Kurzgeschichte
Germany’s Next Auswanderer
(2015)
Zitat zu Aleppo (Syrien):
„Wenn eine Straße von Heckenschützen kontrolliert wird, musst du deinen Blick immer nach unten richten. Schaue niemals geradeaus! Die meisten Soldaten mögen es nicht, wenn man ihnen in die Augen schaut“, berichtet Lamis. Das Mädchen rennt nicht nur, wenn es die Straße überqueren muss, es fliegt. Denn manchmal schießen die Killer von den umliegenden Dächern dabei den Kindern zwischen die Füße. Ein makabrer Scherz.“
(Quelle: Süddeutsche Zeitung online, 18. August 2015)
In einer beliebigen deutschen Stadt, Gegenwart
„Kost’n Zwanni. Ohne Mehrwertsteuer.“ Der Elektriker sah auf die defekte, halb verschmorte Steckdose, die er ausgetauscht hatte.
Ingo Rusnici, gelernter Drucker und zweiundvierzig Jahre alt, nickte sofort. „Geht klar. Hier.“ Er drückte dem Mann den Schein in die Hand und brachte ihn zur Tür, schlurfte durch die Küche, nahm sich einen Rotwein und landete in seinen Trainingsklamotten vor dem Fernseher. Nach dem Fußballtraining kam die Pause gerade recht.
Keine Rechnung für den Handwerker bedeutete weniger Ausgaben, womit Ingo wiederum die Mehrwertsteuer sparte. Es war wie bei seiner Frau, die schwarz putzen ging, und deren zufriedenen Kunden. So hatten alle was davon, wie er fand.
Auf dem Tisch lag der Zapp-Bingo-Zettel, auf dem Werbephrasen und Nachrichtenfloskeln standen. Bei jedem erreichten Bingo gönnte sich Ingo einen Schnaps.
Es gab Abende, da war er richtig besoffen, und meistens spielte er es mit seinen Männerkumpels aus der Nachbarschaft. Ob Zimmermann, Betriebsrat, Stadtangestellter oder Hartz-IV-er, beim Zapp-Bingo und im Suff waren sie alle gleich, unabhängig von Einkommen und Ansichten.
„Giovanni“, rief er und legte die Füße hoch, schaltete das Gerät ein. Das Zapp-Bingo begann. „Kein Taschengeld für den Restmonat.“
„Was?“, kam es aufgebracht aus dem oberen Stockwerk, wo Giovanni, Susanne „Susi“ Elisabeth, Giulia Martina und Petrick untergebracht waren.
Sekunden darauf stand Giovanni vor ihm, sechzehn Jahre und zu groß für sein Alter, die tragbare Spielkonsole in der Hand. „Was?“, wiederholte er.
Ingo schaltete um. „Deine Konsole hat mich zwanzig Euro gekostet.“
„Was?“
„Der Kurzschluss. Da.“ Er zeigte auf die erneuerte Steckdose. „Habe ich machen lassen müssen.“
„Hätte ich doch gekonnt.“
„Du kannst Stecker reinstecken, aber mehr nix.“
Zapp. „… wird Deutschland im Jahr 2015 etwa 800.000 Flüchtlinge aufnehmen …“
Ingo schaute mit verkniffenen Mundwinkeln auf das Blatt. Heute lief es beim Bingo nicht gut. „Kein Taschengeld bis zum Ersten.“
„Mann!“ Giovanni stampfte auf den Boden, und im gleichen Moment setzten von oben Gezänk und Gekreische ein.
„Geh hoch und schau mal nach, was los ist.“
Zapp. „… kaufen Sie das neue Sproing, das Fitnessgerät mit dem Drall …“
Nein, es lief gar nicht gut.
„Sind doch deine Kinder.“ Giovanni warf sich in den freien Sessel und verfolgte das Programm.
Ingo hatte vorher gewusst, dass der Sohn seiner Lebensgefährtin diese Karte spielen würde. Dagegen gab es keinen Stich. Er hatte Bella Domenica geschwängert, er musste sich mit den Kindern beschäftigen, was oft Spaß machte und mindestens genauso oft lästig war. Aber ohne sie wollte er auch nicht mehr sein.
Kommentarlos stemmte er sich aus der Couch hoch und stapfte vernehmlich die Stufen hinauf, was meistens schon ausreichte, um den Streit zum Verebben zu bringen. Zumindest wurde es schon leiser.
Susanne „Susi“ Elisabeth war mit zehn die Älteste der Spielenden und stammte aus seiner ersten Ehe. Danach kamen Giulia Martina mit sieben und dann Petrick mit zwei Jahren als gemeinsame Sprösslinge. Sie lebten aufgeteilt auf zwei Zimmer, was mal mehr, mal weniger gut klappte. Den ausgebrochenen Zwist würde Ingo kraft seiner Autorität und der Macht über Fernbedienungen sowie Taschengeld unterbinden.
Er betrat das größere der beiden Zimmer, in dem der Fernseher flimmerte, Plastikspielzeug auf dem Boden verteilt lag und ein zerrissenes Buch anklagend vom Schrank hing.
„Was ist los?“ Ingos Auftritt beendete das Zanken.
„Die dumme Sch…necke hat mein Buch kaputt gemacht“, regte sich Susi auf und zeigte auf Giulia.
„Die wollte den Fernseher ausmachen, damit sie lesen kann, und dabei hätte sie doch in ihr Zimmer gehen sollen und mich nicht nerven und …“, folgte die Konterbreitseite.
„Aber Papa hat gesagt, ich soll auf euch Nervensägen aufpassen, und das geht nicht vom anderen Zimmer …“, wurde pariert.
„Aber ich will DSDS gucken oder die Auswanderer oder die Germany’s Next Auswanderer im Internet, und die darf nicht einfach …“, legte Giulia nach.
„Ruhe! Beide!“ Ingo beendete das Schlangensatzduell und fischte das Buch herab.
Die unbändige Kinderwut hatte es geschafft, es zur Hälfte einzureißen und hochzuschleudern. Der Sonderpreisaufkleber verriet, dass es auf dem Wühltisch 1,99 Euro gekostet hatte. Dann war es nicht so schlimm. Die Hello Barbie wäre ein größerer Verlust gewesen.
„Ihr schaut die Auswanderer, da lernt ihr wenigstens noch was über andere Länder und die Doofheit der Menschen. Der Ton wird leise gedreht.“ Er drückte Susi das zerstörte Buch in die Hand. „Vorsichtig umblättern. Das hat Geld gekostet.“
Dann ging er wieder nach unten.
Im Wohnzimmer saß zu seiner Überraschung Fred, der Intellektuelle ihres Bingokreises. Er hatte ein Bier in der Hand, der mitgebrachte Sechserpack stand auf dem Boden. „Du spendierst den Kurzen“, rief er zur Begrüßung. „Aber nicht den schäbigen Grappa. Den guten.“
„Klar.“ Ingos Laune stieg. Giovanni musste den Kumpel hereingelassen haben. Der Abend konnte noch gut werden. „Gibt’s was Neues aus der Stadtverwaltung?“
„Nö. Nichts. Das Übliche.“ Fred trank von seinem Bier. „Haushaltsberatung, Bauhofstreiterei, die Flüchtlinge im Gerätehaus vom DRK untergebracht, bis die Formalitäten durch sind.“ Er nahm die Fernbedienung. „Läuft aber gut.
Freiwillige sind da, die Landfrauen backen wie verrückt, und die Jugendfeuer sammelt Spenden.“
Zapp. „… niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten …“
„Das Pack“, knurrte Ingo.
„Also, bitte! Die Landfrauen sind kein …“
„Witzig, Fred. Nein. Diese Flüchtlinge. Alles Asylbetrüger. Solche Balkaneros. Und wenn sie sich auskennen, sagen sie ihren Einbrecherkumpels, wo es was bei uns zu holen gibt.“ Er leerte seinen Wein und öffnete sich ein Bier.
„Arme Schweine, ja.“
„Nein, Pack. Kommt her und nervt uns. Bernd, der Bulle, hat gesagt, sie haben mehr Einbrüche als sonst, seit die hier sind.“ Ingo unterdrückte ein Rülpsen.
Fred lachte. „Die Rumänenbanden, die einbrechen, sind keine Flüchtlinge. Die sind eher genervt, schätze ich, weil jetzt alle Deutschen besser aufpassen, weil die bösen Flüchtlinge ja einbrechen und Katzen vergewaltigen wollen.“ Er tupfte mit dem Stift auf seinem Bingoblatt herum. „Aber bei denen, die wir zugeteilt bekamen, sind fast nur Syrer und welche aus Zentral- und Ostafrika.“
Zapp. „… erreichten die Verhandlungen mit den Gewerkschaften einen neuen Tiefstpunkt. Die Lohnforderungen von zehn Prozent mehr …“
Ingo lachte nicht. „Ich habe sie doch gesehen, in den neuen Klamotten und mit den Handys. Latschen rum und arbeiten nichts. Dann prügeln sie sich untereinander, weil einer Seiten aus dem Koran gerissen hat, und dann greifen sie noch die Polizei an.“ Das nervte ihn schon die ganze Zeit, und das Bier spülte es zusammen mit dem Wein an die Oberfläche. „Meine Kinder haben Angst, aus dem Haus zu gehen.“
„Ich nicht“, warf Giovanni ein. „Die sind echt nett.“
Ingo sah ihn verblüfft an. „Du hast mit denen gesprochen?“
Zapp. „… Was für ein Bier! Voller Geschmack und …“
„Klar. Ein paar von denen können ein bisschen Italienisch. Weil sie ewig dort festhingen.“
„Da, seht ihr? So läuft das! Die Mafia schiebt sie dann zu uns, nachdem sie die Leute abkassiert hat.“ Ingo kratzte sich im Schritt. Er konnte kein Italienisch, weil Domenica gut genug Deutsch sprach. Und sein Bier war leer. „Hast du dir die Hände gewaschen?“
„Oh, du bist das Klischee des besorgten Bürgers“, lachte Fred ihn aus. „Gut, die Balkan-Asylsucher würde ich auch wegjagen. Und dass sie Glaubenskonflikte mitbringen, das ist klar. So lange ist es nicht her, dass sich Katholiken und Protestanten bei uns abschlachteten. Aber die aus Syrien, die haben es echt hart. Oder aus Libyen. Kriegsgebiete sind unschön.“
Ingo freute sich auf das nächste Bier. Die Welt wurde dadurch einfacher. Je mehr Nebel im Hirn, desto klarer die Standpunkte. „Eine Kugel, und es wäre erledigt.“
„Wo die herkommen, hat man das versucht. Deswegen sind sie geflüchtet.“ Giovanni streckte die Hand nach einem Bier aus, aber empfing einen warnenden Blick von Ingo. Daraufhin nahm der seine tragbare Konsole und zockte weiter.
Zapp. „… Brustvergrößerung in Ungarn für nur 3000 Euro bezahlt. Nun aber machen Nina die Nähte Probleme. Sie muss in Deutschland …“
„Das alles bezahle ich von meinem Steuergeld“, murmelte Ingo und trank.
„Wie auch Polizeieinsätze bei Fußballspielen. Ich bezahle ja auch dein vierfaches Kindergeld mit und habe keinen Nachwuchs“, warf Fred ein. „Schätz mal, was tausendfünfhundert Mann Bereitschaftspolizei kosten, wenn die ausrücken müssen, weil bekloppte Hooligans Stress machen wollen, du alter Fußballfan.“
Ingo dachte an Bernd, den Bullen, der bestimmt eine Antwort gewusst hätte.
„’sne halbe Million“, erwiderte stattdessen Giovanni nebenbei. „Kam im Fernsehen.“
„So, das war ein Spiel. Jetzt nimm mal die ganzen Ligen, die ganzen Spiele und rechne.“ Fred markierte schon zum dritten Mal eine Phrase, die Ingo entgangen war.
„Aber da hat doch die Allgemeinheit was davon“, warf Ingo ein. Schon wieder eine leere Flasche, die dritte wurde geöffnet.
„Ich nicht“, sagte Giovanni. „Fußball ist scheiße.“ Er hob die Konsole. „Und schau: Ich koste Deutschland nix und zocke zusammen mit ganz vielen. Wir killen ganz friedlich zusammen.“
„Ist doch egal. Das ist doch deutscher Fußball“, sagte Ingo unwirsch und fühlte das Bier, das mehr und mehr die Oberhand gewann. „Diese Flüchtlinge kosten mein Geld und machen Dreck und bringen Krankheiten. Wie“, er suchte nach einer widerlichen Krankheit, „die Pest.“
„Nee. Das war in einem Nationalpark in Kalifornien. Eichhörnchen.“ Wieder redete Giovanni in seine Argumentation.
Zapp. „… die Talkshow mit den Themen: Werden wir überrannt? Wohin mit den …“
Fred lachte schon wieder. „Stimmt! Das habe ich auch gehört. Der Teufel ist ein Eichhörnchen.“
„Die sollen trotzdem woanders hin. So in ein großes Lager. Oder in dieses Naziding an der Ostsee. Prora. Da kann man die besser bewachen, und schön haben sie’s auch, so am Meer. Oder in alte Kasernen. Oder den Flughafen in Berlin, der nicht zustande kommt. Das wäre gut.“ Ingo blieb bierhart.
„Flüchtlinge in einen Kraft-durch-Freude-Bunker zu stecken, das hätte einen ziemlichen Beigeschmack“, warf Giovanni ein. „Mit Zaun sähe es nach Hoch-KZ aus, oder?“
Ingo trank und rülpste laut. „Du solltest die mal sehen, im Schwimmbad. Die gaffen den Mädchen nach.“
„Komm, das mache ich aber auch wie unsere Jungs. Deswegen geht man doch hin. Und heute weißte ja nicht mehr, ob die sechzehn oder achtzehn ist. Oder vierzehn“, sagte Fred konzentriert und lauschte auf den Fernseher. „Die kennen ja nur Vollverschleierte. Und du kannst dir rund um die Uhr Pornos ziehen.“
„Die haben Smartphones. Die können das auch“, brummte Ingo in seine halb leere Flasche.
Zapp. „… Ach, wissen Sie, was Amerika ohne illegale Einwanderer wäre? Nein, ich meine nicht die Mexikaner. Amerika wäre voller sogenannter Indianer, die First Nations. Die Europäer hätten dort niemals in der Menge …“
Giovanni legte die Konsole weg. „Sag mal, als ihr Deutschen den Krieg verloren habt …“
„Du auch. Du bist auch Deutscher“, schnarrte Ingo und fischte bereits nach der vierten, weil er sah, dass Fred seine erste geleert hatte. Er trank sich gerade warm.
„Mit italienischen Wurzeln.“
„Das ist noch viel schlimmer. So ein halber Verräter.“ Ingos Laune hob sich auch durch das Bier nicht, aber das Pöbeln war wesentlich leichter.
„Wir wurden von den Nazis befreit“, steuerte Fred bei. „Wenn der Österreicher gewonnen hätte, gäbe es gar keinen Spaß in Deutschland. Schlimmer als in der DDR, sage ich euch.“
„Unter Hitler hätte es das jedenfalls nicht gegeben.“ Ingo spürte, dass ihn Fred und Giovanni anstarrten, und er wurde sich bewusst, dass es kein Argument war. Nicht mal im Ansatz. „Das war jetzt Quatsch.“ Er lachte, um so zu tun, als wäre es scherzhaft gemeint gewesen. Diese Entgleisung ärgerte ihn selbst, weil er sich ansonsten zum Thema Flüchtlinge im Recht sah. Er schob es schnell auf das Bier, trank die dritte aus und öffnete die vierte Flasche.
„Haste gleich gemerkt, ne? Und war es ja mehr so, dass Deutschland damals aggressiv auswanderte“, sagte Fred süffisant.
„Also, die ganzen Vertriebenen kamen aus Preußen und Schlesien und sonst wo zurück. Habt ihr zu denen auch gesagt: ‚Pack, verpisst euch, ihr habt Krankheiten, seid arm und könnt nix‘?“ Er nahm sein Smartphone und tippte. „Oh. Da steht: Seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion 1991 kamen bis 2005 2,3 Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland, angezogen von der nahezu automatischen Einbürgerung, die von Berlin angeboten wurde, und dem Wunsch, mehr über die eigenen Wurzeln zu erfahren. Volksdeutsche aus Russland stellen die größte Gruppe unter den 4,5 Millionen Menschen mit volksdeutschem Hintergrund, die nach Deutschland eingewandert sind. Ganz schön viel.“
„Das waren Vertriebene oder deren Nachkommen. Oder Deutsche von noch früher. Das ist ein Unterschied.“
„Ja, und? Aber sie waren ganz früher kurz nach dem Krieg trotzdem arm und so.“
„Die hat man wenigstens verstanden.“ Ingo trank schneller und wünschte sich sehnlichst ein Bingo, um den Grappa aufmachen zu können.
„Die können Italienisch und Englisch“, wiederholte sein Sohn. „Der eine hat studiert, aber …“
„Hör mal zu! Dein Opa … nee, deine Oma, Freundchen, musste garantiert unterschreiben, dass sie keine Ansprüche an Deutschland stellt, als sie aus Preußen kam. Die bekam nix vom Staat. Gar nix. Ihre Verwandten mussten sie aufnehmen, und Arbeit gab es damals gar nicht. Und die?“ Er zeigte aus dem Fenster. „Kohle kriegen die. Und deine Mutter muss putzen gehen. Für euch. Damit ihr was zu essen kriegt.“
„Aber nur schwarz“, sagte Fred abwesend, der auf den Fernsehton hörte und auf seinem Zettel markierte. „Sonst kann ich mir Domenica nicht leisten.“
Zapp. „… zum Vergleich starben 7533 Menschen im Jahr 2010 durch Unfälle im Haushalt, im Straßenverkehr dagegen nur 3648. Insgesamt kommt es jedes Jahr zu etwa drei Millionen Haushaltsunfällen. Wie es …“
„Was ist, wenn Mamma bei dir von der Leiter fällt? Ohne Steuern, ohne Versicherung?“
Der Satz schwebte unheilvoll durchs Wohnzimmer.
Ingo sah Fred an. „Ja, was ist dann?“
„Ruf ich dich an, wir tragen sie zu dir, und wir rufen den Krankenwagen. Oder wir behaupten, die Flüchtlinge hätten sie überfallen“, versuchte er es mit einem Witz. „Und putzen müsste sie gar nicht gehen. Du kommst mit zweitausendfünfhundert im Monat nach Hause.“ Erst jetzt griff er nach seiner zweiten Flasche und merkte, dass das Sixpack geplündert war. „Netto.“
„Ich arbeite ja auch den ganzen Tag an einer Maschine. Das Pack arbeitet aber nicht und bekommt Geld.“
„Ich gehe auch nicht zum Fußball wie du und muss die Polizei bezahlen“, retournierte Fred und prostete ihm zu.
„Meine Freundin verdient weniger als einen Tausender und arbeitet genauso lange wie du. Und hat mehr Verantwortung“, warf Giovanni ein.
Ingo fand, dass der Junge das Verrätergen in sich trug. „Jetzt haltet mal die Klappe“, rief er. „Ich kann mich nicht konzentrieren.“
Zapp. „… sagte der Vorsitzende, Sozialschmarotzer und Steuerbetrüger gäbe es überall in Deutschland, die man …“
„BINGO und Schnaps her!“, schrie Fred und zeigte den Zettel.
Die Sozialschmarotzer brachten ihm den Sieg.
Als es am nächsten Morgen Sturm läutete, erhob sich Ingo Rusnici ziemlich verkatert, um zur Tür zu gehen, und dem, der ihn da störte, anzuschreien.
Um kurz nach sieben Uhr hatte er sich mit einem Anruf in der Firma krankgemeldet, das Bingospielen war ausgeartet. Dass man ihn aus den Federn zwang, motivierte ihn zu großer Gewaltbereitschaft.
Die Kinder saßen in der Küche, Giovanni machte allen Frühstück, weil Domenica auch noch schlief.
Im Morgenmantel öffnete er die Eingangstür und musste die Augen wegen des grellen Scheinwerferlichts zusammenkneifen. „Scheiße, was …“
„Das, liebe Freunde von Voy-TV, ist Ingo Rusnici“, hörte er die Stimme eines Mannes. „Er hat sich und seine Familie für Germany’s Next Auswanderer, das große 24-Stunden-Blitz-Überraschungs-Spezial, bei unserem Internetsender Voy-TV angemeldet. Und gewonnen!“ Dann erschien ein wohlduftender brünetter Mann in Jeans und Sakko neben ihm, ein Mikro in der Hand. „Ich bin Reise Rudi und der Moderator der neuen Internetsendung. Sagen Sie ruhig Rudi zu mir, Herr Rusnici. Sie und Ihre Lieben dürfen für einen Tag kostenlos an einen exotischen Ort voller Überraschungen und an einem weiteren Gewinnspiel teilnehmen, das Ihnen und Ihren Lieben eine Million Euro bringen kann. Sind Sie bereit?“
Ingo hatte die Bewerbung bei dem Internetsender Voy-TV und Germany’s Next Auswanderer total vergessen. Ihm fiel abstruserweise ein, dass Gewinnspiel ein Punkt beim Bingo gewesen wäre. „Ich bin noch …“
„Ja, das sind wir!“, schrie Giulia und erschien bereits an der Tür. „Toll! Das ist so toll! Papa, prima gemacht.“
„Ja, Papa Rusnici, prima gemacht“, wiederholte Moderator Rudi jovial und lachte falsch. „Plus die Aussicht auf eine Million Euro für den Neustart an einem neuen Ort dieser Welt.“ Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wohin wollen Sie denn auswandern?“
Am liebsten hätte Ingo gesagt: „Mir scheißegal. Ich will die Million.“ Aber er antwortete strategisch korrekt: „Wir haben verschiedene Ziele. Abwarten, wie das Spiel läuft.“
„Sehr gut!“, lobte Reise Rudi. „Und hier kommt die erste Challenge für die Familie: Sie haben zehn Minuten zum Packen. Los, los, los! Oder Sie sind raus.“
Kein Kaffee der Welt hätte belebender wirken können.
Die Kinder rannten bereits die Treppe hinauf und warfen, was sie fanden, in ihre Koffer.
Ingo weckte Domenica – immer verfolgt von einem Kamerateam und dem kommentierenden Reise Rudi – und erklärte der Verschlafenen, um was es ging. Sie machte sich mit vielen italienischen Flüchen ebenfalls ans Packen.
Nach genau zehn Minuten wurden die Koffer von Helfern eingesammelt und auf die Straße gebracht, wo eine Limousine wartete.
Alle stiegen ein. Ingo trug immer noch seinen Schlafanzug mit Bademantel drüber. Für eine Million konnte man sich auch mal zum Deppen machen.
„Damit fahren wir zum Flughafen“, erklärte Reise Rudi. „Sie haben die erste Challenge von Germany’s Next Auswanderer geschafft. Erzählen Sie doch den Zuschauern, wer Sie sind, liebe Familie.“
Die Fahrt verlief recht schnell, der Moderator löcherte sie mit Fragen und erklärte auch ganz viel: dass die Rusnicis eine Patchworkfamilie waren, dass es eine deutsch-italienische Liebesgeschichte sei, dass Ingos Vorfahren zum Teil aus Jugoslawien stammten. Und überhaupt waren die Leute sehr gut informiert. Vom Einkommen bis zu den Hobbys der Kinder.
Auf dem Flughafen stiegen die Rusnicis in einen großen Hubschrauber, mit dem es durch die Lüfte ging. Reise Rudi gewährte ihnen auch dabei keine Pause, sondern schoss Fotos, machte Einzelinterviews und redete die ganze Zeit davon, was man mit einer Million anstellen könnte und welche Ziele dabei in Betracht kamen, die sich Ingo spontan ausdachte.
Dann senkte sich der Hubschrauber.
„Denken Sie dran: Für vierundzwanzig Stunden erleben Sie kostenlos eine exotische Welt, in der Abenteuer lauern. In genau einem Tag holen wir Sie hier wieder ab. Kameras beobachten Sie die ganze Zeit“, erklärte Reise Rudi und reichte ihnen ein Smartphone. „Damit haben Sie persönlichen Kontakt zu mir und den Zuschauern. Filmen Sie schön damit und verlieren Sie es nicht. Das geht in einen Stream.“
„Und die Challenges? Wie kommen wir an sie heran?“, erkundigte sich Ingo, der gerade realisierte, dass er nicht zum Umziehen gekommen war.
„Die erkennen Sie. Ist wie im Dschungelcamp. Und immer auf das Smartphone achten.“ Die Ladeluke öffnete sich, die Helfer warfen die Koffer einfach hinaus auf die Straße. Der wirbelnde Staub verhinderte einen genauen Blick auf die Umgebung. „Viel Glück!“
Bevor Ingo nachhaken konnte, wurde auch er unsanft aus dem Helikopter befördert, der sofort dröhnend abhob und die Familie am Boden zurückließ.
Die Kleidung der Rusnicis wehte im mechanisch erzeugten Wirbelsturm, der Saum des Bademantels drückte sich um Ingos blanke Beine.
Es dauerte, bis sich der aufgewirbelte Staub legte und die Familie sah, wo man sie abgesetzt hatte.
„Exotisch?“ Giovanni legte die Hand über die Augen, weil eine heiße Sonne auf sie niederbrannte. „Alter, das sieht schlimmer aus als in den runtergekommensten Ecken von Chemnitz.“
„Oder wie in Tschernobyl.“ Domenica blickte sich um wie der Rest.
Ingo sah schlichte Betonhochhäuser, die meisten von ihnen gezeichnet vom Verfall, von Löchern, von Brandflecken. „Nein. Das ist ein Truppenübungsplatz“, befand er.
„Genau! Sie schicken uns bestimmt ein zweites Team, das gegen uns antritt.“ Giovanni klang begeistert. „Geil. Vierundzwanzig Stunden Paintball.“
„Also, exotisch. Ich weiß nicht.“ Domenica nahm Petrick auf dem Arm, während sich Susi und Giulia neugierig umschauten. „Es ist einfach nur verwüstet. Was genau stand in den AGB von diesem Spiel?“
„Germany’s Next Auswanderer.“ Ingo wusste es nicht. Er hatte Aufschriften auf den Hausfronten entdeckt, die über aufgemalten Pfeilen standen. „Ist das Türkisch?“
„Arabisch“, antwortete Giovanni.
„Woher weißt du das? Von deinen Flüchtlingsfreunden?“
„Nee. World of Battles Online, Wüstenlevels.“
Leise grollte es aus den Straßenschluchten, leises Knattern erklang wie von defekten Mopedmotoren. Ganz selten vernahmen sie das Brummen von Autos oder gerufene Unterhaltungen, die sie nicht verstanden. Es war heiß, obwohl die Sonne nicht im Zenit stand, und der Geschmack von Staub blieb in der Luft, legte sich auf Zunge und Gaumen.
Nichts geschah.
Eine drückende Stimmung senkte sich auf die Rusnicis, ohne dass Ingo es zu spezifizieren vermochte: Unwohlsein, Unbehagen, Paranoia und wie von versteckten Augen beobachtet.
In den zerstörten Fenstern wehten durchlöcherte Planen und flatterten, raschelten; gelegentlich huschten Schatten durch Hauseingänge oder hinter den Öffnungen in den Gebäuden vorbei. Er wusste nicht, ob es Tiere oder Menschen waren.
Weit entfernt knatterte es wieder, dann erfolgte eine dumpfe Explosion. Zwischen den halbzerstörten Gebäuden stieg in weiter Entfernung eine schwarze Rauchsäule in den blauen Himmel.
„Mamma, ich hab Durst“, meldete sich Giulia plötzlich verschüchtert.
„Ich habe nichts zu trinken eingepackt, Liebes. Wir schauen uns mal um. Hier kann man bestimmt was kaufen.“ Sie hielt die Hand auf. „Ob die Euros nehmen?“
Ingo sah an sich hinab und klopfte den allgegenwärtigen Staub vom Morgenmantel. „Ich habe keinen Geldbeutel dabei.“ Er kam sich in seinem Aufzug albern vor, Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Giovanni hob die Augenbrauen. „Ich habe auch nichts dabei. Mir hat nämlich jemand die Kohle gestrichen.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
Alle schwitzten. Die Stimmung schien weiter zu kippen, die Kinder drängten sich bis auf Giovanni an die Mutter. „Leitungswasser gibt es zum Glück kostenlos“, tröstete sie und warf Ingo einen vernichtenden Blick zu.
„Woher soll ich denn wissen, dass wir Stalingrad nachspielen?“ Er trottete hinterher.
Stalingrad in der Wüste, genauso stellte er sich das vor. Im polnischen Fernsehen hatte man eine Familie einmal zurück in die Nazizeit geschickt. Das hier war sicher auch so was in der Art. Er hätte wirklich besser auf die AGB achten sollen.
„Bella! Das haben die mir nicht gesagt. Denk an die Million!“ Ingo blieb stehen und kehrte zum Koffer zurück. Er wollte sich wenigstens rasch umziehen.
Seine Frau sagte irgendwas mit stronzo und ging derweil unsicher über die Schuttberge auf die Kreuzung zu.
Noch bevor sie um die Ecke bog, blieb sie stehen und schlug eine Hand vor den Mund, dann scheuchte sie die Kinder wieder zurück.
Giovanni zog seine Schwestern an sich, die nicht wussten, was vor sich ging.
„Was ist denn?“ Ingo ließ das Umziehen sein und schloss besorgt zu ihnen auf.
Er blickte um die Ecke und sah einen zerstörten Straßenzug entlang, der eine zerbombte, aufgebrochene Straße säumte, aus der geborstene Leitungen und Kabel wie Knochen und Adern eines rätselhaften Wesens herausstanden.
In einem der flachen Krater lag ein Stoffbündel, auf dem irgendwelche Vögel, deren Art ihm unbekannt war, hin und her hopsten.
Hielt Ingo es zuerst für einen Sack Müll, den jemand verloren hatte, sah er dann das feuchte, rötliche Glitzern, auf das die Schnäbel einhackten. „Wer wirft denn Fleisch …“
Dann sah er, was Domenica gemeint hatte.
Keine zwanzig Schritte entfernt lag ein Kinderkörper in einem verblichenen, braunen Kleid.
Arme und Hände waren ausgestreckt, vom tuchverhüllten Kopf führte eine gerade, dunkelbraune Spur über den Bodenbelag, als wäre der Schädel unter dem Stoff explodiert. Die Haut an den Fingern spannte sich mumifiziert eng um die Knochen, teilweise mussten die Vögel und Ratten sie angenagt haben.
„Die … geben sich Mühe.“ Ingo wusste nicht, was die Macher der Sendung damit bezwecken wollten, erschossene Kinderdummies herumliegen zu lassen. Horror? Grusel? „Es sieht … echt aus.“
Er fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und sagte sich, dass es nur eine Puppe war. Trotzdem freute es ihn, dass man das zerstörte Gesicht nicht sah. Es ging vermutlich wegen der FSK-Freigabe im Fernsehen nicht anders. Die Million hatten sie sich jetzt schon verdient.
„Wir gehen die andere Straße entlang“, entschied er, um den Kindern den Anblick zu ersparen, bis er auch dort menschliche Umrisse auf der Straße liegen sah. Noch mehr als im Abschnitt vor ihnen. „Nein, doch nicht.“ Er wandte sich zu ihnen. „Das ist alles nur ein Spiel“, schärfte er ihnen ein. „Die Augen zur Wand und uns hinterher.“
„Da! Da drüben ist ein umgestürzter Lastwagen mit Wasser“, rief Giovanni und zeigte auf eine Seitenstraße, etwa fünfzig Meter entfernt. Er wirkte als Einziger noch halbwegs enthusiastisch und motiviert, das Spiel ohne Vorbehalte zu beginnen. „Gehen wir da hin und warten, bis wir die Challenge bekommen.“
„Ich weiß nicht“, sagte Domenica. „Ich würde es gerne sein lassen.“
Ingo hörte ein Ping-Geräusch von seinem Smartphone. Auf dem Display erschien das Moderatorengesicht von Reise Rudi.
„Na, liebe Familie Rusnici? Haben Sie schon erkannt, wo Sie sich befinden?“
„Tschernobyl“, rief Domenica. „Und holen Sie uns ab. Wir geben auf.“
„Truppenübungsplatz der Amerikaner“, antwortete Ingo, ohne dass er das schlechte Gefühl loswurde.
„Nein, das ist leider nicht richtig. Sie befinden sich in Aleppo. Das war einst Syriens wichtigste Wirtschaftsmetropole und ein wundervoller Ort zum Leben. Seit Mitte 2012 ist die Stadt geteilt zwischen Regierungs- und Oppositionskräften. Und zu Ihrer Info: Der Bürgerkrieg in Syrien dauert inzwischen mehr als vier Jahre an und hat zweihundertzwanzigtausend Menschenleben gekostet.“
„Das ist ein makaberer Scherz!“, stieß Ingo aus. Seine Augen richteten sich auf die Kinderleiche, und er verstand: Sie war echt.
In seiner Vorstellungskraft sah er Giulia dort liegen.
Giovanni.
Susi.
Petrick.
„Mein Gott!“, stöhnte er.
„Haben Sie mich vorhin gehört: Wir ziehen unsere Bewerbung zurück“, schrie Domenica. „Das ist ja wohl große Scheiße. Zynismus pur! Schlimmer als Promi Big Brother.“
„Um ganz präzise zu sein: Das ist der Stadtteil Salah Al-Din, an der Front zwischen Opposition und Regierungstruppen. Man nennt ihn auch die Stadt der Scharfschützen“, erklärte Reise Rudi. „Ihre Challenge ist, liebe Rusnicis: Gehen Sie zum Wassertransporter, nehmen Sie sich jeder eine Flasche und kehren Sie zu Ihrem Gepäck zurück. Diese Seitenstraße, in der wir Sie abgesetzt haben, ist relativ sicher. Danach müssen Sie nur überleben.“
„Aber …“ Ingo wollte es nicht glauben und schaffte es, den Blick von dem erschossenen Kind zu wenden.
„Ich an Ihrer Stelle würde mich beeilen“, unterbrach ihn der Moderator. „In etwa einer halben Stunde kommt ein Hubschrauber der syrischen Armee und wird eine Fassbombe auf den Lastwagen abwerfen, weil man weiß, dass Wasser sehr kostbar ist und es im Umkreis um die Ladung viele Menschen gibt, die man töten kann.“
„Ich glaube das nicht“, raunte Giovanni. „Die verarschen uns. Das ist so ein Prankster-Ding, nur in krass.“
Sollte das so sein, würde Ingo dieses Voy-TV verklagen. Dann erinnerte er sich, dass die Endung der Internetadresse auf .to lautete. Das war nicht gut.
„Noch ein Tipp: Jede Bewegung ist ein Risiko. Pressen Sie sich eng an Hauswände, wenn Sie daran entlanglaufen, und rennen Sie, so schnell Sie können. In der Mitte der Straße zu gehen ist Selbstmord“, instruierte sie Reise Rudi. „Denken Sie einfach an die Million.“
Ingo dachte nicht eine Sekunde an das Geld.
Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt, er sah die Menge an verformten Projektilen und Hülsen jeder Größe um sie herum liegen, mal verdreckt, mal neu und glänzend. Die schwarze Rauchsäule über der Stadt hatte sich ausgebreitet.
Sein Verstand weigerte sich noch, das Gehörte und Gesehene als real zu akzeptieren. „Holen Sie uns sofort hier raus“, raunte er.
„In genau … dreiundzwanzig Stunden und einunddreißig Minuten. Kommen Sie, Herr Rusnici. Die Menschen schaffen es oftmals jahrelang, in dieser Hölle zu überleben, bevor sie genug Geld haben und von Schleusern rausgebracht werden.“
„Ist das hier ein Experiment oder so? Wie in Die Welle?“, rief Giovanni von hinten. Reise Rudi verlor seine aufgesetzte Freundlichkeit. „Sie wollen die Wahrheit?“
Ingo war sich nicht sicher, ob der die Möglichkeit eines Albtraums, in dem er dank Bingosuff steckte, oder eine TV-Show bevorzugte, doch seine Lippen sagten bereits: „Ja.“
Am Lastwagen tauchten nun Männer, Kinder und Frauen auf, die zu den verstreuten Flaschen hetzten, sich welche nahmen und sofort wieder in die Deckung der Ruinen sprangen.
Der Mann lehnte sich nach vorne. „Mein Name ist Gerold Rathmeier, ich bin der Deutsche im internationalen Team von Peacemaker. Als Voy-TV haben wir Sie unter Vorspiegelung eines Gewinnspiels entführt und nach Aleppo gebracht, hier ausgesetzt und filmen, wie Sie vierundzwanzig Stunden überleben. Falls Sie überleben. Aber trösten Sie sich, es sind noch mehr darauf hereingefallen.“
„Das ist nicht wahr!“, kreischte Domenica. „Meine Kinder!“
„Peacemaker ist eine militante Friedensorganisation, die die Regierungen der Welt zum Handeln zwingen will. Indem wir entführen. Jene, die uns besonders durch Hetze im Internet aufgefallen sind, oder einfach nur willkürlich, um sie in die gleiche Situation zu stecken wie die Syrer und alle Flüchtlinge, bevor sie vor dem Krieg fliehen konnten. Diese Filme stellen wir ins Netz“, erklärte Rathmeier. „Niemand ist vor uns sicher. Wir agieren weltweit.“
Ingo wusste, dass er gerade nicht verarscht wurde. „Dann gibt es keinen Millionengewinn?“ Manchmal wunderte er sich über die Ausgeburten seines Hirns.
Rathmeier zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Sollten Sie überleben, natürlich. Aber bisher musste ich nichts auszahlen.“
„Wie können Sie für Menschenrechte kämpfen, wenn Sie uns in den Tod schicken? Sie spielen mit uns! Sie sind schlimmer als die hier“, schrie Domenica und presste Petrick an sich, während Giovanni die Dächer im Auge behielt. Alle hatten sich inzwischen gegen die Wand gedrückt.
„Es tut mir leid, aber Peacemaker muss das tun. Wir verstehen es als Erinnerung der zivilisierten Welt an das, was tagtäglich geschieht, weil sie nicht handelt, und als eine Mahnung an sie“, erwiderte Rathmeier. „Europa lebt zu lange ohne Krieg, um das Grauen noch zu kennen. Das ist unsere Art der Abschreckung gegen die Abstumpfung und die Mitleidslosigkeit der reichen Länder, die sich blind, taub und dumm stellen.“ Er lehnte sich nach vorne und blickte genau in die Kamera. „Wenn es schon nicht zieht, dass syrische Kinder abgeknallt werden, dachten wir uns, wir bringen andere ins Spiel.“ Rathmeier blickte auf seine Armbanduhr. „Weniger als zwanzig Minuten, bis der Fassbomber kommt. Und behalten Sie das Handy. Ohne das GPS darin können wir Sie nicht lokalisieren.“
Ingo steckte es in die rechte Bademanteltasche. Er sah zum Lastwagen und zuckte zusammen, als es plötzlich laut knallte.
Es war ein trockenes Peitschen mit einem rollenden Nachhall; das Echo kehrte von den durchsiebten Wänden in die Straßen zurück.
Neben dem Lkw fiel ein Kind einfach um, verlor die beiden Flaschen, die es unter den Armen gehalten hatte, und blieb mit verdrehten Gliedmaßen liegen.
Die Menschen verschwanden schlagartig hinter Trümmern oder in den Hauseingängen.
Die Rusnicis kauerten sich an die Wand, die Mädchen und Petrick weinten leise.
„Wir gehen keinesfalls zu diesem Laster“, flüsterte Ingo. „Der Mensch kann drei Tage ohne Wasser aushalten. Wir schnappen uns die Koffer und verkriechen uns.“ Er streichelte und küsste Giulia und Petrick, das Gleiche tat er mit Susi und Giovanni. „Wir schaffen das.“ Dann sah er Domenica flehend in die Augen. „Ich wusste nicht, dass es kranke Schweine sind.“
Er würde sich einen Plan B überlegen, wenn der Hubschrauber nicht auftauchen sollte. Seine Familie musste überleben. Irgendwo musste es doch eine Botschaft geben. Oder er nutzte das Smartphone, gleich, sobald sie sicher waren.
Sie schwieg und nickte nur. Es gab im Moment Wichtigeres als Vorwürfe: das nackte Überleben.
Giovanni kroch als Erster los und hatte die Kreuzung erreicht.
„Die Koffer sind weg“, rief er aufgeregt und stand auf, um besser sehen zu können. „Jemand hat sie …“
Es knallte, dieses Mal lauter und dichter an ihnen dran.
Giovanni duckte sich sofort wieder, warf sich flach hin.
„Alles gut?“, schrie Ingo in Panik.
„Nichts passiert“, kam die Antwort seines Sohnes.
„Gut. Dann nichts wie weiter.“ Ingo wandte sich zu Domenica um.
Seine Frau lehnte an der Wand, die Augen weit aufgerissen und Petrick fest an sich gedrückt, der sich ebenso wenig rührte. Die Kugel des Scharfschützen hatte Sohn und Mutter umgebracht, durch den kleinen Rücken in die Brust der Frau. Die Mauer dahinter hatte sich mit dem Rot des Blutes der beiden gefärbt und ein wirres Pünktchen- und Schlierenmuster geschaffen.
Giulia und Susi bemerkten es im gleichen Moment wie Ingo. Sie schrien auf und stoben in verschiedene Richtungen davon.
„Nein! Um Himmels willen, bleibt!“ Ingo bekam Giulia an den Haaren zu packen und riss die Schluchzende brutal zurück, presste sie an sich.
Wieder ein Schuss.
Susi gab einen Ächzer von sich, während ihr Rücken sich durch den Stoff rot färbte und zeitgleich ein faustgroßes Loch erschien. Sie taumelte, stürzte mit dem Gesicht voraus in einen Krater und verschwand aus Ingos Blickfeld.
In der grauenhaften Stille erklang ein ganz leises metallisches Klirren, dann sprang die frisch ausgeworfene Patronenhülse blinkend in die Höhe und zeigte sich wirbelnd, hüpfte über die Straße und rollte klingelnd, bis sie stilllag. Sie stammte aus dem Gewehr des Mörders und war gar nicht groß. Aber sie hatte ausgereicht. Sie und das Projektil.
Ingo sah das verspritzte, glitzernde Blut auf der Straße, das seiner Tochter gehörte. Dann drehte er den Kopf zu seiner erschossenen Frau und seinem toten Sohn. Der metallische Kupfergeschmack setzte sich auf den Staub und überlagerte ihn.
„Das …“ Er hob die zitternde Hand und berührte Domenica im Gesicht, auf deren Zügen eine rätselhafte Ausdruckslosigkeit lag.
Es knallte, und neben seinem Kopf platzte der Stein ab. Dieses Mal hatte der Scharfschütze ihn knapp verfehlt, und ein lautes Lachen erklang von irgendwoher.
Ingo gefror in der Bewegung, die Fingerkuppen ruhten weiter auf der noch warmen Haut Domenicas.
Er konnte sich nicht mehr rühren.
Gar nicht.
Er hielt die kreischende Giulia mit einer Hand an sich gepresst und erstickte sie fast dabei, der Schock brachte alles zum Stillstand: die Gedanken, die Arme und Beine. Die gebrochenen, braunen Augen seiner Frau, mehr sah er nicht. Die leeren Augen und das Blut an der Wand hinter ihr, aufgefächert wie ein detonierter Heiligenschein.
„Komm da weg“, rief Giovanni außer sich. „Scheiße! Komm da weg!“
Noch ein Schuss.
Der Einschlag des Projektils erfolgte auf der anderen Seite seines Kopfes, Dreck spritzte schmerzhaft in seinen Nacken, und wieder lachte jemand.
Ein Spiel. Es war für den Scharfschützen nur ein Spiel.
Das Knattern der Rotoren nahm Ingo nur beiläufig wahr, über ihn huschte ein Schatten hinweg.
Vermutlich hatte der Mann dort oben einen Opfer-Bingo-Zettel oder eine Punktetabelle, und Ingo fragte sich, wie viel ein westlicher Idiot im Bademantel brachte. Sein Hirn überraschte ihn erneut, rang mit der realen Surrealität des Moments der Erkenntnis.
„Die Fassbombe!“, schrie Giovanni wie von weit, weit entfernt. „Sie werfen die Fassbombe!“
Aus dem Augenwinkel sah Ingo etwas Großes neben den Lastwagen mit den Wasserflaschen aus dem Himmel fallen und aufschlagen.
Im gleichen Moment erfolgte die Detonation.
Nachtrag:
Das Ende der Familie Rusnici wurde drei Tage später von der Gruppe Peacemaker im Internet veröffentlicht. Mit allen Details, manchmal nur die Tonspur, wenn es lediglich die Aufzeichnungen des Smartphones gab, da sich keine Kamera in der Nähe befand.
Laut der Beobachtungsstelle der Rebellen warfen Hubschrauber der syrischen Armee eine Bombe über dem von Rebellen kontrollierten Viertel Aleppos ab. Dabei seien außer den Rusnicis zwölf Menschen ums Leben gekommen. Zwei Kinder wurden verstümmelt, kleine Läden zerstört und der Lastwagen in Brand gesetzt.
Ankündigung von Peacemaker nach dem zehnten Video dieser Art, O-Ton:
„Wir kündigen an, dank unserer aktuellen Bekanntheit unsere Einladungsstrategie in die schlimmsten Krisenherde dieser Erde zu verändern. Ab sofort arbeiten wir mit Entführungen.
Nur Kinder aus sogenannten zivilisierten Ländern, die wegschauen. Bis die Welt handelt. Die Liste ist lang.“
Zwei Tage später verschwand die achtjährige Jennifer Simmons, Texas, USA. Am Entführungsort wurde wie an vielen weiteren eine Visitenkarte von Peacemaker gefunden.
Ihr Verbleib ist unbekannt.
Nachwort und Interpretation
„In 20 Monaten wurden 389 Kinder von Scharfschützen in Aleppo getötet. Hunderte andere haben die Schüsse zwar überlebt, leiden aber an lebenslangen Behinderungen.
Laut UN fliehen jeden Tag 5000 Menschen aus Syrien, 28 Prozent aller Syrer sind aus ihren Häusern vertrieben worden. Zwei Millionen Menschen haben das Land verlassen und 4,25 Millionen sind auf der Flucht im eigenen Land.“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung online, 18. August 2015).
„Fassbomben sind mit Sprengstoff gefüllte Ölfässer, deren Abwurf über bewohntem Gebiet wiederholt von Menschenrechtsgruppen und in einer UN-Resolution verurteilt wurde.
Die syrische Regierung soll bereits vielfach Fassbomben abgeworfen und damit Tausende Menschen getötet haben.
Syriens Präsident Baschar al-Assad bestreitet den Einsatz der improvisierten Explosionswaffen. Jedoch verfügen von allen in den syrischen Bürgerkrieg involvierten Parteien nur seine Streitkräfte über die für den Einsatz der Bomben erforderlichen Hubschrauber.“ (Quelle: Zeit online, 30. Mai 2015)
Wer es nun wagt, solchen Menschen Hilfe zu verweigern, zeigt seine grenzenlose Dummheit.
Wie so oft gilt im Leben: Was man nicht selbst erfahren hat, kann man nicht immer begreifen, gelegentlich nicht mal im Ansatz verstehen.
Mein Anliegen war es, zu zeigen, wie unvorstellbar es für einen Menschen aus einem friedlichen Gebiet wie Deutschland sein muss, diesen Horror in seiner ganzen Dimension zu begreifen.
Man sieht das Leid, das Elend, das Sterben jeden Tag, nahezu ohne Zeitverzögerung in den Nachrichten. Jeder, der Kinder hat und sein Kind liebt, ahnt, wie schrecklich es sein muss, an solchen Orten zu leben.
Dann sieht man Sekunden später Deutsche im Fernsehen, die gegen Flüchtlinge hetzen, sie beschimpfen, ihnen mit dem Tod drohen.
Sie haben keine Ahnung, was Tod bedeutet. Sie leben in Deutschland.
* * *