20. Kapitel
Auf der Heimfahrt hakte ich meine interne
Checkliste ab. Mission erfüllt? Nein, unerwartete
Schwierigkeiten. Als da wären? Eine Taschendiebin mit
Elektroschocker. Potenzielle Kunden, die für Geld Menschen
umbrachten. Gegen Cash? Vielleicht nahmen sie auch Schecks.
Irgendwelche neuen Erkenntnisse über die Gründe für Jesses
Zwangslage? Nein. War der Auftrag für die Memoiren unter
Dach und Fach? Das Wort »Auftrag« hatte im Augenblick einen
unangenehmen Beigeschmack.
An der nächsten Ampel verriegelte der Halbstarke in
dem tiefer gelegten Chevrolet neben mir hastig die Autotüren, als
er mich mit mir selbst reden hörte.
Hatte ich irgendwas von Wert in Erfahrung
gebracht? Ja, man konnte nicht vorsichtig genug sein. Was
jetzt?
Keine Ahnung.
Als ich vor meinem Haus vorfuhr, wartete ein Mann
am Gartentor. Mit seinem Klemmbrett wirkte er wie ein
Versicherungsvertreter.
Nun, eine Lebensversicherung konnte ich im
Augenblick gut gebrauchen. Er trat auf mich zu.
»Evan Delaney? Das ist für Sie.«
Er übergab mir ein Dokument des Obersten
Gerichtshofs von Kalifornien. Mari Vasquez Diamond hatte ihrer
Drohung Taten folgen lassen und mich, Jesse und Sanchez
Marks verklagt, weil wir ihr angeblich vorsätzlich seelisches Leid
zugefügt hatten.
Das Telefon klingelte, als ich die Haustür
öffnete, aber ich verließ mich auf meinen Anrufbeantworter. Den
Blick auf die Klageschrift geheftet, kickte ich meine Schuhe von
den Füßen. Keine gute Idee.
Einer davon landete mit erstaunlicher
Geschwindigkeit in meinem Hochzeitsstapel. Die Papiere flogen durch
den Raum.
»Evan, wir müssen mit Ihnen reden. Tim hat etwas
rausgefunden, das Sie erfahren müssen.«
Ich rührte mich nicht von der Stelle.
»Sie wissen, wie ich zu erreichen bin«, sagte sie.
»Seien Sie ein kluges Mädchen und rufen Sie an.«
In den Tiefen meines Gehirns hörte ich Spiel mir
das Lied vom Tod. Ich hatte mich zu weit hinausgewagt und trieb
nun hilflos auf dem Ozean.
Ich starrte auf die Klageschrift. Vorsätzliche
Zufügung seelischen Leides lautete der Vorwurf. »… angestiftet
von dem Beklagten Blackburn, beleidigte die Beklagte Delaney Mrs.
Diamond in extremer Weise, um dieser schweres seelisches Leid
zuzufügen. Insbesondere bezeichnete Evan Delaney Mrs. Diamond in
Anwesenheit ihrer Gäste als ›alt‹, ›billig‹ und als
›Möchtegernpromi‹.«
Die Vorwürfe waren kleinlich, dumm und falsch, aber
einen Versuch war es ihr offenbar wert. Wer konnte so dämlich
gewesen sein, diese Klage für sie einzureichen? Ich warf einen
Blick auf die erste Seite und griff zum Telefon, legte aber sofort
wieder auf.
Nachdem ich meinen Schuh unter dem Hochzeitsstapel
ausgegraben hatte, machte ich mich auf den Weg zu Harley Dawsons
Kanzlei.
Als Harley in die Lobby der Kanzlei rauschte,
schimmerte alles an ihr seidig, von dem taubengrauen Kostüm bis hin
zu dem in der Nachmittagssonne glänzenden silbernen Haar. Sie
musterte mich mit kühlem Blick.
»Du siehst aus, als hättest du Essig getrunken«,
stellte sie fest.
Ich wedelte mit der Klageschrift. »Seit wann
übernimmt deine Kanzlei Klagen, die offensichtlich unbegründet
sind?«
»Was soll das schon wieder heißen?«
Ich blätterte zu Seite drei. »›Obwohl ihr bewusst
war, dass ihre Handlungen seelisches Leid verursachen würden,
versuchte die Beklagte Delaney, Calvin Diamond vor den Augen von
Mrs. Diamond Schriftstücke in einem Rechtsstreit zuzustellen …‹ Das
ist kein Klagegrund. Die Sache ist einfach absurd.«
»Jetzt beruhig dich erst mal«, sagte sie mit einem
Seitenblick auf die Rezeptionistin. »Ich weiß überhaupt nichts von
der Sache.«
»›Die besagte versuchte Zustellung von
Schriftstücken in einem Rechtsstreit erfolgte in unerhörter Weise,
als da wäre …‹« Ich blickte auf. »›Als da wäre?‹ Wer hat denn das
verbrochen?«
»Das reicht.«
»Noch lange nicht. Ich bin nur die Spitze des
Eisbergs. Warte, bis Jesse mit Lavonne Marks hier auftaucht.«
»Na toll, da freu ich mich ja schon.« Sie legte mir
die Hand auf den Rücken und bugsierte mich zum Aufzug. »Lass uns
einen Kaffee trinken.«
Ich schüttelte sie ab. »Wieso versuchen alle
ständig, mich loszuwerden?«
»Vielleicht, weil du die reinste Heulboje
bist.«
Der Aufzug hielt, und wir stiegen ein.
»Seit wann vertritt deine Kanzlei Mari Vasquez
Diamond?«, fragte ich.
»Geht dich nichts an.« Sie ließ die
Stockwerksnummern nicht aus den Augen.
»Wer hat sie zu dir geschickt? Kenny Rudenski?« Sie
verzog den Mund. Ich hatte mich also nicht geirrt. »Was ist das mit
dir und Kenny? Der Kerl macht nur Ärger, Harley. Ein ganz übler
Typ. Mit so jemandem lässt du dich besser nicht ein.«
»Ich sag dir doch, er …«
»Ja, ich weiß. Keiner versteht ihn. Er ist im
Grunde ein herzensguter Mensch. Also wirklich, du klingst wie ein
verliebter Teenager.«
Das hatte gesessen. Als sich die Aufzugtüren im
Erdgeschoss öffneten, trat sie nach draußen, ohne mir einen Blick
zu gönnen. Vielleicht war ich zu hart gewesen.
»Okay, das nehm ich zurück«, sagte ich, »aber was
ist mit der Klage?«
Sie hob die Hände und wirkte dabei sehr
verletzlich. »Natürlich hätte die Klage gar nicht eingereicht
werden dürfen. Das war eine junge Anwältin. Ich weiß nicht, wie es
dazu gekommen ist, aber es hätte nicht …« Ihre Stimme
erstarb.
»Passieren dürfen? Das kann man wohl sagen. Klingt,
als solltest du deine Anwälte besser im Griff haben.«
»Jetzt hör doch endlich auf, mich zu nerven! Ich
kümmer mich ja darum.«
»Harley, stimmt irgendwas nicht?«
Sie lachte schrill. »Wo soll ich da
anfangen?«
»Hat es was mit Kenny Rudenski zu tun?«
»Nein, es geht um Cassie.« Sie strich sich das Haar
aus dem Gesicht. »Wir sind dabei, uns zu trennen.« Sie seufzte.
»Mein Leben ist im Augenblick die Hölle. Aber keine Sorge, ich
werde das mit Mrs. Diamond klären. Und ich rede mit Lavonne Marks.
Heute Abend wird alles ganz professionell laufen. Keine
Streitereien um die Aussteuer.«
»Wovon redest du?«
»Von deiner Brautparty.« Dann schloss sie die
Augen. »Verflixt! Das ist eine Überraschung, was?«
»Jetzt nicht mehr.«
In vier Stunden lief das Ultimatum ab, und ich
hatte nichts erreicht. Ich wusste nur, dass um mich herum Gefahren
lauerten, von denen ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. Jesse
hatte ich jedenfalls kein bisschen helfen können. Schließlich fuhr
ich zu ihm in die Kanzlei und erzählte ihm von der Begegnung des
Ehepaars North-Rivera mit Cherry Lopez.
»Auftragskiller im Ruhestand. Was soll das
heißen?«, fragte er. »Diese Leute spielen mit dir, Ev.«
»Du meinst, die Sache ist nur Show?«
»Der Ghostwriter-Job mit Sicherheit. Die beiden
wollen bestimmt kein Buch schreiben lassen, das gegen die
nationalen Sicherheitsgesetze Großbritanniens und der USA verstößt
und sie als Auftragskiller entlarvt. Das ist Schwachsinn.«
Ich stopfte meine Hände in die hinteren
Hosentaschen.
»Die beiden interessieren sich also nicht wegen
deines gewandten Stils für dich.«
»Wie Betrüger kamen sie mir aber nicht vor. Ich
glaube nicht, dass sie die Sache erfunden haben.«
»Ich auch nicht. Bleiben zwei Alternativen:
Entweder die beiden haben heute Nachmittag wirklich einen Angriff
auf dich verhindert, oder die Sache war gestellt, und die beiden
stecken mit Cherry Lopez unter einer Decke.«
»Willst du mich völlig verwirren?«
»Du hast nicht gesehen, wie die Lopez ausgeschaltet
und gefesselt wurde. Und du weißt nicht, was passiert ist, nachdem
du die Toilette verlassen hast. Vielleicht hat North sie
losgebunden, und die beiden haben gemeinsam die Duftseifen
ausprobiert und sich über dich scheckig gelacht.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Um dir Angst einzujagen und dich davon zu
überzeugen, dass sie auf deiner Seite sind. Wer weiß? Das ist das
Verzwickte bei diesen Psychospielchen.« Er fuhr sich mit der Hand
durch das dunkle Haar. In der durchs Fenster hereinfallenden Sonne
wirkte sein Gesicht plötzlich sehr müde. »Auf jeden Fall bedeutet
es nichts Gutes. Von wegen Ruhestand. Die beiden sind noch im
Geschäft.«
Mir war hundeelend zumute.
»Ruf nicht zurück«, riet er. »Vergiss diese Leute.
Die bedeuten nur Ärger.«
Ich lehnte mich gegen das Fensterbrett. »Die
Brautparty schenke ich mir. Ich bleibe hier, bis wir wissen, was
Yago vorhat.«
»Kommt nicht infrage. Du wirst da hingehen und mir
hinterher alles haarklein berichten.«
»Jesse, ich hab Angst.«
»Ich auch. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.
Also ab nach Hause und umziehen.« Er tippte mit einem Bleistift
gegen mein Knie. »Am besten übst du schon mal, ein überraschtes
Gesicht aufzusetzen.«
»Nicht nötig. Wenn meine Cousine etwas organisiert,
ist die Überraschung garantiert.«
Ich hatte keine Ahnung, wie recht ich damit haben
sollte.