17. Kapitel
Mein E-Mail-Posteingang lief über, und an meinem Anrufbeantworter blinkte das Lämpchen. Siebzehn Nachrichten.
Mein Bruder Brian verlieh der vorherrschenden Meinung Ausdruck. »Jesse gibt sich besser selbst die Kugel. Dann muss ich ihm nicht den Hals umdrehen.«
Ich meldete mich bei allen, selbst wenn die Nachrichten aggressiv oder verlogen geklungen hatten. Mein letzter Anruf galt Harley Dawson.
»Wenn du einen Rat haben willst«, sagte sie. »Vernichte grundsätzlich die Negative.«
»Das Bild ist eine Fälschung. Und sag bloß nichts zu der Tätowierung. Ich bin nicht in der Stimmung dafür.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Harley, die Leute, die das Foto manipuliert haben, stehen in Verbindung zu Brand und Mako.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Ich habe gute Gründe für meine Vermutung.«
»Brand und Mako. Wilde Anschuldigungen ohne Beweise, würde ich das nennen.«
»Hör mal, Harley …«
»Nein, du hörst mir jetzt mal zu. Ich habe mit George Rudenski gesprochen. Ich weiß, dass du bei Mako warst und alles Mögliche behauptet hast. Wenn es Brand erwischt, ist auch Kenny dran, sollst du gesagt haben.«
»Ich habe nur Brand zitiert.«
Jetzt klang Harley wirklich verärgert. »Solche Unterstellungen können dir jede Menge Ärger einbringen.«
»Warum? Ist Kenny gefährlich?«
»Lass den Schwachsinn. Das ist Verleumdung. Und ich bin Kenny Rudenskis Anwältin.«
»Es ist eine Warnung, Harley. Ich brauche deine Hilfe. Du weißt, dass mit Kenny irgendwas nicht stimmt. Er ist … nicht ganz richtig im Kopf. Und er war mit Franklin Brand befreundet. Jesse kann er nicht ausstehen. Angesichts dieser Sachlage kann man wohl kaum von voreiligen Schlüssen sprechen.«
Ihre Stimme klang müde. »Evan, lass es sein. Leg dich nicht mit Mako an. Das ist nicht gut für dich.«
»Warum?«
»Weil du dabei nur verlieren kannst. Das kannst du mir glauben.«
 
Jesse blieben noch fünfunddreißig Stunden. Was konnte ich tun? Im Augenblick brachte es nicht viel, mit der Polizei zu sprechen, weil deren Meinung schon feststand. Ich wünschte, Chris Ramseur wäre noch am Leben.
Ramseur war von Anfang an mit der Sache befasst gewesen und hatte bereits wegen der Fahrerflucht ermittelt. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und fing an, in der Kopie des Polizeiberichts zu blättern, die Jesse mir beschafft hatte. Wie immer hatte Ramseur kein Detail außer Acht gelassen. Hin und wieder hatte er sich auch eine bissige Bemerkung nicht verkneifen können.
Dann stieß ich auf eine Information, der ich bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Es gab einen Zeugen.
Einen Installateur, der zwar nicht den Unfall selbst beobachtet hatte, aber seine Folgen. Er hatte nach einer Adresse in der Straße gesucht und war dabei auf Jesse und Isaac gestoßen. Kurz vor der Unfallstelle war Brands BMW bergab an ihm vorbeigerast.
Ich suchte nach Pyles Aussage. Er hatte nicht erkannt, welches Geschlecht der Fahrer gehabt hatte, und eventuelle Beifahrer hätte er erst recht nicht identifizieren können. Die Sache lag drei Jahre zurück. Lohnte es sich, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen?
Ich fand die Nummer seiner Firma in den Gelben Seiten.
»Den Unfall habe ich doch x-mal mit der Polizei durchgekaut.« Seine Stimme klang feucht, als hätte er etwas Klebriges im Mund. »Wenn Sie mehr wissen wollen, zahlen Sie meine Arbeitszeit. Und die Anfahrt.«
Als er eintraf, war Nikki bei mir. Thea krabbelte auf dem Teppich herum und aß Krümel. Wir hatten Wetten über sein Äußeres abgeschlossen. Stoppelbart, Bierbauch und hängende Hose. Ich setzte darauf, dass wir die Ritze zu sehen bekommen würden.
»Sind Sie Ms. Delaney?«, fragte er.
Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache. Der Mann strotzte geradezu vor Kraft. Die Hemdsärmel spannten sich über seinen Muskeln. Sein Gesicht war frisch und rosig und duftete nach Aftershave. Nikki zog eine Augenbraue hoch und unterdrückte ein Lächeln.
»Die Spüle ist hier«, sagte ich.
Er schleppte seinen Werkzeugkasten in die Küche. Seine Oberschenkel waren wie Baumstämme. Er ging vor der Spüle in die Hocke und fuhr mit der Hand über das Abflussrohr.
»Fühlt sich trocken an.«
»Gut. Nun zu Franklin Brand.«
Er drehte den Oberkörper und warf mir über die Schulter einen Blick zu. Dabei rutschte sein blaues Hemd hoch und entblößte einen behaarten Lendenbereich.
»Ich hab darüber nachgedacht.«
»Freut mich. Ich will Sie was zu der Beifahrerin fragen.«
Er hielt einen Schraubenschlüssel in der Hand. Als er mit den Schultern zuckte, rutschte seine Jeans noch ein Stück tiefer. Nikki hinter mir wurde unruhig.
»Mein Arbeitslohn gilt nur für die Spüle. Meine Erinnerungen kosten extra.« Er erhob sich ächzend.
»Aha.« Ich runzelte die Stirn. »Was ist mit Ihrer Bürgerpflicht?«
»Die habe ich schon nach dem Unfall erfüllt und hatte zum Dank die Polizei am Hals. Kommen Sie mir bloß nicht damit.«
»Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich soll Sie dafür bezahlen, dass Sie mir sagen, was Sie am Unfallabend beobachtet haben?«
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Fahrer gegen Kaution freigelassen wurde. Zweihundertfünfzigtausend Dollar. In der Sache ist also eine Menge Geld im Spiel. Wieso soll das alles an die Anwälte und Kautionsbürgen gehen? Für einen Augenzeugen muss schließlich auch was abfallen.« Er zog seine Hose hoch. »Machen Sie mir ein Angebot.«
»Ich höre wohl nicht recht.«
»Sie wollen es wissen, die Cops wollen es wissen, der Fahrer wird es wissen wollen.«
»Das wird der Polizei gar nicht gefallen.«
»Dann soll sie mir ein Angebot machen. Ich könnte ein richtiger guter Zeuge sein. Wenn nicht für die Anklage, dann für die Verteidigung. Wer weiß? Ich halte mir meine Optionen offen.«
»Ich glaube, Sie verschwinden jetzt besser«, knurrte ich.
»Ich geb Ihnen eine zweite Chance, weil Sie so schnuckelig sind.«
Er bückte sich nach seinem Werkzeugkasten. Dabei geriet seine Hose ins Rutschen und enthüllte, was niemand sehen wollte. Ich hatte meine Wette gewonnen.
»Sie haben mich gehört. Raus hier!« Ich deutete zur Tür.
»Da verpassen Sie aber was!«
»Glaube ich nicht. Enthaaren Sie lieber mal Ihren Hintern.«
 
Um mich abzureagieren, ging ich am Nachmittag laufen. Ein makellos blauer Himmel wölbte sich über den grünen Bergen. Als ich an der alten Mission vorbeijoggte, drang Orgelmusik aus der Kirchentür, der ich nicht widerstehen konnte. Manchmal verleiht einem eine Fuge von Bach ungeahnte Kräfte.
Als ich aus der Kirche kam, wartete auf der Treppe ein Mann im grauen Anzug.
»Ms. Delaney? Dale Van Heusen, FBI.«
Seine Stimme hatte den hohen, nervtötenden Klang eines Bohrers. Der Anzug schlotterte an ihm, als hielte er sich für größer, als er war. Ich marschierte die Treppe hinunter.
Er folgte mir. »Mit Joggingklamotten in der Kirche? Hätte nicht gedacht, dass Sport und Andacht unter einen Hut zu bringen sind.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte ich.
Er deutete auf den spanischen Brunnen. Wir setzten uns auf den Rand.
»Ich erkläre Ihnen jetzt, wie es läuft«, begann er. »Ich stelle die Fragen, und Sie beantworten mir alles bis ins kleinste Detail. Wenn Sie das tun, erleichtern Sie uns beiden das Leben gewaltig. Wir wollen doch, dass Sie schnell wieder zu Hause sind. Sind wir uns einig?«
Von dem bemoosten Springbrunnen tröpfelte das Wasser, und zwischen den Seerosen schwammen Koi-Karpfen.
»Warum befragen Sie mich eigentlich, Mr. Van Heusen?«
»Agent Van Heusen.« Er schob seine Manschetten zurück. »Soll ich die Regeln noch mal wiederholen? Sie scheinen mir eine intelligente Frau zu sein. Ich hatte gehofft, Sie würden auf Anhieb verstehen.«
Er hatte ein unsympathisches Dachsgesicht mit bösartigen Augen. Bei mir schrillten alle Alarmglocken. Ich wusste nicht recht, ob ich das Weite suchen, ihn in den Brunnen werfen oder mich auf ein Wortgefecht mit ihm einlassen sollte.
»Seit wann kennen Sie Jesse Matthew Blackburn?«
En garde.
»Seit drei Jahren und drei Monaten. Ist das eine Frage oder wollen Sie nur Ihre Informationen überprüfen?«
»Wie gut kennen Sie ihn?«
»Soll das ein Witz sein?«
»Was?«
»Sie wissen doch bestimmt, dass wir verlobt sind.«
»Für einen Mann seines Alters hat er viel Geld.«
Darauf antwortete ich nicht.
»Interessieren Sie sich nicht dafür?«
Fast hätte ich gelacht. »Jesses Geld steckt in seinem Haus und in Investmentfonds. Und in seiner Invalidenrente.«
»Verstehe. Hat er Sie angewiesen, nicht mit mir zu sprechen?«
»Nein.«
Er beugte sich vor und verschränkte die Hände zwischen den Knien. »Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, dass Sie ihn zu schützen versuchen.«
»Da haben Sie recht. Wenn Sie mir verraten würden, warum Sie mich über ihn ausfragen, würde ich mir vielleicht weniger Sorgen machen.«
»Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich vor dem FBI nicht zu fürchten.«
»Ach, hören Sie doch auf!«
Er bürstete ein paar Fusseln von seiner Hose und zog die Bügelfalte in Form. »Ich bin davon überzeugt, dass Mr. Blackburn Ihnen eingeschärft hat, Sie sollen sich nicht verplappern und immer daran denken, auf wessen Seite Sie stehen. Aber überlegen Sie mal, ob Sie wirklich für ihn den Kopf hinhalten wollen.«
»Das ist doch absurd.«
»Wissen Sie, in welcher Gesellschaft er vor dem Unfall verkehrte?«
»Gesellschaft?«
»Mit wem er bekannt war.«
»Ich hab schon kapiert.« Er wollte wissen, wer Jesses Komplizen gewesen waren.
»Mit wem verbrachte er seine Zeit? Mit den Sandovals?«
»Ja, natürlich.«
»Was taten sie so?«
»Schwimmen, Rad fahren, laufen.«
»Sonst noch was?«
»Bier trinken.«
»Wenn ich mich nicht irre, hatte damals keiner der drei Geld.«
»Richtig.«
»Hatte Mr. Blackburn neben seinem Gehalt noch weitere Einnahmequellen?«
Offenbar dachte er, Jesse und die Sandovals hätten mit Brand unter einer Decke gesteckt.
»Nein. Mit seinem Ferienjob finanzierte er sein Studium. Während des Semesters hatte er an der Uni einen Teilzeitjob.«
»Und seine Eltern halfen ihm bei den Studiengebühren nicht aus?«
»Jesses Vater hat einen Büromaterialhandel. Der kann sich das nicht leisten.«
»Und deswegen wollte sein Sohn Anwalt werden? Des Geldes wegen?«
»Sie sind wohl kein Jurist?«, fragte ich.
»Nein, ich bin Wirtschaftsprüfer.«
Ein Buchhalter. Ein Mensch, der sich das Erbsenzählen zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Was wollte der bloß von mir?
Er zückte sein Notizbuch und blätterte darin. »Adam Sandoval war damals am California Institute of Technology tätig, richtig? War er jemals beim Labor für Düsenantriebe beschäftigt?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Das ist ein NASA-Labor. Falls er Zugang zu Computern staatlicher Stellen hatte, müssen Sie mir das sagen.«
Schon wieder Computer, diesmal in einer neuen Variante. Fragen Sie Adam doch selbst, hätte ich am liebsten gesagt, aber Adam würde durchdrehen, wenn er derart ausgequetscht wurde.
»Warum versuchen Sie, den Zeugen Stu Pyle zu beeinflussen?«
Das war der Installateur. »Tue ich nicht. Was hat er Ihnen erzählt?«
»Dass Sie ihn für seinen Besuch bezahlt haben.«
Allmählich fing ich an, mich zu ärgern. »Wenn er das gesagt hat, will er nur Geld aus Ihnen rausholen. Er versteigert seine Aussage an den Meistbietenden.«
»Und was hat er auszusagen?«
»Wer die Frau in dem BMW war.«
»Aha.« Er blätterte in seinem Block. »Und Sie glauben, Sie wissen, wer das war?«
Ich sah keinen Grund, meinen Verdacht zu verschweigen. »Mari Vasquez Diamond.«
Er warf einen Blick auf seinen Block und nickte. »Falls Pyle es wirklich auf Geld abgesehen hat, wird er nicht weit kommen. Wir haben unabhängige Zeugen, die bestätigen, dass sie am Abend des Unfalls mit Brand zusammen war. Das ist also nichts Neues.«
Van Heusen griff in sein Sakko und reichte mir drei Fotos.
»Erkennen Sie hier jemand?«
Das Mädchen mit den kurzen Haaren, Win Utley und Mickey Yago. Mir wurde siedend heiß.
»Das sind die beiden Männer, die Jesse überfallen haben. Ich glaube, die Frau hat meine Handtasche gestohlen, aber das kann ich nicht beweisen. Warum fragen Sie?«
»Haben Mr. Blackburn oder Adam Sandoval mit Ihnen je über I-Heist gesprochen?«
»Nein.« Ich überlegte und deutete mit dem Kopf auf die Fotos. »Nennen die sich so?«
»Die Herrschaften haben sich auf Erpressung per Computer spezialisiert.«
»Von Jesse haben sie zweihunderttausend Dollar verlangt. Das hat er der Polizei aber gemeldet.«
»Und womit wird er erpresst?«
Touché. Damit hatte er mich kalt erwischt. Van Heusen wirkte, als müsste er ein Grinsen unterdrücken.
»Ich vermute, Sie sind hier, weil Lieutenant Rome Ihnen von der Forderung erzählt hat. Weil Jesse zusammengeschlagen wurde.«
Van Heusen hielt die Fotos hoch. »Mickey Yago war der Kopf eines Kokaindealerrings, der reiche Studenten und die Wunderkinder des Dotcom-Booms belieferte. Mittlerweile hat er sich auf andere Geschäftszweige verlegt.« Er tippte auf Win Utleys Foto. »Der Kerl war bei der Steuerbehörde und hat sich von Yago anwerben lassen.« Dann war das Mädchen dran. »Cherry Lopez ist in erster Linie Yagos Gespielin. Außerdem ist sie eine Cyberspace-Meisterdiebin.«
Ich schaute genauer hin. »Was ist das?« Ich fuhr mit dem Finger eine Linie an ihrem Hals nach.
»Eine Tätowierung. Es heißt, sie zieht sich ohne Unterbrechung vom Hals bis zu den Zehen.«
»Sieht aus wie eine Schlange.«
»Oder wie ein Computerkabel.«
Ich fühlte mich an die Tätowierung erinnert, die ich an dem Bein der Frau auf Kenny Rudenskis Balkon bemerkt hatte, war mir aber nicht sicher.
»Jesse und Adam sind Opfer. Vielleicht hat Brand dieser I-Heist-Gruppe Geld gestohlen, und Yago will sich jetzt an Jesse schadlos halten.«
»Mhm.«
»Das ist Erpressung. Was wollen Sie dagegen tun?«
»Was wissen Sie über Smurfing?«
»Wie bitte?«
Er beobachtete mein Gesicht.
»Smurfing?«, fragte ich. »Smurfs sind für mich Schlümpfe, und die kenne ich nur aus dem Comic.«
Van Heusen erhob sich. Das Gespräch war beendet.
»Moment mal«, sagte ich. »War das jetzt alles? Was ist mit I-Heist?«
Er verstaute Notizbuch, Fotos und Stift in seiner Jackentasche. »Diese Leute haben eine ausgeklügelte Methode entwickelt, ihre Opfer nach und nach völlig auszunehmen. Wenn ich rausfinde, dass Sie irgendwas damit zu tun haben, hängen Sie genauso mit drin wie Ihr Freund.«
Rachsucht
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