31. Kapitel
Die Sonne war durch die Wolken gebrochen. Rotes Licht sickerte durch den nachmittäglichen Dunst. Meine Augen fühlten sich an, als wären sie mit Stahlwolle geschrubbt worden. Ich war so erschöpft, dass ich wie betäubt im Befragungszimmer der Polizeistation saß. Gleich musste Lieutenant Rome zurückkommen und mir meine Festnahme ankündigen. Nachdem er mich den ganzen Tag über bearbeitet hatte, war er mit meinen Antworten absolut nicht zufrieden.
Die Klinke bewegte sich, und ich schaute auf.
Dale Van Heusen ragte in der Tür auf. Mir sank der Mut. Er wirkte wie aus dem Ei gepellt, der Anzug war sauber gebügelt. Seine Miene war undurchdringlich.
»Folgen Sie mir«, sagte er.
Ich stand auf und schritt mit ihm durch die Station. Rome war nirgends zu entdecken. Niemand beachtete mich, nur der Beamte am Empfang warf mir einen flüchtigen Blick zu. Dann waren wir draußen.
Van Heusen stemmte die Hände in die Hüften. »Sie können gehen.«
Für einen Augenblick starrte ich ihn verwirrt an. »Wie …«
»Ich bin nicht so nutzlos, wie Sie denken, Ms. Delaney.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Das FBI hat die Ermittlungen übernommen, mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Sollte es zu einem Strafverfahren wegen der Todesfälle von letzter Nacht kommen, werden Sie als Zeugin geladen. Sie selbst gelten jedoch nicht als Verdächtige.«
Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. »Gut zu hören«, sagte ich schwach.
Er knöpfte sein Jackett zu. »Damit sind wir quitt. Ich schulde Ihnen nichts mehr.«
»Was ist mit Jesse?«
»Was mich betrifft, ist die Sache erledigt.« Er strich seine Krawatte glatt. »Die Leute, denen ich auf der Spur war, sind tot. Ein Glück für ihn.«
»Adam Sandoval ist auch tot«, erwiderte ich.
Die Hand auf der Krawatte zögerte für einen Augenblick. »Ja, das tut mir leid.«
Ein merkwürdiger Glanz lag in seinem Blick. Ein Funken Aufrichtigkeit? Oder war es Bedauern? Auf jeden Fall war es nicht genug und kam zu spät.
Er warf einen Blick über die Schulter zum Eingang, wo Jesse aufgetaucht war. »Ich lasse Sie beide allein.« Damit verschwand er in der Polizeistation.
Jesse wirkte völlig erledigt. Sein Haar war strähnig, er war blass, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Sein Hemd war blutverschmiert. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, aber ich bremste mich, weil ich nicht wusste, wie er reagieren würde. Er blieb stehen und starrte blicklos in die blutrote Sonne.
Ich hatte den Eindruck, dass er etwas sagen wollte, aber seiner Stimme nicht traute und Angst hatte, völlig die Fassung zu verlieren.
»Ich muss mein Auto holen«, sagte er.
Mir war klar, dass der Anblick des Lagerhauses für ihn unerträglich sein würde.
»Ich hole es.«
»Nein, ich mach das. Ich muss so viel erledigen.«
»Du musst gar nichts, Jesse.«
»Ich muss Adams Priester anrufen. Und seine Verwandten. Seine Cousins in New Mexico.« Er schloss die Augen. »Ich muss ihnen sagen, dass er tot ist.«
Er ließ die Schultern hängen und presste die Hände gegen die Augen. Und nun schloss ich ihn doch in die Arme und wiegte ihn sanft. Er lehnte sich zitternd an mich. Aber plötzlich löste er sich von mir. Vielleicht weil wir vor der Polizeistation standen, vielleicht weil er seinen Groll gegen mich immer noch nicht überwunden hatte. Auf jeden Fall wollte er sich nicht gehen lassen.
»Komm«, sagte er.
Wir überquerten die Straße und passierten das im Sonnenlicht korallenrot leuchtende Gerichtsgebäude.
»Ich weiß jetzt, was Yago gestern Nacht gemeint hat.« Jesse blickte starr geradeaus. »Die Sache, die ich dir nicht erzählt hatte, weil ich selbst nicht wusste, was ich getan hatte. Mittlerweile ist es mir klar geworden.«
Ich schritt neben ihm her und wartete.
»Es war wegen Harley.«
»Ihre Spielsucht?«
»In dem Sommer vor meiner Querschnittslähmung wurde es immer schlimmer. Besuche in Las Vegas, Schulden bei den Buchmachern. Eines Tages fuhr ich bei ihr in der Kanzlei vorbei und fand sie mit jeder Menge Bargeld.«
»Wie viel?«, fragte ich. »Tausende von Dollar. Als ich ins Büro kam, stopfte sie gerade Scheine in Umschläge. Ich dachte, sie hätte sich am Treuhandkonto der Kanzlei vergriffen, um ihre Spielschulden zu bezahlen.«
Das war natürlich nicht der Fall. »Was hast du getan?«
»Sie zur Rede gestellt. Ich habe ihr gesagt, ich würde die Sache ihrem Chef melden.«
»Und dann?«
»Sie brach völlig zusammen. Es war eine erbärmliche Szene, Evan. Sie fiel auf die Knie und flehte mich an, sie nicht zu verraten. Die coole Harley klammerte sich an meine Beine und heulte jämmerlich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab ihr zugesichert, ich würde niemandem davon erzählen, wenn sie das Geld zurückzahlt und zu den Anonymen Spielern geht. Noch am selben Abend. Und ich würde sie selbst hinfahren.«
»Und?«
»Sie hängte sich an mich, dankte mir und versprach mir das Blaue vom Himmel.«
»Und?«
Er blickte mich an. »Du kannst dir denken, worauf es hinauslief.«
»Was ist mit dem Geld passiert?«
»Ich hab es für sie zur Bank gebracht.«
»Wie viel?«
»Neuntausendfünfhundert Dollar.«
Wir sahen einander an.
»Smurfing«, hauchte ich.
Der Betrag lag knapp unter der Meldegrenze von zehntausend Dollar.
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Oh, Jesse.«
»Und ich dachte, ich würde ihr helfen und sie davon abhalten, Gelder ihrer Mandanten zu veruntreuen.«
Sein Blick wanderte in die Ferne. Nein, in die Vergangenheit.
»Harley hat mich tatsächlich in der Rehaklinik besucht. Angeblich ging sie dreimal wöchentlich zu Treffen und nahm an einem Entwöhnungsprogramm teil. Sie war so stolz darauf, endlich clean zu sein. Und sie bedankte sich bei mir, weil ich ihr dabei geholfen hatte. Darüber hat Yago sich lustig gemacht. Er wusste genau, was sie zu mir gesagt hatte. Sie hat mich getäuscht, Ev, damit ich sie nicht verrate. Sie hat nie aufgehört, zu spielen und für Yago Geld zu waschen.«
»Hast du das der Polizei erzählt?«
»Ja.«
»Glaubst du, Brand hat sie Yago ausgeliefert?«
»Das soll die Polizei klären«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Er versuchte nicht mehr, meine Gefühle zu schonen. Es war ihm egal.
Über den Dächern versank die Sonne. Der Himmel im Westen färbte sich blutrot. »Jesse, was Adam über die letzte Etappe gesagt hat …«
In der Staffel war die letzte Etappe die entscheidende. Der letzte Mann musste den Sieg holen.
Er starrte auf seine Hände. »Das sollte heißen, dass ich Brand kriegen muss.«
Nicht »finden«. Nicht »der Polizei übergeben«.
»Ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte er.
Mich überlief es eiskalt.
Rachsucht
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