16. Kapitel
»Ausgebrannt«, sagte Jesse.
Mit meinem Mietwagen umrundeten wir den Campus der
University of California, der hoch auf einer Klippe über dem Ozean
lag. Im Scheinwerferlicht leuchteten Eukalyptusbäume auf, die
flachen Schlackenbeton-Schlaftrakte und das Institut für
theoretische Physik, an dem einige der Nobelpreisträger der letzten
Zeit beheimatet waren.
Jesse lehnte sich gegen die Wagentür. »Ich spreche
nicht nur vom Buchladen, sondern auch von Anita. Du hättest sie
sehen sollen, wie sie in der ausgebrannten Ruine stand, zitterte
und ihre kleinen Hände zu Fäusten ballte. Sie wirkte, als wäre sie
zweihundert Jahre alt, und murmelte was von ›Faschisten‹.«
Die Straße führte abwärts an Felsen vorbei bis zum
Strand bei Campus Point. Ich bog auf den Parkplatz vor dem
Marinebiologielabor ein. Im Scheinwerferlicht konnte ich schon
Glory erkennen, die auf der Motorhaube eines verbeulten silbernen
Toyota Celica saß. Sie trug ein Batik-Shirt, Zimmermannshosen und
ein blaues Kopftuch.
»Dann wollen wir mal hören, wie sie den Krawall
heute rechtfertigt«, sagte Jesse.
»Nein.« Ich stellte den Motor ab. »Ich will nicht,
dass du sie reizt.«
»Sie hat heute dazu beigetragen, Anitas gesamtes
Lebenswerk zu zerstören.«
»Das ist mir klar. Aber ich will rausfinden, was
sie weiß. Also halt dich zurück.«
Glory kam auf das Auto zugelaufen, die Hände in den
Hosentaschen. Jesse starrte mich aufgebracht an. »Bitte«,
appellierte ich an seine Vernunft. Ob es überhaupt eine gute Idee
gewesen war, ihn mitzunehmen? Er war wütend auf die Standhaften,
und ich war immer noch sauer auf ihn. Doch schließlich nickte er.
Ich stieg aus.
Hinter Glory schlugen die Wellen auf die Felsen,
das Mondlicht spiegelte sich milchig in den Gezeitentümpeln. »Ich
kann nicht glauben, dass ich das hier tue«, sagte sie.
»Die Dinge geraten außer Kontrolle, und das weißt
du auch.«
»Ja. Demonstrieren ist eine Sache, aber diese Läden
zu demolieren … das ist was anderes.«
»Das heute war erst der Anfang. Was soll denn noch
alles passieren?«
Sie gab keine Antwort. Jesse war immer noch mit
Aussteigen beschäftigt. Sie starrte ihn unverhohlen an, als er den
Klapprollstuhl von der Rückbank zog.
Schließlich sagte sie: »Seit Chenille das Kommando
hat, ist alles anders. Und damit meine ich keineswegs, dass sie
eine weibliche Note in die Kirche einbringt und alles etwas sanfter
wird. Sie haben keine Ahnung, wie sie wirklich ist.«
Jesse rollte näher. »Eine Hure mit einem Herz aus
Gold?«
Ich tätschelte ihm die Schulter, damit er etwas vom
Gas ging.
»Sie sollten sich nicht über Chenille lustig
machen«, sagte Glory. »Sie ist ziemlich hart drauf. Viel härter als
Pastor Pete. Und sie handelt aus vollster Überzeugung. Sie hat die
Zukunft gesehen, wissen Sie? Sie hat Visionen.«
»Was hat sie gesehen?«
»Das Kriegsrecht.«
Jesse schnaubte.
»Ja, das hat sie. Die Leute in Washington sind doch
nur Marionetten in der Hand des Teufels«, fuhr Glory fort. »Die
Regierung wird das Kriegsrecht verhängen und das Land in
einen Polizeistaat verwandeln.«
An Jesses Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, was
er dachte: das gleiche Geschwätz wie bei den Rechtsextremen. Er
hatte noch nicht verstanden, dass sie es ernst meinte.
»Wer denn in Washington?«, fragte er.
»Die Huren und Schwulen im Kongress. Die
Seuchenärzte im Gesundheitsministerium, die uns vergiften wollen.
Das Pentagon, das mit den Vereinten Nationen zusammenarbeitet, um
uns zu versklaven.«
»Das klingt ja unglaublich präzise«, warf Jesse
ein.
»Chenille sagt, dass das Pentagon Brian Delaney
befohlen hat, Pastor Pete zu ermorden. Das gehört zum Plan, den
Antichrist an die Macht zu bringen.«
»Glory, hört sich das für dich wirklich glaubhaft
an?«
Sie glotzte mich an, als ob ich einen flammenden
Kometen über meinem Kopf ignorieren würde. »Offenbarung, Kapitel
11, Vers 7. Da steht, dass die Bestie die Zeugen umbringen wird,
und jetzt ist Pastor Pete tot! Es ist passiert.«
»Post hoc, ergo propter hoc«, murmelte
Jesse.
Sie verzog das Gesicht »Was soll das heißen?«
»Egal«, sagte ich. »Brian hat es nicht getan,
Glory.«
»Für Sie ist das natürlich schwer zu verstehen. Das
liegt daran, dass Sie Opfer der Großen Täuschung geworden sind,
genau wie Ihr Bruder. Das Pentagon hat ihn vermutlich angelogen.
Vielleicht haben sie ihn einer Gehirnwäsche unterzogen und ihm dann
gesagt, Pastor Pete sei ein Sicherheitsrisiko oder ein feindlicher
Agent. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe.« Es war, als ob man mit einem Stein
diskutieren wollte. »Erzähl uns von dieser Verschwörung, das
Kriegsrecht einzuführen.«
»Die Regierung zieht ihre Kräfte zusammen, um die
Menschheit der Bestie zu unterjochen. Es wird schlimm werden. Und
das schon bald.«
»Wie bald?«, fragte Jesse.
»Nicht mehr lange. Die Regierung wird in der Nacht
des Teufels angreifen.«
Er wusste offenbar nicht, wovon sie redete.
»Halloween«, erklärte ich. Das war schon in zehn
Tagen. Überrascht sank er zurück in seinen Rollstuhl.
Glory nickte. »Halloween ist die Türschwelle zum
Bösen. Jedes Jahr töten Satanisten kleine Kinder mit vergifteten
Süßigkeiten, schlachten Haustiere und vergewaltigen
Jungfrauen.«
HELL-o-ween. »Das ist nur dummes Geschwätz,
das stimmt doch nicht.«
»Hören Sie mir mal zu«, rief sie. »In dieser Nacht
ist die Trennwand zwischen den Welten besonders dünn, deshalb hat
der Satan besonders große Macht in unserer Dimension. Und darum
wird die Regierung in dieser Nacht angreifen.«
Jesse gab sich keine Mühe seinen Unglauben zu
verbergen. Ich fragte: »Und was werden die Standhaften dann
unternehmen?«
Glory wand sich. »Das macht mir Angst. Bei den
Standhaften gibt es … verschiedene Ebenen, verschiedene
Gruppierungen. Eine davon steht Chenille besonders nahe. Die sind
hart drauf …«
»Was meinst du mit hart drauf?«, fragte
Jesse.
»Chenille hat einen harten Kern um sich geschart,
eine Gruppe von ihr völlig ergebenen fanatischen Anhängern.« Sie
blickte sich auf dem Parkplatz um. Nichts war zu sehen außer dem
Meer und den Sternen. Trotzdem wirkte sie verängstigt.
»Mann, das ist echt schwer für mich.«
Sie durfte jetzt nicht aufhören zu reden. »Das ist
okay, ich hab auch Angst.«
Sie warf den Kopf herum. »Sagen Sie das nicht. Ich
dachte, Sie wären die einzige Person, die keine Angst hat.«
»Warum das?«
»Sie sind die Einzige, die Chenille jemals die
Stirn geboten hat.«
Ihre Aussage verblüffte mich. Dass ich in ihren
Augen so groß dastand, verursachte mir Unbehagen.
Sie zog ihr Kopftuch ab. »Sie müssen verstehen, die
Standhaften haben mir das Leben gerettet. Ohne Scheiß, wenn mich
Chenille nicht aus dieser schlimmen Situation gerettet hätte, wäre
ich jetzt tot. Und sie hat mich an einen Ort gebracht, der sauber
war und wahrhaftig, und wo ich jemand bin. Ich. Bei den
Standhaften bin ich jemand.«
Ich spürte, dass sie jetzt meine Unterstützung
brauchte. »Aber die Dinge haben sich geändert?«
Sie starrte auf den dunklen Ozean. »Als ich zu den
Standhaften kam, sagte Chenille, dass mein Leben der Herrlichkeit
gewidmet sein sollte. Deshalb gab sie mir diesen Namen. Glory ist
nicht mein richtiger Name. Aber dann hat sie mich hierhergeschickt,
damit ich einen Job als Reinigungskraft annehme.«
»Sie lässt dich als Putzfrau arbeiten?«
»Sie sagte, das würde mich Demut lehren. Als ob ich
vor meiner Errettung nicht schon genug Demut gelernt hätte, als ich
auf irgendwelchen Rücksitzen für Drogen die Beine breitgemacht
habe.«
Sie musterte mich prüfend von der Seite, ob sie
mich mit ihren Worten schockiert hatte. Ich legte ihr die Hand auf
die Schulter.
Jetzt mischte sich Erregung in ihre Stimme.
»Sie hat natürlich keinen Job angenommen, der ihr Demut
beibrachte. Sie hat sich selbst zur Solosängerin im Chor bestimmt.
Mir aber hat sie die Stellenanzeige unter die Nase gehalten und
befohlen, dass ich mich darauf melden soll. Wissen Sie was? Ich
hab’ne Menge schmutziges Zeug gemacht, bevor ich errettet wurde,
aber selbst als ich auf der Straße lebte, habe ich nie gedacht,
wow, wenn ich mal hier rauskomme, dann besorge ich mir mal einen
tollen Hilfsarbeiterjob. Ich bin immer in die Bücherei gegangen,
und so hab ich auch Science-Fiction entdeckt. Ich habe Orson Scott
Card und Octavia Butler gelesen, das war echt toll, und Connie
Willis …«
»Die Jahre des schwarzen Todes«, ergänzte
ich.
»Genau! Ich hab mir immer gewünscht, dass ich durch
die Zeit reisen könnte …« Sie verstummte. »Aber seitdem habe ich
rausgefunden, dass die Zukunft viel schlimmer ist, als man in
Science-Fiction-Romanen lesen kann.«
Jesse trommelte mit den Fingern auf sein Knie. Ein
deutliches Signal an mich, dass er sich kaum noch davon abhalten
konnte, in Hohngelächter auszubrechen
»Ich hab Ihr Buch geliebt, Evan. Aber dann musste
ich immer daran denken, dass es nicht den biblischen Vorgaben
entspricht, und dann habe ich mich so schmutzig gefühlt
…«
»Wissensdurst – ein Laster, das verheimlicht werden
muss«, ätzte Jesse.
»Die Wissbegier ist schuld am Sündenfall. Als Eva
den Apfel vom Baum der Erkenntnis aß …«
»Und deine Kirche tut ihr Möglichstes, sämtliches
Wissen, das wir seither angesammelt haben, auszulöschen. Ihr zündet
Buchläden an.«
Es war ein Fehler, dass ich ihn mitgenommen hatte.
Sein Zorn war gerechtfertigt, aber wenn er so weitermachte, war das
Treffen in neunzig Sekunden beendet. »Jesse, bitte …«
»Bildung ist nicht das höchste Gut«, sagte Glory.
»Wahrheit und Glaube sind wichtiger.«
»Ja, und Unwissenheit ist ein Segen«, fügte Jesse
hinzu.
»Wissen Sie, wenn Sie an Gott glauben würden, dann
könnten Sie auch laufen.«
Scheiße. Jetzt war es passiert.
Er nickte völlig übertrieben, als wäre ihm soeben
die Erkenntnis seines Lebens zuteilgeworden. »Ahh! Ich
verstehe. Und was noch?« Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. Er
fuhr fort: »Was wäre sonst noch meine Belohnung, wenn ich an Gott
glauben würde? Wie wär’s mit unglaublicher sexueller Potenz oder,
sagen wir, einem Privatjet? Darf ich eine Liste machen?«
»Stopp!«
Beide schauten mich an.
»Ich habe mal eine Frage«, sagte ich. »Wenn die
Standhaften nicht viel von Büchern halten, warum hat Chenille dir
dann befohlen, einen Job an der Universität anzunehmen?«
Glory seufzte. »Sie meinte, mit der Zeit würde ich
dahinterkommen.«
Wir lauschten den Wellen, die sich an den Felsen
brachen.
»Sabotage«, meinte Jesse, der sich nun wieder etwas
beruhigt hatte.
»Das vermute ich auch«, sagte sie.
»Wo arbeitest du?«
»Im Bereich Biowissenschaften.«
Es war die ideale Angriffsfläche für Pastor Petes
Hass – all diese Mikroorganismen, die lateinischen Fremdworte. Aber
mich störte noch etwas anderes, ich konnte es nur noch nicht ganz
in Worte fassen. Ich machte ein paar Schritte Richtung Wasser. Der
nasse Sand glänzte silbrig, sobald sich die Wellen zurückzogen. In
weiter Entfernung konnte ich den Goleta-Pier und das
Beachside-Restaurant erkennen, dessen Lichter auf dem Wasser
tanzten.
»Dieser harte Kern von Fanatikern, wer gehört da
dazu?«, fragte ich.
»Ice Paxton, Shiloh, Curt Smollek, die
Brueghel-Drillinge … insgesamt vielleicht zehn oder zwölf
Leute.«
»Und du?«, fragte Jesse.
»Nein, ich gehöre nicht zum engsten Kreis.« Man
konnte ihrer Stimme anhören, wie sehr sie die Ausgrenzung
schmerzte.
»Und Tabitha?«
»Nein.«
Ich war erleichtert. Es überraschte mich selbst,
wie sehr ich auf diese Antwort gehofft hatte, darauf, dass Tabitha
nicht völlig verloren war.
»Tabithas Stern ist am Sinken«, sagte Glory. »Sie
war eher Pastor Petes Liebling als der von Chenille, erst recht,
seit sie die Mission, ihren kleinen Jungen zu retten, verbockt
hat.«
»Ihn zu retten?«, fragte Jesse. »Glaubst du, es
wäre eine Rettung gewesen?«
»Was auch immer. Pastor Pete hatte danach immer
noch Verständnis für sie, aber Chenille war der Meinung, dass ihr
der Mumm für die Einsätze in der Öffentlichkeit fehlt. Sie ließ sie
am ausgestreckten Arm verhungern.«
Mit dem Mangel an Mut hatte das nichts zu tun, eher
mit Eifersucht. Tabitha hatte dafür gesorgt, dass reichlich
Eifersucht im Spiel war – bei Brian, bei Chenille und bei wer weiß
wem sonst noch.
»Warum macht dir dieser harte Kern so viel
Angst?«
»Weil sie jeglichen weltlichen Gütern abgeschworen
haben. Sie haben ihre Häuser und Besitztümer verkauft, um sich auf
den nächtlichen Angriff des Teufels vorzubereiten.«
Es war kälter geworden, aber mich fröstelte nicht
nur deswegen. »Sich vorzubereiten? Mit einem Gegenangriff?«
»Sie wollen einen Präventivschlag
durchführen.«
»Oh Gott«, entfuhr es Jesse.
»Wann?«, fragte ich. »Wo?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du musst es doch wissen.«
»Die Einzelheiten der Einsatzpläne werden nur denen
mitgeteilt, die sie unbedingt kennen müssen. Und Putzfrauen gehören
nicht dazu.«
»Als sie ihre Habseligkeiten verkauft haben … was
haben sie mit dem Geld angestellt?«, fragte Jesse.
Ihr Blick sprach Bände. »Sie haben Waffen
gekauft.«
Ich schloss die Augen.
»Sie haben einen ganzen Haufen, genug, um damit
einen Krieg anzufangen.«
Jesses Stimme klang angespannt. »Du musst etwas
über ihre Pläne rausfinden.«
»Das kann ich nicht.«
»Das nehm ich dir nicht ab.«
Ihre Stimme wurde lauter. »Sie haben mich
rausgedrängt, verstehen Sie das nicht? Ich mache nur noch die
Drecksarbeit. Ich werde Fußsoldat sein oder noch was Schlimmeres,
Kanonenfutter oder eine Versuchsperson, die in Erfahrung bringen
muss, ob die Luft mit Anthraxbakterien verseucht ist.«
Ich packte sie am Arm. »Du musst aussteigen. Heute
noch.«
»Ich kann nicht.«
»Natürlich kannst du das.«
»Zurück nach draußen? Niemals, sie würden mich
verdammen.«
»Wenn du mit uns kommst, können wir dir Schutz
anbieten.«
»Sie meinen Polizeischutz? Sie sind verrückt. Die
Polizei gehört doch zum Regierungsapparat.«
»Wir können dich in ein Frauenhaus bringen oder zu
einer anderen Kirchengemeinde …«
»Die Standhaften werden mich finden. Verstehen Sie
das nicht? Es gibt keinen Ausweg, ich bin gefangen.«
Sie barg das Gesicht in den Händen und fing an zu
schluchzen. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie würde mir
nicht helfen können.