2. Kapitel
Peter Wyomings Kirche lag verkehrsgünstig an einer Straße in der Innenstadt. Ursprünglich hatte das Gebäude einen Möbelladen beherbergt. Durch die Schaufenster konnte ich im Licht der Neonröhren etwa hundert Menschen ausmachen, die sich auf Klappstühlen in den kahlen Verkaufsraum gezwängt hatten. Ich konnte den Rhythmus eines Klaviers und eines E-Basses durch das Glas spüren – ein pulsierender Beat, der eine beunruhigende Energie ausstrahlte.
Als ich die Eingangstür aufdrückte, schlugen mir die Musik und die Hitze entgegen. Die Luft stank nach Schweiß und inbrünstigem Eifer. Die Wärme brachte die Stiernacken der Männer zum Glänzen, Frauen fächelten sich mit bunten Bibelbroschüren Luft zu. Auf einer improvisierten Bühne stand in scharlachroten Gewändern ein Chor und besang entschlossen das Blut des Lamms. Vor ihnen tanzten drei Majoretten, Mädchen im Teenageralter in silbernen Fransenkostümen, die ihre Sprünge und Stabübungen mit der Präzision von Kampfsportlerinnen darboten.
Ich schnappte mir ein fotokopiertes Blatt mit Liedtexten, platzierte mich in der Nähe der Tür und hielt Ausschau nach Tabitha. Aber ich sah nur Menschen, die alle wie mit der gleichen Schablone ausgeschnitten wirkten: die Frauen, auf deren Köpfen sich Dauerwellen türmten, trugen Röcke, die Männer Jeans, Stiefel und Bürstenschnitt. Ich bewegte mich hinüber zum Fenster und versuchte möglichst unauffällig zu wirken.
Im nächsten Moment trat eine Frau aus dem Chor vor, um ein Solo zu singen. Sie war stämmig, hatte kieselgraue Augen und einen lehmbraunen Zopf, der ihr wie ein Seil über den Rücken hing. Mit kreischender Altstimme erinnerte sie uns daran, dass Gottes Armeen die Sünder niederstrecken würden.
»Mäht sie nieder«, sang sie, »diese Huren und Schwulen!«
»Mäht sie nieder«, fiel die Gemeinde ein, »ihre Tränen kommen zu spät!«
»Hey, ihr Feministinnen und Liberalen, dieses Mal lassen wir die Bibel sprechen, wir holen uns die Straße auf tausend Jahre zurück!«
Anfeuerungsrufe aus der Menge wurden laut, die Majorettenstäbe flogen durch die Luft wie glitzernde Nunchakus. Die Solistin röhrte: »Es ist so weit, Leute! Lasst mich eure Hände sehen! Lassen wir die Bibel sprechen mit Pastor Pete!« Die Gemeinde applaudierte, die Majoretten landeten im Spagat, und Peter Wyoming betrat die Bühne.
Er schien vor Energie zu vibrieren, sein Gesicht war gerötet, der Bürstenschnitt glänzte. Er führte ein Mikrofon an seine Lippen. »Lassen wir die Bibel sprechen! Jawohl! Lassen wir sie hier in Santa Barbara sprechen«, schrie er. »Lassen wir diese Aids-Krüppel wissen, was Gott mit ihnen vorhat!«
Das Stampfen und Johlen wurde lauter. Er warf den Versammelten ein verschwörerisches Lächeln zu. »Und wir haben unseren Spaß dabei, oder nicht? Es geht doch nichts über einen Gemeindeausflug an der frischen Luft. Vor allem wenn man dabei noch ein paar Huren zur Rechenschaft ziehen kann.«
Er ließ das begeisterte Geschrei und Gelächter noch eine Minute andauern, bevor er die Hand hob.
»Aber jetzt müssen wir zurück an die Arbeit. Denn Aids ist nur die Spitze des Eisbergs, der sich aus der Gosse erhebt.« Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Und diese Flutwelle der Verkommenheit ist ein Zeichen – ein Zeichen, dass die letzten Tagen näherrücken.«
Schmalz mit einer kräftigen Prise Schwefel. Ich versuchte nicht hinzuhören, weil ich wusste, dass Wyoming mich nur wütend machen würde, und suchte weiter nach Tabitha. Dennoch drang sein Geschwafel zu mir durch. Anspielungen auf die Hölle kamen jetzt im Sekundentakt. Eine Liste der jüngsten Projekte des Satans, von der Evolutionslehre bis zur Halloweenfeier. Und dann der Plan für die bevorstehenden Ereignisse: Unheil, Anarchie und Verdammnis für alle, die sich nicht Pastor Petes Panikmache anschließen wollten. Ganz klar: Wir näherten uns dem Weltuntergang. Der Weltuntergang – der große böse Wolf aller Prediger, seit Caligula Rom regiert hatte.
»Lasst uns nachlesen.« Er schnippte mit den Fingern, und die stämmige Solistin reichte ihm eine abgegriffene Bibel. Er schlug sie auf und begann. »Es werden Erdbeben geschehen hier und dort, es werden Hungersnöte sein. Das ist erst der Anfang der Wehen.«
Beflissen beugten sich die Gemeindemitglieder vor, Finger fuhren durch die Bibeln auf der Suche nach der richtigen Stelle und erfüllten den Raum mit dem trockenen Rascheln dünnen Papiers. »Aber für euch sind das keine Neuigkeiten. Ihr alle haltet Erdbeben und Hunger zu Hause auf euren Wandtabellen fest, richtig?«
Eine Frau mit rosafarbener Brille hielt einen Zeitungsausschnitt hoch und schwenkte ihn wie ein Gewinnerlos. »Tausende verhungern in Bangladesch«.
»Gut«, lobte er und fuhr mit der Endzeit-Checkliste fort: Kriege, falsche Propheten, weit verbreitete Wahnvorstellungen – eine einzige groß angelegte Täuschung. Er machte eine dramatische Pause. »Täuschung!«
Mit dem Finger tippte er sich gegen die Schläfe. »Seid auf der Hut. Wir leben im Zeitalter der großen Lüge, Freunde, glaubt nicht, was ihr da draußen hört.«
Und dieses Draußen nahm er sich sogleich als Nächstes vor. Das Gerichtssystem war verlogen, weil es gleichgeschlechtlichen Sex legalisierte und Waffenbesitz reglementierte. Die Naturwissenschaft war eine einzige große Lüge, eine atheistische Verschwörung, um die Bibel mit der Urknalltheorie und der Behauptung, Aids sei durch afrikanische Affen – Affen! – in Umlauf gebracht worden, in Verruf zu bringen. Dabei wusste es doch jeder: Gott persönlich hatte die Seuche über das Bundesgesundheitsamt in Atlanta kommen lassen.
Er hob die Stimme und legte noch einen Zahn zu. Die katholische Kirche war eine einzige Lüge, nichts als Hexerei. Latein – eine Lüge. Ja, allerdings, Latein war eine heidnische Sprache, die eigentlich längst ausgestorben sein sollte. Aber sie war nicht tot, sie wurde am Leben erhalten als die Sprache des Gesetzes, der Wissenschaft, der Messe und der Hexerei. »Wie viele von euch haben noch nie einen mexikanischen Spieler gesehen, der sich bekreuzigte, damit er einen Homerun bekam? Leute, das ist kein Zufall. Könnt ihr nicht erkennen, dass das alles zusammengehört?«
Ich spürte, wie es mir kalt den Rücken herunterlief. Ich drehte mich um und bemerkte eine junge Frau, die mich aus der letzten Reihe heraus beobachtete, ein Teenager mit einem runden Puppengesicht. Sie starrte mich an, als ob sie mich von einem Steckbrief her erkannt hätte. Als sich unsere Blicke kreuzten, verzog sie angeekelt den Mund.
»Und dann natürlich noch Satans größte Lüge – dass die letzten Tage ein Mythos seien. Er setzt all sein teufliches Geschick ein, um das den Leuten weiszumachen.«
Der Teenager mit dem Puppengesicht flüsterte mit seiner Nachbarin, und jetzt starrten beide zu mir herüber.
»Die große Pest, Atombomben, Kometen, die die Erde treffen – jedes Mal denken die Leute, jetzt wird es passieren. Und wenn es nicht passiert, sagen sie, schau dir mal diese Idioten an, welcher Schwachkopf glaubt denn überhaupt an den Weltuntergang?« Er hielt inne. »Und dann lehnt sich Satan zurück und lächelt. Weil er es geschafft hat, dass noch mehr Menschen die Warnungen der Bibel ignorieren.«
Seine beiden Hände schlossen sich jetzt um das Mikrofon. Er hatte die grobe gerötete Haut eines Bergarbeiters. »Aber das Zeitenende ist kein Mythos.« Seine Stimme senkte sich plötzlich zu einem Flüstern. »Der Sturm wird kommen, er wird kommen.«
Sein Tonfall ließ mich frösteln, und mir wurde noch unwohler in meiner Haut. Eitle Selbstgerechtigkeit hatte ich erwartet, aber nicht, dass sich seine Moralpredigt in die unheimlichen Höhen biblischer Prophezeiungen aufschwingen würde. Wie gelähmt stand ich da, während das Mädchen und seine Freundin weiter tuschelten und mir böse Blicke zuwarfen.
»Ihr könnt die Zeichen überall sehen«, sagte er. »Der Präsident der Vereinigten Staaten legt seinen Eid inzwischen mit Blick auf das Washington-Monument ab, einen Obelisken der Freimaurer, ein Symbol des Okkulten. Das ist eine Botschaft an den Teufel, die besagt, dass die Regierung bereit ist ihm zu dienen. Amerikanische Soldaten bekommen Anthrax-Impfungen. Erkennt das als Zeichen, dass sie sich auf die Seuchen der Endzeit vorbereiten!«
Wyoming wischte sich die Stirn. Mit seinen erhitzten Wangen, den geröteten Händen und dem scharlachroten Chor hinter sich hatte er etwas von einer Alarmleuchte. »Satan bereitet sich auf den Krieg vor. Und wer soll ihn bekämpfen? Vielleicht die Vereinten Nationen?«
»Diese ausländischen Schwuchteln!«, schrie ein Mann. »Die stecken doch mit ihm unter einer Decke!«
»Wer also? Wer wird sich ihm in den Weg stellen?«
»Niemand. Alle werden sterben!«
»Genau. Weil niemand Satan bekämpft. Niemand« – Wyoming legte eine Pause ein -, »niemand außer uns, den Standhaften, den reinen Söhnen und Töchtern des Herrn.«
»Amen!«, kam es aus der Menge. Wyoming fuhr fort. »Glücklicherweise haben wir den Schlachtplan des Satans erkannt.« Er stieß die Bibel über seinen Kopf. »Hier steht alles drin. Wir wissen, was bevorsteht.«
Konzentrierte Zustimmung. »Erzählen Sie es uns, Pastor Pete!«, rief eine Frau.
»Leid wird über die Welt kommen. Schreckliches, schreckliches Leid.«
Die Gemeinde hielt die Luft an, sie wollten wissen, wie schrecklich genau es werden würde. Auf mich wirkten sie wie die Passagiere einer Achterbahn, die sich auf die erste Talfahrt vorbereiten. Wyoming schlug eine neue Bibelpassage auf.
»Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: Der Tod … Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Pest und durch die wilden Tiere auf Erden.«
Natürlich, das hatte noch gefehlt. Er hatte sich Zeit gelassen, hatte sich die ganz große Nummer bis zum Schluss aufgehoben: die Offenbarung, des wahren Eiferers Lieblingslektüre.
»Ein Viertel der Erde, das sind eine Milliarde und fünfhundert Millionen Tote. Stellt euch vor, wie sich die Toten wie Holzscheite in den Straßen von London und Paris stapeln. Stellt euch vor, wie aufgedunsene Leichen die Strände von Santa Barbara überfluten.«
Ihren verkniffenen Gesichtern nach taten seine Zuhörer das gerade. Manche schüttelten den Kopf, andere nickten beifällig: Das geschieht den Sündern recht. Obwohl mir kalt war, brannte mir der Schweiß auf der Stirn.
»Und wenn dann Tieflader mit stinkenden Leichen durch die Straßen fahren, was werden die Leute tun? Sie werden winseln: ›Rette mich!‹« Wyoming machte eine affektierte Bewegung mit dem Handgelenk. »Aber nicht beim Herrn werden sie Hilfe suchen, sie werden sich an den starken Mann wenden, der verspricht, sie zu retten. Den Antichrist. Ja, sie werden sich an den Teufel wenden. Die unreinen Menschen dieser Welt werden ihm geradewegs in die Arme laufen. Und das schon bald.« Er zeigte auf die Schaufenster. »Der Teufel ist da draußen. Gerade jetzt bereitet er sich auf die Machtübernahme vor. Und das ist die eiskalte, hässliche Wahrheit, meine Freunde.«
Ein Ruck ging durch die versammelte Gemeinde – fast wie La Ola in einem Stadion.
»Aber jetzt fangt bloß nicht an nervös zu werden. Die Heilige Schrift lehrt uns, dass wir Ausdauer zeigen müssen. Das bedeutet, wir müssen unseren ganzen Mut zusammennehmen, dranbleiben und den Feind bekämpfen. Und falls Satan mit einem Hippie-Jesus rechnet, der ihm die andere Wange hinhält, dann wird er sein blaues Wunder erleben. Jesus ist kein Schwächling. Er wird die Völker niederschlagen und mit eisernem Stabe über sie herrschen.«
Wieder ballte er seine Faust. »Mit eisernem Stabe.«
Die Majoretten kamen mit einer großen Schriftrolle zurück auf die Bühne gesprungen. In einer schwungvollen Bewegung entfalteten sie ein zwei mal ein Meter großes Plakat, auf dem das Abendmahl dargestellt war – als Szene aus Platoon. Jesus und die Apostel in Kampfanzügen, mit Tarnfarbe im Gesicht und gezückten Waffen. Unter der Zeichnung stand: Er ist zurück … und dieses Mal wird er die Bibel sprechen lassen.
Fassungslos starrte ich die Zeichnung an. Nicht weil dort ein mit Anabolika aufgepumpter Jesus mit einem M-16 in der Hand abgebildet war. Sondern weil ich erkannte: Peter Wyoming sprach nicht in Metaphern.
Er klatschte gegen das Poster. »Wir, die Standhaften sind diese eiserne Hand. Wir werden leiden, und manche von uns werden sterben. Aber seht euch an, was wir gewinnen werden, wenn wir unseren Kampf auf die Straßen tragen: Wir werden tausend Jahre lang mit Christus herrschen.« Er reckte die Bibel in die Höhe. »Wir haben es schriftlich. Wir werden gewinnen und tausend Jahre lang die Welt beherrschen. Im Millennium des Herrn.«
Jetzt sprangen alle auf, jubelnd und gröhlend. Das Piano begann zu hämmern. Wyoming reckte das Kinn in die Luft wie Il Duce, und der Chor fing an zu singen.
»Er hält mich in seinen Armen, mein Herr Jesus Christus. Er spannt den Hahn und zielt, hält mich fest an seiner Seite. Er drückt ab und die Kugeln fliegen -«
Meine Augen brannten und meine Ohren dröhnten, als die Musik zum Refrain anschwoll:
»Feuer frei! Ich bin die Waffe des Herrn. Feuer frei! Schreit mein Erlöser -«
Wyoming breitete die Arme aus. »Was wollt ihr?«
»Den Sieg!« Ihr Geschrei erfüllte den ganzen Raum.
Mein Mund war völlig ausgetrocknet, und mir wurde übel bei dem Gedanken, dass Tabitha diese Anschauungen teilte und sie vielleicht sogar Luke aufzwingen wollte. Die Hitze und der Lärm taten ein Übriges. Ich schloss die Augen.
 
Als ich sie wieder öffnete, war das puppengesichtige Mädchen aufgestanden und deutete auf mich. Ihre Lippen bewegten sich, aber in dem allgemeinen Tohuwabohu gingen ihre Worte unter.
Ich spürte, wie sich meine Hände verkrampften. In mir hallten Nikkis Worte nach: Man musste sich gegen diese Leute wehren und durfte nicht zurückweichen. Also blieb ich reglos stehen und beobachtete, wie sich das Gesicht des Mädchens vor Wut verzerrte, als sie bemerkte, dass niemand sie hörte. Sie kletterte auf einen Stuhl und kreischte ein einziges Wort.
»Ungläubige!«
 
Ihre Stimme schnitt wie eine Fabriksirene durch das Gebrüll der Leute. Am anderen Ende des Raums drehten sich Leute um und starrten mich an.
»Sie kommt von der Beerdigung«, rief das Mädchen. »Sie ist diejenige, die Pastor Pete beschimpft hat. Sie ist eine von den Aids-Leuten.«
Um mich herum lichteten sich die Reihen, Gemeindemitglieder wichen vor mir zurück. Das Mädchen hüpfte vom Stuhl und bewegte sich auf mich zu. »Was haben Sie hier zu suchen? Wir wollen Ihr Aids und Ihren Voodoozauber nicht!«
Ich erinnerte mich an die Einladung auf dem Flugblatt. »Ich bin hier, um nach der Demonstration Zeugnis abzulegen.«
Sie schürzte die Lippen. »Na klar. Sie sind doch überhaupt nicht errettet, das kann ich sehen.«
»Das kannst du?« Ich spähte an mir herunter. »Woran denn?«
Ein gesundes Misstrauen gegenüber Missionierungsversuchen liegt mir im Blut. Die kleinste Irritation reicht schon, um mich auf die Palme zu bringen. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nichts von reisenden Vertretern hielt. Meine Mutter sagte immer, die Delaneys kaufen keine Staubsauger an der Tür, und sie werden den Teufel tun, sich zwischen Tür und Angel einen Glauben aufschwatzen zu lassen. Wenn die Zeugen Jehovas klingelten, ging mein Vater immer in Unterhosen an die Tür oder rief mit den Worten »Bei Fuß, Luzifer« laut nach dem Hund.
Und nach all dem, was ich an diesem Tag gehört hatte, war die junge Frau mit dem rattigen Pferdeschwanz und den grünspanfarbenen Augen alles andere als eine kleine Irritation. Sie war eher ein Schlag ins Gesicht.
»Sie verschmutzen unseren Altarraum mit Ihrer Anwesenheit. Sie müssen jetzt gehen.«
»Aber das Kinderprogramm hat doch noch gar nicht angefangen.« Ich deutete auf den Programmzettel. »Hier, die Kleinen Krokodile erzählen mit ihren Handpuppen von der Hure Babylon.«
Sie glotzte mich an wie einen bösartigen Drachen. »Die Bibel warnt uns vor Leuten wie Ihnen! Ihr Rachen ist ein offenes Grab, mit ihren Zungen betrügen sie, Otterngift ist unter ihren Lippen.«
Ich verschränkte die Arme. »Dann schlag mich doch tot!«
Ihre Püppchenlippen öffneten sich. Das Herz hämmerte mir in der Kehle, aber ich rührte mich nicht vom Fleck.
Eine scharfe männliche Stimme ertönte hinter mir. »Was ist hier los?«
Das Mädchen grinste abfällig. Jetzt bist du dran. »Eine Ungläubige, Mr. Paxton.«
Er war in seinen Mittvierzigern, groß und schlank, trug den angesagten Bürstenhaarschnitt, ein kariertes Flanellhemd und Jeans. Er wirkte entspannt, aber sein Blick war erbarmungslos. »Wir treffen uns hier, um den Herrn zu preisen, nicht zur Gotteslästerung.«
»Ich habe nicht gelästert«, antwortete ich. Er war von kräftiger Statur und damit ziemlich ehrfurchtgebietend.
»Wie sonst sollten Sie Shiloh so wütend gemacht haben«, sagte er, »außer durch Lügen und -«
»Ich weiß, Otterngift ist unter meinen Lippen.« Seine Augen blitzten wie Mündungsfeuer auf, bevor er die Stirn in Falten legte. Ich sagte: »Ich suche jemanden aus meiner Familie.«
Das war definitiv die falsche Antwort. Sie schienen offenbar zu befürchten, dass sich ein Sekten-Deprogrammierer in ihren Gottesdienst eingeschlichen hatte. Paxton ergriff mich am Kragen. »Sie haben widerrechtlich Privatgelände betreten. Los, raus jetzt!«
Ich wehrte mich gegen seinen Griff, aber sofort kam ein zweiter Mann hinzu und schnappte sich meinen Arm. Es war der aknenarbige Demonstrant mit dem Bürstenschnitt, der Nikki Vincent »Hexe« genannt hatte.
»Wie viele von euch warten draußen?«, fragte Paxton.
»Lassen Sie mich los!«
Er packte fester zu. »Wie viele?«
»Neun. Ein Team aus lauter Nonnen, die mit Baseballschlägern bewaffnet sind.«
Bürstenschnitt zerrte an meinem Arm. »Kommen Sie mir bloß nicht komisch!«
Sein grober Griff signalisierte der Menge, dass heute Abend freies Denunzieren mit Anfassen angesagt war. Die Leute drängten nach vorne, allen voran Shiloh. Finger zeigten auf mich, und ich hörte »Leute wie die machen mich krank«. Eine Handfläche knallte mir auf den Hinterkopf. Bürstenschnitts Mund verzog sich zu einem unvorteilhaften Grinsen, das seine lückenhaften gelben Zähne offenbarte.
Jetzt wurde ich langsam richtig sauer – am meisten noch auf mich selbst, denn ich hatte ja förmlich um Aufmerksamkeit gebeten. Ich drängelte mich zur Bühne vor. »Pastor Pete!«
Vorne klatschten die Leute immer noch im Rhythmus, während sich der Chor in einer stampfenden Melodie über Befleckung und Aufopferung erging. Ich rief erneut. Wyomings Augen suchten die Menge ab, schließlich landete sein Blick in der Ecke, aus der das Ärgernis kam. Bei mir.
»Ich tue gerade, was Sie von mir verlangt haben«, erklärte ich mit erhobener Stimme.
Natürlich wusste ich, dass er mit seiner Aufforderung, meine Meinung der Zeichnerin selbst mitzuteilen, nicht gemeint hatte, dass ich Tabitha in seinem Gottesdienst aufsuchen sollte. Aber meine Worte zeigten Wirkung: Sie verwirrten die Menge um mich herum immerhin so, dass sie ihre Sticheleien einstellten.
Wyoming führte das Mikrofon an seine Lippen. »So, so.«
Er gab dem Chor ein Zeichen, der daraufhin verstummte. Langsam wich die Menge um mich herum zurück, nur Paxton hielt mich weiter am Kragen gepackt, und Shiloh verpasste mir mit ihren Autoschlüsseln zum Abschied noch einen Stich in die Seite. Wyoming wartete. Er ließ die Leute sich beruhigen. Auch ich sollte mir offenbar ein Bild von der geballten Kraft um mich herum verschaffen – und wie gut er sie unter Kontrolle hatte.
Er lächelte. »Ich glaube, Miss Delaney, Sie haben heute früh etwas von Vergebung zu mir gesagt.«
Stille legte sich über die versammelte Gemeinde. »Von Vergebung, ja«, erwiderte ich, »aber nicht davon, sich über andere Menschen zu erheben. Trotzdem weiß ich, was Sie sagen wollen.«
Der Menge gefiel meine mangelnde Unterwürfigkeit nicht. Wyomings Gesichtsausdruck erstarrte. »Shiloh, Isaiah« – anscheinend war Paxton gemeint -, »danke für eure Wachsamkeit. Ihr seid die Sorte großkalibriger Kugeln, die der Herr in seinem Magazin braucht.« Er zeigte auf Bürstenschnitt. »Du, Curt Smollek, wirst du den gleichen Kampfgeist an den Tag legen, wenn es an der Zeit ist, sich der Bestie zu stellen?«
»Oh ja, Pastor Pete. Richten Sie mich direkt auf ihn und drücken Sie ab.« Smolleks ahmte das Laden einer Pumpgun nach. »Und er wird fallen.«
»Exzellent.« Ein neuer Gesichtsausdruck: ein gönnerhaftes Lächeln. »Miss Delaney, es war nicht nötig, dass Sie hier so eine Unruhe auslösen.« Er zeigte in die erste Reihe. »Tabitha, komm nach oben.«
Sie erhob sich und folgte seiner gebietenden Hand.
Hatte sie sich verändert? Ihr weißes Kleid wirkte länger und weiter, versteckte ihren knackigen Hintern, der sonst die Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber vielleicht hatte sie auch nur abgenommen. Sie war bleich, wirkte fast zerbrechlich – bis auf das Gesicht. Ihre wilden kastanienbraunen Locken wurden von einem Haarband gehalten, und ihre Augen leuchteten. Und sie waren fest auf Pete Wyoming gerichtet.
Als sie die Bühne betrat, nahm er ihre Hand. »Hier ist jemand, der dich sprechen will, mein Lamm. Aber es ist jemand, der noch nicht sehen kann und sich deshalb ungeschickt und zerstörerisch verhält. Kannst du sie auf den rechten Weg führen?« Er legte ihr die Hand in den Nacken und drehte Tabitha in meine Richtung. »Erzähl Miss Delaney, wie du zu den Standhaften gefunden hast.«
Für eine Sekunde oder zwei blieb sie stumm und starrte mich an. Verzweifelt suchte ich in ihren Augen nach einem Anzeichen, dass sie mich als Verwandte, ja, als Freundin erkannte. Nicht, sag jetzt nichts, versuchte ich sie wortlos zu beschwören. Aber sie hatte dieses Leuchten in den Augen, eine gleißende und erbarmungslose Kraft. Und schon dröhnte ihre ungestüme Stimme in meinen Ohren.
»Jesus hat mich den Klauen des Satans entrissen.«
Wyoming fragte: »Wie hat er das getan?«
»Er rettete mich aus einer unheiligen Ehe.«
Ein hörbares Oh nein entwich der Gemeinde. Wyoming hob eine Hand. »Richtet nicht über sie. Nur zu leicht lassen sich naive junge Leute von sogenannten Freunden dazu verlocken, Beziehungen zu jenen einzugehen, die nicht errettet sind. Ist es nicht so, Tabitha?«
»Ja, und ist so leicht, dass man Angst bekommen könnte. Sie stellen das Leben ihrer Genossen, die nicht errettet sind, als herrlich und aufregend dar und wollen, dass du dich ihnen anschließt. Und sie hat so ehrlich und aufrichtig dabei gewirkt.« Jetzt redete sie von mir. »Sie hat mich zu dem ermutigt, was sie Kreativität nannte, aber sie meinte damit gottlose Kunst und Lügengeschichten. Und ich fiel auf sie herein. Sie führte mich an einen dunklen, dunklen Ort. Zum Leben mit ihm.«
»Mit deinem Ehemann.«
Sie nickte.
»Erzähl ihnen, wie gefährlich er war.«
»Er -«, sie senkte den Blick. »Er ist Offizier bei der Navy. Er ließ uns von einem römisch-katholischen Priester trauen.«
Stille. Sie hätte genauso gestehen können, dass mein Bruder kleinen Kätzchen zum Spaß den Kopf abbiss. Paxtons Griff an meinem Kragen wurde noch fester, und ich konnte seinen Atem im Nacken spüren.
Als Tabitha aufschaute, spiegelten sich Scham und Trotz in ihren Zügen. »Ich gestehe, dass ich verloren war. Aber der Herr hat mich gefunden. Er zeigte mir, dass ich über einem Abgrund hing. Und kurz bevor ich gefallen wäre«, sie ballte eine Hand zur Faust, »riss er mich an sich und führte mich zu Ihnen.«
»Und was hat Jesus dir an diesem Abgrund gezeigt?«, stachelte Wyoming sie an.
»Die Wahrheit über meinen Ehemann. Dass er an eine falsche Religion glaubt und für Satans Handlanger kämpft.«
Diese Zeile war ihr vorgegeben worden, und sie rezitierte sie hölzern, aber die Köpfe in der Menge begannen zu nicken wie Wackeldackel auf der Hutablage eines Autos. Mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte sie anschreien, ihr Weltbild zurechtrücken, ihr die Blindheit nehmen. Ich wollte schreien: Erzähl ihnen auch den Rest, nämlich dass du dein Kind hast sitzen lassen. Aber als ich den Mund öffnete, grub Paxton seine Hand in meinen Nacken. Ich konnte nur still dastehen, während es in mir brodelte.
»Und ich habe die Früchte der Endzeitlügen des Satans gesehen.« Mit einem Schlag nahm ihre Stimme neue Überzeugungskraft an. »Ich habe gesehen, wie Christen durch diese Lügen zur Verzweiflung getrieben wurden. Es ist so furchtbar. Aber bis Sie mich aufklärten, habe ich nicht gewusst, dass es sich um eine Verschwörung des Teufels handelt.«
Es traf mich wie der Schlag mit einem Holzhammer. Plötzlich verstand ich: Tabitha redete von ihrer Mutter.
Wyoming nickte verständnisvoll. »Ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Allerdings glaube ich nicht, dass sie etwas bewirkt hat.«
Er reckte erneut das Kinn und starrte auf mich herab. Hundert Köpfe fuhren herum, um es ihm gleichzutun. Ich blieb stumm.
»Nein, kein bisschen. Genau wie ich es mir gedacht hatte.« Er seufzte. »Tabitha, langsam läuft diese Sache aus dem Ruder, kümmere dich darum.«
Er senkte das Mikrofon, ging zur Solosängerin des Chors und ließ Tabitha allein in der Bühnenmitte zurück. Die Sängerin zückte ein Taschentuch und tupfte den Schweiß von Pastor Petes glänzender Stirn. Tabitha blickte in hundert erwartungsvolle Gesichter.
Dann nickte sie Isaiah Paxton zu. »Raus mit ihr.«
Er schob mich in Richtung Tür. Ich krallte meine Nägel in seine Hände und stemmte meine Absätze in den Boden. Curt Smollek ergriff mich von vorne, und beide schleiften mich hinter sich her.
»Wer hat jetzt das Spatzenhirn, Frau Neunmalklug?«, zischte Smollek mir ins Ohr.
Ich wollte ihn beißen, aber wir kamen dem Ausgang immer näher. Schnell drehte ich meinen Kopf ein letztes Mal zur Bühne. Tabitha stand noch immer dort, stocksteif und weiß wie eine Marmorsäule.
»Vielleicht hast du dich in diesen Zirkus hier eingekauft«, rief ich ihr zu, »aber vergiss nicht – caveat emptor.«
Die Leute schnappten hörbar nach Luft. Latein … Paxton riss an meinem Kragen. Smollek zischte: »Hexe!«
Jetzt hatte ich ihre heilige Stätte gründlich entweiht. Sehr gut. Vielleicht mussten sie jetzt die Kirche sandstrahlen oder sie ganz abreißen und den Boden mit Salz ausstreuen. Kurz vor der Tür sagte Paxton »Auf drei« und griff nach der Türklinke.
Bevor er sie berühren konnte, flog die Tür auf. Draußen stand ein ausgemergelter Mann, Schatten verdeckten sein Gesicht. Smollek zuckte überrascht zusammen.
»Aus dem Weg!« Der Mann gestikulierte und stolperte vorwärts ins Licht.
Smollek ließ meinen Arm los. »Großer Gott«, keuchte er und drückte sich rückwärts gegen den Eingang. Der Eindringling torkelte auf Paxton und mich zu.
 
Paxton starrte den Eindringling an und schob mich schützend vor sich. »Sofort stehen bleiben!«
Ja, genau, beweg dich bloß nicht, sonst ist das Heidenmädchen dran. Schon griff der Eindringling mit seinen klammen Händen nach meinem Hemd. Sein säuerlicher Atem hüllte mich ein. »Aus dem Weg!«
Ein leiser Laut des Ekels entwich meiner Kehle. Sein Gesicht war schweißüberströmt und abgemagert, seine Augen, die vor Inbrunst, Alkohol oder Fieber brannten, suchten den Raum ab. Er versuchte mich zur Seite zu stoßen, schaffte es aber nicht. Nach einem weiteren vergeblichen Versuch blickte er verwirrt um sich und warf sich schließlich gegen Paxton und mich. Zwischen den beiden eingeklemmt, konnte ich seinem strengen Körpergeruch nicht ausweichen. Paxton griff um mich herum nach seinen Armen. »Smollek, nimm seine Füße!«
Der Eindringling deutete mit einer zittrigen Hand in Richtung Bühne. »Sie!«, schrie er. »Sie weiß es! Sie weiß es!«
Ich versuchte mich aus meiner Zwangslage zu befreien. Der Mann schrie nun pausenlos, Speichelfäden tropften ihm aus dem Mund. »Ihr Huren und Hurensöhne!« Er blinzelte. »Oh Jesus, sieh dir das an.« Seine Hand wies auf die Chorsängerinnen in ihren roten Roben. »Sie brennen. Oh. Das Feuer …«
Mit einem Grunzen nahm Smollek all seinen Mut zusammen, sprang vor, umklammerte den Mann mit beiden Armen an der Hüfte und hob ihn in die Luft. Der Eindringling keifte, bäumte sich auf und drückte den Rücken durch. Endlich konnte ich mich losreißen und stolperte rückwärts.
»Ich werd alles erzählen!«, schrie der Mann. »Scheiß auf euch alle, ich werd’s erzählen.«
Die Gemeinde war in Aufruhr. Auf der Bühne hatten sich die Majoretten zusammengedrängt. Wyoming versuchte den Chor durch Fingerschnipsen auf sich aufmerksam zu machen, damit sie ein Lied anstimmten, doch sie ignorierten ihn.
Das Handgemenge bewegte sich jetzt wieder in meine Richtung. Ich wich noch weiter zurück und stieß gegen eine Stuhlreihe, aber der Mann hatte sich schon in mein Hemd verkrallt und riss mich mit, als Paxton und Smollek ihn zur Tür schleiften. Dann traf einer seiner strampelnden Füße Smollek ins Gesicht, und Smolleks Kopf flog nach hinten. Wild ineinander verkeilt stolperten wir auf das Schaufenster zu.
Genau das hatte ich kommen sehen und schrie »Nein!«, aber unsere Bewegung ließ sich nicht mehr stoppen. Schnell verbarg ich den Kopf zwischen den Armen. Wir krachten durch das Fenster und hinaus auf den Bürgersteig.
Glas klirrte auf den Beton. Ich landete auf Curt Smollek und spürte, wie sich Knochen und Glas in meinen Rücken drückten. Nach einem kurzen benommenen Moment konnte ich Schmerzensschreie und trappelnde Füße hören. Vorsichtig rollte ich mich auf die Seite und sah die Leute hinter dem zerborstenen Fenster in der Kirche auf mich zuwogen. Um mich herum glitzerten Glassplitter auf dem Asphalt. Smollek kniete auf allen vieren, das weiße T-Shirt blutbesprenkelt. Der Eindringling stolperte inzwischend stöhnend über die Straße. Glasstücke steckten ihm in Rücken und Armen, doch er schien sie nicht zu bemerken. Paxton ergriff Smolleks Arm und zog ihn hoch.
Ein Dutzend kleinere Schnitte schmerzten auf meinen Händen und der Kopfhaut. Aber ich war als Letzte durch das Fenster gefallen, hatte lange Ärmel getragen, und das hatte mich geschützt. Ganz langsam stand ich auf, bemüht, den Boden nicht zu berühren. Ich fühlte mich wie betäubt, dabei hatte ich noch Glück gehabt.
Wieder erhob der Eindringling die Stimme zu einer langen, bösartigen Verwünschung. Doch plötzlich erfasste ihn ein Scheinwerfer. Im nächsten Augenblick quietschten Bremsen, und ohne Übergang erfasste ihn ein Lastwagen. Sein Geschrei verstummte abrupt.
Schlingernd kam der Lastwagen zum Stehen, Gemüse fiel von seiner Ladefläche. Während der Fahrer aus seinem Führerhaus sprang, rannte ich auf die Straße. Er kniete nieder, starrte auf die Vorderachse und brach in Tränen aus.
Dann hatte ich ihn erreicht. »Können Sie den Laster zurücksetzen?«
In seinem fülligen Gesicht spiegelte sich die Verzweiflung. »Er ist eingeklemmt -«
Ich kniete neben ihm nieder und verständigte mit meinem Handy den Rettungsdienst. Der Fahrer schluchzte an meiner Seite. »Er ist einfach vor mir aufgetaucht.«
Sanft legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. »Sanitäter und Feuerwehr sind auf dem Weg.« Er zitterte haltlos.
»Wir müssen sehen, ob wir ihm helfen können.«
»Ja«, antwortete er, aber er bewegte sich nicht. »Genau vor mir. Ich konnte nicht mehr anhalten.«
Ich sah mich um. Gemeindemitglieder zwängten sich durch die Eingangstür. Smollek hockte an der Bordsteinkante und barg das Gesicht in den Händen. Paxton, der anscheinend von Glassplittern verschont geblieben war, kniete vor dem Truck und lugte darunter.
»Können Sie ihn erreichen?«, fragte ich.
Er blickte mich an. Das weiße Licht der Scheinwerfer ließ sein scharfes Profil noch stärker hervortreten. Ohne etwas zu sagen, stand er auf, wischte sich die Hände ab und schlenderte zur Menge zurück. Die Langsamkeit, mit der er sich bewegte, signalisierte deutlich: Das ist nicht mehr mein Problem.
Mein Magen drehte sich vor Angst fast um, aber ich legte mich auf den Boden und rutschte mit dem Kopf unter den Wagen. Ich konnte Auspuffgase und Öl riechen, spürte die Hitze des Motors und sah die dunklen Rundungen der Reifen vor mir. Die Beine des Mannes hingen gebrochen und schlaff aus einem Radschacht heraus, an seinem bewegungslosen Arm glitzerte eine Rolex-Uhr. Den Rest konnte ich nicht erkennen.
»Können Sie mich hören?«, fragte ich.
Keine Antwort. Vorsichtig schob ich mich vorwärts. Mit gestrecktem Arm konnte ich seine Finger greifen. »Wenn Sie mich hören können, drücken Sie meine Hand.« Nichts. »Hilfe ist unterwegs«, sagte ich. Ich wusste, dass ich nichts mehr tun konnte und zwängte mich unter dem Laster hervor.
Der Fahrer saß mit glasigen Augen auf dem Boden und starrte auf den leblosen Arm des Mannes. Die Luft stank nach verbranntem Gummi. Ich hievte mich ins Führerhaus, stellte den Motor ab und schnappte mir das Warndreieck. Die Standhaften drückten sich um die Kirche herum. Nicht ein einziger von ihnen hatte seine Hilfe angeboten. Im Gegenteil, jetzt wies ein teigiger Finger auf mich. »Ihre Schuld«, konnte ich hören. Und lauter: »Sie hat das über uns gebracht.«
Sie drängten sich auf dem Bürgersteig, bis zur Bordsteinkante, gingen aber keinen Schritt weiter – als ob sie am Rande eines Abgrunds stünden. Als ob sie ausdrücken wollten, dass der Unfall ein Zeichen war … eine Bestrafung oder eine Warnung. Ich trat in etwas Glitschiges – einen aufgeplatzten Kürbis. Das also war von der Ladefläche gefallen, und das war es auch, was sie zurückhielt. Sie hielten Distanz zu den orangefarbenen Früchten zurück, als ob es sich um abgeschnittene Köpfe handelte.
Dann hörte man Pete Wyomings dröhnende Stimme. »Man will uns verhöhnen. Nun, dafür habe ich die richtige Antwort parat!«
Er schritt vom Bordstein auf einen Kürbis zu und zerquetschte ihn mit einem Tritt seiner Cowboystiefel. Sekunden später raffte die Solosängerin ihre rote Robe hoch und tat es ihm nach. Ihr folgten die Majoretten, die auf die Straße rannten und mit ihren Stäben auf die Kürbisse einschlugen wie Jäger auf Robbenbabys. Und dann schloss der Rest sich an.
Ich ging zurück zum Truck. Der Fahrer kniete neben der Vorderachse und redete auf den Mann ein. »Du schaffst es, Kumpel, Hilfe ist unterwegs, du schaffst es.« Es war wie ein Mantra der letzten verbliebenen Hoffnung, ein Mantra aus Angst und Schuldgefühlen. Plötzlich flog ein Kürbis gegen das Holzgatter des Lastwagens. Ich zog den Fahrer am Arm. Er richtete sich auf und beobachtete verständnislos, wie die Standhaften seine Ladung zerstörten. Dann deutete jemand auf den Laster. »Seht, da sind noch mehr!« Ein Dutzend Leute kletterten auf die Ladefläche und ließen die Früchte über Bord gehen.
»Steigen Sie ins Führerhaus.« Ich schob ihn nach vorn. Sein Blick wanderte zurück auf die Vorderachse. »Ich bleibe bei ihm«, versicherte ich.
Er griff nach der Tür, hielt aber noch einmal inne. Peter Wyoming stand mit ausgebreiteten Armen und leuchtenden Augen mitten auf der Straße und betrachtete zufrieden das Chaos um sich herum.
Dann warf er den Kopf in den Nacken. »So wie es in der Bibel steht!«
Der Fahrer atmete tief durch. »Nein, wir bleiben beide hier.«
»Danke.«
Endlich konnte man in der Entfernung eine Sirene hören. Die blauen und roten Lichter der Feuerwehr blitzten durch die Nacht, tanzten über Fensterscheiben, Asphalt und Gesichter. Im Licht der Scheinwerfer wurden die Standhaften zu schwarzen Silhouetten. Ich winkte, aber der Einsatzwagen hielt in einiger Entfernung mit laufendem Motor.
Die Besatzung schien verwirrt von dem Anblick, der sich ihr bot.
Für einen kurzen, schrecklichen Moment dachte ich, die Standhaften würden den Feuerwehrwagen angreifen. Aber Pete Wyoming breitete die Arme in der klassischen Geste des guten Hirten aus, der seine Herde zu sich ruft. »Kommt, Leute.« Sie folgten ihm zurück auf den Bürgersteig, kletterten von der Ladefläche herunter und gaben ohne jede Eile die Straße frei, während sie die Hände in die Luft reckten und sich gegenseitig abklatschten.
Jetzt fuhr das Feuerwehrauto vor bis zum Unfallort. Die Besatzung stieg vorsichtig aus, Ratlosigkeit in den Gesichtern. Der Lastwagenfahrer dirigierte sie zu dem eingeklemmten Mann, und wir zogen uns zurück, während sie sich an die Arbeit machten. Die Standhaften hatten sich erneut am Bordstein versammelt und begannen zu singen: »Wir holen uns die Straßen für tausend Jahre zurück …«
Zurück blieb nur eine Person ganz in Weiß, die mich fixierte: Tabitha. Die Lichter der Feuerwehr tauchten sie abwechselnd in gespenstisches Blau und Rot. Ich trat auf sie zu.
»Was geht hier vor?«, fragte ich. »Was in Gottes Namen ist hier los?«
Furcht und Entschlossenheit spiegelten sich abwechselnd in ihrem Gesicht. »Du hast nicht zugehört.«
Ich deutete auf den Lastwagen. »Wahrscheinlich ist der Mann tot. Kannst du mir vielleicht mal sagen, was eben in dieser Kirche passiert ist?« Sie starrte mich nur an. Ich trat näher, schwer atmend. »Warum bist du abgehauen?«
»Das verstehst du nicht«, sagte sie.
»Dann versuch’s mir zu erklären. Jetzt kann mich sowieso nichts mehr erschüttern.«
Die Stimme, die aus dem sinnlichen Mund drang, klang merkwürdig flach und körperlos. »Wende dich ab von dem Betrüger und öffne die Augen, Evan. Etwas wird kommen, das du nicht aufhalten kannst.«
Hinter mir quäkten Funkgeräte, und Feuerwehrmänner verlangten nach Ausrüstung. Tabitha öffnete den Mund, offenbar unentschlossen, ob sie noch etwas sagen sollte. Eine scharlachrote Robe drehte sich blitzend vor ihr im Lichterschein.
Dann sagte sie: »Du kannst ihn nicht behalten. Er gehört dir nicht.«
Im nächsten Moment wurde sie von der Menge verschluckt.