die es von Afrika nicht herübergeschafft hatten.

Aber das Mädchen hatte es geschafft.

Adolpho rührte sich nicht, hielt die Angel und den Eimer. Seine braunen Augen blieben auf das Kind gerichtet, an dessen nackte Füße die schwappenden Wellen heranreichten.

Er dachte an die vielen Flüchtlinge, die bereits rings um sein Dorf herumlungerten. Die Behörden waren überfordert, die Menschen nervös, sowohl die Einheimischen als auch die Fremden. Und sie hatten Angst. Vor Überfällen, vor Ausfällen, vor Zusammenstößen, vor Vergewaltigung. Sowohl die einen als auch die anderen.

Adolphos Mund verzog sich langsam, dann sah er nach rechts und links den einsamen Strand entlang.

Möwen, Krebse, niemand sonst.

Er hatte nichts gegen Ausländer.

Als Touristen brachten sie Geld. Aber als Flüchtlinge brachten sie Probleme. Auch er dachte und redete so und deswegen wählte er seit Jahren rechte Parteien, die seinem Gedankengut entgegenkamen. Er gönnte jedem Menschen Glück, aber in dessen Heimatland. Nicht im ohnehin armen Sizilien.

Natürlich wären die Probleme nicht gelöst, wenn er das Kind erschlug und so tat, als hätte es Europa niemals erreicht.

Aber ein Kind ohne Eltern würden die Behörden nicht mehr zurückschicken, und dann wäre es im Land, und es müsste sich jemand um es kümmern, und das würde Geld kosten, viel Geld, bis es erwachsen genug wäre, um einen Beruf zu erlernen und zu arbeiten, und adoptieren würde man ein angeschwemmtes Kind auch nicht.

Adolpho spürte die Kraft der Sonne auf den unbedeckten Armen und Beinen.

Es gab zu viele von denen, um die sich der Staat kümmern musste. Der Staat, der ihm seine Rente zahlen sollte. Der marode Staat, der stets in Furcht vor der Pleite lebte. Adolpho stand das bisschen Geld zu, nicht den ungebetenen Gästen an der Tafel, auf der alles nur geliehen war. Das Essen konnte jederzeit abgeräumt werden.

Adolpho stellte langsam den Eimer ab und legte die Angel quer darüber, damit die Spule nicht in den Sand geriet. Er hockte sich vor das Kind, legte eine Hand an den Griff des Fischbetäubers.

Ihm war es gegeben, die kommenden Ausgaben zu reduzieren.

Ein Strand, ein schlafendes Kind und ein Mann mit den Möglichkeiten, den Schlummer bis in die Unendlichkeit zu verlängern.

Adolpho zog das runde, schwere Holzstück aus dem Behältnis, wiegte es in der Hand.

Traf er geschickt, würde das Mädchen nicht einmal etwas spüren. Ohne Schmerzen geschähe der Übergang in eine andere Welt, in der es willkommen wäre. Niemand würde es grundlos ablehnen, niemand würde es wegen seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft hassen, so sagte er sich.

Adolpho ließ das Holz zwischen den krummen, schwieligen Fingern wippen.

Das Kind konnte nur gewinnen, wenn er den Knüppel hob und ihn schwungvoll in den dünnen, zerbrechlichen Nacken oder auf die Schädeldecke drosch. Wie bei einem Fisch. Ein leises Knacken, und es wäre geschehen.

Adolpho blickte erneut nach rechts und links.

Niemand erschien an dem leeren Strand, um ihm die Entscheidung abzunehmen, weder um ihn aufzuhalten noch um ihn darin zu bestärken, das Flüchtlingsmädchen zu töten.

Seine braunen Augen betrachteten das Kind.

In seinen Ohren schallten die rechten Parolen, die vor dem Ende Italiens warnten, vor der Überfremdung, vor der steigenden Kriminalität, was angesichts der allgegenwärtigen Mafia ein Hohn war, wie selbst er eingestehen musste.

Aber Adolpho dachte an seine karge Rente, an den verschuldeten Staat, an die immensen Kosten, welche die Flüchtlinge verursachten.

Für all das stand das angeschwemmte Kind.

Seine Hand mit dem Fischbetäuber hob sich langsam, das Holz schien stahlschwer zu sein.

Dann überwand er sich endlich.

Das runde Knüppelende traf die Schlafende, behutsam und sachte an der rechten Schulter, mehr ein leichter Stupser. Adolpho hatte gehört, dass sie oft Krankheiten einschleppten.

Das Mädchen schreckte zusammen und öffnete die dunklen Augen, sah den Rentner an und wirkte verunsichert. Es sagte etwas in einer ihm unbekannten Sprache.

Adolpho wusste sofort: Sie redete Englisch.

Als sie verstand, dass er nicht wusste, was sie wollte, machte sie das Zeichen für Telefon.

Verblüfft von ihrem sicheren Auftreten, reichte Adolpho ihr sein Handy. „Not Africa“, betonte er mehrfach, damit sie nicht auf seine Kosten teure Gespräche führte.

Sie nickte, wählte rasch und wartete einige Sekunden, bevor jemand abnahm und sie eine erleichterte knappe Unterhaltung begann. Zwischendurch fragte sie Adolpho mit Gesten, wo sie genau seien.

Er nannte ihr den Namen seines Dorfes.

Sie bedankte sich mit einem Nicken und legte auf. Sie reichte ihm das Telefon zurück, schüttelte ihm die Hand, sagte mehrmals „Thank you“ und ging den Strand entlang auf die Häuser zu.

Adolpho sah dem Mädchen hinterher und beobachtete es. Noch begriff er nicht, was vor sich ging.

Am kleinen Hafen blieb es stehen, dort, wo die Straße ins Meer führte und die Boote zu Wasser gelassen wurden.

Es dauerte keine zehn Minuten, und ein Jeep hielt an.

Eine schwarze Frau in schicker Kleidung sprang heraus und riss das Mädchen an sich, versetzte ihm eine Ohrfeige, um es danach wieder zu umarmen. Beide kamen nach einem Wortwechsel den Strand entlanggelaufen, genau auf Adolpho zu.

Er widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und wegzurennen.

Als die beiden ihn erreicht hatten, sagte die Frau in akzentbelastetem Italienisch: „Danke, dass Sie meine Tochter haben telefonieren lassen. Sie hatte sich beim Spaziergang verlaufen. Es hätte ja alles Mögliche passieren können.“ Sie nahm ihr Portemonnaie heraus und gab ihm hundert Dollar. „Vielen, vielen Dank, Signore.“

Er sah auf den glatten, frischen Schein auf seiner alten, faltigen braunen Haut und nickte.

„Guten Tag und nochmals danke“, verabschiedete sie sich und ging mit ihrem Kind zurück zu dem Jeep.

Adolpho hielt den Blick noch immer auf seine Belohnung gerichtet.

* * *

Zweitausendjederzeit, New York, Café Intact neben Ground Zero

Auszüge aus dem Protokoll eines Geheimtreffens zwischen

– Miles Smithers (Vertrauter und Berater des Präsidenten der USA),

– James Brown (CIA)

– und Glena Damato (Heimatschutzbehörde)

Smithers: Der Präsident ist in Sorge. Der Bericht von Damato und der Heimatschutzbehörde hat ihn aufgeschreckt. Ich bin hier, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Damato: Jedes Wort. Die Analyse der abgefangenen Datenströme belegt: Die afroamerikanische Bevölkerung der gesamten USA ist erschrocken über das, was in Europa gerade geschieht! Vor allem in den Gettos, bei den unterprivilegierteren Schichten in den Metropolen und Großstädten, gärt es. Entsprechende Äußerungen in Telefongesprächen und E-Mails sind alarmierend. Es haben sich seit Bekanntwerden der Flüchtlingsfrage einhundertsieben Plattformen im Netz gebildet, die einen verstärkten Zulauf erhalten. Bis heute waren es dreiundvierzig Millionen Besucher, am Tag sind es durchschnittlich zweihunderttausend User. Auf YouTube und MyVideo sind vierzehn entsprechende Beiträge online, und auch da sind die Zugriffe enorm. Von Twitter ganz zu schweigen. Social-Media-Kanäle sind die Hölle für uns. Die ersten Forderungen werden bald in den offiziellen Medien laut werden, dass die USA etwas unternehmen müssen. Es kann zu einer Massenbewegung werden.

Smithers: Das lässt sich wie erklären?

Brown: Back to the roots.

Smithers: Bitte?

Brown: Afrika ist eine sehr starke Wurzel der heutigen amerikanischen Bevölkerung, und diese Wurzeln derart verrecken zu sehen, schmerzt und weckt mit Sicherheit die Erinnerungen an die Verhältnisse der Sklaverei in den Staaten. Die USA bringen überall Hilfe und Freiheit. Nun will die Majorität der Afroamerikaner, dass wir auch dort etwas tun.

Smithers: Können wir das?

Brown: Nein, Sir. Höchstens ein humanitäres Pflaster, vielleicht mit einem Flugzeugträger, der ein paar von den armen Schweinen an Bord nimmt. Oder ein Sanitätsschiff.

Smithers: Wenn sie gesund sind, was dann? In den USA können wir sie ja kaum aufnehmen.

Brown schweigt.

Damato: Die Heimatschutzbehörde sieht durchaus die Gefahr, dass sich mehr und mehr Menschen zusammenschließen und eine politische Bewegung bilden könnten. Mitunter kann sie einflussreiche, schwarze Afroamerikaner zusammenbringen, die sich vorher gehasst haben. Seit der Sache mit Obama müssen wir vorsichtig sein. Das könnte enormen Druck auf den Präsidenten ausüben, den wir im Moment gar nicht gebrauchen können.

Smithers: Wie gehen wir dagegen vor?

Damato: Das wird schwierig. Zu viele Plattformen. Aber ich kann ein paar Hacker ansetzen.

Smithers: Okay, dazu haben Sie das Go vom Präsidenten. Schießen wir das Netz zusammen. Was machen wir im Real Life? Nebelkerzen? Weitere Ölpreissenkung? Medien beeinflussen? Künstliche Bankenkrise? Wir könnten an den Immobilienhypotheken was drehen. Neue Krise, eigene Sorgen. Dann fragt keine Sau mehr nach Afrika.

Brown: Solange es diesen Zulu gibt, wird das Problem nicht verschwinden.

Damato: Das sehe ich ebenso.

Smithers: Mann, wir können ihn nicht einfach abschießen! Er hat mehr Kameras auf sich gerichtet als Kennedy damals.

Brown: Aber niemand rechnet damit, dass wir hinter einem Anschlag stecken. Es gibt mindestens vier europäische Geheimdienste, denen man es in die Schuhe schieben kann. Oder auch zwei nordafrikanische.

Smithers: Das kann ich nicht entscheiden. Das muss der Präsident selbst hören.

Damato: Der Kollege von der Auslandsabteilung hat meine Zustimmung und vor allem meine Unterstützung. Zulu ist der Kopf der Schlange, die sich über den Atlantik bis zu uns windet und uns zusammenpressen wird.

Brown: Richtig! Die Nigger …

Smithers: Hey, Vorsicht!

Brown: Die Maximalpigmentierten können uns zu schaffen machen. New Orleans hätte nach der ersten Flut so was von schlecht für uns ausgehen können. Wie gut, dass der Rest der Nation die Stadt vergessen hat. Wir müssen Zulu ausschalten, so schnell wie möglich.

Smithers: Wie konnte es ihm eigentlich gelingen, so viele Aktionen derart exakt abzustimmen? Er ist doch kein Militär, oder? Haben wir vielleicht etwas, um ihm terroristische Kontakte anzuhängen? Dann könnten wir anders gegen ihn vorgehen.

Brown: Na ja. Er arbeitete lange für Ärzte ohne Grenzen und bereiste viele afrikanische Länder. Mag sein, dass er Kontakte zu Elementen geknüpft hat, die nicht legal sind, und die ihm geholfen habe. Ich tippe auf Waffenschieber. Wegen der Logistik. Aber da wir ihn zu keiner Zeit beschattet haben, wissen wir noch nichts. Die Ermittlungen laufen. Wir kennen da ein paar, die wir gerade mit Geld bestechen, uns was zuzutragen. Notfalls Al Kaida. IS. So was eben. Pause. Aber er muss weg. Egal, wen er kennt und wen nicht.

Smithers: Ich teile dem Präsidenten Ihre Ansicht mit. Geht.

Damato: Scheiß Nigger.

* * *

Zweitausendjederzeit, Sondertreffen der NATO, Brüssel

„Meiner Ansicht nach ist das der Bündnisfall.“ Der letzte Satz von Italien schwebte über der Versammlung. „Wir sind angegriffen worden, unsere Küsten sind widerrechtlich besetzt worden.“

„Durch Staatenlose“, fiel ihm Deutschland ins Wort. „Es gibt also keine Staatsmacht, die hinter einem Angriff steckt. Wen sollen wir Ihrer Meinung nach dafür zur Rechenschaft ziehen? Und eine terroristische Vereinigung ist es noch lange nicht. Sie haben keinerlei Ziele formuliert, die sich gegen Italien oder einen anderen Staat der Welt richten.“ Er sah zu Ghandi King Zulu, der in der Mitte an einem Extratisch saß und als Gast geladen war, dem man Rederecht erteilt hatte. „Deutschland kann und wird nicht dafür stimmen, dass die NATO mit militärischen Mitteln gegen unbewaffnete Flüchtlinge vorgeht. Wir sehen es vielmehr als Ausdruck einer humanitären Katastrophe.“

Italien lachte. „Eine Demonstration, ja? Die Demonstranten behindern das öffentliche Leben und stellen eine Gefahr für die Ordnung dar, sowohl logistisch als auch rechtlich.“ Er nahm mehre Blätter in die Hand und schwenkte sie. „Wir haben vierzigtausend Soldaten und Carabinieri im Einsatz, welche die Überwachung der Invasoren …“

Die Versammlung lachte auf.

„Jawohl, Invasoren!“, rief Italien erbost. „Vierzigtausend Soldaten und Carabinieri!“ Er zeigte auf Zulu. „Und die ersten Übergriffe Ihrer Erpresserbande hat es auch gegeben.“

Zulu stand auf. „Die Übergriffe sind mir bekannt und erfolgten, nachdem eine Gruppe von einhundert vermummten Bewaffneten über ein Lager der Demonstranten hergefallen ist und etwa zweihundert von ihnen schwer verletzt hat. Es dauerte danach über eine Stunde, bis Rettungsmannschaften erschienen, um den Verletzten zu helfen.“ Er nickte Deutschland zu. „Wir bedanken uns für die Unterstützung und sehen es als absurde Forderung Italiens, den Bündnisfall auszurufen, um mit militärischer Gewalt gegen die Flüchtlinge vorgehen zu können. Um Italien nochmals daran zu erinnern, was der Artikel 5 des NATO-Vertrages dazu sagt, ich zitiere:

„Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen.

Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“

Zulu hatte den Paragrafen auswendig vorgetragen. „Es geht um einen bewaffneten Angriff. Welche Waffen sieht Italien bei den Flüchtlingen? Sind Verzweiflung und Hunger Waffen?“

„Wir lassen uns das Recht auf Selbstverteidigung nicht nehmen“, hielt Italien sofort dagegen. „Was die USA dürfen, dürfen wir auch. Diese Menschen sind nichts anderes als Terroristen. Man muss nicht bewaffnet sein, um ein Terrorist zu sein! Sie halten Teile des Staates besetzt, und wenn sie die Mittel gehabt hätten, stünden sie womöglich mit Panzern und Kampfhubschraubern in Italien!“

„Die Maßnahmen sollten schon im Bereich des Maßvollen bleiben“, sagte der Vertreter der USA. „Ich gebe auch zu bedenken, dass die Lage an den Küsten und Stränden von Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland sowie in Malta überall auf der Welt beobachtet wird. Holland, das einen recht hohen Immigrantenanteil aufweist, hat auf erste interne Unruheanzeichen hingewiesen. Und nicht wenige der Flüchtlinge sind Anhänger des Islam, wie sie mit entsprechenden Fähnchen an ihren Camps deutlich machen. Das schafft einen internationalen religiösen Zusammenhalt, den Sie nicht einschätzen können. Ein Militärschlag der NATO kommt schon alleine deswegen nicht infrage.“

„Was würde denn geschehen, wenn wir die Flüchtlinge in Boote verfrachten und nach New York schippern?“, fragte Frankreich süffisant. „Schiffe voller Moslems. Ich wette, kein einziges käme an Ellis Island vorbei.“

„Tatsache ist, dass etwas getan werden muss“, sagte Griechenland missmutig. „Wir können diese Menschen nicht länger dulden.“

„Und sie mit Gewalt ins Meer treiben?“, führte Zulu beißend fort. „Sie schlagen das nicht allen Ernstes vor, oder?“

„Man könnte ein paar alte Bohrinseln zu Auffanglagern umbauen und die Menschen erst mal auf See festhalten, bis geklärt ist, was geschehen soll“, meinte die Türkei. „Und ich sage es gleich: Wir werden unsere Küsten verteidigen. Mit allem, was unsere Marine besitzt.“

„Ha!“, rief Italien triumphierend, und Frankreich klatschte angedeutet seine Zustimmung.

Zulu sah, dass es nicht mehr um seine Ziele ging: der Diskussion um die Zukunft Afrikas. Hier wurde bereits darüber gesprochen, die Demonstration aufzulösen, bevor echte Konsequenzen gezogen werden mussten.

Das durfte er nicht zulassen.

„Werte Damen und Herren“, sagte er ruhig. „Sie haben mich durch Ihr gemeinsames Vorgehen gezwungen, eine zweite Welle von Demonstranten aufzurufen. Ich möchte, dass der Sicherheitsrat und die UN sich mit den Zuständen in Afrika beschäftigen.“ Zulu stand auf und zückte sein Handy, drückte ein paar Nummern auf dem Touchdisplay. „Sie werden Zeuge, wie sich noch mehr verzweifelte Menschen auf den Weg über das Mittelmeer machen.“

„Wenn Sie das tun!“, rief Italien wütend und beließ es bei der unausgesprochenen Drohung.

Ghandi King Zulu drehte sich auf der Stelle, damit ihn alle Staatenvertreter sahen, und sprach dabei: „Die Augen der Welt müssen sehen, dass es uns ernst ist, Brüder und Schwestern. Tun wir es für die Zukunft eurer Kinder und damit für die Zukunft der ganzen Welt. Ohne Zufriedenheit in Afrika wird es niemals Frieden geben.“ Er steckte das Handy weg und deutete eine Verbeugung an. „Hohes Gremium. Wenn Sie mit mir sprechen wollen, lassen Sie es mich wissen. Meine Nummer ist Ihnen bekannt.“

Zulu nahm seinen Aktenkoffer und ging hinaus.

Draußen wurde er von einem Blitzlichtgewitter empfangen. Mikrofone bildeten wie aus dem Nichts ein Dickicht vor seinem Gesicht, die bunten Schaumstoffhüllen touchierten seine Lippen, als wollten sie ihm die Worte aus dem Mund saugen, drückten gegen seine Augenbrauen, ehe sie zurückzuckten und die Höhe korrigierten. Die Journalisten rangelten miteinander, um den besten Ton zu bekommen.

Ghandi King Zulu blieb stehen und öffnete den Mund, um die Menschen an den Südküsten Europas auf die neuerliche friedliche Flut vorzubereiten. Sie mussten wissen, dass es nicht um Piraterie ging.

Nicht um Eroberung.

Sondern einzig und allein um Gerechtigkeit.

* * *

Zweitausendjederzeit, Deutschland, irgendwo in einer Stadt mit Flüchtlingsübergangsaufnahmelager

Der Landrat und der Oberbürgermeister hatten aus den Vorfällen der Vergangenheit gelernt.

Anstatt die zugewiesenen Flüchtlinge klammheimlich in das leer stehende Hotel mitten in der Stadt zu verfrachten, um dann die Proteste in Kauf zu nehmen, hatten sie zu einer Informationsveranstaltung geladen.

Die Stadthalle platzte aus allen Nähten.

Die üblichen Bedenkenträger waren ebenso gekommen wie die Sympathisanten einer freundlicheren Asylpolitik. Kleidung und Haarschnitte machten zusammen mit Shirtaufdrucken und Tätowierungen unmissverständlich klar, wo das extreme rechte und das linke Lager saßen, mittendrin hockten einige Mutige aus dem Bildungsbürgertum, und natürlich erschienen viele jener Gattung, die gerne als „der einfache Mann von der Straße“ oder „besorgte Bürger“ bezeichnet wurden.

Es herrschte lautes Gemurmel im Raum, man beriet sich bereits und stellte Vermutungen auf; man beschwerte sich, dass die Informationen erst zwei Wochen vorher kamen; man ärgerte sich, dass die Transparente eingesammelt worden waren; man wunderte sich, wie das kommen konnte, als wäre die Aufnahme von Flüchtlingen eine ansteckende Krankheit.

Auf dem Podium saßen Landrat, Oberbürgermeister, Polizeichef, die Geistlichen beider Konfessionen sowie ein Imam und einer der Flüchtlinge, den man im Vorfeld zum Sprecher auserkoren hatte.

„Meine Damen und Herren, guten Abend“, eröffnete der Landrat. „Ich begrüße Sie im Namen des Kreises und der Stadt. Wir haben einige Informationen für Sie, was die Unterbringung von hundertfünfzig Flüchtlingen im leer stehenden Hotel Zuhause angeht. Die Nachricht erreichte uns vor einer Woche, und wir wollen die Bürger rechtzeitig in Kenntnis setzen.“

Er überließ mit einer Geste dem Oberbürgermeister das Wort.

„Sie haben die ersten Infos vielleicht aus der Zeitung“, holte er aus und klang dabei wesentlich jovialer als der Landrat. „Unsere schöne Stadt darf denen ihre Gastfreundschaft zeigen, die in der Heimat verfolgt werden oder eben vom Bürgerkrieg betroffen sind. Damit können wir zurückgeben, was den Deutschen damals nach dem Krieg an Nachsicht und Großzügigkeit …“

„Hören Sie doch auf zu labern“, kam es aus dem rechten Flügel. „Sagen Sie, was es kostet und warum das gleiche Geld nicht in Deutsche investiert wird. Machen Sie mal eine Aufstellung: Hartzer gegen Flüchtling.“

„Ich fange mal mit den Informationen zu den Menschen an, die bei uns untergebracht werden“, machte der OB weiter, und man sah ihm an, dass er genervt war. „Siebzig Erwachsene verschiedenen Alters und achtzig Kinder, von zwei Monaten bis Jugendalter. Sie kommen aus Syrien und Libyen, darunter einundzwanzig Christen, der Rest sind Sunniten und Schiiten.“

„Schickt doch die Moslems zu ihren Kumpels“, kam es wieder aus dem rechten Lager. „Da oben sitzt doch ihr Vorprediger. Also: Was ist?“ Ein kräftiger Mann im Anzug erhob sich, die Glatze und die tätowierte 18 machten klar, zu welcher Geisteshaltung er sich bekannte. „Wieso nimmt eure Gemeinde sie nicht auf? Dann fallen sie uns nicht zur Last. Das fänd’ ich fair.“

Der OB leckte sich einmal über die Lippen. „Noch etwas zum Ablauf. Natürlich bekommen Sie Gelegenheit, Fragen zu stellen. Aber das geht nur mit Wortmeldung und unserer Zustimmung.“

„Ich dachte“, redete der Glatzkopf, der sich wie eine Säule aus den Sitzenden stemmte, „wir stimmen heute ab, ob die zu uns kommen. Wir leben doch in einer Demokratie.“

Einige Unbedarfte klatschten, da sie die Hinterhältigkeit in der Aussage des Nazis nicht erkannten.

„In diesem Fall sind es Tatsachen, die gemäß deutschem Recht geschaffen wurden. Die Flüchtlinge kommen übergangsweise zu uns“, erläuterte der Oberbürgermeister ruhig. „Und noch ein Hinweis: Ich kann auch ein Rederecht verweigern oder Sie des Saales verweisen lassen, sollten Sie sich nicht an die Regeln halten.“

„Passiert das auch mit den Schmarotzern, die wir bei uns unterbringen? Fliegen die aus dem Land?“, hetzte der Kahle weiter.

„Das passiert mit allen Schmarotzern, die Deutschlands soziale Verantwortung vorsätzlich schädigen, egal ob sie hier geboren wurden oder nicht“, erwiderte der Landrat ruhig und erhielt Applaus. „Wir streichen ihnen die Zuwendungen. Und nun setzen Sie sich bitte.“

Der Glatzkopf setzte sich mit einem verächtlichen Auflachen und redete sofort mit den Sitznachbarn leise weiter.

Eine ältere Dame erhob sich, und der OB erteilte ihr das Wort. „Ich finde es gut, dass Sie uns informieren. Aber welche weiteren Maßnahmen werden noch getroffen?“

„Was meinen Sie damit?“

„Zum Schutz der Bürger. Man hört ja so viel über Kriminalität und so. Die haben ja nichts, und die wollen bestimmt besser leben.“ Sie errötete, weil sie merkte, dass sie den richtigen Ton nicht traf, und setzte sich wieder.

Der Polizeichef räusperte sich. „Wir haben keine weiteren Maßnahmen geplant und gehen nicht davon aus, dass die Flüchtlinge zu einer Verschlechterung der Sicherheitssituation führen. Allerhöchstens kleinere Diebstähle von Lebensmitteln.“

„Also keine Bewachung?“

„Das kennen sie bereits aus ihrer Heimat“, merkte der Landrat trocken an. „Die Menschen kommen zu uns, um den unerträglichen Zuständen zu entkommen, die sie an Leib und Leben bedrohen. Dass sie sich einigermaßen frei bei uns bewegen können, empfinden die meisten bereits als Wohltat.“

„Wir werden eine Bannmeile rund um das Hotel errichten, in der keine Art von Demonstration erlaubt ist“, fügte der Oberbürgermeister hinzu. „Zur Sicherheit der Flüchtlinge. Leider entstehen bei solchen Versammlungen oftmals negative Kräfte.“

„Wie lange bleiben die?“, rief jemand, ohne sich an die Regeln zu halten, was aber nicht weiter beachtet wurde.

„Das hängt davon ab, wie schnell die Anträge bearbeitet werden und über das Bleiberecht entschieden wird. Leider gibt es dazu noch nichts Klares zu sagen“, erklärte der Oberbürgermeister. „Wir werden aber jede Woche eine Sprechstunde abhalten, bei dem sich ausgetauscht werden kann. Dazu schicke ich einen Mitarbeiter der Stadt, der Ihre Sorgen und Beobachtungen an mich weiterleiten wird.“

Ein Arm reckte sich in die Luft. „Stimmt es, dass jeder zweitausendfünfhundert Euro bekommt?“

„Und die im Monat mehr kriegen als die Hartzer“, fügte der Glatzkopf wieder hinzu. „Wenn das stimmt, mache ich auch einen auf Flüchtling.“ Er zeigte auf die Linken. „Die verfolgen mich nämlich. Wegen meiner politischen Ansicht.“ Er lachte meckernd.

„Natürlich unterstützen wir unsere Glaubensbrüder und -schwestern“, sagte der Imam. „Aber alleine können wir das nicht schaffen. Wir sind Deutschland sehr dankbar, dass es unsere Leute nicht in dem Elend belässt.“

„Dafür verelenden wir“, rief eine Frau aufgebracht, reckte dann schnell die Hand und erhob sich. „Herr Oberbürgermeister, das geht so nicht. Das Sozialamt kürzt mir die Leistungen, weil ich was gespart habe, falls es noch schlimmer wird, aber die bekommen alles geschenkt und haben nie was eingezahlt. Und dann bekommen sie auch noch einen Job, während mein Mann seit anderthalb Jahren eine Stelle sucht.“

„Ich kann Sie beruhigen, den Job werden die Menschen Ihrem Mann nicht wegnehmen“, sagte der OB. „Und dass das Sozialamt kürzt, das ist bedauerlich, und ich verstehe, dass Sie ungehalten sind. Aber ich bitte Sie zu verstehen, dass es Dinge sind, die man voneinander trennen muss.“

Ein Mann aus dem Bildungsbürgertum – unschwer zu erkennen an Sakko, Rollkragenpullover und Designerjeans – erhob sich. „Gute Frau, wenn ein syrischer, unausgebildeter Flüchtling ohne Deutschkenntnisse Ihrem Mann den Job wegnehmen kann, würde ich mir Gedanken um die Qualifikationen Ihres Mannes machen“, schoss er eine Breitseite gegen die Frau. „Und nein, kein Flüchtling bekommt ein Ankunftsgeld. Aber das spielt keine Rolle. Diese Menschen haben alles verloren und alles gewagt, um ihr Leben zu retten. Und sie wollen hier arbeiten. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.“

„Sie hätten sich auch nach Ägypten retten können“, warf der Kahle wieder ein. „Oder Marokko. Oder nach Zentralafrika. Und dann die ganzen Balkan-Verpisser! Die kommen doch nur zu uns, weil sie wissen, dass es bei uns leichtes, schnelles Geld gibt.“

„Sie kommen zu uns, weil sie besser leben wollen, ja. Aber welcher Mensch will das nicht: besser leben? Und wenn wir schon dabei sind: Vierzig Prozent aller Asylanträge kommen von Menschen aus dem Balkan. Anerkannt werden 0,2 Prozent“, gab der Bildungsbürger Kontra. „Ich suche seit drei Jahren Azubis für meine Bäckereikette, und kein deutscher Jugendlicher will diese Arbeit machen. Anderen Kollegen geht es ebenso. Oder Fleischer oder Maler und Lackierer. Lieber nehme ich Asylanten, spendiere denen einen Deutschkurs und bringe ihnen was bei. Und mit sogenannten Ausländern habe ich nur gute Erfahrungen gemacht.“

„Ich war Anwalt.“

Alle Augen richteten sich auf den Sprecher der Flüchtlinge, der sich nach vorne über das Mikro gebeugt hatte. Seine Stimme klang dunkel, sonor und fest.

„In Damaskus. Ich hatte ein gutes Leben, ein gutes Einkommen, ein Büro. Ich wurde wegen meines politischen Einsatzes für mehr Demokratie verfolgt, also kam ich mit einem kleinen Boot herüber, über das Meer, und ich will hier neu anfangen. Unter uns sind nur echte Flüchtlinge. Ich habe mit vielen geredet, und sie bangen alle um ihr Leben. Jeder“, er hob die Hand, „ich schwöre, jeder würde sofort eine Lehrstelle oder eine Arbeit annehmen. Wir wollen nichts geschenkt, wir wollen zurückzahlen, was wir bekommen haben. Und haben allergrößten Respekt und größte Achtung vor Deutschland.“

Daraufhin herrschte Stille.

„Ich möchte noch anfügen: Sollte bei einigen das Asyl abgelehnt werden, werden sie sich umbringen. Egal wie. Verstehen Sie das bitte nicht als Erpressungsversuch, aber in Syrien erwartet sie ebenso der Tod. Lieber bringen sie es selbst zu Ende als in Angst, in diesem Land ohne Rechte auf ihre Feinde zu warten, sagen sie“, erzählte er mit beängstigender Ruhe. „Das ist keine Erpressung. Das ist eine Feststellung. Damit Sie alle wissen, wie groß die Verzweiflung unter ihnen ist.“

Nun ging ein Raunen durch die Halle.

„Wir werden die Bürger einladen, jede Woche, zu Spiele- und Kochtreffs, zum Sport, zum Austausch der Kulturen“, führte der Anwalt aus. „Es sollen alle sehen, dass wir nicht nur Flüchtlinge sind, sondern zuallererst Menschen. Menschen, die sich freuen, noch am Leben zu sein.“ Er lehnte sich wieder zurück.

Wer zuerst mit dem Applaus begann, wusste man danach nicht mehr, aber es fielen alle nach und nach ins Klatschen ein.

Linke, Mitte und Rechte schlugen die Hände gegeneinander, und auf den Gesichtern des Landrats, des Oberbürgermeisters, des Polizeichefs, des Imams und des christlichen Geistlichen zeigte sich Erleichterung. Die Veranstaltung erwies sich als gute Entscheidung und voller Erfolg.

Noch in der gleichen Nacht brannte das Hotel aus.

* * *

Zweitausendjederzeit, Südküste vor Frankreich, zehn Meilen westlich von Korsika

Funkverkehr-Aufzeichnung zwischen dem Patrouillenboot Bonaparte und der Fregatte De Gaulle, 15 Minuten vor dem Zwischenfall

Bonaparte: Wir haben einen Tanker auf dem Radar, die Herculea, gelistet bei einer Reederei aus Panama. Sie hat laut unserer Information Container mit Autozubehör aus Übersee geladen. Aber meine Wache meinte, sie könne keine Container an Deck sehen.

De Gaulle: Haben Sie die Herculea gerufen?

Bonaparte: Haben wir. Sie reagiert weder auf unseren Funk noch auf Lichtsignale. Wenn sie ihren derzeitigen Kurs beibehält, wird sie Marseille ansteuern. Ihr eigentlicher Bestimmungshafen ist aber nach Auskunft der Reederei das spanische Cadiz. Was sollen wir tun?

De Gaulle: Halten Sie sich strikt an die Befehle.

Bonaparte: Wie soll ich das machen, wenn sie nicht antworten? Ich kann doch nicht einfach so das Feuer eröffnen!

De Gaulle: Zwischen Cadiz und Marseille ist ein gewaltiger Unterschied. Das hat nichts mit einer versehentlichen Routenfehlberechnung zu tun. Die haben die Computersteuerung mit Sicherheit ausgeschaltet. Fragen Sie die Reederei, wann sie das letzte Mal Kontakt zur Herculea hatten und warum. Stutzt. Wir haben plötzlich mehrere kleinere Kontakte in unserer Nähe. Scheint, dass mal wieder Flüchtlinge versuchen, an unsere Küste zu gelangen. Ich sage rasch den Italienern Bescheid. Das uns nächstgelegene Schiff ist die Fregatte Venezia.

Bonaparte: Wir können versuchen, die Steueranlage außer Gefecht zu setzen.

De Gaulle: Negativ. Maxime ist, dass kein verdächtiges Schiff an unseren Küsten anlegen darf. Wenn es mit defekter Ruderanlage auf den Strand läuft, haben Sie den Befehl nicht korrekt umgesetzt. Zudem wären sie mit defekter Ruderanlage in Seenot, und wir müssten ihnen zu Hilfe kommen. Halten Sie sich an die Befehle, Bonaparte. Außerdem könnte es von Terroristen gekapert sein. Es spricht vieles dafür, wie ich finde.

Bonaparte: Verstanden. Es rumpelt. Warnschuss abgefeuert. Keine Reaktion auf die Lichtsignale. Feuere zweiten Warnschuss. Es rumpelt mehrmals. Keine Reaktion. Eröffne Feuer auf die Steuerbordseite der Herculea. Knatterndes, tiefes Röhren. Erneut keine Reaktion. Beschuss hat keine größeren Schäden angerichtet. Wir können den Kahn mit unseren Bordgeschützen nicht sicher stoppen. Erbitten Beistand, De Gaulle.

De Gaulle: Sind in einer halben Stunde bei Ihnen, Bonaparte. Es knattert im Hintergrund. Wir müssen hier erst die Boote der Terroristen eliminieren. Wird nicht lange dauern.

* * *

Zweitausendjederzeit, Berlin

Geheimtreffen der Vertreter Frankreichs, Italiens, Spaniens, Griechenlands und der USA; der deutsche Vertreter soll als Vermittler fungieren

USA: Wie konnten Sie das Feuer auf das Containerschiff eröffnen und es versenken? Haben Sie den Hubschrauber der Fernsehleute nicht gesehen? Und die gleichen Typen haben gefilmt, wie eine französische und eine italienische Fregatte Tontaubenschießen auf kleine Boote veranstalten!

Frankreich: Es ging um die Abschreckung. Unsere Leute mussten davon ausgehen, dass es sich um einen terroristischen Akt handelt.

USA: Sie wollten, dass es gesehen wird?

Frankreich: Ja. Die Aktion war zwischen Italien und uns abgestimmt. Damit wollten wir jeden Afrikaner warnen, bei Zulus Sache mitzumachen. Unkontrolliert in ein Land einzufallen, ist Terror.

Italien: Niemand wird einen Fuß an italienische Strände setzen, ohne dass wir zustimmen.

Griechenland und Spanien stimmen mit einem Murmeln zu.

USA: Das glaube ich ja wohl nicht! Wissen Sie, was in den Staaten los ist? Wir haben Rassenunruhen in fast allen Großstädten, weil Europa auf Schwarze schießt! Ihre Aktionen bedrohen den nationalen Frieden.

Frankreich: Ach? Sind wir dann bald auch Terroristen, und die USA bereiten sich auf eine Attacke vor? Italien lacht. Wenn Sie Ihre Leute nicht unter Kontrolle haben, können wir nichts dafür. Unsere Polizei macht in den Vorstädten bessere Arbeit als Sie!

Deutschland: Wir verurteilen die Aktion der Fregatten und bedauern den Tod so vieler Unschuldiger. Jetzt sollten wir uns aber darauf konzentrieren, die Unstimmigkeiten zu beseitigen. Die USA möchten, dass keine weiteren gewaltsamen Aktionen gegen Flüchtlinge durchgeführt werden.

Frankreich: Und was bekommen wir dafür?

USA: Wir nehmen alle ab jetzt aufgegriffenen Flüchtlinge auf einem ausgemusterten Flugzeugträger auf. Sie werden so lange dort leben und von uns versorgt werden, bis eine Lösung für das Problem Zulu gefunden wurde.

Italien: Sehr gerne! Aber was machen wir mit den bisherigen Flüchtlingen?

USA: Die behalten Sie natürlich.

Frankreich: Dann hätten wir gerne ein paar Dollar, damit unsere Auslagen bezahlt sind.

USA: lacht.

Frankreich: Das war kein Scherz. Wir könnten auch weiterhin Selbstverteidigung betreiben …

USA: hört abrupt zu lachen auf. Das ist Erpressung!

Frankreich: Hätten Sie die afroamerikanische Bevölkerung in der Vergangenheit besser behandelt, hätten Sie die Schwierigkeiten gar nicht. Also machen Sie nicht einen auf Empörung. Ich lasse die bisherigen Kosten aufstellen und Sie Ihnen über unsere Geheimdienstkanäle zukommen.

USA: Was bleibt mir auch anderes übrig? Steht auf und geht.

Frankreich: Das war leicht.

Deutschland: Wir haben ja auch die Verhandlungen begleitet und zum Erfolg beigetragen.

* * *

Zweitausendjederzeit, Videofilm auf einer Online-Plattform

Ein braunhaariger Mann in einer Tarnuniform ohne Abzeichen sitzt auf einem Stuhl vor einer dunkelblauen Wand, seine Augen sind auf die Linse gerichtet, er schaut den Zuschauer direkt an.

In der rechten oberen Ecke leuchtet das Symbol für Amnesty International.

Offstimme: Stellen Sie sich bitte kurz den Zuschauern vor.

Mann: Mein Name ist Julien Saint-Germain, ich bin vierundzwanzig Jahre alt, desertierter französischer Leutnant und habe einer militärischen Sondereinheit angehört, deren Aufgabe es ist, illegale Flüchtlingssiedlungen zu räumen.

Offstimme: Diese Einheit gibt es noch?

Mann: Ja.

Offstimme: Weswegen sind Sie desertiert, Monsieur Saint-Germain?

Mann: Weil ich nicht mehr länger für weiteres Leid verantwortlich sein wollte.

Offstimme: Können Sie das erklären?

Mann: Wir haben an der Küste nahe Marseille Hinweise auf eine Siedlung von Illegalen erhalten. Gegen fünf Uhr morgens begann der Einsatz.

Offstimme: Was sollten Sie tun?

Mann: Die Leute aus den Zelten und in die bereitgestellten Busse treiben und zum Schiff eskortieren, das sie zurück in die Nähe von Tunis bringen sollte.

Offstimme: Habe ich das richtig verstanden: Die französische Regierung setzt die Flüchtlinge über?

Mann: Ja. Es sind Landungsboote und Angehörige der Fremdenlegion, die das machen. Sie bringen die Illegalen an die afrikanische Küste und setzen sie dort aus. Aber ich weiß, dass es die anderen Anrainerstaaten inzwischen auch so handhaben.

Offstimme: Sie haben doch bestimmt mit Widerstand zu kämpfen?

Mann: Haben wir. Dabei ist uns freie Hand gelassen worden.

Offstimme: Das bedeutet genau was?

Mann: Alles tun zu dürfen, damit die Menschen in die Busse und auf die Schiffe kommen.

Offstimme: Egal wie alt sie sind?

Mann: Ja.

Offstimme: Fesseln, Tritte, Schläge, Drohen mit der Waffe?

Mann: Alles.

Offstimme: Was geschah bei dem Einsatz, der Ihre Einstellung veränderte, Monsieur Saint-Germain?

Mann: Wir rückten vor, und wir hatten die Siedlung bald unter Kontrolle.

Offstimme: Wie viele Illegale haben Sie dort vorgefunden?

Mann: Es waren zweihundert Männer, Frauen und Kinder. Sie waren in die Busse geladen worden.

Offstimme: Was war mit dem Gepäck?

Mann: Das wurde von uns eingesammelt und vor deren Augen in einem Müllwagen vernichtet. Die Flüchtlinge sollen spüren, dass sie mit weniger gehen, als sie gekommen sind. Das ist Vorgabe von oben.

Offstimme: Sie fuhren also zu den Landungsbooten der Fremdenlegion?

Mann: Ja. Nach zwei Kilometern wurden wir von einer kleinen Gruppe aufgehalten, bestehend aus Menschenrechtsaktivisten und Einwohnern des nahen Dorfes. Sie stoppten die Busse und verlangten, dass die Illegalen bleiben dürfen.

Offstimme: Was geschah dann?

Mann: Wir bekamen den Befehl, den Weg fortzusetzen. Eine Aktivistin bekam dabei ein Gewehr zu fassen. Ich denke, es handelte sich um einen Reflex, weniger um die echte Absicht, die Waffe gegen uns einzusetzen.

Offstimme: Und dann?

Mann: Wurde sie erschossen. Danach kam es zu Handgreiflichkeiten, und es fielen weitere Schüsse. Um die Beweise zu vertuschen, wurde uns daraufhin befohlen, die Gruppe vollständig auszuschalten.

Offstimme: Habe ich Sie richtig verstanden, Monsieur Saint-Germain? Sie bekamen den Befehl, unbewaffnete Zivilisten zu erschießen?

Mann: Ja.

Offstimme: Sie haben den Befehl befolgt?

Mann: Ja. Wir hatten alle Angst, dass man uns erkennt und danach anklagt.

Offstimme: Wie viele Menschen starben durch die Kugeln der französischen Militäreinheit?

Mann: Siebenunddreißig, fünfzehn Frauen, zehn Kinder, der Rest Männer.

Offstimme: Und wieso erfuhr die Öffentlichkeit nichts von dem Massaker?

Mann: Wir haben die Leichen in deren Autos gesetzt. Uns wurde ein Tanklastwagen mit Benzin gebracht, der offiziell als gestohlen gemeldet wurde. Es wurde ein Unfallszenario arrangiert und mit dem Treibstoff ein Feuer entzündet. Die abgelegene Gegend hat dafür gesorgt, dass der Brand sehr spät gemeldet wurde.

Offstimme: Die Medien berichteten von dem tragischen Unglück, bei dem die Leute ums Leben kamen?

Mann: Das ist korrekt. Es gab keine weiteren behördlichen Untersuchungen zum Unfall. Auf Druck von oben.

Offstimme: Was geschah mit den Flüchtlingen?

Mann: Wir haben sie abgeliefert. Bei den Landungsbooten. Den Rest müssten sie einen von der Fremdenlegion fragen.

Offstimme: Wissen Sie, wie viele Illegale bei solchen Räumungen ums Leben kommen?

Mann: Sie meinen, wenn sie Widerstand leisten?

Offstimme: Zum Beispiel.

Mann: Meine Einheit hat vier erschossen, alles junge Männer, die uns mit Messern oder Knüppeln angegriffen haben.

Offstimme: Die Leichen?

Mann: Vergraben. Ich kann Ihnen die Stellen zeigen.

Offstimme: Sie wissen, dass Sie offiziell wegen Mordes an Ihrem Vorgesetzten gesucht werden, dem Sie im Drogenrausch die Kehle aufgeschlitzt haben sollen, Monsieur Saint-Germain?

Mann: Ich weiß. Ich nehme keine Drogen. Das hat mir die Regierung angehängt, weil er ebenfalls ausgestiegen ist und dachte, man würde ihm nichts antun. Sie haben ihn erledigt. Aber nun weiß die Öffentlichkeit Bescheid. Das Internet vergisst nichts.

Nachtrag:

Der desertierte Leutnant Julien Saint-Germain wurde tot in einem Leihwagen gefunden, verstorben an einer Überdosis Kokain.

* * *

Zweitausendjederzeit, Großbritannien, London, Lobby des Ritz Hotels

Pressekonferenz von Ghandi King Zulu zu den neusten Vorkommnissen im Mittelmeer

Ghandi King Zulu saß hinter dem Tisch.

Wie immer stapelten sich die Journalisten und Reporter auf der anderen Seite schier vor ihm. Wieder der Wald aus Mikrofongestängen, der sich niemals lichtete, wenn er auftauchte.

Er sah auf die Pressemitteilung vor sich. Zulu machte einen tiefen Atemzug und richtete sich auf.

„Meine Damen und Herren der internationalen Presse“, sagte er mit fester Stimme. „Wir haben einen Akt der Barbarei mit ansehen müssen. Ein klarer Verstoß gegen so viele internationale Gesetze! Unschuldige Menschen wurden auf hoher See im Kugelhagel zweier Kriegsschiffe ermordet und ihre Boote versenkt.“ Er gab dem ihm am nächsten sitzenden Reporter einen Stapel Erklärungen. „Elf Boote, geschätzte zweihundertfünfzig Menschen sind den Fregatten Venezia und De Gaulle zum Opfer gefallen.“

Auf der Leinwand hinter ihm wurden die Aufnahmen eingespielt, die vom Hubschrauber aus gemacht wurden.

Man sah die Bordgeschütze der beiden Kriegsschiffe, die unablässig hin und her schwenkten. Wasserfontänen spritzten in die Höhe, wenn die Garben auf der Suche nach neuen Zielen zwischen den Booten wanderten.

Brutal genau und gestochen scharf wurde gezeigt, wie großkalibrige Geschosse die Holzplanken zerrissen, die Bleche zerfetzten und verbogen, Aufbauten wegrissen, Leiber perforierten und Gliedmaßen abrissen. Ein Schädel platzte gleich einer überreifen Frucht, Blut und Gehirn flogen samt Knochensplittern umher.

In dem Raum war es sehr still geworden. Mal hörte man lautes Atmen, mal ein Würgen und Laute der Betroffenheit.

„Das sind Szenen, die von den Sendeanstalten nicht ausgestrahlt wurden“, erklärte Zulu mit rauer Stimme.

„Offiziell, weil sie zu grausam waren. Inoffiziell, weil die Redaktionen Druck von Behördenstellen bekommen haben. Mir wurde auch von Drohungen berichtet. Morddrohungen! Ihnen möchte ich sie nicht vorenthalten. Mir liegt das Material vor. Wenn Sie Ihren Lesern und Zuschauern zeigen möchten, wie Europa mit unbewaffneten Flüchtlingen umgeht, lassen Sie es mich wissen.“

Die Boote sanken, während die Maschinengewehre unablässig weiter auf die Trümmer hielten und die Verletzten sowie die Überlebenden mit Salven eindeckten. Treibende Leiber zuckten im Wasser unter den Einschlägen.

Nach einem harten Schnitt sah man die Herculea von oben.

„Die Fregatte De Gaulle kam auf den Funkspruch des Patrouillenbootes Bonaparte hin zu Hilfe“, kommentierte Zulu die Hubschrauberbilder. „Wie sich im Nachhinein herausstellte, war die Computersteuerung des Frachters außer Kontrolle geraten. Weder die Besatzung noch die Satellitenüberwachung waren sich im Klaren darüber, dass etwas schieflief. Ein Gesamtabsturz der Elektronik führte dazu, dass sie sich nicht mit den französischen Sicherheitskräften verständigen konnten. Die schlecht ausgebildete Mannschaft aus Panama beherrschte weder das Morsen noch den Umgang mit den Signalwimpeln. Zuerst hielten sie das Patrouillenboot für Piraten, und als sie beim Auftauchen der Fregatte merkten, was vor sich ging, war es zu spät.“ Zulu deutete wieder hinter sich zur Wand. „Auch dabei handelt es sich um Aufnahmen, die nicht gezeigt wurden.“

Die Presse sah, wie drei Männer zum Bug rannten, sie schwenkten dabei weiße Bettlaken. Die Fregatte vollführte ein Manöver, um der Herculea die Breitseite zu zeigen, danach feuerte sie aus allen Rohren auf das Containerschiff.

Ein Teil der panzerbrechenden Geschosse zielte auf den Bug, unmittelbar auf die Wasseroberfläche, der Rest konzentrierte sich auf das höher gelegene Deck. Die Männer wurden vom Stahlhagel zerfetzt und niedergestreckt, die Brücke in eine Blechruine verwandelt. Die Herculea sank sehr schnell.

„Es gibt nichts, was den Angriff zweier französischer Militärschiffe auf einen Frachter rechtfertigt. Das Nichtantworten auf einen Funkspruch auf hoher See, weit jenseits der Dreimeilenzone, kann nicht der Grund sein, um ein Schiff zu versenken und die Besatzung hinzurichten!“ Ghandi King Zulu musste sich beherrschen, um nicht zu schreien, sondern erlaubte einer unbändigen Wut in seine Stimme zu fahren. Sie wirkte unglaublich tief, schwingend und packend.

Ein Reporter meldete sich zu Wort. „Wie werden Sie darauf reagieren, Mister Zulu?“

„Ich habe die Regierungen Frankreichs und Italiens beim Internationalen Gerichtshof angezeigt, ebenso die Befehlshaber des Patrouillenbootes und der Fregatten. Meine Anwälte meinen, ich hätte sehr gute Chancen auf eine Verurteilung. Die Liste der gebrochenen Gesetze ist sehr lang. Sie finden Sie in den Unterlagen.“ Er sah dem Mann fest ins Gesicht. „Noch viel wichtiger ist: Wie wird die Menschheit, die internationale Gemeinschaft reagieren? Und damit meine ich die Bewohner der Erde, welche die Gräuel mit ansehen mussten. Regierungen können sich untereinander einigen, aber Menschen lassen sich nicht für immer zum Schweigen bringen! Amerika ist ein sehr gutes Beispiel, was geschehen kann. Dort hat sich eine Massenbewegung gebildet, die sich für Afrika und eine schnelle Hilfe starkmacht.“

„Was sagen Sie dazu, dass die USA einen alten Flugzeugträger entsenden, um die Flüchtlinge aufzunehmen?“

„Sie werden denken, ich heiße es gut.“ Zulu schüttelte den Kopf. „Lassen Sie sich nicht blenden! Sie fahren ein zweites Guantanamo ins Mittelmeer und tarnen es als humanitäre Hilfe. Es ist nichts anderes als ein Auffanglager, mit dem man später einfach dorthin fahren wird, wo man die Flüchtlinge am leichtesten abladen kann. Vielleicht findet sich eine korrupte Regierung auf der Welt, welche sie für ein paar Millionen Dollar aufnimmt. Sie werden sehen, dass Sie von den armen Seelen niemals mehr etwas hören werden. Moderne Sklaverei. Könnte sein, dass Ihr nächstes Designerhemd von diesen Menschen genäht sein wird.“

„Sie werden von manchen Arabern und muslimischen Flüchtlingen als der neue Saladin gefeiert, weil sie Einigkeit unter so vielen verschiedenen afrikanischen Völkern geschaffen haben“, sagte eine Reporterin. „Noch sind Ihre Truppen friedlich, von einigen Zwischenfällen einmal abgesehen. Aber welche Macht hätten Sie, wenn Sie den Tausenden Flüchtlingen Waffen gäben? Ist das kein verlockender Gedanke?“

Zulu schüttelte den Kopf. „Nein. Damit könnten sich die europäischen Staaten offiziell so wehren, wie sie es gerne möchten. Solange niemand von meinen Leuten auf dem friedlichen Kreuzzug eine Waffe hält, sind sie sicher. Das wissen sie. Das wurde ihnen eindringlich klargemacht.“

„Wie lange können Sie Ihren Kurs noch beibehalten?“, wollte eine dunkelhäutige Dame wissen.

„Solange es keine Lösung für die verarmten afrikanischen Staaten gibt. Europa hat einen großen Anteil an der Misere. Ich bin der Anwalt der Stimmenlosen.“ Zulu sah, dass seine Informationen vollständig ausgeteilt worden waren.

Ein Mann hob den Arm, er hielt ein Aufzeichnungsgerät in der Rechten. „Ich habe zugetragen bekommen, dass zumindest Frankreich damit begonnen hat, an strategisch besonders wichtigen Punkten entlang der Mittelmeerküste Bunkeranlagen zu errichten, wie sie die Deutschen in der Normandie zur Abwehr der Alliierten gebaut hatten. Was lässt Sie das vermuten?“

Zulu legte die Hände aneinander und presste sie gegen den Mund. Er dachte lange nach, bevor er zur Antwort ansetzte. „Dass Europa eine Festung der Ignoranz wird. Jetzt wäre die Gelegenheit, etwas zu verändern, bevor ein wahrer Saladin kommt. Ein militärischer Führer. Oder ein falscher Prophet, der die Geschundenen in seinen Bann schlägt und sie mit Waffen ausrüstet. Kommen wir nun zu einem Ergebnis, das allen hilft, wird Afrika niemals mehr zum Brennpunkt werden. Andernfalls sehe ich darin die Quelle eines nächsten Weltkriegs. Aber nicht mit Atomschlägen, sondern mit einer Vielzahl von Kriegen in jedem Land.“

„Ist das nicht übertrieben?“

„Nein. Überall auf der Welt werden sich die Minderheiten zusammenkoppeln, weil sie gegen die Reichen aufbegehren. Sehen Sie sich die USA an. Der Flugzeugträger hat dem Präsidenten zwar einen kleinen Bonus verschafft, aber sobald klar wird, welchen scheinheiligen Hintergrund die humanitäre Aktion hat, wird die Empörung in den Slums hochkochen. Und diese Empörung wird auch die reichen Minderheiten erfassen.“ Zulu erhob sich. „Meine Damen und Herren: Zeigen Sie der Welt die Bilder, verkünden Sie die Wahrheit und meine Anklage. Bald wird sich etwas tun, Sie werden sehen.“

In diesem Augenblick wurde es taghell und heller, gleißend hell und heiß.

Die Druckwelle der Detonation schleuderte Ghandi King Zulu gegen die Wand, noch bevor ihn das Feuer erreicht hatte und ihn umschloss.

Nachtrag:

Ghandi King Zulu starb zusammen mit den vierundfünfzig Reporterinnen und Reportern, vier Kellnern des Ritz, einem Pagen und vier Hotelgästen, die zufällig in dem Moment der Explosion vorbeigingen.

Der materielle Schaden wurde auf eine halbe Million geschätzt.

* * *

Zweitausendjederzeit

Der Zustand der Welt nach dem tödlichen Attentat auf Ghandi King Zulu

+++ Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Todes des charismatischen Arztes brachen Unruhen in den USA aus, die zum Sturz des Präsidenten führten, nachdem er den Einsatz der Nationalgarde und den Schießbefehl erteilt hatte. Bei den Zwischenfällen kamen siebenhundertdreiundzwanzigtausend Amerikaner ums Leben, davon waren 78 Prozent afroamerikanischer Abstammung. Der Präsident trat zurück, Neuwahlen wurden angesetzt. Der designierte neue Präsident hat bereits verkündet, dass er sich für eine friedliche Regelung zwischen Afrika und Europa einsetzen wird, ohne militärischen Beistand zu leisten. +++

+++ Die Unruhen in den USA sind jedoch nicht beendet. Es gibt inzwischen Landstriche, die klar nach Hautfarben und Herkunft geteilt sind. Vor allem der Süden tut sich durch Rückfall in den alten Rassenhass hervor. Vernarbte Wunden brechen wieder auf. +++

+++ Wer hinter dem Anschlag auf Ghandi King Zulu steckte, ist bis heute nicht geklärt. Es gibt Hinweise auf europäische Geheimdienste; die Theorie einer Verschwörungsgruppe bezichtigt die CIA, andere sehen die Schuld bei einer Gruppe einflussreicher amerikanischer Konzerne, welche den Präsidenten stürzen wollten. Die von Ghandi King Zulu eingereichten Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof wurden abgewiesen. +++

+++ Die Nachfolge von Ghandi King Zulu konnte niemand antreten. Allerdings tauchte eine Videobotschaft im Internet auf, die im Falle seines Todes ausgestrahlt werden sollte. Darin rief Zulu alle Immigranten in den europäischen Staaten zum passiven Widerstand auf, ganz gleich, welcher sozialen Schicht sie angehören. Er nannte es einen „sanften Denkanstoß für eine gerechtere Welt“. Die reichen Länder müssten verstehen, dass sie ihren Erfolg nicht aus eigener Kraft geschafft haben. Hunderttausende folgten dem Aufruf. Daraus entwickelte sich die größte wirtschaftliche Krise in der Europäischen Union, die vor allem die westlichen Länder traf. Es kam zu verheerenden Kurseinbrüchen an den internationalen Börsen, Warenströme wurden unterbrochen, Fabriken lagen still, weil es nicht genügend Arbeiter gab. Hunderte Krankenhäuser litten plötzlich unter Ärztemangel und so weiter. +++

+++ Gleichzeitig entstand eine neue nationale Bewegung in Westeuropa. Die Menschen betonten ihre nationalen Eigenheiten, grenzten Ausländer systematisch aus. An sozialen Brennpunkten wurden Einwanderer verfolgt. Es gab Todesfälle, sehr viele Todesfälle. Die Wut der Ausländer und Immigranten darüber schlug in Gewalt um. Aus Zulus friedlicher Bewegung wurde eine radikale. +++

+++ Eine nicht mehr enden wollende Fluchtbewegung setzte ein. Die „Jünger Zulus“ wollten fortführen, was Ghandi King Zulu begonnen hatte. Boot um Boot verließ die nordafrikanische Küste, und die Marinen Spaniens, Italiens, Frankreichs, Griechenlands sowie der Türkei versenkten die ersten unbewaffneten Boote. Doch bald mischten sich bewaffnete Flüchtlinge darunter, es kam zu Gefechten. In Überraschungsaktionen wurden zwei Fregatten erobert, mit denen die Flüchtlinge auf Raubzüge an den Küsten gingen. Die Gewaltlosigkeit wurde auch dort aufgekündigt. +++

+++ Daraufhin schlossen sich verschiedene ärmere afrikanische Staaten zum „Bund der Gerechten“ zusammen und stellten den Freiwilligen, die sich am Kampf gegen die Festung Europa beteiligen wollten, Waffen zur Verfügung. Tunesien, Libyen, Syrien, Ägypten und gemäßigte afrikanische Staaten verkündeten auf Druck des „Bundes“ der Gerechten ihre Neutralität und erlaubten den Kämpfern aus dem Süden den Durchzug durch die Länder; inoffiziellen Berichten zufolge stellen auch sie Waffen zur Verfügung. Es gibt auch Hinweise darauf, dass kleinere atomare Waffen im Umlauf sind. +++

+++ Zunehmend spielt die Religion eine gewichtige Rolle unter den Flüchtlingen. Mehr und mehr mischen sich fanatische Prediger unter die Verzweifelten, verkünden ihre verquere Auslegung des Korans oder der Bibel oder sonstiger Lehren, um die Menschen anzupeitschen und in eine heilige Mission zu senden. +++

+++ Nach Frankreich haben alle nördlichen Mittelmeerstaaten massive Bunkeranlagen errichtet, um die herandrängenden Flüchtlinge aus Afrika abzuwehren. Eine neue Abwehrschlacht. An manchen Tagen, bei gutem Wetter, erinnern die Strandabschnitte an die Landung der Alliierten in der Normandie. +++

* * *

Zweitausendjederzeit, Sondertreffen der NATO, Brüssel

Die NATO rückte mit allen Gremien an, die sie aufzubieten hatte, vom Nordatlantikrat über den militärischen Stab bis hin zur kompletten Verwaltungsebene. Niemand sollte nach dieser wegweisenden Sitzung sagen können, er habe nichts von dem gewusst, was entschieden wurde. Sämtliche Mitgliedsstaaten waren vertreten.

„Meine Damen und Herren“, eröffnete der Vorsitzende, „die Sitzung wurde auf gemeinsamen Wunsch von Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland, Kroatien und Portugal einberufen. Es handele sich bei der gegenwärtigen Entwicklung längst nicht mehr um ein politisch lösbares Problem. Es seien terroristische Angriffe auf die Länder, die gezielt geplant und ausgeführt würden.“ Der Vorsitzende hob den Blick und nickte den Vertretern der betreffenden Staaten zu. „Wer von Ihnen möchte es näher ausführen?“

Italien erhob sich und nickte mit ernster Miene in die Runde. „Muss man es denn noch ausführen? Es kommt auf allen Nachrichtensendern. Auf jeder noch so kleinen Insel errichten Schleuser und Marodeure ihre Camps, in denen sie laut Geheimdienstberichten inzwischen Waffenlager unterhalten. Wir haben zwei Berichte über den versuchten Einsatz von Flugabwehrraketen gegen Passagiermaschinen, der beide Male misslang. Zum Glück.“ Italien legte die Hände aneinander. „Die vielen Inseln Griechenlands sind die besten Verstecke, die man sich vorstellen kann. Hier entstehen durch die Machenschaften des sogenannten Bundes der Gerechten gerade eigene Herrschaftsbereiche, von denen aus jeden Tag Boote und Kähne nach Europa aufbrechen. Wir haben bereits drei Fregatten an diese Terroristen verloren, die sich in deren Händen befinden. Malta ist in Gefahr, Sizilien ist in Gefahr, Sardinien, Korsika, Zypern. Die NATO muss handeln und einen Schlag gegen diese Stellungen führen. Es sollte als Abschreckung dienen und klarmachen, dass wir diesen Belagerungszustand nicht dulden.“ Er setzte sich wieder.

Dafür stand Litauen auf. „Ich möchte bei allem Verständnis für die gefährliche Bedrohungslage daran erinnern, dass es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Boote nach wie vor um Flüchtlinge handelt. Die Gefechte, die an verschiedenen Strandabschnitten der Länder aufkommen, gehen – wie der Kollege aus Italien schon sagte – auf das Konto von Extremisten und Terroristen. Aber einen pauschalen Schlag gegen die Inseln, auf denen die Verzweifelten ihre Zelte aufgeschlagen haben, lehnt Litauen ab. Wir brauchen eine politische Lösung. Die Hilfe muss in die Länder, aus denen die Menschen ausreisen, weil sie es dort nicht mehr ertragen. Aus verschiedensten Gründen.“

„Das haben wir versucht! Die vielen Milliarden sind versickert, ohne dass die Bewohner etwas davon hatten. Aber wir errichten gerne einen Korridor und schleusen alle sogenannten Flüchtlinge bis zu Ihnen durch, Herr Kollege“, ätzte Italien. „Sie werden sich wundern, was die alles im Gepäck haben.“

„Bitte, meine Herrschaften“, bremste der Vorsitzende.

„Bevor wir polemisch werden“, sagte Frankreich und erhob sich, „möchte ich Italien mit Fakten unterstützen. Unsere Marine verzeichnet zunehmend Angriffe gegen die Schiffe der Küstenwache und zivile Schiffe. Sämtliche Kreuzfahrten sind mittlerweile auf dem Mittelmeer eingestellt worden, aus Angst der Reedereien, die Schiffe könnten gekapert werden.“

Danach folgte der Vortrag einer Liste mit Angriffen auf Strandabschnitte, die zurückgeschlagen wurden, weitere Flüchtlingsanlandungen, Bilder von Menschenmengen an den Stränden, die nur durch einen starken Sturm restlos von Leuten gereinigt wurden. Stürme waren gut für Europa. Das Meer nahm sich dann Flüchtlinge, die es bei der Überfahrt verschont hatte.

„Sie sehen, meine Damen und Herren, seit dem Tod Ghandi King Zulus steigerten sich die Vorfälle an den europäischen Mittelmeerküsten. Von den Rassenunruhen in Amerika ganz zu schweigen“, näherte sich Frankreich dem Ende des Vortrags. „Wie der italienische Kollege bereits betonte: Wir haben es mit direkter Unterstützung versucht. Aber es hat zu nichts geführt.“

„Sie hätten Zulu nicht töten lassen sollen“, kam es von irgendwo aus der Versammlung. „Das war der größte Fehler.“

Es war nicht klar, wer es gerufen hatte. Auch die Stimme konnte zu einem Mann oder zu einer Frau gehört haben, und sie fand auf Druck der USA keinen Eingang in das offizielle Protokoll.

Bei einer ersten Abstimmung darüber, ob die NATO handeln sollte, wurde ein einstimmiges Ergebnis erzielt: dafür.

Allerdings geriet die Debatte darüber, was genau angegriffen werden solle, außer Kontrolle. Die Geheimdienste und militärischen Aufklärer überboten sich mit Informationen, wie viele Lager und Camps auf welcher Insel lagen, wo mutmaßliche Terroristenanführer hockten, wo sich gefährliche Waffen befanden, wo man die gekaperten Fregatten vermutete und vieles mehr.

Schließlich erhob sich die Vertreterin des Vereinigten Königreichs. „Ich denke, die Diskussion wird falsch geführt. Ja, wir müssen einzelne Nester der Schleuser und Marodeure auf den Inseln im Mittelmeer ausheben.“ Sie nahm einen Kugelschreiber aus ihrer Sakkotasche und nutzte den eingebauten Laserpointer. Damit umkreiste sie die afrikanischen Staaten, die sich zum Bund der Gerechten zusammengeschlossen hatten. „Das Problem liegt hier. Sie führen die Operationen und steuern sie.“

„Sie wollen vorschlagen, die NATO müsse dort ebenfalls tätig werden“, sprach der Vorsitzende aus, was die Versammelten erschrocken dachten.

„Unsere Geheimdienste haben genug Beweise dafür, dass die Regierungen in die Vorgänge involviert sind“, erwiderte die Britin besonnen. „Unsere Küsten erhalten nur eine Ruhepause, wenn wir die Zentrale, die Schaltstelle der konzertierten Aktionen, ausschalten.“

„Sind das Beweise wie damals im Irak?“, warf Tschechien halblaut ein. „Diese Giftgasanlagen von Hussein?“

Einige bittere Lacher erklangen.

„Wir können jegliche Beweise beschaffen“, mischten sich die USA ein. „Aber mit Blick auf die Rassenunruhen, die uns schwer beutelten, werden wir uns an der Abstimmung nicht beteiligen.“

„Weil es gegen Schwarze geht?“, tönte Italien. „So weit ist es schon mit den Vereinigten Staaten gekommen.“ Er lachte. „Es ist sowieso eine europäische Angelegenheit. Dieses Mal befreien wir uns selbst.“

Wieder gab es Lacher.

Deutschland meldete sich zu Wort. „Was schlagen Sie vor, was die NATO tun soll? Angriffe auf afrikanische Staaten fliegen? Das bringt doch nichts. Es trifft doch eh die Armen und damit die Falschen.“

„Schurkenstaaten“, verbesserten die USA sofort. „Es sind terroristische Länder geworden, indem sie sich gegen Europa und die freie Welt verbündeten, um ihre Leute gegen uns zu hetzen.“

„Ein paar Scharfschützen vielleicht?“, schlug Italien vor. „Es reicht, wenn wir die wichtigsten Köpfe ausschalten.“

„Es muss ein drastisches Signal sein. Ein Signal an alle, dass Europa es sich nicht gefallen lässt, angegriffen zu werden. Schon einmal zwangen zwei Bomben einen Staat in die Knie und beendeten einen Krieg“, erwiderte die Britin sanft.

Der Versammlung verschlug es die Sprache.

„Haben Sie eben den Einsatz von Atomwaffen vorgeschlagen?“, erkundigte sich Deutschland irritiert.

„Sagen wir: Ich würde die NATO damit drohen lassen und es nach außen wirken lassen, als stünden wir kurz davor.“ Die Britin aktivierte ihren Computer. „Im strategischen Konzept des Bündnisses von 1999 heißt es zur Nukleardoktrin, dass das Bündnis eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte beibehalten wird. Wir haben die Option auf den Ersteinsatz von Atomwaffen niemals gestrichen. Die USA, wir und Frankreich haben bereits verankert, atomar zu antworten, wenn Schurkenstaaten, die keine Atomwaffen besitzen, unsere vitalen Interessen irgendwo in der Welt durch den Einsatz von chemischen oder biologischen Angriffen verletzen.“

„Aha“, machte Deutschland. „Das muss ich übersehen haben.“

„Das tun die meisten“, erwiderte England freundlich.

„Unsere Marine fand in mehreren Booten der Angreifer Gasgranaten, die aber nicht mehr von den Terroristen zum Einsatz gebracht werden konnten“, sprang Frankreich ihr bei.

„Bestimmt hatten sie noch Anthrax und andere Dinge in der Tasche“, warf Litauen spöttisch ein.

„Ich bin mir sicher, dass sie alles dabei hatten, was die NATO braucht, um dem Bund der Gerechten den Krieg zu erklären“, entgegneten die USA. „Den Krieg gegen den Terror.“

Nun kam es zu lauten Zwischenrufen und Tumulten, die Meinungen gingen stark auseinander, doch Oppenheimers Büchse war geöffnet und lockte.

Das Szenario stand: Eine Bombe, atomar und verheerend, gezielt auf die gemeinsame Ländergrenze des Bundes geworfen, dazu Aktionen gegen die Lager auf den Inseln und eine mediale Kampagne, in der unentwegt von weiteren Abwürfen die Rede sein würde.

Was gegen Japan geholfen hatte, so lautete die Meinung der USA, Frankreichs und Englands mit Zustimmung der Mittelmeeranrainer, würde auch gegen diese neue Bedrohung helfen.

„Wie gesagt, wir müssen sie ja nicht gleich werfen“, betonte England. „Aber wir können uns durch eine Genehmigung der NATO die Option für einen sofortigen Schlag offen lassen, sollte sich die Situation weiter zuspitzen. Die Afrikaner müssen zur Vernunft gebracht werden.“

„Das sagte man früher auch, während man die Peitsche schwang“, warf Deutschland ein. „Ich möchte, dass wir diese Freigabe zum Einsatz nuklearer Waffen verschieben, bis wir in jedem europäischen NATO-Land eine Volksabstimmung dazu durchgeführt haben. Die Bürger sollen die Gelegenheit bekommen, eine derart wichtige Entscheidung zu treffen. Das Votum des Volkes wird richtungsweisend für die Regierung und die Abstimmung in der NATO sein. Eine einfache Mehrheit genügt.“

Wieder brandete ein Aufruhr im Gremium auf, den der Vorsitzende mit viel Rufen eindämmen musste.

Aber letztlich fand der deutsche Vorschlag eine knappe Mehrheit: Das europäische Volk sollte seine Stimme erheben und entscheiden, ob es nach Hiroshima und Nagasaki wieder eine Atombombe auf eine von Menschen bewohnte Stätte werfen wollte; die Zielkoordinaten waren bereits ausgesucht, da es dort geheime Anlagen zur Herstellung von chemischen und biologischen Waffen gab.

Aber heute wusste man genau, wie es für diese Stätte enden würde: noch schlimmer.

* * *

Zweitausendjederzeit, Deutschland

Familie Wischnik saß zu Hause beim Abendessen und kaute schweigend, denn der Fernseher lief und übertrug auf allen Kanälen die ersten Hochrechnungen und Prognosen, wie die Deutschen sich im Vergleich zu den anderen europäischen NATO-Staaten verhalten hatten. Die Wahllokale waren geschlossen, die Auswertungen waren im vollen Gange. Überall, in sämtlichen europäischen NATO-Ländern. Skalen liefen im Hintergrund, Prozentangaben rauschten in Doppellaufbändern am unteren Bildschirmrand durch.

„Ist wie beim Eurovision Song Contest“, kommentierte Thorsten, mit fünfzehn Jahren der Jüngste der Familie. „Länder, die abstimmen, wo es die nächste Bombenparty geben soll.“

„Es ist eine Frechheit, dass uns die Politiker das zumuten“, murmelte Mutter Edelgard. „Ich drücke ja auch nicht bei einer Hinrichtung den Knopf für die Giftspritze. Wir haben doch Gesetze. Stattdessen sollen wir entscheiden. Damit sie uns die Schuld geben können, wenn es schiefgeht.“

„Wir haben keine Todesstrafe in Deutschland“, warf Tochter Anne ein, die gerade ihr Abitur machte. „Ist dir zu unbequem, plötzlich Mitschuld zu haben, wenn eine Stadt vernichtet wird, oder?“

„Ich finde es gut, dass wir bestimmen“, hielt Egon Wischnik dagegen. „Sonst jammern immer alle, man sei nie einbezogen.“

„Ich nicht“, murrte Thorsten. „Ich darf nicht abstimmen, ob wir die Terroristen wegbomben.“

„Das ist keins von deinen Videospielen, du Idiot“, regte sich Anne auf. „Es gibt keine Extrapunkte für das Auslöschen von Städten.“

„Wenn dann diese Angriffe aufhören und es friedlich wird auf dem Mittelmeer, dann bin ich dafür“, sagte Egon und legte Wurst aufs Butterbrötchen. „Das ist doch auch für die armen Menschen dort besser. Wir beseitigen die Regierungen dort, setzen neue ein, geben ihnen Geld, damit sie die Infrastruktur …“

Anne lachte ihren Vater aus. „Das glaubst du? In Afghanistan hat es ebenso wenig geklappt wie im Irak.“

„In meinem Spiel gäbe es Extrapunkte“, sinnierte Thorsten. „Und für Kills am Strand. Aber auch Abzüge, wenn ich ein Baby erwische.“

„Das fehlte noch, dass es so ein Spiel gibt“, warf Edelgard streng ein. „Das ist alles schon grausam und schlimm genug.“

„Sch“, machte Egon und regelte die Lautstärke hoch.

„… lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei guten einundsechzig Prozent“, verkündete der Nachrichtensprecher. „Die Prognosen im Einzelnen, aufgeteilt nach Bundesländern folgen im Anschluss …“

„Einundsechzig Prozent“, stieß Anne aus und lachte. „Wieso so wenig? Abgesehen davon, dass es eine Farce ist, müssten dennoch mehr aufstehen.“

„Die werden so denken wie ich“, warf Edelgard ein. „Ich fühle mich bedrängt. Wozu hat man denn eine Regierung, wenn sie uns die Entscheidung dann aufbürdet?“

„Oder das Denken? Und dann klagt einer dagegen vor dem Verfassungsgericht, wetten?“, sagte Thorsten grinsend. „Dann muss das alles wiederholt werden. In der Zeit ist die Bombe geworfen, und die Deutschen können sagen: Moment, wir waren noch nicht so weit.“

„Du hast schon verstanden, wie es bei uns läuft“, lobte ihn Egon.

Edelgard kaute langsamer. „Aber … das wäre fantastisch“, meinte sie. „Ich hätte dann damit nichts zu tun.“

„Dann kannst du wieder ruhig schlafen, gell, Mutti?“, wandte Anne sich ihr sarkastisch zu. „Das ist natürlich praktisch. Es ist pervers genug, dass überhaupt eine Atombombe geworfen werden soll.“

Egon biss von seinem Brötchen ab. „Warum hast du dann an der Wahl teilgenommen?“, fragte er undeutlich.

„Weil es mein Recht ist, dagegen zu sein. Gerade bei diesem Irrsinn, der nichts bringt, außer noch mehr Hass und Gewalt, die sich gegen Europa richten werden.“ Anne trank einen Schluck Bier. „Wisst ihr, was ich mache?“

„Vorm Verfassungsgericht klagen?“, fragte Thorsten glucksend. „Dann freut sich die Mutti.“

„Ich fahre dorthin.“

„Wohin?“, fragte Egon begriffsstutzig.

„In die Stadt, die sie wegbomben wollen. Ich leiste Widerstand. Auf meine Weise.“

„Kind, nein. Du könntest dabei umkommen!“, rief Edelgard entsetzt.

„Das ist bei einer Atombombe wahrscheinlich.“ Thorsten grinste. „Bei mir würdest du auch Extrapunkte kriegen. Und ich bekomme dein Zimmer!“

Anne blitzte ihn an. „Das ist mein Ernst.“ Sie nahm ihr Smartphone und tippte.

„Niemals!“, donnerte ihr Vater.

„Ich bin alt genug. Ich kann fahren, wohin auch immer ich will.“ Anne schrieb unentwegt.

„… zeichnet sich bei den Prognosen eine knappe Mehrheit für den Einsatz nuklearer Waffen ab, zumindest bei den Ergebnissen in Brandenburg …“

„Was tust du da?“, erkundigte sich Edelgard. „Das war doch ein Scherz von dir, Kind.“

„Nein. Ich starte eine Initiative im Internet, auf allen Social-Network-Kanälen. Ich werde nicht alleine in die Stadt reisen und mich dem Wahnsinn widersetzen“, antwortete Anne abwesend. „Diese Bombe wird nicht abgeworfen.“

„Geile Idee.“ Thorsten zog den Tabletcomputer aus der Schublade und tippte ebenfalls.

„… eine knappe Mehrheit für den Einsatz nuklearer Waffen haben wir auch aus Hessen …“

„Ihr werdet beide bleiben!“, herrschte Egon sie mit vollem Mund an und spuckte ein bisschen Wurstbrötchen.

„Ich gehe auch nicht. Ich schaue, ob ich ein Spiel finde, das so ähnlich ist.“

„Aber … wenn doch alle entschieden haben, die Terroristen zu bombardieren?“, warf Edelgard überfordert ein. „Kind, das musst du doch einsehen. Das ist doch der Volkswille.“

„Stimmt. Das ist Demokratie.“

„Demokratie ist, wenn alle beschließen, dass Menschen umgebracht werden, die gar nichts damit zu tun haben? Dem soll ich mich beugen? Vergesst es“, höhnte Anne und tippte. „Falls ihr es vergessen habt, frage ich euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Pars pro toto, damals, im Sportpalast.“

„Ist ja wohl nicht zu vergleichen. Es geht gegen Terroristen“, brummte Egon.

„… gegen den nuklearen Schlag votierten den Prognosen nach Rheinland-Pfalz und das Saarland, dafür wiederum ist Sachsen …“

„Sie haben uns doch genau erklärt, warum es wichtig ist.“ Edelgard wollte nicht aufgeben, an die Vernunft der Tochter zu appellieren. „Es gab in den Kampagnen Gründe dafür und Gründe dagegen. Jeder konnte sich ein Bild davon machen. Und wenn die nicht aufhören, an die Küsten zu kommen, wer weiß, wie schlimm es noch wird?“

„Es gibt keine Gründe dafür“, erwiderte Anne und legte das Smartphone auf den Tisch. „Es gab auch keine Gründe, Hiroshima und Nagasaki auszulöschen.“

„Doch, natürlich. Japan sollte schnell aufgeben, und damit wurden Menschenleben …“, warf Egon ein.

„Quatsch. Der Krieg war schon lange verloren, das wussten auch die Generäle. Hätten die sich von zwei vernichteten Städten aufhalten lassen? Nein. Ist doch wie im Game: zwei Städte verloren, na und? Aber ich kann noch gewinnen, wenn ich den Gegner überrasche. Sie hatten schon viel früher vor zu kapitulieren. Die Bomben waren Vergeltung wie manche Bombenangriffe auf Deutschland“, sagte Thorsten.

„Das nenne ich mal ’ne Verschwörungstheorie“, kommentierte Anne.

„Kann sein. Kann aber auch sein, dass es so war. Die Geschichte schreiben ja immer die Sieger. Hier wird’s ja genauso laufen.“

„… Thüringen scheint sich auf ein Unentschieden zuzubewegen. Als letztes Bundesland, wenn man so möchte, hat Berlin gegen den Einsatz …“

Annes Telefon gab jetzt Signalgeräusche in schneller Folge von sich. „Na, es geht los. Aus unserem Abijahrgang sind es schon elf, die mitkommen.“

„Ich werde dich einsperren“, verkündete Egon düster und warf das Brötchen auf den Teller. „Du hast mit den Menschen dort nichts zu tun.“

„So tickt unsere Welt nicht mehr, Papa. Du siehst doch, wie verzahnt alles ist.“

„Jetzt wartet doch mal. Vielleicht werfen die gar keine Bombe“, versuchte Edelgard zu beschwichtigen.

„Und was ist dann mit den Terroristen? Wie kriegen wir die dann klein?“ Damit war klar, wie Egon sich entschieden hatte, was ihm einen verächtlichen Blick seiner Tochter einbrachte. „Da muss ein Exempel …“

„Sch, da! Das Ergebnis“, machte Thorsten aufmerksam.

„… erreichen uns soeben die amtlichen, geprüften Ergebnisse der europäischen Nachbarn beziehungsweise der NATO-Länder. Wir beginnen in alphabetischer Reihenfolge.

Albanien: …“