22. Kapitel
Mein Mund war völlig ausgedörrt, und mein Magen
schien sich verknotet zu haben. Ich öffnete ein Auge. Das Licht
brannte wie Sand auf meiner Hornhaut.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Ich fluchte vor mich hin, aber selbst davon wurde
mir übel. Nach einer Minute gelang es mir, den Kopf vom Kissen zu
heben und unter den Lidern hervorzuspähen. Die hintere Wand des
Zimmers war schräg, und dem Bett gegenüber ragte eine mit
Hieroglyphen bemalte Säulenreihe auf.
Vorsichtig drehte ich mich um. Die Vorhänge waren
zugezogen, aber ich entdeckte golden bemalte Möbel und noch mehr
Objekte im ägyptischen Stil. Der Teppichboden hatte ein gewagtes
Muster mit Ringen in Gold, Rot und Blau, von dem mir der Schädel
dröhnte. Gequält wandte ich den Blick ab.
Oben auf dem Fernseher stand eine Tafel mit den
verfügbaren Kanälen. Also befand ich mich in einem Hotel. Aber wo?
Und wie war ich hergekommen? Ich rappelte mich auf, torkelte zum
Fenster und zog die Vorhänge beiseite.
Ich blickte auf einen gnadenlosen Himmel und
kakifarbene Erde. Am Horizont erhoben sich braune Berge. Ich war in
der Wüste. Ich hasse die Wüste.
Am Fuß der schrägen Fassade verlief ein Boulevard
mit Hotels. Ich glotzte auf die Sphinx, den Eiffelturm, noch mehr
Hotels.
»Oh nein!«
Ich war in Las Vegas.
Der in der Mittagshitze glühende Strip starrte mir
ins Gesicht. Mir wurde heiß und kalt. Mein Magen krampfte sich
zusammen. Ich stürzte ins Bad und erbrach mich.
Danach spritzte ich mir Wasser ins Gesicht. Ich war
sechshundertfünfzig Kilometer von zu Hause entfernt und hatte keine
Ahnung, wie ich diese Strecke zurückgelegt hatte. Außerdem hatte
ich einen furchtbaren Kater, obwohl ich mich gar nicht betrunken
hatte. Mein Gesicht im Spiegel sah aus, als hätte ich den Kampf mit
einem psychopathischen Friseur verloren. Ich trug ein T-Shirt mit
dem Aufdruck »Von null auf geil in drei Sekunden«.
Als ich ins Zimmer zurückschlurfte, entdeckte ich
mein rotes Kleid zusammengefaltet über einem Stuhl. Meine Schuhe
standen darunter, die Handtasche lag auf der Sitzfläche. Beunruhigt
kontrollierte ich den Inhalt, aber meine Brieftasche war
unberührt.
Als Erstes musste ich hier weg. Hoffentlich gelang
es mir, das T-Shirt abzustreifen, ohne mir den Kopf
abzureißen.
Das Klicken des Türschlosses ließ mich zu Eis
gefrieren. Jakarta Rivera kam mit einem Pappkarton mit Kaffee, Saft
und Bagels hereinspaziert.
»Was hast du mit mir gemacht?«, fragte ich. Über
das förmliche Sie waren wir definitiv hinaus.
Jax war offenbar der gleichen Meinung. Sie streckte
mir einen Orangensaft entgegen. »Trink das. Du brauchst
Flüssigkeit.«
»Ich fasse das nicht an. Du hast mich unter Drogen
gesetzt.«
»Das war ich nicht.«
Ich griff nach meinem Kleid und steuerte das Bad
an, um mich umzuziehen. Jax hielt mich auf und drückte mir eine
Dose Aspirin in die Hand.
»Brandneu. Du kannst das Sicherheitssiegel
überprüfen, es ist unberührt«, sagte sie. »Und in dieses Kleid
würde ich nicht wieder schlüpfen.«
Ich hob es hoch und entdeckte einen fettigen
Salsa-Fleck.
»Taco Bell in Barstow, halb drei heute Morgen«,
sagte sie. »Du wolltest unbedingt rein.«
Ich warf das Kleid aufs Bett und verschwand im Bad,
um das Aspirin zu schlucken. »Hältst du mich hier gefangen?«
»Schätzchen, ich tu gar nichts. Ich bin nur
Mitfahrerin, genau wie du.«
»Kannst du dich denn an gar nichts erinnern?«,
fragte sie, als ich aus dem Bad trat. Offenbar war mir meine
Verwirrung anzusehen.
»Erzähl’s mir.« Ich ließ mich auf das zerwühlte
Bett plumpsen. »Ich hoffe nur, ich war nicht auf einer Orgie mit
Videokamera.«
»Harley wollte einen Ausflug machen, und wir sind
mitgefahren.« Jax riss den Deckel von einem der Kaffeebecher und
trank.
»Wir sind ganz spontan mitten in der Nacht nach
Vegas aufgebrochen?«, erkundigte ich mich.
»Ist das denn untypisch für Harley?«
»Nein. Überhaupt nicht. Sie ist durch und durch
impulsiv. Nach einem Streit mit ihrer Geliebten ist das ein
typisches Ablenkungsmanöver.« Ich starrte aus dem Fenster. Das
Licht war unerträglich grell. »Oh Gott, ich kann mein Haar wachsen
hören.«
Ich stand auf, nahm Jax den Kaffee aus der Hand und
trank einen Schluck.
Sie warf mir einen wissenden Blick zu. »Schlaues
Mädchen. Trau keinem.«
Der Kaffee war heiß und stark. »In welchem Hotel
sind wir?«
»Im Luxor.«
»Jemand hat mir was in den Wein getan«, sagte
ich.
»Das vermute ich auch. Vermutlich Rohypnol.«
Mein Kopf dröhnte immer noch. »K.o.-Pillen?«
»Ja. Jemand wollte dich außer Gefecht
setzen.«
Das musste mit I-Heist und dem Ultimatum zu tun
haben, das wir überschritten hatten. Vor meinen Augen flimmerte
es.
»Jax, ich bin nicht in der Stimmung für Spielchen.
Warst du das?«
Sie griff nach dem anderen Kaffee. »Du solltest
allmählich gemerkt haben, dass ich dir nichts Böses will. Ich passe
auf dich auf.«
»Warum?«
»Weil du gestern Nacht nicht dazu in der Lage
warst.«
»Danke, aber das reicht mir nicht.«
»Damit wirst du leben müssen.«
»War das die Gefahr, vor der du mich warnen
wolltest?«
»Nein, damit hatte ich nicht gerechnet.«
Ich trank von meinem Kaffee und überlegte. »Wo ist
Harley?«
»Im Casino.« Sie wanderte zum Fenster und starrte
in die Gluthitze hinaus. »Das Zimmer ist kostenlos. Harley ist hier
bekannt.«
»Sie hat Beziehungen. Ihr Vater war ein …«
»Spieler. Das hat sie mir erzählt.«
Draußen über dem Asphalt flirrte die heiße
Luft.
»Harley läuft vor irgendwas davon«, stellte Jax
fest. »Und zwar nicht vor einer unglücklichen
Liebesgeschichte.«
»Hat sie dir das erzählt?«
»Du weißt, was ich meine. Du willst es dir nur
nicht eingestehen.«
Im Licht wirkte ihr Gesicht hart und um die Augen
herum sehr müde. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl in der
Magengegend, und für einen Augenblick dachte ich, mir würde wieder
schlecht.
»Du glaubst, sie ist in die Affäre um Franklin
Brand verwickelt«, sagte ich.
»Natürlich ist sie das.«
Harley war Rechtsberaterin von Mako Technologies
und hatte sich von Anfang an bemüht, mich und Jesse von der Firma
fernzuhalten. Sie wusste, was lief.
Ich presste die Finger gegen die Schläfen. »Sie
wird sich auf ihre Schweigepflicht als Anwältin berufen.« Ich
spürte einen stechenden Schmerz. »Das soll übrigens nicht heißen,
dass du sie zum Reden bringen sollst.«
»Jetzt beruhig dich mal wieder. Ich hatte nicht
vor, sie zu foltern, Evan.«
Ich war immer noch wacklig auf den Beinen und
fröstelte. »Glaubst du, Harley hat mir das Zeug ins Glas
getan?«
»Höchstwahrscheinlich. Auf jeden Fall war sie in
der Nähe. Das gilt allerdings auch für die anderen. Und woher
hattest du die letzte Flasche? Aus der Küche? War sie schon
offen?«
»Ja.«
»Hast du dein Glas irgendwann in der Küche stehen
lassen?«
»Ja. Jeder hätte sich durch die Hintertür
reinschleichen können, während wir mit der Dessous-Show beschäftigt
waren.« Ich rieb mir die Schläfen. »Aber warum sollte mich jemand
außer Gefecht setzen wollen?«
»Um dir was anzutun oder um bei dir zu Hause freie
Bahn zu haben.«
»Aber Harley hat mir nichts getan.«
»Ist denn zu Hause alles in Ordnung?«
Ich hatte keine Ahnung. Als ich mein Handy aus der
Handtasche kramte, entdeckte ich drei Anrufe, alle von Jesse. Ich
rief zurück, erreichte aber nur seinen Anrufbeantworter.
»Wenn Harley hinter der Sache stecken würde, hätte
sie wohl kaum zugelassen, dass wir zu dritt fahren«, gab ich zu
bedenken.
»Klingt einleuchtend.«
Ich trank noch mehr Kaffee und beschloss, dass ich
keinen Nerv hatte, um den heißen Brei herumzureden. »Jax, ich
glaube, du spielst mit mir. Ich weiß nicht, warum, aber Tim und du,
ihr zieht irgendeine perverse Show ab. Dieser Ghostwriter-Auftrag
ist auf jeden Fall nur ein Vorwand. Und deine Hilfsbereitschaft ist
auch nur Fassade. Außerdem glaube ich nach wie vor, dass du mir die
Drogen ins Glas gekippt hast.« Ich stellte meinen Kaffeebecher ab.
»Ich verschwinde.«
Ich wandte mich zum Gehen. Leider hatte ich immer
noch keine saubere Hose.
»Schau in dem Sack nach«, riet Jax. »Das ist eine
Geschenktüte von deiner Brautparty.«
Der »Sack« war eine große Einkaufstüte mit dem
magentafarbenen Dazzling-Delicates-Logo. Ich wühlte mich
durch rosa Seidenpapier, bis ich auf Countess-Zara-Dessous aus
einem undefinierbaren, silbrig glänzenden Material stieß. Ich
marschierte damit ins Bad, zog mein Kleid an und darüber das
unsägliche T-Shirt mit der Innenseite nach außen, um den Fleck zu
verdecken. Die Dazzling Delicates kratzten wie der Teufel.
Dann trat ich ins Zimmer zurück und griff nach meiner Handtasche.
Mal sehen, ob Jax mich wirklich gehen lassen würde.
Sie lehnte am Fenster. »Setz dich einen Augenblick
hin.«
»Hab ich’s mir doch gedacht.«
Ich marschierte zur Tür. Hatte sie abgeschlossen?
Oder wartete Tim North draußen im Gang? Ich legte die Hand auf den
Türknopf.
»Ich weiß, warum das FBI hinter Jesse her ist.«
Gegen die grelle Sonne konnte ich nur ihre Silhouette ausmachen.
»Das hat alles mit Mako zu tun.«
Ich setzte mich hin.
Jax reichte mir einen Bagel und einen Orangensaft.
»Du musst schleunigst wieder fit werden. Die Lage spitzt sich zu.
Es ist wichtig, dass du geistig und körperlich voll auf der Höhe
bist.«
Ich griff zu.
»Cherry Lopez hat enge und höchst zwielichtige
Verbindungen zu Mako Technologies.«
»Und da kommt das FBI ins Spiel?«
»Hör mir einfach zu. Du hast keine Ahnung, in was
du da reingeraten bist.«
Sie schritt vor dem Fenster auf und ab. »Zunächst
einmal zum Hintergrund. Lopez arbeitet mit Mickey Yago und Win
Utley. Die sind dir ja bekannt.«
»I-Heist.«
»Diese Leute haben sich auf Diebstahl und
Erpressung
im Internet spezialisiert. Makos Aufgabe wäre es eigentlich, so
was zu verhindern, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Yago war
ursprünglich Kokaindealer und hat sich so Zugang zu Mako
verschafft.«
»Er hat die Firma mit Koks beliefert?«
»Er war Kenny Rudenskis Dealer.«
Mein Puls beschleunigte sich. Das war gar nicht gut
für meine Kopfschmerzen. Ich trank mehr Kaffee.
»Es handelte sich um eine ganz gewöhnliche
Geschäftsbeziehung, bis Kenny in seinem Geschäftsbereich schwere
Fehler unterliefen und er die Gehälter nicht mehr zahlen konnte.
Daraufhin einigte er sich mit Yago. Er kaufte zum Sonderpreis große
Mengen Koks und verkaufte es weiter. Mit dem Gewinn bezahlte er
seine Mitarbeiter in der Firma.«
»Das kann doch nicht wahr sein!«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Du hast wohl noch
nicht viel mit der harten Realität der Hightech-Branche zu tun
gehabt.«
»Warum sollte Kenny derart viel riskieren?«
»Verzweiflung, mangelnde Moral, die Angst, vor
Daddy als unfähig dazustehen …« Sie wedelte mit der Hand. »Auf
jeden Fall hatte Yago ihn damit in den Krallen. Kenny glaubt, er
ist sein Retter. Mittlerweile hat sich zwischen den beiden eine
symbiotische Beziehung entwickelt. Als Mako an die Börse ging,
zeichnete I-Heist in großem Umfang Aktien. Yago ist ein wichtiger
Aktionär von Mako. Selbstverständlich über Scheinfirmen.«
»Und was hat Kenny davon?«
»Yago kauft und hält Mako-Aktien. Das stützt
Aktienkurs und Marktkapitalisierung. Als Gegenleistung lässt Kenny
I-Heist unter der Hand an die Mako-Sicherheitssoftware.«
Ich überlegte. »Ich nehme an, Kenny Rudenski
verkauft ihm Mako-Quellcode.«
»So ist es.«
»Und sobald I-Heist den in den Fingern hat, wird
eine Hintertür einprogrammiert, über die sie sich in abgesicherte
Datenbanken einhacken, um Leute zu erpressen.«
»Eine Spezialität von Cherry Lopez«, sagte Jax.
»Nachdem sie ihre Opfer ausgequetscht hat, räumt I-Heist ihre
Bankkonten leer und schöpft ihr Kreditkartenlimit aus. So als
kleinen Tritt in den Hintern zum Abschied.«
Ich trank meinen Kaffee und versuchte, diese
Informationen zu verarbeiten. Wo war die Verbindung zu den
Ermittlungen der Geldwäscheabteilung des FBI?
»Mako hat eine schwarze Kasse, einen Fonds namens
Segue. Ich schätze, über den hat Yago die Gewinne aus seinen
kriminellen Machenschaften laufen lassen«, sagte ich.
»Sieht ganz so aus.«
»Kenny Rudenski hilft Yago also bei der
Geldwäsche.«
»Könnte man sagen.«
»Verdammt noch mal. Und er bekommt einen Anteil,
mit dem er dann wieder seine Bilanz beschönigt. Wer außer Rudenski
junior ist bei Mako noch beteiligt?«
»Das weiß ich nicht. Diese Information besaß Lopez
nicht.«
Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ich fragte mich,
aufgrund welcher Umstände Tim und sie entschieden, wann aus einer
Person nichts mehr herauszuholen war.
»Ich habe immer noch Kontakte in Washington. Ein
Bekannter im Finanzministerium hat mir Win Utleys Kurzbiografie
geliefert. Utley war Programmierer bei der Steuerbehörde. Er sollte
versuchen, sich ins System einzuhacken,
um eventuelle Sicherheitslücken aufzudecken. Stattdessen klaute er
Tausende von Sozialversicherungsnummern und elektronisch
übermittelten Steuererklärungen und erpresste damit Leute, die
Steuern hinterzogen.«
»Wieso ist Utley noch auf freiem Fuß, wenn dein
Freund im Finanzministerium so viel über ihn weiß?«
»Weil das Material nicht für eine Anklage
reicht.«
»Und wie helfen wir den Behörden dabei, sich dieses
Material zu besorgen? Irgendwo in den Büchern von Mako müssen die
Beweise versteckt sein.«
Ihre Katzenaugen musterten mich verwundert. »Wie
stellst du dir das vor? Soll ich mich bei Mako einhacken? Für wen
hältst du mich, Schätzchen?«
Ich erhob mich und legte die Hände gegen die
Scheibe. Das Glas war heiß. Draußen musste glühende Hitze
herrschen.
»Und falls du daran denkst, selbst die Systeme von
Mako zu knacken, vergisst du das am besten gleich wieder. Keine
Chance.«
Ich antwortete nicht.
»Evan, Sicherheit ist das Geschäft der Firma. Es
wird dir nicht gelingen, ihre Verschlüsselung zu überlisten oder
ihre Router so zu rekonfigurieren, dass sie dich ins Firmennetz
lassen. Dazu gibt es zu viele Sicherheitsschranken und verschiedene
Zugriffsebenen. Du könntest noch nicht mal einen der Angestellten
bestechen, um dir die Informationen zu besorgen. Dafür fehlt dir
schlicht das Geld.«
»Und wenn ich ganz lieb darum bitte?«
»Ein blutiger Amateur wie du hat nur eine Chance:
sich Zutritt zu einer Workstation in der Firma selbst zu
verschaffen. Falls jemand die Tür zu einem Sicherheitsbereich offen
lässt oder sein Passwort unter die Tastatur klebt, helfen weder
raffinierte Verschlüsselungssoftware noch Firewalls. Aber die
Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering.«
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich
dahinter jetzt eine versteckte Aufforderung vermuten.«
Sie stellte ihren Kaffeebecher ab. »Ich will dir
nur klarmachen, dass I-Heist keine Rücksicht kennt. Diese Leute
stecken mit Kenny Rudenski unter einer Decke und werden sich nicht
die Butter vom Brot nehmen lassen. Wenn sie hinter Jesse her sind,
brauchen sie vermutlich einen neuen Geldwäschekanal.«
»Warum?«
»Vielleicht, weil ihre bisherigen Kanäle
auszufallen drohen.«
Sie sah mich an und wartete, dass ich meine eigenen
Schlüsse zog. Ich fühlte mich hundeelend.
»Harley«, sagte ich.