Rochefort: Memoiren
Zwanzig
»Hexenhöhle?«
Ich vermutete, damit wollte man mich, den Fremden, nur aufziehen, obwohl dieser englische Freisasse mich durchaus ernst anschaute.
»Das Loch von Wookey da oben. Die Hexe lebt seit der Zeit meines Urgroßvaters dort. Allerdings glaube ich, dass Doktor Fludd und sie ganz gut miteinander zurechtkommen. Ned! Komm her, du Trottel, und tu, was der Master will. Master Herault, das ist mein Sohn: Edward Field.«
Der englische Junge verneigte sich unbeholfen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass man mir einen Mann zuteilen würde, der mich überwachen und Aemilia Lanier sofort Bericht erstatten würde, sollte ich etwas tun, was Doktor Fludd nicht gefiel. Aber ein knapp zwanzig Jahre alter Junge mit einem Knüppel statt eines Schwerts im Gürtel? Ich hob die Augenbrauen. Ich habe nie recht verstanden, warum der eine Engländer als Gentleman galt und der andere als Bauer.
Der Junge führte mich nach Norden. Das Land im Süden war voller Apfelbäume, deren weiße Blüten das Gras bedeckten. Insgesamt war das Land hier jedoch nicht so kultiviert wie weiter im Süden, von wo wir gekommen waren. Wir stiegen den Pfad von der Mühle zur Höhle hinauf. Ich dachte darüber nach, dass mir an diesem Abend kein Bursche zur Verfügung stand, um mir den Dreck von den Stiefeln zu putzen. Edward Field machte eine Bemerkung über den ungewöhnlich späten Frühling, brach einen Zweig von einer Haselnusshecke ab, an der wir vorüberkamen, und steckte ihn sich ins Knopfloch.
Ich deutete auf sein rotbraunes Wams. »Habt Ihr das aus einem besonderen Grund gemacht, Monsieur?«, fragte ich.
»Nein. Warum, Master?« Er begann, über die Apfelplantagen zu plappern, das Beschneiden von Bäumen und den Bach, der das Mühlrad antrieb … Er redete über alles, nur nicht über das, was meiner Auffassung nach eindeutig mit bäuerlichem Aberglauben zu tun hatte. Der Gleichmut seines Vaters fehlte ihm offensichtlich.
Sollten die anderen Bauern in der Gegend genauso denken wie dieser Junge, wird es Fludd nicht schwer fallen, sie von der Höhle fernzuhalten.
Mein Interesse an Landwirtschaft ist ausgesprochen gering. Der Pfad zur Höhle hinauf war schmal und voller Feuersteinsplitter und Steine, und Regenwasser rann unter unseren Stiefeln den Hang hinunter. Wenn hier auch nur einen halben Tag lang Höflinge und Diener entlangliefen, würde es der reinste Sumpf sein.
Ich zügelte meine Gedanken. Das geht mich eigentlich gar nichts an.
Das war typisch für jeden Agenten, der ein falsches Spiel spielte: Wenn man sich zu sehr auf etwas konzentrierte, wurde es alsbald wirklich zu einem Problem für einen selbst.
So lenkte ich meine Gedanken in eine neue Richtung: Ich habe mir den Weg hierher gut eingeprägt. Zurück und ohne Wagenzug schaffe ich es in der Hälfte der Zeit.
»Kümmert sich Euer Vater schon lange um die Geschäfte von Doktor Fludd?«, fragte ich in Gedanken an Cecil und dessen unendliche Neugier.
»Die letzten paar Jahre, Sir.«
»Und Eure Druckerpressen sind nicht beschlagnahmt worden?«
»Nein, Sir.«
Er hielt das offenbar nicht für eine seltsame Frage. Ich fragte mich, ob meine Vermutungen darüber, warum Monsieur Fludd eine Papiermühle und Druckerpresse an solch einem entlegenen Ort besaß, unbegründet waren. Das hier war der ideale Ort, um häretische Pamphlete, okkulte Bücher und rebellische Traktate zu drucken …
Nun, ich werde mir mal ein wenig genauer ansehen, was so auf die Pferde und Wagen verladen wird, bevor es wieder zurückgeht. Auch wenn ich keine Beweise für eine Verschwörung würde zusammentragen können, war ich sicher, dass Messire Cecil mit ebenso großer Freude einen schwarzen Magier und politischen Agitator vor Gericht stellen würde.
Der Hügel war hoch und steil, der Weg grün von Gras und rutschig von Moos: Bewaffnete konnten hier nur schwerlich hinauf. Ich warf einen Blick zurück und blieb kurz stehen, um Luft zu holen. Die Mühle selbst konnte leicht eingenommen werden. Außerdem war die Straße besser als an den meisten Bauernhöfen, an denen wir vorbeigekommen waren, da ja auch ständig Transportkolonnen hier eintrafen. Kavallerie konnte leicht bis zur Mühle vorstoßen, doch dann war da der Fluss zwischen ihnen und der Höhle …
Du wirst nicht Mylord Cecils Arbeit machen.
Ich lächelte vor mich hin. Aus Gewohnheit, und weil ich das schon oft für Messire de Sully gemacht hatte, prägte ich mir alle Einzelheiten ein, weil man nie wusste, wozu es gut sein mochte.
Wir stiegen den steileren Teil des Pfads empor. Er führte auf eine flache, weite Fläche vor einer Felswand. Der Höhleneingang war dunkel, einfach und größer, als ich erwartet hatte.
»Hier, Master.« Ned Field holte zwei Pechfackeln aus seiner Tasche, zündete sie an und reichte mir eine. Ich folgte ihm hinein. Das Licht wurde trübe, und ich blieb kurz stehen, damit meine Augen sich daran gewöhnen konnten. Unmittelbar hinter dem Höhleneingang wehte mir kalte Luft ins Gesicht. Irgendwo tropfte Wasser, und das Geräusch hallte laut von den Wänden wider. Meine Stiefel rutschten über den mit Moos bedeckten Fels. Ich hob die Fackel und sah vor uns einen steil abfallenden Pfad. Schatten tanzten über die rauen Wände.
Der Fieldjunge schloss die Hand um den Haselnusszweig. Als er ihn wieder losließ, sah ich einen Blutstropfen auf seinem Handschuh. Die Augen, mit denen er mich im Fackellicht anschaute, waren schneeweiß.
»Wir kommen normalerweise nicht hier herauf. Nur manchmal bringen wir Gaben für die Hexe. Das ist ein böser Ort.«
Warum sagst du mir nicht gleich, dass hier sei wie die Broceliande von Feen heimgesucht! Ich ließ mir meine Verachtung nicht anmerken und nickte ihm nur zu vorauszugehen. Fludd gehörte dieses Land ohne Zweifel schon lange genug, dass er bequem für die Verbreitung der Hexenlegende hatte sorgen können.
Ich berührte die Wände, an denen wir vorüberkamen. Sie waren trocken und rau, und das Fackellicht verlieh ihnen einen sandfarbenen Ton mit dunklerem Fels dazwischen. An mehreren Stellen hatten sich Stalagtiten und Stalagmiten gebildet. Hier und da musste ich mich ducken, um voranzukommen. Die englischen Höflinge würden hier gut zurechtkommen; nur wenige waren so groß wie ich. Ich prägte mir die unterschiedlichsten Dinge ein, die sowohl Fludd als auch Cecil würden wissen wollen.
Wir stiegen ein paar aus dem Fels gehauene Stufen hinab, wo der Durchgang enger wurde. Ich hörte Ned Field in der Stille atmen. Vor uns lag eine große Dunkelheit. Ned Field führte mich in eine Kaverne. Im Fackellicht sah ich einen mit Schiefer durchsetzten Boden, der einem Flussbett glich. Dann entdeckte ich auch fließendes Wasser zu meiner Rechten, tief und mit einer täuschend ruhigen Oberfläche.
»Das ist der River Axe«, murmelte Field. »Er wird Euch unweigerlich nach unten ziehen, solltet Ihr hineinfallen. Manchmal steht das Wasser so hoch, dass man nicht bis hierher kommen kann.«
Geröll knirschte unter meinen Stiefeln, als ich Ned weg von dem unterirdischen Fluss und einen steilen Hang hinauf folgte, von wo es in eine niedrigere Kaverne ging.
An den Seiten spiegelten sich sowohl unsere Fackeln als auch die Stalagtiten in Pfützen. Die Luft fühlte sich kühl an – und ich vermutete, dass sich daran weder im Sommer noch im Winter etwas änderte.
Ich lächelte und dachte bei mir, dass diese Kavernen einen hervorragenden Weinkeller abgeben würden.
»Hier.« Field hob die Fackel und blieb stehen.
Vor uns öffnete sich der Gang abermals in eine große Kaverne, groß genug, um als Festsaal zu dienen, und mit einer Decke, die niemand als niedrig betrachten konnte. Ich ging weiter und trat in Wasser, als ich die Mitte der Kammer erreichte. Ich hob die Fackel und sah einen kleinen Bach zu meinen Füßen. Ein Nebenfluss der Axe?
Jenseits davon befand sich eine große, ebene Fläche, von der kleine Höhlen abgingen. Zu meiner Linken spiegelte sich das goldene Licht der Fackeln in einem großen Teich.
»Gibt es noch weitere Höhlen hinter dieser hier?«
»Ja.« Dem Jungen klapperten die Zähne.
Er führt mich vielleicht in eine Falle, dachte ich und trat über den kleinen Bach hinweg. Nur weil mir kein Grund einfällt, warum er das tun sollte, heißt das noch lange nicht, dass er es nicht tun wird …
Er schloss wieder zu mir auf, als ich gerade eine der kleineren Höhlen verließ, die sich an die große anschlossen. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
»Das ist ideal«, erklärte ich. »Die große Höhle für das Bankett und das Maskenspiel, die kleineren Höhlen für die Schauspieler, Diener und Köche. Wäre es möglich, Männer von der Mühle oder aus dem Dorf provisorische Holzbrücken bauen zu lassen für den Fall, dass der Fluss ansteigt?«
Ned Field zuckte unwillkürlich zusammen, als hätte ich ein zotiges Lied in der Kirche gesungen. »Wenn Ihr sie gut bezahlt, Master. Sie werden nicht gerne hierher kommen.«
Stumme Schatten huschten durchs Fackellicht.
Field kreischte.
Jeder Mann reagiert instinktiv auf das Geräusch menschlicher Panik, doch nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte ich bereits eine Erklärung für die Schatten. »Das sind Fledermäuse, Monsieur! Kein Grund …«
Er schrie wie ein Mann, wenn er nicht genug Luft in die Lunge bekommt, und deutete nach vorn. Seine Fackel fiel auf den Felsboden und rollte in einer stinkenden Rauchwolke davon. Mein Licht erhellte das, was er so anstarrte. Ein weißes Gesicht mit breitem Mund, ganz und gar nicht menschlich …
»Aaah!« Er packte mich am Arm und schlug mir die Fackel aus der Hand. Sie fiel, rollte ins Wasser und erlosch. »Ich habe sie gesehen! Ich habe sie gesehen!«
Fields Kreischen hallte von den Wänden wider. Ich ignorierte ihn und versuchte, mich aus der Erinnerung zu orientieren. Dann bückte ich mich, fand die Fackel wieder und entzündete sie erneut.
»Ich werde jetzt sterben«, flüsterte der englische Junge.
Das Rauschen von Flügelschlägen veranlasste mich, mich zu ducken. Mit pochendem Herzen murmelte ich: »Nur falls ich Euch mangels Geduld umbringe, Messire.« Dann steckte ich mein Rapier wieder weg – ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich es gezogen hatte.
»Kommt.« Ich schob eine Hand unter Fields Arm, und da er nicht gehen wollte, schleppte ich ihn hinter mir her. Abermals überquerte ich den kleinen Bach und verließ die Höhle. Als wir schließlich wieder an der frischen Luft anlangten, wusste ich nicht, ob er sich die Hose im Wasser nass gemacht oder das selbst getan hatte, als er das gesehen hatte, was er offenbar für eine Hexe hielt.
Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es mir, ihn den Hügel hinunter und wieder zur Papiermühle zu schaffen. Er stand vollkommen unter Schock. Ich hatte so etwas schon bei Kämpfen in den Niederlanden gesehen. Bei eingebildeten Feinden funktioniert das offenbar auch, dachte ich, als ich Ned wieder seinem Vater übergab, welcher ihn wiederum an seine Frau weiterreichte, die ihn ins Haus führte.
»Ich habe nichts gesehen«, sagte ich, als der kräftige Engländer den Haselnusszweig aufhob, der seinem Sohn aus dem Wams gefallen war.
»Seid Ihr sicher, Master?«
»So sicher, dass ich wieder zurückkehren und beenden werde, was ich angefangen habe.«
Der Mann protestierte besorgt und misstrauisch zugleich. Kurz wünschte ich mir, ich hätte ein Kreuz des wahren Glaubens dabei – obwohl ich bei eingehenderem Nachdenken nicht sicher war, was der alte Field als teuflischer erachtet hätte: eine Hexe oder ein papistisches Kreuz.
»Der Teufel verleiht ihr Macht«, sagte er in einem Tonfall, als würde er den Preis von Rüben diskutieren. »Bitte, entschuldigt mich, Master Herault. Ich werde meinen Sohn jetzt zum Pastor bringen. Hoffentlich hat sie ihn nicht verhext, sodass er seine Männlichkeit verliert.«
Ich vermutete, dass Ned Field schlimmstenfalls den Inhalt seiner Blase verloren hatte; aber ich bezweifelte, dass sein Vater eine dahingehende Bemerkung als tröstlich empfinden würde. So verneigte ich mich nur stumm und ging.
Fledermäuse sind wahrhaft lästig. Man nennt sie nicht umsonst ›Teufelsvögel‹. Dies zusammen mit der Tatsache, dass er mit diesen Legenden aufgewachsen war, ließen mich glauben, dass Ned Field tatsächlich seine Hexe gesehen hatte. Mein Herz hatte ebenfalls gepocht. Doch nun war der anfängliche Schreck vorbei, und ich wusste, was so unmenschlich an dem weißen Gesicht gewirkt hatte.
Es hatte auf dem Kopf gestanden – glaubte ich. Ein Spiegelbild im Wasser vor uns. Und wie übernatürlich diese ›Hexe‹ auch sein mochte, sie war real genug gewesen, um Wellen im Wasser zu machen, als sie verschwunden war.
Geister und Dämonen platschen nicht.
Ich holte mir eine Laterne aus dem Stall, ohne von den Mühlenarbeitern oder Lanier gesehen zu werden, und betrat die Wookey-Höhle erneut gut eine Stunde, nachdem ich sie verlassen hatte. Ich spürte den Luftzug auf meinen Wangen. Die Fledermäuse konnten sicherlich dort oben heraus, durch Felskamine, die für Menschen nicht zugänglich waren.
Die Kälte der Höhle drang durch meine Handschuhe, als ich die Laterne hob. Ich bemerkte, wie sich die Muskeln in meinem Rücken verspannten. So leise, wie ich konnte, zog ich das Schwert, bevor ich die große Kaverne betrat, blieb dann stehen und ließ die Stille wieder zurückkehren.
Mein Blick nahm die Höhlenwand auf, die Felsspitzen und einen weißen Fleck ganz links in meinem Blickfeld, wo sich der Teich befinden musste.
Vorsichtig drehte ich den Kopf.
Wieder spiegelte sich ein weißes Gesicht im Wasser, die Augen weit aufgerissen, der Mund durch die auf dem Kopf stehende Ansicht verzerrt. Massen von offenem weißen Haar schimmerten auf der glatten Wasseroberfläche.
Ich durchbrach die Stille. »Habt keine Angst.«
Das Spiegelbild verschwand. Fels schabte über Fels, und ein Kieselstein fiel in den Teich.
Ich machte mehrere schnelle Schritte und stürmte durchs Wasser. Dann duckte ich mich und erreichte einen Felsvorsprung, von dem ich schon vermutete hatte, dass er sich dort befand, ansonsten hätten wir die eigentliche Person und nicht nur ihr Spiegelbild gesehen.
Ich blieb stehen und öffnete die Laternenklappe.
Sie blinzelte im gelben Licht.
Eine Frau von kleiner Statur mit bleigrauem Gesicht und silbernem, ungekämmtem Haar. Sie hockte sich auf den Boden, den Rücken gegen die Wand und streckte die Hand aus.
»Bitte, entschuldigt, grand'mère.« Ich sprach ruhig und leise, steckte mein Schwert aber noch nicht weg. – Ich stellte die Laterne in eine natürliche Nische. Die alte Frau war von der Art, wie Bauern sie gerne ›Hexe‹ nennen.
Sie vergrub die Hände in ihrem schmutzigen, ausgeblichenen Leinenrock und starrte zu mir hinauf. Eine alte Titte hing fast aus ihrem Kittel heraus. Ich bezweifelte, dass sie aufgerichtet mehr als viereinhalb Fuß maß. Das einzig wirklich Dunkle an ihr waren ihre Augen, und die blinzelten mich in einem unregelmäßigen Rhythmus an, der mich mehr an einen Frosch denn an eine Frau gemahnte.
Eine Irre.
»Bitte, entschuldigt«, wiederholte ich in beruhigendem Tonfall und verspottete mich selbst in meinen Gedanken. »Ich habe geglaubt, Ihr wärt etwas, was ich in meinem Bericht erwähnen müsste. Doch nun sehe ich, dass dem nicht so ist. Ich entschuldige mich. Ich werde jetzt gehen.«
Nach all den Jahren als Agent des Herzogs hatte ich die Neigung entwickelt, Verschwörungen und Intrigen zu sehen, wo keine waren. Hier hockte nur eine alte Bäuerin, die man vermutlich aus ihrem Dorf gejagt hatte und die nicht mehr wollte, als nur etwas zu essen.
Im Licht der Laterne sah ich, wie sich ein dicker Tropfen in ihrem Auge sammelte. Er rollte ihre Wange hinunter. Sie rührte sich weder, noch gab sie ein Geräusch von sich. Es war kaum zu sehen, dass sie atmete.
Eine weitere Träne folgte der ersten und rann über die schmutzige Wange. Dann noch eine. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wurde aber unterbrochen. Die alte Frau sprach laut. Allerdings klang ihre Stimme so trocken, dass es einen Augenblick dauerte, bis ich erkannte, dass sie weder Englisch noch Französisch redete.
»No ghe credo!«
Das war eine der Sprachen Italiens, wie ich schließlich zwischen ihrem Schluchzen herausfand. Aus Padua oder Venedig … Mon Dieu, wenigstens kein Florentinisch.
Die alte Frau griff nach unten und starrte mich an. Sie zog ihren Rocksaum hinten hoch. Ich hatte keine Ahnung, warum sie mir ihren dreckigen Unterrock zeigte – und dann legte sie sich den Rock ums Haar wie einen Schal.
Eine sittsame Frau bedeckt stets ihr Haar. Dass diese offenkundig Verrückte sich daran erinnerte, war fast genauso überraschend, wie hier eine fremde Sprache zu hören.
»Wer seid Ihr, grand'mère?« Ich wiederholte meine Frage ruhig auf Französisch, Englisch und den verschiedenen italienischen Zungen, die ich in Savoyen aufgeschnappt hatte.
»Son Caterina …«
»Catherine.« Langsam, um sie nicht zu beunruhigen, kniete ich mich nieder. Sie kauerte weiter an der Wand, als könne nur die sie aufrecht halten, und obwohl ich nun auch kniete, war sie noch immer deutlich kleiner als ich. Zum Schutz vor dem Laternenlicht kniff sie die Augen zusammen. Ihre von dicken Adern gezeichneten Hände klammerten sich in den Stoff ihres Rocks unter dem Kinn. Ohne das silberne Haar hätte sie alles sein können, von fünfzig Jahren bis siebzig.
Und was wird sie tun, wenn Fludds Männer hier eintreffen?
Ich empfand Mitleid. Es gibt auch in Frankreich Frauen, die man Hexen nennt. Einige von ihnen leiden unter der irrationalen Angst, dass alle Männer ihnen wehtun wollen, während andere ständig mit Stimmen sprechen, die niemand sonst hören kann. Ein paar behaupten sogar, die Stimme Gottes zu hören – wie zum Beispiel Ravaillac –, und halten die Priester auf Trab, um herauszufinden, ob das nun Teufelswerk ist oder nicht.
»Ihr solltet besser von hier fortgehen«, begann ich.
»Mi son Caterina!«, rief sie.
Ich bin Catherine. Caterina. Eine Irre, die sich daran erinnerte, dass sie einst einen Namen gehabt hat und dass das irgendwie wichtig war. Ich nickte ihr zu und stand langsam auf. Meine Schwertscheide scharrte über die Felswand hinter mir, und ich erstarrte – dreißig Herzschläge später sah es so aus, als hätte sie das nicht bemerkt. Ich würde verschwinden können, ohne dass sie sich wie eine Katze auf mich stürzt.
»Ti xe' Valentin Raoul St Cyprian Anne-Marie Rochefort de Cossé Brissac!«
Ich blieb stehen.
Die Frau hob die schwarzen Augen und schaute zu mir hinauf. Sie wiederholte: »Ti xe' Valentin. Ti xe' Raoul Rochefort de Cossé Brissac …«
»Nicht noch einer!«, bellte ich.
Sie zuckte unwillkürlich zurück, als mein Brüllen von den Höhlenwänden widerhallte. Ihr Mund zitterte. Ich streckte mein Rapier aus; die Klinge glitzerte wie frisch geölt.
»Wessen Trick ist das diesmal? Schon wieder Fludd? Lanier? Komm heraus, Aemilia! Ich werde diese Albernheit nicht noch einmal mitmachen!«
Aufgeschreckt durch den Lärm huschten ein paar schwarze Schatten geräuschlos durch das Laternenlicht. Ich hörte nichts, was auf die Anwesenheit eines anderen Mannes hingewiesen hätte – oder einer Frau.
»Also schön … Was haben sie dir bezahlt?« ich packte die Frau mit meiner freien Hand am Kragen, riss sie in die Höhe und warf sie mit dem Rücken gegen den Fels. »Eine Schauspielerin! Hör mit diesem Geplapper auf, du ›Irre‹!«
Sie schaute mich über meine Faust hinweg an. Die Tränen quollen ihr aus den Augen. Zitternd lächelte sie.
»Oh, cielo, misericordioso, voi non potete credere quanto mi fate felice!« Dann wechselte sie zu gebildetem, aber akzentbehaftetem Französisch. »Oh, gütiger Gott im Himmel, Ihr glaubt ja gar nicht, wie glücklich Ihr mich macht, Messire!«
Ich drückte ihr die Klinge unters Kinn, knapp oberhalb meiner Faust, und Bluttropfen sickerten aus ihrer Haut. »Wer hat dir meinen Namen genannt?«
Sie lächelte weiter. Ihre bleiche Zunge schoss hervor, und sie leckte sich die Tränen ab, die bis zum Mund gelaufen waren. Sie schaute mich an, und ihre Augen glänzten voll Freude.
Ich schnappte: »Ich hatte schon Recht. Du bist verrückt!«
»Ihr tut mir nicht weh.« Sie zuckte noch nicht einmal unter dem Druck meiner Klinge. »Ihr seid hier. Ihr seid hier …«
Spontane Freude ist wohl das Gefühl, was man am schwersten vortäuschen kann. Tränen, Angst, Ekel und dergleichen sind wesentlich einfacher. Wer auch immer sie hierher gebracht hatte … Sie war wirklich überglücklich, Valentin Raoul Rochefort zu sehen.
Warum?
»Glaubt Fludd etwa, dass mich zwei Wahrsager mehr beeindrucken als einer?«, verlangte ich zu wissen. Die schwarzen Augen in dem blassen Gesicht schauten mich benommen an. Sie strahlte. Ich mag es nicht, alte Frauen zu schlagen, aber eine von Fludds Schachfiguren … Ich schüttelte sie hart und hielt sie nach wie vor gepackt.
»Du kannst es mir einfach sagen, grand'mère, oder ich prügele es aus dir heraus! Er hat dir meinen Namen genannt. Jetzt sag du mir seinen!«
»Ich habe mich selbst hierher gebracht, Valentin.« Sie hing in meinem Griff, ihre Stimme klang heiser, und sie schaute mich mit feuchten Augen an. »Ich habe auf dich gewartet. Zehn Jahre lang habe ich gewartet. Und nun … no ghe credo! Egal, wie sicher ich auch war … Du bist es, du bist es, Rochefort, du bist es …«
Ich nahm mein Schwert weg und ließ sie los.
Doch sofort packte ich ihren Arm, als sie an der Wand hinunterrutschte.
So sehr ich mich auch über mich selbst wie über sie ärgerte – was kümmerten mich die alten Knochen? –, ich hockte mich vor sie, als sie in eine kniende Position zusammensank. Ihr Rock fiel nach unten; das Haar war frei, und ihr Kittel verrutschte. Ich sah etwas an ihrer Hüfte.
Ein Rosenkranz. Altes, poliertes dunkles Holz hing an einer Kordel, die ihr als Gürtel diente. Offensichtlich war er viel benutzt. Das metallene Kruzifix funkelte im Laternenlicht.
Ich hob die Augenbrauen. »Zwar ist nicht ganz England ketzerisch, aber trotzdem ist es nicht klug, so etwas zu tragen. Du hast auf mich gewartet, und jetzt wirst du mir ohne Zweifel auch meine Zukunft vorhersagen. Soll ich das etwa glauben?«
Sie lachte.
In der Leere, die uns umgab, war es ein leises Geräusch, aber es ließ mich ungläubig den Mund aufklappen. Schließlich gelang es mir zu bemerken: »Offenbar ist es mein Los, von Frauen verspottet zu werden.«
»Armer Valentin!« Sie blickte mich beinahe zärtlich an. Das, dachte ich, ist noch Furcht erregender als ihre Behauptung, sie habe auf mich gewartet.
Ich schaute sie streng an. »So. Du bist mir also hierher gefolgt. Aberglaube hält die Bauern von hier fern. Man hat dir meinen Namen genannt. Sei vorsichtig. Allmählich verliere ich die Geduld mit dieser Farce. Was auch immer dein Verhalten bedeuten mag – es hat sich erledigt, sobald du tot bist.«
Ich hielt mein Rapier zur Seite, bereit entweder einen Angreifer von hinten oder die alte Hexe niederzuhauen.
»Du hast noch nie eine alte Frau getötet, Valentin, und jetzt wirst du nicht damit beginnen.«
Ich schaute mich in der kleinen, von der Laterne erhellten Nebenhöhle um. Lanier, Fludd … Beide hatten sie keinen Grund, mich hier aufzuhalten. Cecil? Nein, das war selbst für Mylord Cecil ein wenig übertrieben. Was dann? Hatte ich es vielleicht mit einem neuen, mir bisher unbekannten Feind zu tun?
»Ich kann es dir zeigen.« Die alte Frau legte mir die schmutzige Hand auf den Arm. »Es ist nicht weit weg. Ich kann dir zeigen, warum …« Offensichtlich fehlte ihr ein französisches Wort. »Ich kann dir demonstrieren, dass ich keinen Dritten brauche, der mir sagt, wer du bist.«
»Eine Einladung, in ein Labyrinth aus dunklen Höhlen zu gehen? Nein, danke. Darauf kann ich gut verzichten.«
Ihr Blick blieb fest. Sie schüttelte so leicht den Kopf, dass es genauso gut eine Zuckung hätte sein können. »Ich bin nicht so gut wie der Londoner Meister. Du wirst mit mir kommen und Fragen beantworten müssen.«
Einen Augenblick lang fiel mir bei ›Meister‹ nur ›Fechtmeister‹ ein.
Fludd, dachte ich dann.
Das ergab Sinn. Aber ich war in der Vergangenheit schon viel zu oft getäuscht worden, als dass Ernsthaftigkeit gereicht hätte, mich zu überzeugen.
Schlimmstenfalls warteten hier ein weiteres Dutzend Mörder von Maria di Medici auf mich. Falls sie herausgefunden haben sollten, dass ich mich in England befand, war das hier der ideale Ort, um mich zu töten. Wie auch immer, ich hatte ein Schwert und eine Pistole. Nur würde es mir schwer fallen, einem Hinterhalt zuvorzukommen, da ich mich in diesen Höhlen nicht auskannte.
Und das wiederum hieß, dass grand'mère mit mir reden musste.
Ich stand auf und bot ihr meine Hand an. »Dann zeig es mir.«
Die Hand, die sie in meine legte, wies eine Reihe alter Narben und Schwielen auf, doch sie wirkte nicht so knochig wie die vieler älterer Hofdamen, sondern war nach wie vor ein wenig fleischig.
»Valentin, Valentin, Valentin!« Sie sang die Worte fast. Wie ich feststellte, als sie sich auf mich stützte, wog sie mehr, als ich gedacht hatte. »Ich bin nicht verrückt.« Mit der anderen Hand fummelte sie an ihren Röcken. »Und ich bin auch keine Hexe. Ich bin keine strega. Folge mir. Du wirst die Laterne brauchen. Nimm sie mit.«
»Mir ist auch schon aufgefallen«, sagte ich und nahm die Laterne, »dass Frauen offenbar dazu neigen, mir Befehle zu erteilen.«
Sie legte die Hand auf den Mund und kicherte wie ein junges Mädchen.
Wenn man sich gefügig zeigt, kann man bisweilen viel dadurch gewinnen. Ich hielt die Laterne hoch und winkte ihr vorauszugehen.
Sie führte mich in eine niedrige, aber lange Nebenhöhle. Der Fels unter meinen Füßen fühlte sich abgesehen von zwei Tümpeln trocken an. Ich ging vornübergebeugt. Zweimal öffnete sich die zerklüftete Decke über mir so weit, dass das Laternenlicht nicht ausreichte, um die Dunkelheit zu durchdringen, und einmal durchquerten wir eine so große Kammer, dass unsere Schritte widerhallten wie in Notre Dame de Paris. Der Felsen sah aus, als wäre er wie Kerzenwachs geschmolzen. Jenseits davon wurde die Decke so niedrig, dass selbst die alte Frau sich bücken musste. Immer wieder blickte ich in regelmäßigen Abständen zurück, um mir auffällige Punkte in der Höhle einzuprägen. Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich darüber nachdachte, was mich in diesem Labyrinth erwarten könnte.
»Hier, Valentin. Hier lebe ich.« Die alte Frau duckte sich unter einem natürlichen Torbogen hindurch, und ich folgte ihr und stellte fest, dass ich hinter dem Bogen aufrecht stehen konnte.
Die Kalksteinwände waren vollkommen zerkratzt – nein, nicht zerkratzt. Sie waren voller Buchstaben und Zeichen, wie man sie in geometrischen oder okkulten Büchern fand.
»Gleichungen«, vermutete ich mit einem leicht ironischen Unterton. »Mathematik.«
»Es war schwer, als ich zuerst hierher gekommen bin.« Sie stand neben mir. »Später ist es mir gelungen, Papier und Tinte aus der Mühle zu stehlen.«
Spöttisch hob ich die Augenbrauen. »Hast du keine Angst, deine Voraussagen einfach so hier zu lassen, wo zukünftige Generationen sie entdecken können?«
»Der Fluss wird anschwellen, bevor man sie verstehen kann, und all diese Höhlen werden untergehen.«
Die Vorstellung, dass diese Höhle und die anderen bis zur Decke mit Wasser gefüllt werden könnten, beunruhigte mich ein wenig. Die alte Frau ging zum dunklen Ende der Höhle. Ich folgte ihr vorbei an den Schriften an der Wand und war mir nicht sicher, was ich vor ihr in der Ecke sah.
Papier.
Ich streckte die Hand nach einem Stapel aus und fand, dass er sich ein wenig feucht und sandig anfühlte. Im Licht der Laterne sah ich, dass die Tinte nicht verlaufen, sondern nur leicht in das Papier eingesickert war. Alles – ich blickte auf Stapel über Stapel, höher als die Frau und bis zum Ende der Höhle aufgetürmt – war voller seltsamer Zeichen, Buchstaben, Gleichungen und Diagramme.
»Hier bist du.« Sie hielt mir ein unauffälliges Stück Papier entgegen. »Ich verwende Nolans Methode, wie du sehen wirst. Und das da ist mein eigener Beweis für die Gleichungen Brunos. Ich warte nun schon seit zehn Jahren auf dich und länger.«
»Aber natürlich.« Ich nickte instinktiv und seufzte. Sicher, in der Ecke fand sich eine Liegestatt mit Decken, die immer und immer wieder geflickt worden waren, aber ob sie nun zehn Jahre oder wenige Nächte darauf geschlafen hatte, war nicht ersichtlich. Vielleicht war die Ecke sogar erst heute Morgen so ausstaffiert worden.
Ich stellte die Laterne ab und packte die alte Frau unterm Kinn, Finger und Daumen zu beiden Seiten der Kehle. Sie kratzte über meinen Handschuh. Ich hob sie auf die Zehen hoch und das kraftvoll genug, dass ihre verbliebenen Zähne aufeinander schlugen.
Aus solcher Nähe stank sie abartig. Ich schaute in ihre weiß umrandeten Augen. »Ich muss nur meine Hand schließen, und du hörst auf zu atmen. Ich nehme jedoch an, dass du leben willst. Das wollen die meisten Menschen. Sag mir, wer du bist, warum du hier bist, und wer dir meinen Namen verraten hat.«
Ihr Blick strahlte förmlich vor Wärme. Mut und Gelassenheit sind aus solcher Nähe schwer vorzutäuschen. Ihr Puls fühlte sich unter meiner Hand ein wenig schnell an, aber nicht schneller, als man mit Erschöpfung hätte erklären können.
»Wer bist du?«, verlangte ich zu wissen.
»Suor Caterina, geborene Elena Zorzi aus dem Véneto. Ich bin nicht weit entfernt von Padua zur Welt gekommen, aber den größten Teil meines Lebens habe ich in Venedig verbracht.«
Ich hatte nicht erwartet, dass sie mir so schnell antworten würde. »Was bist du?«
»Ich bin eine Schwester vom Orden der Karmeliterinnen.« Falten zogen sich um ihren Mund zusammen, wenn sie die Lippen schürzte. »Ich will dich nicht anlügen, Valentin. Die Karmeliterinnen haben mich ausgeschlossen. Aber ich betrachte mich noch immer als Braut Christi.«
Die Würde in ihren Worten passte nicht zu ihren stinkenden Kleidern, ihrem halbnackten Auftreten und ihrem verfilzten Haar. Ich verstärkte meinen Griff noch ein wenig und zog sie ein weiteres Stück in die Höhe.
»Wer hat dich hergeschickt? Wer hat dir von mir erzählt?«
Tränen wie feuchte Schneckenspuren umrahmten ihre Augen. Sie klang atemlos – was auch nicht verwunderlich war mit meiner Hand um ihren Hals.
»Niemand hat mich geschickt, es sei denn, du sprichst von Gott. Es ist schon lange her! Ich habe diesen Ort gefunden und gewartet. Es ist alles wahr, denn du bist hier!«
Sie schaute mich mit Augen an, die – das schwöre ich – im Laternenlicht glühten. Ich bemerkte, dass ich meinen Griff gelockert hatte, und die alte Frau fand wieder Halt auf dem sandigen Untergrund.
»Valentin Rochefort!« Sie musterte mich auf eine Art von Kopf bis Fuß, die mich seltsam verunsicherte. »Ich habe nicht gewusst, dass du so groß sein würdest – oder so stark. Dass du ein fähiger Fechter bist, habe ich jedoch vermutet. Ich habe errechnet, dass du ein Soldat sein würdest – das steht alles auf den Seiten da drüben. Ostrega! Und ein tapferer und kluger Mann. Du bist nicht vor der Hexe weggelaufen; du hast sie gesucht. Es ist so eine Freude, und ich bin so erleichtert, und … bitte, verzeih … das ist ein Wunder!«
Einen Augenblick lang sah ihr uraltes Gesicht wie das eines Kindes aus; eines kleinen Kindes, dem man ein Geschenk zum Namenstag gegeben hatte.
»Ich bin es nicht gewohnt, auf diese Art gemustert zu werden«, bemerkte ich und war kurz ein wenig unentschlossen. »Warum scheint mich jeder Mann – und inzwischen jede Frau! – für irgendeinen Schurken oder Helden zu halten, den das Schicksal ihm gebracht hat?«
Sie lächelte mich fröhlich an. »Aber nein! Da ist nichts Besonderes an dir, Valentin. Du bist ein ganz gewöhnlicher Mann. Du bist nur zu einer entscheidenden Zeit an einem nützlichen Ort. Das macht dich zu einem Wunder!«
Ich muss gestehen, dass mich das ein wenig ernüchterte.
»Das Schicksal hat mich also nicht auserwählt?«
»Nun, du bist jedenfalls nicht die zweite Jungfrau Frankreichs.« Sie musste sich sichtlich beherrschen, nicht zu lachen. »Ich glaube nicht, dass du eine prachtvolle Maid in Rüstung abgeben würdest, Valentin.«
»Das stimmt vermutlich …« Ich steckte das Schwert nicht weg. Mit der anderen Hand holte ich ein sauberes Taschentuch aus meiner Hosentasche und hielt es der alten Frau hin. Nach kurzem Zögern nahm sie es mit zitternder Hand entgegen.
Sie wischte sich nicht das Gesicht ab. Stattdessen faltete sie das Leinen rasch und setzte es sich auf den Kopf, band die Enden unter dem Kinn zusammen und bedeckte so ihr Haar.
»Setzt Euch, Madame«, forderte ich sie förmlich auf.
»Ich bin es gewöhnt, Suor Caterina genannt zu werden, Schwester Caterina.« Sie ließ sich auf den Höhlenboden sinken, machte es sich auf dem sandigen Untergrund bequem und sammelte ihre vielen Röcke um sich, sodass ich ihre nackten Füße nicht mehr sehen konnte. Ihre Brust hob und senkte sich rasch. Ich fragte mich, ob sie vielleicht einem Anfall nahe war und sterben würde. Plötzlich legte sie die Hände aufs Gesicht, nahm sie wieder herunter und hatte einen ungewöhnlich sturen Ausdruck aufgesetzt.
»Das«, ich deutete auf die Papierstapel, »ist alles Müll, Schwester.«
»Ich habe geahnt, dass es nicht leicht sein würde, und ich habe Recht behalten.« Sie sprach, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. »Ich habe Recht. Das war der Test … Wenn Ihr nicht gekommen wärt«, auch sie wurde wieder förmlich, »wenn Ihr nicht Valentin Raoul Rochefort wärt und ein Mann, der lästige alte Frauen töten würde … Ich konnte es nicht wissen. Dank meiner Berechnungen habe ich Euch als ›Soldaten‹, ›Meuchelmörder‹ und ›Spion‹ gesehen. Was Euer Verhalten betrifft, so scheint es mir zunächst wahrscheinlicher zu sein, es mit einem ordinären Mörder zu tun zu haben und nicht mit einem Ehrenmann.«
Bei dem Wort ›Ehrenmann‹ trat ich unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Wollt Ihr damit etwa einen Fehler bei Euren Voraussagen eingestehen? Ihr wisst, dass ich getötet habe, aber nicht, ob ich ein Mann von Ehre bin?«
»Ich berechne die Taten eines Menschen«, sie wischte sich mit den alten Fingern übers Gesicht, »nicht seine Gedanken, wenn er sie tut. In der Nolanformel findet sich nichts, was das Herz eines Mannes enthüllen könnte.«
Ich rührte mich nicht, während sich in meinem Hinterkopf die Gedanken überschlugen. »Ich bin weniger auf Ehre bedacht, als Ihr glaubt …«
Ich überprüfte die Laterne. Wir hatten noch Licht für eine halbe Stunde. Sollte ich wieder zur Mühle zurückkehren? Geschah dort etwas, wovon mich das hier nur hatte ablenken sollen?
Nur würde sich jede Bedrohung hier zunächst einmal gegen Fludds Leute und nicht gegen mich richten. Und sollte seine Verschwörung auseinander fallen, täte mir das auch nicht weh.
Die alte Frau lächelte. Es kam mir seltsam vor, dass mich eine alte Nonne, die ich gerade misshandelt hatte, derart liebevoll und heiter anschaute.
»Ich arbeite mit denselben Formeln wie der Londoner Meister Roberto«, sagte sie. »Wir sind beide Studenten Nolans. Ich verberge nichts vor Euch, Valentin.«
Sie sprach recht passables Französisch mit venezianischem Akzent, aber sie hätte genauso gut Monsieur Saburos Nihonesisch sprechen können.
»Wenn Ihr von diesem ›Londoner Meister‹ sprecht, meint Ihr Robert Fludd.«
»Ja.«
»Und dieser ›Nolan‹?«
»Magister Giordano Bruno, der Neapolitaner. Er ist nun schon seit zehn Jahren tot.«
Der Name erinnerte mich an nichts. »Was habt Ihr bei ihm studiert?«
»Häresie.« Ein überraschend süßes Lächeln erschien auf dem alten Gesicht. »Und die schwarze Kunst der Mathematik.«
»Was Euch dann zur Prophetie geführt hat.«
»Ja.«
Dass Fludd und diese Frau in den gleichen Begriffen redeten, hat nur wenig zu bedeuten, dachte ich. Das ist nichts Ungewöhnliches: Solange ich denken kann, wimmelt es in Frankreich und den Niederlanden geradezu von Sekten. Wiedertäufer, Brownisten, Kabbalisten, Puritaner – und jetzt auch noch Mathematiker.
Halb im Scherz fragte ich: »Und was wollt Ihr mir erzählen, um mich davon zu überzeugen, dass Ihr die Zukunft kennt?«
Sie blickte mich streng an – so streng, wie es einer Nonne anstand.
»Ich kann Euch sagen«, antwortete sie, »was mit Signore Gabriel Santon geschehen ist.«