4. Kapitel
»Das darf doch nicht wahr sein!« Jesse pfefferte seinen Stift auf den Schreibtisch.
»Direkt auf die Intensivstation«, sagte ich. »Es ist noch nicht raus, ob er überleben wird.«
Er presste die Finger gegen die Nasenwurzel. Hinter ihm strömte das Sonnenlicht durch das Fenster seines Büros. Die Berge leuchteten in der Hitze strahlend grün unter dem blauen Himmel.
»Armes Schwein«, sagte er.
Er rief nach seiner Chefin, die gerade an seinem Büro vorbeiging.
»Lavonne, Cal Diamond hat einen Herzanfall gehabt.«
Lavonne Marks war eine echte Glucke und sprach mit einem Akzent, der so unverkennbar Philadelphia war, dass einem die Ohren wehtaten. An der Uni hatte sie sich durch ihre politische Radikalität hervorgetan. Deswegen lief Sanchez Marks jetzt unter dem Spitznamen »militanter Flügel«. Sie schüttelte den Kopf.
»Dann lass das mit der Ladung für den Augenblick auf sich beruhen. Der Kerl läuft uns nicht weg.«
»Da gäbe es allerdings ein kleines Problem«, warf ich ein.
Ich schilderte meine zweite Begegnung mit der Gattin und berichtete, wie ich überstürzt das Gebäude verlassen hatte. Die Versuchung, zurückzuschlagen, war enorm gewesen, aber ich hatte mir vor Augen geführt, dass Mari Diamond verängstigt und hysterisch war. In ihrer Situation nur allzu verständlich. Auf dem ganzen Weg zur Lobby hatte mich das Kläffen des Chihuahua verfolgt. »Sie mach ich fertig!«, hatte mir seine Besitzerin nachgebrüllt.
»Das ist doch absurd«, meinte Jesse.
»Das dürfte ihr in dieser Stimmung egal sein. Du musst damit rechnen, dass sie sich bei dir meldet«, erklärte ich.
»Ich hoffe, du fühlst dich nicht verantwortlich. Du kannst nichts dafür. Und – was zum Teufel ist denn das?«, sagte Lavonne.
Mit kugelrunden Augen starrte sie auf Jesses Computer. Auf dem Bildschirm prangte ein Penis von der Größe einer Rostbratwurst.
Jesse hob fassungslos die Hände. »Tut mir leid, Lavonne. Ich habe keine Ahnung, wo das herkommt.«
Kreidebleich fing er an, auf seiner Tastatur herumzuhämmern.
»Das hat der Internetbrowser von allein geöffnet. Ich war das nicht«, beteuerte er.
»Das will ich auch hoffen. Solche Neigungen kenne ich von dir gar nicht, Mr. Blackburn.«
Mit jeder Taste, die er betätigte, erschien ein neues Bild, eines eindeutiger als das andere. Als er versuchte, das Programm zu schließen, ging ein Dialogfeld auf.
Haben Sie einen winzigen Penis? Klicken Sie JA oder NEIN.
Er versuchte es mit NEIN. Daraufhin hüpfte die Schaltfläche wie ein Irrlicht über den Bildschirm.
»Irgendein Witzbold spielt mir einen dummen Streich …« Er klickte auf JA.
Ein weiteres Dialogfeld erschien. Sollen wir Ihnen mehr Fotos schicken? Klick. Ein drittes Feld. Oder sollen die Bilder direkt an Ihre Chefin gehen?
»Was ist denn das?«, fragte er.
Lavonne runzelte die Stirn. »Da hat sich jemand in unser System gehackt.« Sie marschierte zur Tür. »Ich hole unseren Computerspezialisten.«
Jesse versuchte erneut, das Programm zu schließen.
Möchten Sie Fotos von sich selbst sehen?
Er starrte auf den Monitor mit dem blinkenden Cursor. Können wir Ihnen gern liefern, Blackburn.
»Ich komm da nicht raus.«
Er versuchte erneut, das Programm zu schließen. Als sich nichts tat, zog er das Netzwerkkabel hinten aus seinem Computer, um die Internetverbindung zu unterbrechen. Wieder öffnete sich ein Dialogfeld.
Wir lassen uns nicht stoppen.
Er drückte die Einschalttaste, und der Bildschirm wurde schwarz.
»Ich glaub dir ja, Jesse. Wirklich«, sagte Lavonne.
Der IT-Spezialist bestätigte, dass sich jemand in Jesses Rechner gehackt hatte. Die Firewall der Kanzlei hätte die Pornobilder gar nicht durchlassen dürfen, hatte aber aus irgendeinem Grund versagt. Er ließ das Antivirenprogramm laufen, fand jedoch nichts.
»Wahrscheinlich ein nach dem Zufallsprinzip verschickter Wurm«, meinte er schließlich und kratzte sich am Kinn. »Kann auch sein, dass Ihr Rechner ihn weiterverbreitet hat. Fragen Sie mal bei den Leuten in Ihrem E-Mail-Adressbuch nach, ob irgendwer Probleme hat.«
»Aber das Ding kannte meinen Namen«, gab Jesse zu bedenken.
»Ihre E-Mail-Adresse ist j.blackburn. Vermutlich hat der Wurm den Namen automatisch rausgefiltert.«
Jesse schüttelte den Kopf. »Die Sache gefällt mir nicht.«
»Kann ich verstehen. Glücklicherweise ist kein anderer Rechner in der Kanzlei infiziert.«
»Und wenn es wieder passiert?«
Der Computerspezialist zuckte die Achseln. »Dann rufen Sie mich.«
 
Am selben Abend um 22.30 Uhr ging in der Einsatzzentrale ein Notruf ein: Im Harry’s Plaza Café gab es Ärger. Die Geschäftsführerin meldete eine Schlägerei vor dem Restaurant. Ein Streit zwischen Gästen, bei dem es bereits zu Handgreiflichkeiten gekommen war.
Bis der Streifenwagen auftauchte, war alles vorbei. Die Geschäftsführerin trat heraus.
»Zwei sind bereits weg. Ein dicker Mann in Baggyjeans und ein dünnes, schwarzhaariges Mädchen. Dick und Doof.« Sie deutete mit dem Daumen in Richtung Bar. »Einer ist noch drin. Seid so nett und schafft ihn mir vom Hals.«
Er lehnte mit einem Jim Beam in der Hand an der Theke. Seine Fingerknöchel waren aufgeschürft. Als er die Polizisten bemerkte, kippte er den Bourbon hinunter und stellte das Glas ab.
»Alles in Ordnung, Officers. Ich wollte nur austrinken und dann sowieso verschwinden.«
Die Beamten eskortierten ihn nach draußen und fragten nach seinem Ausweis.
»Ich sag doch, ich bin schon so gut wie weg.«
Er wandte sich zum Gehen. Die Polizisten, denen seine elegante Kleidung und der Rasierwasserduft nicht zu den aufgeschürften Knöcheln und den blutunterlaufenen Augen zu passen schienen, beharrten darauf, dass er sich auswies.
Unter Protest legte er schließlich einen Diplomatenpass von Britisch-Honduras vor.
Die Beamten prüften das Dokument, wechselten einen Blick und fragten nach einem weiteren Ausweispapier.
»Ich denke nicht daran«, erwiderte der Mann hochnäsig. »Ich genieße diplomatische Immunität.«
»Wohl kaum. Britisch-Honduras gibt es nämlich gar nicht mehr.«
Und tatsächlich war sein kalifornischer Führerschein nicht nur abgelaufen, sondern lautete auch noch auf einen anderen Namen. Die Datenbank spuckte auf Anhieb den Haftbefehl aus.
Die Beamten zückten die Handschellen. »Franklin Brand? Sie sind verhaftet.«
Rachsucht
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