23. Kapitel
Es war, als wäre mir ein Blitz in die Knochen
gefahren. Ich riss Glory hoch. »Wo ist er?«
»In einem alten Atombunker in der Wüste.«
Die Jalousien klapperten und bogen sich im Wind.
Das Motorengeräusch näherte sich der Hütte.
Garrett hob das Gewehr. »Evan, entweder klettern
wir in den nächsten zehn Sekunden durch das hintere Fenster oder
wir müssen uns den Weg freischießen. Komm jetzt!«
Aber ich war mit Glory noch nicht fertig. »Wie komm
ich dorthin?«
»Es ist am Copper Creek, in den Bergen östlich von
China Lake. Aber ich weiß nicht, wie man -«
Garrett riss mich von ihr los. »Ich weiß, wo das
ist. Wer bewacht ihn dort?«
»Niemand. Wie sollte er in seinem Zustand
flüchten?«
Ein Pickup fuhr vor, der Motor wurde abgestellt.
Garrett zog mich nach hinten ins Schlafzimmer. In der Küche konnten
wir jetzt Frauenstimmen hören.
»Wer hat die Tür aufgelassen? Glory? Glory Moffett,
warst du das?« Es war die Stimme von Chenille.
»Sorry, es war so heiß hier drin.«
Garrett schob vorsichtig das Schlafzimmerfenster
auf.
Schwere Schritte im Wohnzimmer. »Du bist ganz
dreckig. Warst du im Geheimgang?«
»Ich hab Geräusche gehört. Ich wollte nicht, dass
die Ratten an die Lebensmittel gehen, deshalb -«
»Was ist das für ein weißes Zeug auf dem Boden?
Gips?« Eine weitere Stimme, höher und angespannt wie ein Drahtseil.
»Hey, die Gefriertruhe sieht so vereist aus. Hast du sie
geöffnet?
»Nein, Shiloh.«
»Besser, du hast dich nicht an meiner Sprühsahne
vergriffen«, warnte Chenille.
»Ich war überhaupt nicht an der Gefriertruhe.«
Erstauntes Schweigen. »Vielleicht war es Pastor Pete.«
Garrett sprang behände aus dem Fenster. Er streckte
mir seine Hand entgegen.
»Du glaubst -«, sagte Shiloh.
»Oh …!«, stöhnte Chenille auf. »Peter! Mach die
Augen auf, Baby -«
Wir spurteten los.
Als wir es halb den Berg hinauf geschafft hatten,
wagte ich einen Blick zurück auf die knochentrockene Landschaft.
Die Alufolie ließ die Hüttenfenster glitzern wie Augen, die uns
beobachteten. Niemand verfolgte uns, aber wir rannten trotzdem
weiter. Garrett stürmte mit dem Gewehr im Anschlag über den
steinigen Boden voraus.
»Glory wird das Einschussloch in der Decke nicht
erklären können«, keuchte ich. »Chenille wird alles
rausfinden.«
»Machst du dir Sorgen wegen uns oder wegen
Glory?«
»Wegen Jesse.«
Er warf mir einen bösen Blick zu. »Glory war dabei,
als er entführt wurde, da wette ich drauf.« Wir überquerten jetzt
den Bergsattel. »Ich weiß, dass ich sehr grob zu ihr war«, gab er
zu. »Aber ihr fehlt jegliche Reue, und die einzige Möglichkeit,
Leute wie sie zum Kooperieren zu bringen, ist durch die Androhung
von Schmerzen.« Unsere Schritte wurden schneller, den Abhang
rutschten wir halb hinunter. »Was hat sie damit gemeint: ›Wie
sollte er denn in seinem Zustand von dort flüchten?‹«
»Er ist behindert. Er kann nicht laufen.«
Er stolperte und hätte beinahe das Gleichgewicht
verloren. »Sie machen Witze.«
»Wenn’s nur so wäre.«
Bis wir meinen Wagen erreichten, war ich schwer am
Schnaufen und schweißüberströmt – aber auch aufgekratzt und
erleichtert; ich brannte darauf zu Jesse zu kommen, bevor jemand
anders eingreifen konnte. Auf der Fahrt zurück zu Garretts Jeep
erklärte er mir, wie man zum Copper Creek kam. Er berührte meinen
Arm. »Das Problem ist, dass ich nicht mitfahren kann. Mein Dienst
beginnt in einer halben Stunde. Sie müssen die Polizei
verständigen.«
»Hier draußen habe ich sicher keinen
Empfang.«
»Dann rufe ich die Polizei, wenn ich zurück in der
Stadt bin. Und Sie warten so lange.«
»Nein, Jesse könnte inzwischen wer weiß was
passieren. Außerdem hat Glory gesagt, dass es dort keine Wachen
gibt.«
»Glauben Sie ihr?«
»Muss ich ja wohl.« Vielleicht sprach in dem Moment
das Adrenalin aus mir oder vielleicht ein Rest von Vertrauen –
vielleicht war es aber auch einfach das Gleiche.
Wir erreichten seinen Jeep. Garrett legte mir die
Hand auf die Schulter. »Da Sie so hartnäckig nach diesem Mann
suchen, geh ich wohl recht in der Annahme, dass wir wohl kein
zweites Date haben werden.«
Seine Stimme klang versöhnlich, und er lächelte
freundlich – er war ein guter Verlierer. Fast hatte ich ein
schlechtes Gewissen, dass ich ihm eine Abfuhr erteilen musste,
obwohl er sich für meine Familie in Gefahr begeben hatte.
Ich strich ihm kurz über die Wange und gab ihm
einen flüchtigen Kuss. »Danke.«
Dann machte ich mich schleunigst auf den Weg zum
Copper Creek.
Die Männer warteten in einem Verhörraum des
Gefängnisses auf Brian. Detective McCracken, den rothaarigen
Beamten mit dem bulligen Körperbau, kannte er schon. Die beiden
anderen mussten vom FBI sein, überlegte er. Sie sahen genauso aus,
wie man sich Leute vom FBI vorstellte: dunkelblaue Anzüge und ein
Stock im Arsch. Ein vierter Mann in gepflegter Freizeitkleidung,
der an einem Tisch beim Fenster saß, kam vom NCIS, der
Strafverfolgungsbehörde der Marine. Brian war allein. Er hatte
seinen Strafverteidiger nicht benachrichtigt, denn er wollte nicht
auf ihn warten. Jetzt schien es allerdings, als hätte er das besser
getan.
Der Mann vom NCIS schaltete einen Fernseher ein.
Die Aufzeichnung der Überwachungskamera aus dem Gefängnis zeigte,
wie sich Brian mit Paxton und Tabitha unterhielt.
Der FBI-Beamte, DeKalb, stellte die erste Frage.
»Hatten Sie einen angenehmen Plausch mit Ihrer Frau?«
Von da an ging es bergab. Das Band war von
schlechter Qualität, die Todesangst in Tabithas Augen war nicht im
Entferntesten zu erahnen. Eine Tonaufzeichnung gab es nicht, der
Inhalt ihres Gesprächs blieb ihnen verborgen. Aber sie konnten die
Worte an Tabithas Lippen ablesen, die sie nur mit dem Mund
angedeutet hatte: »Tu es.«
DeKalb spulte das Band immer wieder zurück und
spielte die Stelle vor. »Was sollen Sie tun?«
Brian erklärte ihnen, dass die Standhaften von ihm
Waffen als Gegenleistung für die Freigabe von Luke erpressen
wollten. Er sei gewillt, zum Schein darauf einzugehen, die Beamten
konnten dann den Zugriff vorbereiten.
Doch sie glaubten ihm nicht. Sie glaubten nicht,
dass Paxton Beweise liefern würde, die zu Brians Entlastung führen
konnten. Er war ein Mörder. Er würde nirgendwo hingehen, und schon
gar nicht würde ihm der Zugang zu Navy-Waffen gestattet werden. Die
FBI-Beamten stolzierten um ihn herum und hüllten ihn in eine Wolke
aus Aftershave und Vorverurteilung. McCracken saß schwer atmend mit
vor dem massiven Bauch verschränkten Armen am Tisch. Der Mann vom
NCIS hielt sich im Hintergrund. Er war ein Sesselfurzer, dachte
Brian, der in seinem ganzen Leben höchstens mal eine Veruntreuung
von Militäreigentum untersucht hatte. Aber er war derjenige, der
Brian darauf hinwies, worum es ging.
»Was wollten die Standhaften von Ihnen, vielleicht
den Namen einer weiteren Kontaktperson auf dem Stützpunkt?«
Auf dem Stützpunkt gab es Diebe, die Waffen an die
Standhaften verkauften, soviel war sicher. Aber anscheinend konnten
die Behörden es nicht beweisen und wussten auch nicht, wer der
Maulwurf war. Also versuchten sie ihm die Schuld
zuzuschieben.
»Kommen Sie schon«, sagte der NCIS-Beamte, »Ihre
Frau hat Verbindungen zu diesen Leuten.«
Der Mann steckte sich einen Kaugummistreifen in den
Mund und starrte ihn an. Brian kannte diesen Gesichtsausdruck, den
Blick des kleinen Beamten, der etwas gegen Piloten hatte. Plötzlich
begann es im Raum unangenehm zu riechen.
»Ich kann Sie ja verstehen«, sagte der Beamte. »Sie
sind ein Kampfpilot, also praktisch ein junger Gott, aber die
Regierung bezahlt Sie schlecht, und jeden Abend müssen Sie in Ihr
schäbiges kleines Reihenfertighaus zurück. Und die ganze Zeit sind
Sie auf dem Stützpunkt umgeben von Feuerwaffen und Munition, die
Millionen von Dollar wert sind. Das muss schon sehr verlockend
sein.«
»Vielleicht kommt das einem Bürohengst wie Ihnen so
vor.«
»Für mich sieht es so aus: Tabitha brachte Sie und
die Standhaften zusammen, und Ihnen wurde klar, was für gute
Kundschaft diese Leute abgeben«, sagte DeKalb. »Die Standhaften
hatten jede Menge Bargeld und wollten damit Großeinkäufe tätigen.
Und Sie konnten direkt mit Ihnen Geschäfte machen, statt die Ware
über einen Hehler zu verkaufen. Sie konnten den ganzen Profit
behalten.«
Brian schwieg.
»Spulen Sie das Tape zurück«, sagte DeKalb. »Zeigen
Sie es ihm noch mal.«
»Warum ziehen Sie Ihren Kopf nicht mal aus Ihrem
Hintern«, fragte Brian. »Ich könnte die Standhaften ködern, und Sie
könnten die Falle zuschnappen lassen.«
DeKalb gab ihm eine Visitenkarte. »Sobald Sie mit
der Wahrheit rausrücken wollen, können Sie mich ja anrufen.«
Keiner von ihnen hatte auch nur ein einziges Wort
darüber verloren, Luke zu retten. Der letzte Rest von Vertrauen und
jegliche Hoffnungen, die er in diese Leute gesetzt hatte, hatten
sich in Luft aufgelöst. Er war auf sich allein gestellt. Er musste
Luke selbst zurückholen.
Ich bretterte über die staubige Straße, eine enge
Durchfahrt zwischen graugrünen Salbeisträuchern, dreißig Kilometer
lang mit Tempo hundertzehn, bis ich hundemüde war und mir die Arme
am Lenkrad schmerzten. Unter einem glasklaren blauen Himmel
breitete sich die Landschaft vor mir aus. Die Hitze drückte sie
platt wie ein Bügeleisen. Diese Art von Hitze kann einen umhauen –
bevor man sich versieht, liegt man mit einem Hitzschlag und dem
Gesicht nach unten im Sand. Ich fürchtete, dass es Jesse nicht
besonders gut ging.
Ich versuchte noch einmal ihn anzurufen. Kein
Empfang. Und nirgends ein Anzeichen von Zivilisation: kein
Stacheldrahtzaun und keine Staubwolke, die ein anderes Fahrzeug
aufgewirbelt haben konnte. Die Standhaften hatten sich ihren
Zufluchtsort gut ausgesucht. Der Sand war so weiß wie Gips. Ich
wusste, dass ich schon ganz nahe sein musste, denn ich erkannte
abgerundete rötliche Felsen zu meiner Linken, von denen zwei gen
Himmel zeigten. Sie sehen aus wie Doppel-D-Körbchen, hatte Garrett
gemeint. Dann bremste ich. Ich hatte es gefunden. Ein
furchendurchzogener Weg führte durch eine Schlucht aufwärts in die
Felsen. Copper Creek. Ich kurbelte das Fenster herunter und spähte
auf den Boden.
Reifenspuren.
Die Ränder waren deutlich abgesetzt und das Profil
ausgeprägt – die Spuren konnten also nicht sehr alt sein. Ich bog
in den Weg ein. Die Räder drehten durch, der Wagen rutschte, aber
Meter um Meter gewann ich an Höhe und polterte über Felsen, bis ich
schließlich aus Angst um die Achsen den Wagen abstellte. Ich stieg
aus. Die Hitze warf mich fast um.
Vor mir verengte sich der Canyon zu einer Spalte.
Die hoch aufragenden Seitenwände bildeten einen Korridor, einen vom
Wind geformten Durchgang, der sich im ockerfarbenen Schatten
weiterschlängelte. Ich näherte mich dem Zugang und kniete nieder.
Im Sand konnte ich weitere Reifenspuren erkennen. Relativ kurzer
Radstand und breitere Reifen – es musste sich um einen Geländewagen
handeln.
Die Spuren verliefen in beide Richtungen, doch ich
konnte nicht sagen, welche die neueren Spuren waren. Aber das war
auch egal, ich musste es riskieren. Ich griff mir eine
Wasserflasche und den Verbandskasten aus dem Wagen und marschierte
los.
Von dem Moment an, da ich die Spalte betrat, befand
ich mich im Schatten. Die kühlere Luft verschaffte mir allerdings
nur eine kurze Erleichterung. Der Weg führte auf nachgiebigem Kies
stetig bergauf, schon nach zehn Minuten spürte ich meine Beine
nicht mehr. Mein Leben reduzierte sich auf das Wesentliche: Atem,
Schweiß, Muskeln und Knochen, die rötlich-goldenen Steinwände in
ihrer kargen Schönheit. Ich war erschöpft und nun schon fast zwei
Kilometer vom Wagen entfernt, hatte aber immer noch nichts
gefunden. Die Reifenspuren zeichneten sich bloß noch undeutlich im
Sand ab. Vielleicht stammten sie ja nur von irgendwelchen
Highschool-Kids, die sich hier rumgetrieben hatten.
Die Spalte führte um eine Kurve und endete abrupt.
In einer fünfzehn Meter aufragenden Felswand trafen die Seiten
aufeinander. Und dort befand sich eine rostfleckige Metalltür, an
der ein leuchtend gelbes Schild angebracht war: Vorsicht Strahlung.
Ich drückte die Tür auf.
Ich fand mich in einer Höhle in tiefster Dunkelheit
wieder. Nachdem ich meine Taschenlampe aus dem Rucksack gekramt
hatte, entdeckte ich eine weitere Tür eineinhalb Meter vor mir. Sie
war massiv und dick, eine explosionssichere Tür. Ich warf mich mit
meinem ganzen Gewicht dagegen. Tatsächlich gelang es mir, sie ein
paar Zentimeter weit aufzudrücken. Schwaches elektrisches Licht
fiel durch den Türspalt. Ich hob die Taschenlampe wie einen
Schlagstock, bereit, sie auf jeden Kopf krachen zu lassen, der mir
in die Quere kam, und lauschte. Von der anderen Seite kam kein
Geräusch.
Ich warf mich noch einmal gegen die Tür und drückte
sie ein wenig weiter auf.
»Jesse?«, flüsterte ich.
Schließlich schob ich mich durch die Tür in eine
Felsenkammer, die von herunterhängenden Glühbirnen nur schwach
erhellt wurde. An der einen Wand stand ein Metalltisch mit einem
Amateurfunkgerät. An der anderen Wand stapelten sich
Lebensmittelkonserven bis an die Decke. Dahinter -
»Ev.«
Ich stürzte in die Ecke, aus der seine Stimme
gedrungen war. Noch bevor ich die Lebensmittelstapel passiert hatte
und den Campingofen und die ramponierten Stockbetten mit den
fleckigen Matratzen fand, wo sich Jesse auf einen Arm hochgewuchtet
hatte, strömten mir die Tränen übers Gesicht. Sein Gesichtsausdruck
war der eines Kindes, das gerade seinen ersten Zaubertrick erlebt
hatte.
»Hoffentlich bist du keine Halluzination«, sagte
er.
Ich ließ mich neben ihn fallen, warf die Arme um
ihn und vergrub mein Gesicht an seinem Hals. Seine Wärme, seine
Stimme, sogar der salzige Schweiß auf seiner Haut waren ein
einziges Wunder für mich.
»Ich wusste doch, dass du mir nicht lange böse sein
kannst.«
Ich wischte ihm das Haar aus der Stirn. »Lass dich
mal anschauen.«
Sein mahagonifarbenes Haar hing ihm in Strähnen
über die gerötete Stirn, aber in den dunklen Augen flackerte ein
unbändiger Lebenswille.
Ich legte ihm die Hand auf die Stirn. »Du glühst
ja.«
»Stimmt.« Er schluckte trocken. »Ich fühl mich auch
ziemlich beschissen.«
»Was hast du für Symptome? Husten? Erbrechen?«
Gott, was waren nur die Anzeichen für Botulismus?
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben mich nicht
vergiftet. Ich hab sie davon überzeugt, dass ich Kapitalanlagen
habe, die nächste Woche fällig werden. Sie denken, wenn sie mich am
Leben erhalten, dann werde ich mein Vermögen auf sie übertragen.
Ich hab ihnen irgendwelchen Mist über sich ständig ändernde
Passwörter und Stimmerkennungs-Software erzählt. Sie haben es
geglaubt, aber ich weiß nicht, wie lange das noch
funktioniert.«
»Da hast du ja ganz schön schnell reagiert,
Kleiner.«
»Jetzt bin ich allerdings nicht mehr so schnell.«
Er quälte sich in eine halb aufrechte Position. »Mein Bein ist
gebrochen.«
Er zog sein Hosenbein hoch. Eine Zeitschrift und
ein paar Stoffstreifen bildeten eine primitive Schiene, doch sein
linkes Schienbein war purpurrot angelaufen und geschwollen.
Vorsichtig streckte ich die Hand danach aus. Selbst ohne es zu
berühren, spürte ich die Hitze, die davon ausging.
»Die haben einen Knochenbruch mit einer Ausgabe des
Life-Magazins geschient?«
»Nein, das war ich. Sie wissen nichts davon, und
ich hab es ihnen auch nicht gesagt. Ich will nicht, dass sie
denken, ich sei noch behinderter als sowieso schon.« Er versuchte
mich zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, es tut nicht weh.«
Aber ich machte mir Sorgen. Furchtbare Sorgen über
Blutgerinnsel, Blutvergiftung, Wundbrand. Ich überprüfte seinen
Puls. Für mich als medizinischen Laien fühlte er sich hoch an. Ich
reichte ihm die Wasserflasche und zwei Aspirin aus dem
Verbandskasten.
Er trank. »Gott, ist das gut.«
»Ich werd dich hier rausholen.«
Ich schaute mich um. Trotz seines augenscheinlichen
Alters war der Atombunker gut in Schuss. Es gab Lebensmittel,
Elektrizität, ein Funkgerät und sogar ein paar Brettspiele:
Monopoly, Scrabble, Halma. Die Rote Gefahr als Familienunterhaltung
hatte eigentlich die Kubakrise nicht lange überdauert, doch hier
hatte ich ein konserviertes Stück Furcht aus der Zeit des Kalten
Krieges vor mir. Doch da irgendjemand offenbar immer noch mit einem
Lithium-Sonnenuntergang rechnete, musste derjenige doch hier
irgendwas gelagert haben, das ich als Unterlage benutzen konnte, um
Jesse abzutransportieren. Ich begann hektisch herumzustöbern.
»Wie haben sie dich erwischt?«, fragte ich.
»Shiloh und diese Keulenschwingerinnen haben mich
geschnappt. Demütigender geht es wirklich kaum noch. Von ein paar
beschissenen Majoretten gekidnappt – da kann ich mir ja gleich die
Kugel geben.«
Dass er Witze darüber machte, konnte die traurige
Wahrheit nicht verbergen. »Aber du hast bestimmt auch ganz schön
ausgeteilt?«
»Ich habe Shiloh mit meiner Lenkradkralle am Auge
erwischt. Sie wird ganz schöne Schmerzen haben. Aber dann haben mir
die Majoretten eine Ladung Tränengas verpasst, und eine hat sich
die Kralle geschnappt. Mann, die konnte mit dem Ding umgehen wie
Jackie Chan persönlich. Ich glaube, ihr hab ich das gebrochene Bein
zu verdanken.«
Ich konnte nichts finden, das groß und leicht genug
war, um es als transportable Unterlage für Jesse zu verwenden. Ich
kam zu ihm zurück und schob ihm ein speckiges Kissen unter sein
Schienbein.
»Aber ich hab mich gerächt.« Er deutete auf die
Zeitschrift, die um sein Bein gewickelt war. »Juli 1969, die
Ausgabe mit der Mondlandung. Ich habe mein Bein mit einem echten
Sammlerstück geschient.«
Ich musste tatsächlich lachen.
Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Ich muss dir was
zeigen. Ich habe Jesus gefunden.«
Ich hörte auf zu lachen. »Mein Gott, du hast eine
Gehirnerschütterung.«
»Doch, er kämpft mit Elvis. Der König der Könige
gegen den King.«
Noch einmal fühlte ich seine Stirn. »Du bist im
Fieberwahn.«
Er schob meine Hand zur Seite und deutete auf die
Tür. »Schließ die Tür, schau’s dir an.«
Argwöhnisch ging ich zur Tür und drückte sie mit
aller Kraft zu. Auf der Rückseite der Tür befand sich ein Gemälde.
In schreienden Farben und grobem Pinselstrich präsentierten sich
heiße Flitzer, Mondraketen, Christus im Clinch mit Presley, und
über allem thronte glorreich Raquel Welch in ihrem Fellkostüm aus
Eine Million Jahre vor unserer Zeit.
Das Bild hatte mit einer alten Tradition der Air
Force aus der schlechten alten Zeit zu tun. Damals war es üblich
gewesen, die Klappen der Silos mit den Interkontinentalraketen in
der amerikanischen Prärie von innen zu bemalen – Untergrundkunst im
wahrsten Sinne des Wortes. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass
ein Stück Seil vom Türschloss herunterhing. Und dann fiel mir auch
der Rest auf: der Schreibtischstuhl, der zur Tür gerückt worden
war, und die Abschürfungen, die das Seil an Jesses Handgelenken
hinterlassen hatte.
»Du hast versucht zu flüchten.«
»Sie hatten mir die Hände gefesselt, aber nicht gut
genug. Ich konnte mich befreien und hab das Seil wie ein Lasso
benutzt, um die Tür weit genug aufzuziehen. Dann hab ich mich durch
den Spalt in die Luftschleuse gezwängt und die Eingangstür
geöffnet.«
Er musste Stunden dafür gebraucht haben. Ich setzte
mich neben ihn und nahm seine Hand.
Mit der anderen Hand fuhr er sich durchs Haar.
Seine Stimme verlor an Kraft. »Sie haben mich mit verbundenen Augen
im Anhänger eines Geländewagens hergebracht. Und Überraschung: Als
ich es durch die äußere Tür geschafft hatte, befand ich mich
tatsächlich mitten im hinterletzten Nichts, und irgendwer hatte den
Thermostat bis zum Anschlag auf Verglühen hochgedreht. Ich
sah zu, dass ich wieder nach drinnen kam und schloss die Türen,
damit sie nicht mitkriegten, dass ich nach draußen kann. Hab mich
dann an Plan C gehalten.«
»Was ist denn aus Plan B geworden?«
»Die Türen zu öffnen war Plan B. Die Polizei mit
dem Funkgerät zu benachrichtigen war Plan A. Aber sie haben die
Leitungen rausgerissen. Also …« Er griff unter die Matratze. »Plan
C: Ich prügele jedem, der kommt, die Scheiße aus dem Leib, bevor er
mich mit Botox impfen kann.«
Gewalt hatte sich noch nie so verlockend angehört.
Ich hob seine Hand zum Mund und küsste sie.
»Ich wollte warten, bis es Nacht wird, und abhauen,
sobald es kühler geworden ist.«
»Du befindest dich in über fünfzig Kilometer
Entfernung von der Stadt.«
»Na ja, da trifft es sich ja genau richtig, dass du
vorbeigekommen bist.« Er wirkte benommen, an glückliche Fügungen
war er nicht gewöhnt. »Aber vorher musst du dir mal das Gemälde
genauer ansehen. Gib mir die Hand, hilf mir aufstehen, ich zeig dir
was.«
»Du kannst doch den Bruch jetzt nicht
belasten.«
»Wenn ich mich auf deine Schulter stütze, schaffe
ich es auf meinem gesunden Bein bis zum Stuhl.« Vorsichtig setzte
er die Füße auf den Boden.
Mit ihm zu diskutieren war reine Zeitverschwendung.
Also baute ich mich vor ihm auf und packte ihn mit beiden Händen
unter den Achseln. Er hatte kräftige Arme, aber anheben musste ich
ihn. Dreibeinig humpelten wir zur Tür. Selbst durch seine Kleidung
hindurch konnte ich die Fieberhitze spüren.
Plan D, auf diese Weise durch den Canyon zu hinken,
konnten wir definitiv vergessen. Über den Sand und die Felsen würde
er es keine fünfzig Meter weit schaffen. Ich musste zurück zum
Wagen, zum Eingang des Copper Creek zurückfahren, dort die Polizei
treffen und sie herbringen. Garrett musste sie mittlerweile
benachrichtigt haben.
Jesse ließ sich auf den Stuhl fallen und berührte
das Bild. Mit den Fingern fuhr er über einen kleinen Ausschnitt mit
schwarz-weißen Illustrationen.
»Das ist neu.«
Auf der Tür erkannte ich die Bilder im Bild:
schnell, aber mit sicherer Hand ausgeführt, zogen sie sich über
kleine Leerstellen innerhalb des Gemäldes.
»Das hat Tabitha gezeichnet, oder?«, fragte
er.
Ich fuhr mit den Fingerspitzen darüber. »Ja.« Sie
war hier gewesen und hatte diese Zeichnungen hinterlassen. Warum?
Weil Worte aufgefallen wären. Ich nahm die Zeichnungen unter die
Lupe.
Es war eine neue Version des
HELL-o-ween-Comics. Verkleidete Kinder – als Monster oder
Ballerina – auf einem Spielplatz, daneben eine Schaukel, ein
Schulgebäude im Hintergrund – das war der Spielplatz von Lukes
Schule. Ich bekam eine Gänsehaut.
In der nächsten Zeichnung vertilgten die Kids ihre
Halloween-Süßigkeiten. Sie saßen in Rollstühlen oder gingen an
Krücken – ich musste an Karina Eichner denken. Letzte Zeichnung:
Kinder lagen tot am Boden oder griffen sich an den Hals. Die
Süßigkeiten hatten sie noch in der Hand.
Die Luft war so trocken, dass ich Kopfschmerzen
davon bekam. »Das ist eine Warnung.«
»Die Standhaften wollen Kinder vergiften?«
»Ja.«
»Warum?« Seine Stimme war heiser. »Als Strafe? Soll
das das Jüngste Gericht der Standhaften werden?«
Jedes Jahr töten Satanisten kleine Kinder mit
vergifteten Süßigkeiten, hatte Glory gesagt. Chenille
glaubt, dass das auch umgekehrt funktioniert...
»Die Kinder sollen als Köder dienen.«
So wollte Chenille also all die Bundesbeamten nach
Santa Barbara locken. In meinem Kopf dröhnte es. Ich spürte ein
warmes Rinnsal an meiner Lippe – ich blutete aus der Nase.
Ich wischte das Blut ab. »Ich werd Hilfe
holen.«
»Wir müssen die Leute warnen, Polizisten müssen in
den Schulen patrouillieren und die Süßigkeiten aus den Regalen der
Läden nehmen.«
Ich ergriff seine Hand. »Ich werd eine Weile
brauchen, Jesse, vielleicht ein paar Stunden.«
Er schaute mir tief in die Augen. »Ich werde auf
dich warten.«
Das schmerzte, ich wollte ihn einfach nicht
zurücklassen. »Ich komme bald mit der Polizei und dem
Notarzt.«
»Wenn mir langweilig wird, lese ich einfach meine
Schiene.« Er berührte meine Wange. »Ich liebe dich. Wenn ich hier
rauskomme, will ich dich heiraten.«
Bumm. Ein klassischer Blackburn, der Heiratsantrag
traf mich wie eine Axt. Erneut liefen mir die Tränen über die
Wangen.
»Wenn du hier raus bist«, sagte ich, »sehen wir
erst mal zu, dass wir dein Fieber in den Griff kriegen und du
wieder zu Verstand kommst.«
»Ich bin bei Verstand.«
»Wie heiße ich?«
»Raquel Welch.«
Ich konnte einfach nicht loslassen. Ich bückte mich
und küsste ihn lange und fest. »Ich liebe dich auch.«
Ich war schon halb aus der Tür, als er sagte: »Du
darfst Luke an Halloween nicht auf die Straße lassen, Ev.«
Er wusste von nichts, und ich brachte es nicht
übers Herz, es ihm zu erzählen. »Niemals.«
Ich ging durch die Tür davon und drehte mich nicht
um.
Auf halber Strecke zurück nach China Lake hielt
ich einen Streifenwagen an. Der Wagen raste mit Blaulicht über den
Highway 395 und hätte fast nicht angehalten. Schließlich entschied
sich die Person am Steuer aber doch noch dazu, einer einsamen Frau,
die winkend und schreiend am Straßenrand stand, Hilfe zu leisten.
Irgendwie wusste ich, dass hier was nicht stimmte.
Ich rannte auf den Wagen zu, als er gerade in einer
Staubwolke zum Stehen kam. Laura Yeltow, die blonde Polizistin mit
den Oberschenkeln einer Kraftsportlerin, stieg aus. Sie ging auf
mich zu, die Hand am Schlagstock.
»Evan Delaney. Warum überrascht es mich nicht, Sie
hier zu sehen?«
Ich tat so, als hätte ich diese Bemerkung nicht
gehört. In fliegender Hast erklärte ich ihr, dass ich einen Notarzt
brauchte, der einen verletzten Mann im Copper Creek retten musste;
vielleicht benötigte er auch einen Hubschrauber, der ihn
hinausflog, da er behindert war, ein gebrochenes Bein hatte und
sein Zustand bedenklich war. Sie hängte sich ans Funkgerät. »Wir
haben bereits einen Notruf erhalten.« Garrett musste sie
benachrichtigt haben. »Der Rettungswagen ist schon unterwegs, aber
sie können die Stelle nicht finden.«
»Ich kann sie ihnen zeigen. Sagen Sie mir, wo ich
sie treffen soll.«
»Nicht so schnell. Kennen Sie eine Frau namens
Glory Moffett?«
»Was ist mit ihr?«
Ihre Augen waren kalt. Sie wollte meine Reaktion
beobachten. »Sie ist tot.«
Mir fiel die Kinnlade herunter.