16. Kapitel
Ich mistete gerade meinen Kühlschrank aus, als Jesse anrief.
»Ev, ich brauche Hilfe.« Seine Stimme klang dünn.
»Gibt’s ein Problem?«
»Ich bin das Problem. Autsch.«
Ich umklammerte das Telefon. »Wo bist du?«
»Vor deinem Haus.«
Ich ließ das Telefon fallen und rannte nach draußen. Der Audi parkte gegen die Fahrtrichtung schräg am Randstein. Ich riss die Tür auf und beugte mich ins Auto.
»Du blutest ja!«, stellte ich fest.
»Du musst mir den Rollstuhl rausholen. Meine Hand ist im Eimer.«
Ich starrte auf sein Handgelenk, das er ganz vorsichtig drehte, um es so wenig wie möglich zu bewegen. Als ich die Hand danach ausstreckte, zuckte er zurück. Sein Gesicht war aufgeschürft. Handfläche und Ellbogen wiesen ebenfalls Schürfwunden auf, in denen sich der Dreck festgesetzt hatte.
»Bist du gestürzt?«
»Mickey Yago hat meinen Weg gekreuzt.«
Mir stockte vor Angst und Wut der Atem.
»Ist das Handgelenk gebrochen?«
»Nein, aber ich kann es nicht belasten.«
Ich hievte den Rollstuhl heraus. Jesse hatte große Schwierigkeiten, auszusteigen, und als er mit der Hand zufällig gegen den Türrahmen stieß, zischte er vor Schmerz durch die Zähne. Sein Handgelenk war sichtlich geschwollen und vermutlich zumindest gezerrt.
»Wie hast du’s bloß geschafft, Auto zu fahren?«, erkundigte ich mich.
»Frag mich was Leichteres.«
Er versuchte, nach den Greifrädern zu fassen, aber das war unmöglich. Als er es mit der linken Hand allein probierte, drehte er nach rechts ab. Er schloss die Augen und holte ein paar Mal tief Luft.
»Du musst mich schieben«, sagte er dann.
Der Rollstuhl hatte keine Griffe. Er war nicht dafür gedacht, geschoben zu werden, sondern sollte als Beinersatz dienen. Ich schlang die Hände um die untere Lehne und rollte Richtung Haus – für Jesse die ultimative Demütigung.
»Erzählst du es mir?«, fragte ich.
»Yago hat mir ein Begrüßungskomitee zum Supermarkt geschickt. Einen fetten Kerl in Schwarz mit Ziegenbart. Fährt einen Mercedes-Geländewagen.«
»Win Utley.«
Im Haus steuerte ich das Bad an, wo Jesse seine Hand unter den Wasserhahn hielt, während ich Desinfektionsmittel und Gaze hervorkramte. Sein weißes Hemd war völlig verdreckt und mit irgendwelchen Lebensmitteln verschmiert.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Milch und Tomaten. Utley hat sich auf mich gestürzt, als ich ihn mit meinen Einkäufen beworfen habe.«
Er fummelte mit Gaze und medizinischem Klebeband herum, das er mit den Zähnen abriss. Ich nahm es ihm sanft weg und fing an, seine Hand zu verbinden.
»Er hat sich auf dich gestürzt?«, fragte ich.
»Ich glaube, die Melone hat ihn ziemlich fest getroffen. Oder vielleicht war es auch die Flasche mit der Bleiche.«
Er zuckte unter meiner Berührung zusammen, aber der Verband saß.
»Ich würde gern mit dir in die Notaufnahme fahren. Die sollen sich das Handgelenk anschauen«, sagte ich.
»Ich hab keine Lust, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen.«
»Und wenn das Gelenk gebrochen oder ausgerenkt ist?«
»Ist es aber nicht.«
»Das kannst du gar nicht wissen. Du siehst aus, als wärst du schwer gestürzt.«
Ich strich ihm das Haar aus dem Gesicht, um die Verletzungen an Wange und Stirn zu begutachten. Er fing meine Hand ein und legte sie sich in den Schoß.
»Evan, ich bin nicht aus Zucker.« Das Lampenlicht ließ seine blauen Augen funkeln. »Ich habe mir das Handgelenk nicht beim Sturz verletzt, sondern bei dem Kinnhaken, den ich Utley verpasst habe.«
Ich starrte ihn an. »Wie oft?«
Fast hätte er gelächelt. »Nur einmal. Er ist mir direkt in die Faust gelaufen.« Dann wurde er ernst. »Dafür hat er mir einen gewaltigen Stoß verpasst. Ich wäre rückwärts umgefallen, aber Yago stand direkt hinter mir und hat mich zur Seite gekippt.« Seine Stimme wurde leiser. »Er stellte sich mit dem Stiefel auf meinen einen Arm, und Utley kniete sich auf den anderen. Ich konnte mich nicht rühren.«
Die Vorstellung, dass er hilflos auf dem Asphalt gelegen hatte, machte mir schwer zu schaffen.
»Was wollen sie denn von dir?«, fragte ich.
»Gehen wir ins Wohnzimmer.«
Er versuchte, mit dem linken Arm zurückzusetzen und prallte fluchend gegen die Badewanne. Nachdem es mir gelungen war, ihn ins Wohnzimmer zu bugsieren, zerschlug ich Eiswürfel und füllte sie in eine Plastiktüte.
Jesse wickelte sie sich um das Handgelenk. »Okay, ich geb mich geschlagen. Morgen früh muss ich sowieso zur Krankengymnastik. Der Therapeut soll einen Blick drauf werfen.«
Der Krankengymnast war kein Arzt, aber mehr war wohl nicht drin. Das Wort »Röntgen« erwähnte ich gar nicht erst.
»Was wollen sie von dir?«, wiederholte ich.
»Geld.«
»Wie viel?«
»Zweihunderttausend Dollar.«
Ich starrte ihn an. »Das darf doch nicht wahr sein.«
»Innerhalb von achtundvierzig Stunden.«
Ich musste mich setzen. »Aber wieso denn?«
»Weil sie Erpresser sind, Evan. Das ist ihr Geschäft.«
»Du musst das der Polizei melden.«
»Hab ich schon. Nachdem Yago und Utley weg waren, hat mich der Verkäufer vom Supermarkt auf dem Parkplatz entdeckt und die Polizei gerufen.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Aber Lieutenant Rome denkt sowieso, ich stecke mit Brand unter einer Decke. Was da auf dem Parkplatz los war, hält er wahrscheinlich für einen Streit unter Gangstern.«
Der Wind frischte auf und raschelte in den Büschen vor dem Haus. Ich spürte eine düstere Vorahnung.
»Und wenn du das Geld nicht beschaffst? Was dann?«
Wortlos rückte er den Eisbeutel an seinem Handgelenk zurecht. Meine Kehle war wie ausgedörrt.
»Was dann?«, wiederholte ich. »Erfahre ich ›alles‹, wenn du nicht zahlst?«
»Da gibt’s nichts zu erfahren.«
»Jesse, es ist mir egal, was passiert ist. Nichts könnte mich von dir trennen.«
»Vertraust du mir?«
»Ja.«
»Dann lass es auf sich beruhen.«
Wir sahen einander an. »Natürlich«, sagte ich.
»Zu den Konsequenzen haben sie sich nicht weiter geäußert, nur dass es sehr unangenehm für mich werden würde.«
Ich sprang auf. Meine Nerven spielten verrückt. Am liebsten hätte ich die Zähne in die Möbel geschlagen und Löcher in die Wände gekratzt.
Ich tigerte auf und ab. »Warum du? Warum jetzt?«
»Yago denkt, ich schulde ihm Geld.«
»Wie bitte?«
»Er sagt, er will sein Geld. Und wenn er es von Brand nicht kriegt, holt er es sich von mir.«
»Moment mal.« Ich fuchtelte mit den Händen. »Sein Geld?«
»Das hat er gesagt. Also vermute ich mal, dass Brand Yago Geld schuldet.«
»Zweihunderttausend Dollar?«
»Kann schon sein.«
»Und warum wollen sie das Geld von dir? Was hast du damit zu tun?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wegen des Vergleichs mit Mako. Oder weil sie denken, ich nehme eine Hypothek auf mein Haus auf und verkaufe meine Aktien.«
»Aber das geht doch nicht in achtundvierzig Stunden.«
»Natürlich nicht. Selbst wenn ich es wollte.«
Mir wurde immer mulmiger zumute. »Das klingt, als wollten sie gar nicht, dass du rechtzeitig an das Geld kommst.«
»Was bedeutet, dass sie was anderes von mir wollen. Es kann also nur schlimmer werden.«
»Verdammt. Jesse, was hast du ihnen gesagt?«
»Dass sie sich ihre Forderung sonst wohin stecken können.«
Ich wartete. Das war bestimmt noch nicht alles.
»Utley jammerte die ganze Zeit rum, weil ich ihm die Fresse poliert hatte, aber Yago war eiskalt. Er trat mir nur kräftig mit dem Absatz auf die Hand und sagte, ich würde wieder von ihnen hören. Dann ist er verschwunden.«
Ich hörte ihn atmen und wartete.
»Utley flennte immer weiter, weil ihm das Gesicht wehtat. Er nahm die Brille ab und fummelte an seiner Backe rum. Dann fing er an, gegen meine Einkaufstüten zu kicken. Am Ende lag das Zeug überall auf dem Asphalt verstreut. Als er gerade Leine ziehen wollte, sagte ich ihm, er hätte was vergessen.«
»Was denn?«
»Er drehte sich um. Da er die Brille nicht mehr aufhatte, konnte er wohl nicht viel erkennen. Auf jeden Fall kniff er die Augen zusammen und kam näher.«
»Und?«
»Da hab ich ihm das Ameisengift ins Gesicht gesprüht.«
 
Er blieb die Nacht über, obwohl es ihm furchtbar peinlich war, dass ich ihm bei allem helfen musste: mit der Zahnpasta, den Socken, den Jeans. Noch nicht einmal zur Toilette konnte er allein gehen. Er kam sich vor wie … behindert. Wirklich behindert.
Das hatten wir natürlich alles schon einmal erlebt, ganz am Anfang. Am Tag seiner Entlassung aus der Rehaklinik waren wir essen gewesen. Er hatte mich über den Tisch hinweg fixiert.
»So, wie kriegen wir das hin?«, hatte er gefragt.
»Das? Ich schätze, du meinst …«
»Sex. Uns.«
Er wurde von der Sonne angestrahlt. Ich betrachtete seine blauen Augen, sein attraktives Gesicht, das binnen weniger Monate seine ganze Jugendlichkeit verloren hatte.
»Fakt Nummer eins. Ich kann nicht laufen und weiß nicht, ob ich es je wieder können werde. Wenn das zu viel …«
Ich stand auf und beugte mich über den Tisch. Es war ein irres Gefühl, ein Sprung ins kalte Wasser. Ein Teller zerschellte auf dem Boden. Ich wusste nur, dass ich ihn wollte, was auch immer geschah.
»Gehen wir zu mir«, sagte ich.
Dann saßen wir bei mir auf der Bettkante, und er knöpfte meine Bluse auf. »Evan, ich muss es einfach sagen. Ich habe eine unvollständige Rückenmarksverletzung. Es könnte schlimmer sein, aber ich habe trotzdem die ganze Palette zu bieten. Starke Einschränkung des Bewegungs- und Empfindungsvermögens. Spastizität der Muskeln. Probleme mit Blase und Darm. Sexuelle Dysfunktion.«
»Aus dem Paradies sind wir wohl endgültig vertrieben worden. Aber wo stehen wir genau?« Mir zitterten die Knie.
Er legte die Hand um meine Taille. »Das müssen wir einfach rausfinden.«
Drei Jahre lang hatten wir um jedes Stück Normalität gekämpft. Und jetzt sollte alles wieder von vorn anfangen? Jesse war todmüde. Also holte ich ihm Ibuprofen und einen neuen Eisbeutel und half ihm ins Bett. Aber ich selbst war völlig überdreht und kochte vor Wut. Ich ging ins Wohnzimmer, legte Matrix ein und machte mir einen Drink. Auf dem Couchtisch vor mir breitete ich die Ausdrucke der Dateien von der Minidisk aus. Ich wollte die Daten gründlich unter die Lupe nehmen.
Es handelte sich überwiegend um Unterlagen von Mako, die Ausdrucke zeigten aber auch Auszüge von Brands FB-Enterprises-Konten. Die Disk war eine individuelle Aufstellung von Brands Transaktionen.
Ich durchforstete die gesamte Liste der Unternehmen und Risikokapitalfonds, in die Mako investiert hatte. Bei der ersten Prüfung hatten wir uns alle auf Firedog konzentriert. Aber das war nicht die einzige Start-up-Firma, an der Mako beteiligt war. Die Liste hatte ich vor mir. Mir stockte der Atem.
Da war es. Segue. Ein Unternehmen namens Segue hatte zweihunderttausend Dollar auf Brands Konto auf den Bahamas überwiesen und dann zusammen mit der halben Million, die angeblich an Firedog gegangen sein sollte, auf die Cayman Islands transferiert.
Zweihunderttausend Dollar. Brand hatte von diesem Segue-Konto zweihunderttausend Dollar abgehoben.
Nun wurde mir einiges klar. Brand war gar nicht im Biltmore gewesen, um sich die Disk zu holen. Er hatte andere Pläne gehabt, war aber von Yago überrascht worden. Die Minidisk war eine Rechnung. Eine Rechnung von Mickey Yago an Franklin Brand, für Geld, das er ihm gestohlen hatte. Brand, der Betrüger. Der superschlaue Brand, der Gelder verschob wie ein Trickbetrüger seine Hütchen. Der Idiot hatte sich in seiner Überheblichkeit bei Segue bedient und war damit ein paar großen Fischen in die Quere gekommen. Jetzt wollten sie ihr Geld zurück.
Aber er hatte es nicht. Und deswegen knöpften sie sich nun Jesse vor.
Treibsand. Wir versanken im Treibsand.
 
Als das Telefon am nächsten Morgen klingelte, kam ich gerade tropfnass aus der Dusche. Jesse hatte sich meine zerwühlte Bettdecke um den Bauch gewickelt und schlief fest. Ich griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch.
Jesses Mutter hustete in den Hörer. Ich hörte, wie ihr Feuerzeug klickte. »Ist mein Sohn da?«
»Einen Augenblick, Patsy.«
»Richte ihm einfach was von mir aus. Sag ihm, seine Mutter findet das nicht witzig.«
»Wie bitte?«
»Wenn ich schon in aller Früh Müll sehen will, kann ich auch in meine Tonne gucken.«
»Patsy, ich verstehe kein Wort.«
»Du findest das also auch lustig.«
Ohne die Augen zu öffnen, streckte Jesse die Hand nach dem Telefon aus. Ich reichte ihm den Hörer.
»Mom, was ist los?«
Seine Stimme war noch heiser vom Schlaf, was Patsy Blackburn bestimmt nur allzu lebhaft daran erinnerte, dass ihr Junge in meinem Bett lag. Hoffentlich griff sie deswegen nicht schon vor der Arbeit zur Flasche. Gut denkbar, dass sie sich bereits unterwegs einen kräftigen Schluck aus der mit Wodka gefüllten Evian-Flasche unter dem Fahrersitz ihres Autos gönnte.
»Nein, ich hab nicht … so was würde ich nie tun«, sagte Jesse. »Mom, lass mich nachschauen … nein, ich schwöre, auf keinen Fall …«
Er lauschte. Als er schließlich die Augen öffnete, wirkte er, als hätte ihm das Finanzamt eine Steuerprüfung angekündigt.
»Evan hat nichts damit zu tun. Ist mir egal, ob es ihr ähnlich sieht, sie kann es gar nicht sein. Hör mal, ich hab Probleme mit meinem Computer. Jemand hat mich auf dem Kieker. Nein, ich will nicht mit Dad sprechen, lass mich …«
Er kniff die Augen zu.
»Ja, Dad, das ist ein schlechter Scherz. Ich habe nichts damit zu tun. Nein, es ist nicht Evan. Ich schwör es dir … Jeder kann ein Foto digital so verändern, dass es … Ich kann dir genau sagen, warum ich so sicher bin. Weil Evan keinen Teufelskopf auf den Hintern tätowiert hat.«
Ich kam zu dem Schluss, dass ich selbst viel dringender einen Schluck brauchte als Patsy Blackburn.
 
Ich wanderte vor meinem Schreibtisch auf und ab. »Das ist ja abscheulich.«
Die E-Mail war nicht nur an Jesses Eltern, sondern auch an mich gegangen. Und vermutlich an alle möglichen anderen Leute. Absender war jesse.blackburn@fuckyou-verymuch. net. Für den Junggesellenabend, hieß es in der Nachricht.
»Das ist empörend. Entwürdigend!« Ich fuchtelte mit dem Finger in Richtung Computer. »Auf gar keinen Fall ist mein Hintern so dick.«
Jesse legte den Kopf zur Seite und betrachtete nachdenklich den Monitor. Ich verpasste ihm einen Klaps auf die Schulter.
»Selbstverständlich nicht«, sagte er. »Dein Hintern ist perfekt und hat die ideale Größe. Der Maßstab, an dem sich alle anderen Hintern messen lassen müssen. Und das hier …«
Die Frau auf dem Foto besaß mein Gesicht, besser gesagt, die Visage von meinem Führerscheinfoto. Das Hundehalsband mit den Spikes, die bis zum Oberschenkel reichenden Stiefel und der nackte Hintern, der sich der Kamera entgegenreckte, gehörten nicht mir.
Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Sein Handgelenk schien beweglicher als in der Nacht und tat ihm offensichtlich nicht mehr so weh. Vielleicht war er auch nur abgelenkt.
»Das ist Utleys Rache, weil ich ihm Ameisengift ins Gesicht gesprüht habe.«
»Und sie wollen dir zeigen, was sie können, wenn sie wollen«, sagte ich. »Wie stoppen wir das?«
In diesem Augenblick klopfte Nikki an die Tür. Ihr üppiger Mund wirkte verkniffen.
»Oh Gott! Du hast die E-Mail gekriegt«, sagte ich.
»Nein, aber Carl. Er steht gerade an der Spüle und wäscht sich die Augen aus. Hättest du nicht wenigstens einen Tanga tragen können?«
Ich setzte mich und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Rachsucht
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