1. Kapitel
Bei der Begrüßung hielt sich Pete Wyoming nicht
lang mit Händeschütteln auf. Seine Ausstrahlung traf die Leute wie
das Geschoss aus einer Steinschleuder. Stocksteif und von hagerer
Statur, trug er das Haar militärisch kurz. Als ich ihn zum ersten
Mal sah, trug er außerdem ein Protestplakat vor sich her und kochte
vor Wut. Auf dem Plakat stand: »Gott hasst Huren«. Er reckte es den
Trauergästen entgegen, als wir aus der Kirche in die Herbstsonne
hinaustraten. Hinter ihm schwenkten seine Anhänger weitere Schilder
mit Aufschriften wie: »Aids ist die gerechte Strafe«. Die Tochter
der Verstorbenen ging hinter dem Sarg und umklammerte die Hand
ihres Ehemannes. Kaum hatte Wyoming sie erspäht, fing er an zu
skandieren: »Huren haben hier nichts verloren, Claudine wird in der
Hölle schmoren!«
Zu diesem Zeitpunkt beging ich meinen ersten
Fehler. Ich tat ihn als bigotten Maulhelden ab, als einen Mann, der
ganz einfach Probleme mit Frauen hatte. Und damit unterschätzte ich
ihn gewaltig.
Wyoming war Pastor einer Kirchengemeinde namens Die
Standhaften, die sich als letzte Gottesfürchtige in einer von
Eitergeschwüren übersäten Welt betrachteten. Santa Barbara, diese
Bilderbuchstadt mit ihrem acrylblauen Himmel und den roten
Ziegeldächern, mit ihren Kaffeebars und Stränden und der
mexikanisch-amerikanischen Herzlichkeit ihrer Einwohner, hielten
sie für das Schleusentor im Abfluss zur Hölle. Und sie verliehen
ihrer Einschätzung Nachdruck, indem sie bei Beerdigungen von
Aids-Opfern auftauchten und sie verhöhnten.
Nikki Vincent, die Tochter der Verstorbenen, hatte
gewusst, dass sie da sein würden, und uns empfohlen, sie einfach zu
ignorieren. Wie Kakerlaken, die einem unter den Schuh geraten
sind.
Jetzt legte sie eine kaffeebraune Hand auf den
Sarg, als wollte sie sagen: Mach dir keine Sorgen, Mama, ich schaff
das schon. Vielleicht wollte sie auch ein letztes Mal Kraft bei
ihrer Mutter schöpfen. Claudine Girard hatte nie klein beigegeben.
Die Frau mit dem französisch-haitianischen Akzent war schon in der
Aids-Aufklärung aktiv, als die Krankheit sich noch nicht in ihren
Körper gefressen hatte. Außerdem war sie meine Professorin an der
Universität gewesen. In ihren Literaturvorlesungen hatte sie uns
immer dazu aufgefordert, Mut zu fassen und uns dem Leben zu
stellen. Es war unfassbar, dass sie nicht mehr bei uns war.
In Santa Barbara war sie weithin bekannt. Insofern
war es kein Wunder, dass sich zahlreiche Reporter unter den sich im
Wind wiegenden Palmen um die spanische Kirche drängten. Sie wollten
Action. Und Wyoming war dabei, sie ihnen zu geben. Er straffte
seinen Kordelschlips und fixierte Nikki, die sich, im siebten Monat
schwanger, auf ihren Ehemann stützte, bereit für den
Spießrutenlauf.
Wyoming erhob sein Plakat. »Ding, dong, die Hexe
ist tot! Welche Hexe?«
Die Standhaften fielen in sein Lied ein: »Die
Voodoo-Hexe!«
Es waren ungefähr zwanzig Meter bis zum
Leichenwagen, der am Bordstein wartete – ein weiter Weg. Der Leiter
des Bestattungsunternehmens, der sich bisher unauffällig im
Hintergrund gehalten hatte, rang bestürzt die Hände. Beerdigungen,
bei denen es zu Ausschreitungen kam, waren keine gute Reklame für
seinen Betrieb. Nun schob er die Sargträger vorwärts. Nikki hob das
Kinn und schloss sich ihnen an, ihr Gesicht zeigte keine Regung,
eine Sonnenbrille verbarg ihre vom Weinen geschwollenen
Lider.
Eine stupsnasige Frau drängte sich plötzlich aus
der Menge nach vorne. »Hurenböcke! Schwulenliebchen! Haut ab mit
eurem Hokuspokus nach Haiti!«
Die Trauergäste ignorierten die Demonstranten. Wir
waren eine bunt gemischte Gruppe: Kollegen von der Universität,
Claudines Familie aus der Karibik und Freunde wie ich, mit meinen
keltischen Gesichtszügen, den Mittelklassemanieren und dem Aufruhr,
der in meinem Inneren tobte. Meine eigene Religion war so etwas wie
ein unterirdischer Katholizismus, der lediglich bei Todesfällen und
an Feiertagen ans Licht drängte. Gott als Drohgebärde – das war mir
fremd. Ich spürte, wie ich ganz allmählich die Fassung verlor, aber
um Nikkis willen richtete ich meinen Blick in die Ferne und
marschierte weiter.
Verärgert, dass niemand von uns auf die Provokation
reagierte, zeigte ein aknegesichtiger Mann mit Bürstenhaarschnitt
auf Nikki. »Wir reden mit dir, du Hexe!«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Nikkis Ehemann
Carl, ansonsten eher mit dem Mut und dem Temperament eines
Buchhalters ausgestattet, drehte sich zu ihm. »Wie können Sie es
wagen, so mit meiner Frau zu sprechen?«
Peter Wyoming richtete sich auf. »Frau? Sie meinen
wohl Ihre Hure?«
Seine Anhänger lachten, feuerten ihn an und
schwenkten ihre Plakate.
Carls dicke Brille saß ihm schon ganz schief im
Gesicht. »Ihr Schweine! Ihr nennt euch Christen? Schämt
euch!«
Wyoming blinzelte wie eine Eidechse, die
blassblauen Augen direkt auf Nikki gerichtet. »Der Herr spricht:
Ich habe gesehen deine Ehebrecherei, deine Geilheit, deine freche
Hurerei.«
Carls Muskeln zuckten unter seinem
Nadelstreifenanzug. »Nicht!«, rief Nikki. Sie machte einen Schritt
auf Wyoming zu und blickte mich dann hilfesuchend an. »Evan
-«
Wir hängten uns gleichzeitig an Carls Arme.
Mittlerweile war er nur noch wenige Zentimeter von Wyoming entfernt
und holte zu einem Schlag aus, den wir nicht hätten stoppen können.
Aber dann hörte ich Nikkis Stimme, die beruhigend auf Carl
einredete, gerade so laut, dass Wyoming es hören konnte.
»Er ist doch bloß ein hirnloser Hinterwäldler. Er
ist es nicht wert.«
Die ruhige Würde, die aus ihren Sätzen sprach,
brachte ihn zur Besinnung. Er ließ die Fäuste sinken und wandte
sich ihr zu. Das verächtliche Grinsen in Wyomings Gesicht, weil
kein richtiger Mann sich von zwei Frauen zurückhalten ließ,
überging er.
»Sie denken, dass Claudine was Besonderes war und
dass sie sich immer für ›Mitgefühl‹ und ›Heilung‹ und ›Bildung‹
eingesetzt hätte«, sagte Wyoming laut. »Aber das sind alles nur
schöne Worte für Hurerei.«
Vor uns schoben die Träger den Sarg in den
Leichenwagen. Nikki schien sich ganz auf sie zu konzentrieren, um
die Beherrschung zu wahren. Ich stieß Carl an und nickte in
Richtung der Reporter. »Denen wäre nur aufgefallen, dass du als
Erster zugeschlagen hast.«
»Trauert und weint in eurem Elend«, intonierte
Wyoming. »Geht auf die Knie vor dem Herrn und er wird euch
erhören.«
Er benutzte die Heilige Schrift als Feuerschutz.
Und plötzlich hatte ich endgültig genug. »Ich weiß jetzt, was Ihr
Problem ist: Sie verwechseln Demut mit Demütigung.«
Der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt fuhr
dazwischen. »Eure großen Worte können euch nicht helfen. Auch ihr
werdet in der Hölle schmoren!«
Nikki biss sich auf die Lippen und ging schneller.
Diese Leute sollten sie nicht weinen sehen. Carl hatte seinen Arm
fest um sie gelegt.
»Hure!«, schrie der Bürstenschnitt ihr
hinterher.
Ich drehte mich zu ihm um. »Woran liegt es
eigentlich, dass euch Leuten mit Spatzenhirnen immer nur die
gleichen Beleidigungen einfallen? Ist da in eurem Kopf kein Platz
für eine klitzekleine Variation?«
Seine Akne begann zu erglühen. Bevor er antworten
konnte, drehte ich mich weg. Carl hielt die Tür für Nikki auf und
wartete, bis sie sich in den Wagen gehievt hatte, dann knallte er
die Tür zu und ging um den Wagen herum.
Nikkis Blick war auf der Windschutzscheibe haften
geblieben, wo ein Flugblatt unter den Scheibenwischern steckte.
Hastig zog ich es heraus. In grellroten Buchstaben stand da: »DU
BIST DIE NÄCHSTE!« Darunter fand sich ein Comicstrip mit dem Titel
»Aids – die Strafe Gottes«, in dem sich Straßenmädchen ihre
Läsionen aufkratzten. Die Zeichnungen waren grausam und zugleich
erschreckend professionell. Am Ende der Seite empfahlen die
Standhaften: »Besuchen Sie uns im World Wide Web!«
Carl ließ den Motor aufheulen. Andere Trauergäste
rissen Flugblätter von ihren Scheiben, schüttelten den Kopf und
zerknüllten sie. Hinter mir riefen die Reporter Wyomings Namen, um
seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann setzte sich der
Leichenwagen in Bewegung, und Carl folgte ihm an der Spitze der
düsteren Prozession, die Claudine auf ihrer letzten Reise
begleitete.
Wyomings tiefe, trockene Stimme erhob sich über den
allgemeinen Geräuschpegel. Er sprach mit einem Fernsehreporter und
drängte sich dabei dem Mikro entgegen. Es ging mir gegen den
Strich, dass er hier das letzte Wort haben sollte. Ich ging auf ihn
zu.
Gerade erklärte er, dass er kranke Menschen
durchaus nicht hasste, aber dass sie Gott ein Dorn im Auge waren
und die Standhaften diese Tatsache endlich publik machten. Der
Reporter nickte und legte den Kopf schräg, was wohl gleichzeitig
Interesse und Skepsis demonstrieren sollte. Dann fragte er Wyoming,
ob er glaube, dass er die Besucher der Beerdigung bekehrt
hätte.
»Nein, und das ist mir auch vollkommen egal. Wer
Böses tut, der tue weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei
weiterhin unrein.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich.
Wyoming, seine Anhänger und der Reporter wandten
sich mir zu. Ich holte tief Luft. »Selig sind, die da Leid tragen,
denn sie sollen getröstet werden.« Es war das erste Bibelzitat, das
mir einfiel. Es stammte aus der Bergpredigt, und glücklicherweise
passte es.
Wyoming schien amüsiert. Sein Gesichtsausdruck
legte mir nahe, mich im Bibelzitieren mit ihm zu messen, nur um
ganz schnell den Kürzeren zu ziehen. Der Reporter schob seine
Sonnenbrille hoch und musterte mich zweifelnd. Er schien sich nicht
sicher, ob sich diese Unterbrechung gut im Fernsehen machen
würde.
»Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen«, fuhr ich fort. »Ich wollte Sie nur mal
dran erinnern, Mr. Wyoming.«
Prüfend wanderte sein Blick über mich, begann bei
meinen Füßen und glitt die Beine hoch, bis er mir unter Rock und
Bluse rutschte. Meine Figur – die Sprinterbeine, mein kleiner
Busen, das kurze struppige hellbraune Haar – schien ihn wenig zu
beeindrucken. Trotzdem spürte ich, wie ich rot wurde, als er
endlich bei meinem Gesicht anlangte.
Der Reporter räusperte sich. »Die Anwesenheit von
Pastor Wyoming scheint Sie zu verärgern, Miss -«
»Delaney. Evan Delaney.«
Der Kameramann fuhr herum, um mich mit dem Objektiv
seiner Minicam einzufangen, doch Wyoming drängte sich dazwischen.
»Miss Delaney hält mich für herzlos, dabei ist es Claudine Girard,
die Menschen in die Hölle geschickt hat. Ihr wie einer anständigen
Frau eine christliche Beisetzung zu gewähren, ist pervers.«
Der Reporter wandte sich mir zu. »Wie denken Sie
darüber?«
Ich zeigte auf Wyoming und seine Leute. »Ich denke,
hier haben Sie die wahre Definition von ›pervers‹.«
»Hören Sie sich das an.« Wyoming plusterte sich
auf. »Gleich wird diese Frau noch behaupten, sie sei Expertin für
Perversionen.«
Beide hatten offenbar eine klare Vorstellung davon,
was ihnen das Interview bringen sollte. Der Reporter wollte O-Töne
eines Fundamentalisten, Wyoming wollte Emotionen schüren. Ich
spielte dabei gar keine Rolle. Müde hielt ich das Flugblatt hoch.
»Erklären Sie Ihrem Zeichner lieber, dass man Millennium mit zwei n
schreibt.«
Manchmal bin ich einfach schlauer, als gut für mich
ist. So eine aus der Hüfte geschossene Bemerkung kann schnell nach
hinten losgehen.
»Sagten Sie, Delaney war Ihr Name?«, rief Wyoming
hinter mir her. »Dann können Sie es der Zeichnerin gleich selbst
sagen, Sie sind nämlich mit ihr verwandt.«
Ich blieb stehen und starrte das Flugblatt an.
Plötzlich kam mir der Zeichenstil bekannt vor – eine Mischung aus
Spiderman und Xena. Beim letzten Bild suchte ich nach
der Signatur.
Verdammt. Da stand es in kleiner Schrift: Tabitha
Delaney. Die Frau meines Bruders.
Selig sind die Sanftmütigen, denn sie halten den
Mund, wenn sie vor einem Fernsehteam stehen.
Bei der Beerdigung hielt sich Nikki an uns fest,
bewegungslos und doch zutiefst bewegt, bis zum letzten Amen.
Unterdessen brodelte in mir der Zorn. Tabitha Delaney. Der Name
flammte vor meinen Augen auf wie ein brennendes Streichholz. Ich
wechselte nur wenige Worte mit den anderen Trauernden und verließ
so schnell wie möglich den Friedhof.
Ich wollte zum Bezirksgericht von Santa Barbara.
Nicht etwa, weil ich einen Anwalt brauchte – ich war selbst
Anwältin, hatte das Praktizieren jedoch aufgegeben, um als
Rechercheurin bei Gericht und als freie Journalistin zu arbeiten.
Außerdem hatte ich ein paar Romane veröffentlicht. Mein neuestes
Buch Lithium Sunrise konnte man sogar in den örtlichen
Buchläden finden. Tabithas Eskapaden hatten mich allerdings
gezwungen, meine schriftstellerische Tätigkeit bis auf Weiteres auf
Eis zu legen. Ich war auf dem Weg ins Gericht, weil ich mit
jemandem reden musste.
Ich ging den gekachelten Gang mit den handgemalten
Schildern entlang, die an jedem Gerichtssaal den Namen des
zuständigen Richters zeigten. Das ganze Gebäude atmete diesen
gewissen altmodischen Geist. Fehlten nur noch ein paar Pferde unten
auf einem üppigen Rasenfleck und spanische Granden, die mit
klirrenden Silbersporen das Gelände abschritten.
Als ich den Raum von Richterin Rodriguez betrat,
tagte das Gericht bereits. Eine junge Frau saß im Zeugenstand und
warf dem Anwalt, der sie im Kreuzverhör hatte, böse Blicke zu. Die
Maschine der Gerichtsstenografin klickte leise. Vom Tisch der
Verteidigung her stellte Jesse Blackburn seine nächste Frage.
»In der besagten Nacht haben Sie das Areal ohne
Erlaubnis betreten, richtig?«
»Hat ja keiner gesagt, dass ich das nicht darf.«
Unter der hohen Saaldecke wirkte die Zeugin winzig. Ihr Gesicht
loderte vor Grimm und erinnerte mich an die Gesichter der
Demonstranten.
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, und das
Flugblatt knisterte leise in meiner Tasche – ein Vorbote des
Sturms, der am Horizont aufzog. Wenn Tabitha für diese Kirche tätig
war, dann war sie auch in der Nähe. Sie war zurückgekehrt.
Wie sollte ich das bloß meinem Bruder beibringen?
Wie seinem kleinen Jungen?
»Lassen Sie es mich anders formulieren«, fuhr Jesse
nun fort. »Niemand hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, mit einem
nachgemachten Schlüssel nach Ladenschluss den Buchladen zu
betreten, oder?«
»Nein«, gab die Frau zu. »Ich habe mir aus eigener
Initiative das Recht genommen.«
»Und dieses Recht war nicht das Einzige, was Sie
genommen haben, oder, Miss Gaul?«
Jesse lehnte sich nach vorne. Seine kräftigen
Schultern zeichneten sich unter dem Jackett ab. Wegen ihm war ich
hier.
»Als Sie in dem Buchladen arbeiteten, haben Sie
zahlreiche Gegenstände entwendet, ohne dafür zu bezahlen. Ist es
nicht so? Und wir sprechen hier nicht von Beowulf-Lesezeichen oder
Zuckerpäckchen von der Kaffeetheke. Sie haben sämtliche Bestseller
der New York Times mitgehen lassen.«
Der Anwalt der Klägerin stand auf. »Einspruch.
Dafür gibt es keine Beweise.«
Richterin Sophia Rodriguez musterte ihn über ihre
Lesebrille. »Einspruch abgelehnt.«
Jesse ließ sich Zeit. Besonnenheit entsprach nicht
gerade seinem Naturell, aber das war ein großer Prozess, und er
wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Er durfte keine Fehler
machen. Was gar nicht so einfach war. Priscilla Gauls
Diebstahlserie hatte erst in der Nacht ein Ende gefunden, als sich
die Besitzerin des Beowulf-Buchladens entschloss, zurückzuschlagen.
Das tat sie, wie es Gauls Anwalt bezeichnete, in Form einer
»heimtückischen, schweren Körperverletzung«. Also verklagte Gaul
den Buchladen auf Schadenersatz, und Jesse sollte sie auf Anraten
seines Mit-Verteidigers ins Kreuzverhör nehmen, obwohl er mit
seinen siebenundzwanzig Jahren selbst noch ein Greenhorn im
Gerichtssaal war.
An den Fingern zählte er nun die entwendeten
Gegenstände ab. »Eine Espressomaschine, tausend Dollar in bar und
die gesammelten Werke von Jackie Collins … Bestreiten Sie, dass Sie
diese Dinge in besagter Nacht in der Hand hatten?«
Schlechte Wortwahl. Sie verzog ihr Gesicht vor
Entrüstung. »Sie stellen mich mit Absicht so hin! Das weiß
ich.«
»Ja, das tue ich. Denn das ist schließlich der
Grund, weswegen Sie meine Klientin verklagen.«
Er war schlauer, als ich dachte, und überraschte
mich immer wieder. Deswegen konnte er mich gleichzeitig so
verzaubern und wütend machen. Den Zeugen aus dem Gleichgewicht
bringen, die wahren Beweggründe ans Licht zerren – das war Jesses
Absicht.
Gaul sagte: »In dieser Nacht war ich mit der
Taschenlampe in den Buchladen gekommen, um nachzusehen, ob es schon
wieder einen Einbruch gegeben hatte. Und diese Taschenlampe war
alles, was ich ›in der Hand‹ hielt. Sonst nichts.«
Tatsächlich hatte sie einen ordentlichen Hamburger
in der Hand gehabt, genauer: gehacktes Rinderfilet, wenn man nach
dem Bericht der Gerichtsmedizin gehen wollte. Aber Jesse ließ ihre
Behauptung so stehen, denn Gaul rieb ihren linken Arm, um die
Geschworenen daran zu erinnern, was sie mit »nichts« meinte: Dass
sie keine linke Hand mehr hatte. Sie war von Bestien angefallen
worden, als sie hinter die Theke griff, um den Stecker der
Espressomaschine zu ziehen. Aus diesem Grund verklagte sie Beowulf
auf neun Millionen Dollar Schadenersatz.
Jesse sagte: »Und Sie flohen aus dem Buchladen,
weil …«
»Diese Biester wollten mir die Kehle durchbeißen.
Ich dachte, es ist eine wilde Meute, die durch die Stadt streunt
…«
»Und dabei Espresso trinkt?«
Ihr Anwalt sprang auf. Sein Name war Skip Hinkel,
und er trug einen Anzug, der genauso hell und kurz geschnitten war
wie sein Haar. Er rief: »Einspruch!«, aber Richterin Rodriguez wies
ihn an, sich wieder zu setzen. »Sparen Sie sich diese Kommentare,
Mister Blackburn.«
Jesse fuhr mit der Befragung fort: »Und nachdem Sie
aus dem Laden geflohen waren, haben Sie die Polizei
benachrichtigt?«
»Nein.«
»Haben Sie den Tierschutz benachrichtigt?«
»Nein.«
»Haben Sie die Besitzerin von Beowulf
benachrichtigt, dass sich wilde Tiere in ihrem Laden
befinden?«
»Nein.«
»Haben Sie irgendetwas getan, außer sich in Ihrem
Apartment zu verstecken und Schmuck beim Teleshopping zu bestellen,
bis die Infektion an Ihrer Hand schließlich außer Kontrolle
geriet?«
»Ich habe mich versteckt, weil ich völlig
traumatisiert war! Mich hatte ein Frettchen angefallen!«
Und genau da lag Jesses Problem. Die Gesetze des
Staates Kalifornien schränkten den Besitz von Frettchen ein. Die
Tiere, die Gaul angegriffen hatten, die geliebten Haustiere der
exzentrischen Frau, der Beowulf gehörte, waren illegal nach
Kalifornien gebracht worden. Sie waren Schmuggelware. Und was es
für die Verteidigung noch schwieriger machte: Sie waren flüchtig.
Ihre Besitzerin hatte sie freigelassen, um der Verhaftung zu
entgehen. Die Frettchen waren auf der Flucht vor den Tierfängern
des Staates – Outlaws der Gattung Mustela.
»Ich habe jetzt noch Albträume!«, klagte Gaul. »Ich
sehe ihre kleinen Augen vor mir, ihre ekelhaften Tatzen, die mich
kratzen und nach mir schlagen …« Mit ihren zu Klauen geformten
Fingern machte sie hektische Bewegungen.
Jesse fixierte sie eindringlich. »Haben Sie deshalb
das Valium in den Hamburger gemischt? Um sie zu beruhigen?«
»Einspruch!« Hinkel hatte voller Entrüstung die
Hände in die Luft geworfen – eine Pose wie in einem schlechten
Film. »Er setzt die Zeugin unter Druck!«
Rodriguez warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Er
setzt sie nicht unter Druck, er stellt relevante Fragen. Setzen Sie
sich wieder.«
Hinkel setzte sich, aber es würde nicht lange
dauern, bis er wieder stand. Er musste auf zwei Argumente bauen, um
das Verfahren zu gewinnen – Schädlinge und Hysterie. Ich wusste
das, denn ich hatte die Fallrecherche für ihn erledigt und ihm den
Tipp gegeben. Meine abfällige Bemerkung hatte er für bare Münze
genommen und war sofort zum Gericht gestürmt.
Rodriguez seufzte verärgert. »Wir sind am Ende
eines langen Tages. Wir vertagen auf morgen früh, und bis dahin hat
sich hoffentlich jeder wieder beruhigt.« Sie ließ ihren
Richterhammer sprechen, raffte die schwarze Robe zusammen und stand
auf.
Der Gerichtsdiener trat vor. »Bitte erheben Sie
sich.« Alle folgten der Aufforderung, als die Richterin den Saal
verließ. Alle, bis auf Jesse in seinem Rollstuhl.
Gespräche brandeten auf, während der Saal sich
leerte. Ich hatte mich in der Nähe der Tür postiert, und Gaul kam
mit Hinkel an mir vorbei. Skip nickte, grüßte mich jedoch nicht. Er
wusste, dass er von mir keine Zustimmung zu erwarten hatte. Jesse
saß noch am Tisch der Verteidigung, während sein Berater Bill
Brandt das Vorgehen analysierte.
Zwei Jahre war es her, dass ihn jemand angefahren
und dann Unfallflucht begangen hatte. Jesse blieb mit seinem
Mountainbike und zerschmettertem Rückgrat am Straßenrand liegen.
Dabei konnte er sich noch glücklich schätzen, denn sein bester
Freund, der neben Jesse gefahren war, erlitt tödliche Verletzungen.
Es brauchte ein Jahr Reha und Physiotherapie, bis Jesse seine Beine
zumindest wieder teilweise bewegen konnte. Er konnte an Krücken
gehen, benutzte die meiste Zeit aber einen leichten
Sport-Rollstuhl.
Er legte sich die Aktentasche in den Schoß, drehte
den Rollstuhl und war mit zwei kräftigen Stößen im Mittelgang,
bevor er mich erblickte. Kurz wandte er sich an Brandt, damit der
schon einmal ohne ihn vorging. Der ältere Anwalt musterte mich kurz
mit deutlich spürbarer Neugier – sind die beiden ein Paar? -, dann
klopfte er Jesse auf die Schulter und drängte sich durch die
Tür.
»Ein weiterer Tag, an dem Wahrheit, Gerechtigkeit
und militante Nagetiere verteidigt wurden. Gott, wie ich die
Juristerei liebe«, sagte Jesse.
»Eine dankbare Nation verneigt sich vor dir«,
antwortete ich. »Was hat Brandt gesagt?«
»Er möchte, dass ich mein Mundwerk besser im Zaum
halte. Und nicht auf den Geschädigten herumtrampele. Ansonsten ist
er begeistert. Die beiden Lager zerfleischen sich in gegenseitigem
Einvernehmen, da müssen keine liberalen Schuldgefühle
aufkommen.«
Ich sagte nichts dazu, schon längst hatte ich mich
an seine unverblümte Art gewöhnt. »Und was hältst du davon?«
»Ich? Ich werde von Schuldgefühlen geplagt.«
»Ich dachte, du wurdest ohne das Schuldgefühl-Gen
geboren.«
»Ja, dafür hast du die volle Ladung abgekriegt. Was
nagt denn heute an deinem Gewissen?«
Ich grinste, als wir den Gerichtssaal verließen.
»Die Schulden der Dritten Welt und der ganze Rest.«
Er beäugte mein schwarzes Kostüm und fragte, wie
die Beerdigung war.
»Praktisch ein einziger Aufruf zur Gewalt.« Ich gab
ihm das Flugblatt. Er betrachtete es angeekelt. Als ich ihn auf die
Signatur der Künstlerin hinwies, musste er, genau wie ich, zweimal
hinschauen. »Das gibt’s doch nicht.«
»Es ist eine lokale Kirchengemeinde, Jesse. Ich
fürchte, das bedeutet, dass sich Tabitha in Santa Barbara
aufhält.«
Er wies auf eine der Zeichnungen. »Und das hier
bedeutet, dass dein Bruder sich in Acht nehmen muss.«
So offensichtlich es war, ich hatte es nicht
bemerkt: Orange Feuerstürme wüteten über den Bergen, schwarze Risse
zerteilten die Erde und verschlangen das Hollywood-Logo, das
Capitol und – einen Marineoffizier in blauer Ausgehuniform.
»Versöhnung ist bei ihr definitiv nicht angesagt«,
stellte er fest. »Was wirst du tun?«
»Ich werde Brian warnen, dann werde ich sie
aufspüren und rausfinden, was los ist. Vielleicht hat sie nichts
mit der Kirche zu tun, vielleicht war der Comicstrip nur eine
Auftragsarbeit.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Nicht bei ihrer
Vergangenheit.«
Schon wieder ins Schwarze getroffen, Blackburn. Ich
wich seinem Blick aus und versuchte nicht über Tabithas wahre
Motive nachzudenken. Jesse umfasste mein Handgelenk. »Was, wenn sie
zurückgekommen ist, um sich Luke zu holen?«
Luke, der gemeinsame Sohn von Brian und Tabitha,
war sechs Jahre alt. Seit acht Monaten – seit sie abgehauen und
Brian nach Übersee versetzt worden war – lebte er bei mir.
Jesse hielt das Flugblatt hoch. »Evan, das hier ist
richtig schlimm. Wenn Tabitha angefangen hat, an diesen Müll hier
zu glauben -«
»Ich weiß. Es geht um Luke«, seufzte ich. »Ich muss
sie einfach finden.«
Als die Ehe meines Bruders scheiterte, hatte mein
Schuldgefühl-Gen einen dumpfen Schmerz in meinem Brustkorb
ausgelöst. Jeder seiner Stiche sagte mir, es ist dein Fehler, es
ist dein Fehler. Denn ich hatte die beiden einander
vorgestellt.
Tabitha war zwanzig Jahre alt, als ich sie
kennenlernte. Sie bediente in einem Café, das ich öfter besuchte.
Sie war aufgeweckt und stets guter Dinge, dazu mit einer üppigen
Figur und kastanienbraunen Locken gesegnet, die verführerisch aus
ihrem Haarreif fielen. Ihre durchdringende Stimme war immer ein
wenig zu laut. Zu der Zeit arbeitete ich noch als Anwältin,
verfasste aber bereits mit großer Leidenschaft Kurzgeschichten und
sehnte mich regelrecht nach dem Einstieg in die Literatur. Als ich
eines Abends über meinen Schreibblock gebeugt am Tisch saß,
bemerkte ich, dass Tabitha sich länger als sonst an meinem Tisch
herumdrückte. Zögernd, als ob sie mir etwas Schockierendes zu
erzählen hätte, sagte sie: »Ich weiß, wie es Ihnen mit dem
Schreiben geht. Wirklich, ich bin nämlich selbst Künstlerin.«
Im nächsten Augenblick saß sie bei mir am Tisch und
erzählte, dass sie Science-Fiction mochte – also das, was ich
gerade schrieb -, aber noch mehr auf Fantasy stand: Geschichten mit
Zauberern, Schwertkämpfern und Prinzessinnen in Not. Sie beugte
sich zu mir herüber. »Gibt es Drachen in Ihren Geschichten? Drachen
sind toll.«
Ihre Faszination mochte einem kindisch vorkommen,
aber das lag daran, dass sie gerade erst dabei war, ihr
Vorstellungsvermögen zu entwickeln. Sie war in einer Familie
aufgewachsen, in der jegliche Kreativität von krassem
Fundamentalismus erstickt worden war. Weltliche Musik war nicht
erlaubt gewesen, ganz zu schweigen von Jungs. Ebenso verboten war
weltliche Literatur mit heidnischen Fabelwesen. Für Tabithas Mutter
kam das Lesen der Geschichte von König Artus und den Rittern der
Tafelrunde schon fast dem Abhalten einer schwarzen Messe am
heimischen Küchentisch gleich.
In meiner Geschichte gab es keine Drachen, aber als
ich das nächste Mal ins Café kam, eilte mir Tabitha mit glänzenden
Augen entgegen. In den Händen hielt sie ein paar Zeichnungen, die
sie zu meiner Geschichte gemacht hatte – wildromantische Bilder,
auf denen der Held sich trotzig den Stürmen stellte. Mir gefielen
sie. Und Tabitha war mir auch sympathisch. Als mein älterer Bruder
zu Besuch kam, stellte ich sie ihm vor.
Sie schien überwältigt von Brian, von seinem
rabenschwarzen Haar, den dunkelbraunen Augen und seiner Stimme, die
selbst unter größtem Druck Ruhe und Selbstbewusstsein ausstrahlte.
Er war ein Kampfflieger, und das sah man ihm an, selbst wenn er
keine Uniform trug. Tabitha zögerte keine Sekunde lang.
In seiner Gegenwart kam bei ihr ein neuer Wesenszug
zum Vorschein. Plötzlich gab sie sich kess, schnippisch und kokett.
Sie strahlte eine gesunde Verruchtheit aus, als ob der konservative
Karorock Leoparden-Strapse verdecken würde. »Lebenslustig« war das
Wort, das Brian zu ihr einfiel. Gleichzeitig neigte sie zur
Traurigkeit, sie sehnte sich nach Sicherheit und einem Ziel im
Leben. Also beschloss Brian, den Retter zu spielen, fest davon
überzeugt, dass sie sich an seiner Seite zu einer starken Frau
entwickeln und ihm dafür danken würde. Er wollte ihr Ritter in der
strahlenden Rüstung sein.
Sechs Monate später heirateten sie. Sie waren
völlig vernarrt ineinander. Schon bald kam Luke auf die Welt, ein
Kind wie ein Juwel, das Siegel ihrer Verbindung. Alles war
perfekt.
Und dann brach mit einem Mal alles
auseinander.
Tabitha hasste das Leben als Braut eines
Marinesoldaten. Sie hasste die kurzfristigen Versetzungen – San
Diego, Pensacola, Lemoore, Kalifornien: zu groß, zu heiß, zu
isoliert. Sie hasste die unzureichende Unterbringung und die
komplizierten Dienstvorschriften, hasste es, dass Brian monatelang
auf See war. Sie muss sehr, sehr einsam gewesen sein, aber zu
meinem eigenen Bedauern konnte ich kein Mitleid für sie aufbringen.
Ich war die Tochter eines Mannes von der Navy, war mit dem
Marineleben groß geworden und hatte mich stets angepasst. Auch
Brian hatte das getan, und er erwartete es von seiner Frau. Aber
sie konnte das nicht.
Stattdessen erklärte sie, sie sei am Durchdrehen.
Sie konnte es nicht mehr ertragen, sich um alles alleine zu
kümmern, alleine zu schlafen und mit einem anstrengenden Kind zu
Hause eingesperrt zu sein, während er weg war. Verlass die Navy,
bat sie ihn. Und wusste nicht, dass das in der Delaney-Familie das
Falscheste war, was man sagen konnte. Es war, als hätte sie von
Brian verlangt, sich das Herz herauszureißen. Danach war sie für
ihn nicht mehr unschuldig und sensibel, sondern unreif und
bedürftig. Als sein Geschwader in den Pazifik auslief, stießen ihr
Gejammer und ihre Drohungen bei ihm auf taube Ohren.
Es ist einfach nicht fair. Ich will keine
alleinerziehende Mutter sein, nicht schon wieder – mach du das doch
mal, und dann warten wir ab, wie dir das schmeckt. Warum kannst du
nicht für United Airlines arbeiten?
Er starrte sie nur an, als wäre sie nicht ganz
richtig im Kopf. Warum in aller Welt sollte er eine Boeing 737
fliegen wollen? Er flog eine F/A-18 von Bord des Flugzeugträgers
USS Constellation. Er hatte den verdammt besten Job der
Welt.
Eine Woche bevor Brian zur See fuhr, verließ sie
ihn. In Tränen aufgelöst rief er mich an. Ich sollte mich um seinen
Sohn kümmern.
Auf dem Weg vom Gerichtsgebäude nach Hause schaute
ich bei Nikki vorbei, um zu sehen, wie sie nach der Beerdigung
zurechtkam. Ihr Haus und das meine standen auf dem gleichen
Grundstück in der Nähe der Alten Mission in Santa Barbara. Sie und
Carl lebten in dem viktorianischen Bau vorne an der Straße, ich
bewohnte das kleinere Gästehaus am Ende des weitläufigen Gartens.
Als ich ankam, löste sich die Zusammenkunft nach der Beerdigung
gerade auf. Kinder in Sonntagskleidung spielten Basketball in der
Einfahrt, Reggae-Musik drang durch die Eingangstür. Auf dem
Esstisch türmten sich leere Töpfe. In der Küche waren die Cousinen
am Spülen. Nikki saß auf ihrem schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer,
hatte die Schuhe ausgezogen und die geschwollenen Füße auf den
Couchtisch gelegt. Ich bedeutete ihr sitzen zu bleiben.
Sie klopfte mit der Hand aufs Sofa. »Ich hab
gehört, du hast dir mit den Fanatikern eine zweite Runde
geliefert«, sagte sie, als ich mich neben sie sinken ließ. »Mama
wäre stolz auf dich gewesen.«
Ich drückte ihr die Hand. Einerseits wollte ich ihr
danken, schämte mich aber auch dafür, dass Tabithas Zeichnungen
noch zu ihrem Schmerz beigetragen hatten.
»Du hast richtig gehandelt«, sagte sie. »Ich hab
mich getäuscht. Man darf diese Leute nicht ignorieren. Man muss
sich gegen solche Gruppen wehren, sonst überrollen sie uns.«
Sie legte den Kopf zurück. Trotz ihrer
Schwangerschaft wirkte sie ausgemergelt. Ich fragte, ob sie in
Ordnung sei.
»Wird schon wieder. Ich werd jedenfalls nicht den
Kopf hängen lassen. So hat Claudine mich nicht erzogen.«
Ein paar Minuten später machte ich mich auf den Weg
zu meinem Adobe-Haus, das von Hibiskus und Sternjasmin umgeben im
Schatten moosbehangener Eichen stand. Ich schob Lukes Fahrrad vom
gepflasterten Weg und öffnete die Schiebetüren. Der Soundtrack
eines Zeichentrickfilms schrillte mir entgegen. Im Fernsehen jagte
der Coyote den Hasen durch die Wüste. Am anderen Ende des Sofas hob
sich ein kleiner Kopf, um zu sehen, wer gekommen war.
»Hallo, Tante Evan.«
Ich kickte meine hohen Schuhe in die Ecke. »Hey,
Tiger, kannst du mal den Fernseher leiser stellen?«
Luke nahm die Fernbedienung in beide Hände wie eine
Strahlenpistole, stellte leiser und sprang auf die Füße. Die
Babysitterin, eine College-Studentin im zweiten Jahr, die sich mit
tropischer Langsamkeit bewegte, begann Saftkartons und Popcornreste
aufzuräumen. Meine Junggesellinnenwohnung war zum
Abenteuerspielplatz geraten: von den Navajo-Decken über die
Fotografien von Ansel Adams bis zu den skandinavischen Möbeln war
alles übersät mit Spielzeug und Chuck-Jones-Filmen. Die Rolle als
Erzieherin war mir unverhofft zugefallen, aber wenigstens verstand
ich genug davon, um darauf zu bestehen, dass mein Neffe die
Klassiker des Zeichentrickfilms kennenlernte.
»Rat mal, wer angerufen hat«, sagte Luke, als die
Babysitterin gegangen war.
Mir wurde flau. Bitte nicht Tabitha.
»Papa!« Das Wort verlieh ihm neue Energie. Er
hüpfte mir in die Küche hinterher und schüttelte seine schwarze
Mähne. »Er geht heute in unser neues Haus und macht mein Zimmer für
mich fertig.«
Mein Bruder war gerade an einen neuen Einsatzort
versetzt worden, das Naval Air Warfare Center in China Lake,
Kalifornien. Es dauerte noch ein paar Tage, bevor ich ihm Luke
vorbeibringen konnte.
»Er kann es kaum erwarten, dich dort in Empfang zu
nehmen, Kumpel.«
Er lächelte. Luke hatte Grübchen, und unten fehlte
ihm ein Zahn. Sein Tom-Sawyer-Lächeln haute mich immer wieder um.
Begeistert drückte er seine Hände gegen die Ärmel meiner weißen
Bluse. Seine Finger waren schmutzig, er trug den Sand vom
Spielplatz unter seinen Nägeln. Ich wusste, dass ich die Bluse
würde waschen müssen, aber diese zarten Hände, diese kleinen
zappeligen Finger zogen mich so sehr in ihren Bann, dass ich mich
nicht beschwerte.
»Ich hab schon meine Tasche gepackt«, sagte
er.
»Jetzt schon?«
»Ich hätte deine Tasche auch packen können, aber
ich wusste nicht, wo dein besonderes Zeug hingehört, deine
Sonnenbrille und deine Vitamine. Und die Sorgerechtspapiere.«
Dass er davon wusste, versetzte mir einen Stich.
Ich sagte ihm, er hätte Recht gehabt, das mir zu überlassen. Als er
fragte, ob er eine Kühltasche für die Fahrt packen konnte,
vertröstete ich ihn auf nächste Woche.
Ich nahm eine Limonade aus dem Kühlschrank. An der
Kühlschranktür hingen ein Dutzend Schnappschüsse von Brian – in
seiner Fliegermontur, neben seiner F/A-18 Hornet, mit Luke auf
seinen Schultern. Jesse nannte das den Schrein. Ich hatte die
Bilder hier befestigt, damit Luke seinen Vater jeden Tag sehen
konnte. Damit er ihn nicht vergaß.
Dabei waren auch die Fotos, die ich vor einer Woche
in San Diego aufgenommen hatte, als die USS Constellation in
den Hafen zurückkehrte. Die Heimkehr des Flugzeugträgers war ein
großes Ereignis: Matrosen waren an Deck angetreten, Flaggen
flatterten im Wind und Familien warteten an Land – Tausende von
Menschen, denen beim Anblick des Schiffs das Herz aufging. Ich
betrachtete das Bild, das ich gemacht hatte, als mein Bruder bei
uns ankam: Brian hatte Luke in die Arme genommen und drückte ihn
fest an sich. Es war ein glorreicher Moment. Wie immer bei solchen
Festlichkeiten.
Luke streichelte meine Arme. Seine großen dunklen
Augen glänzten. Er hatte sie von Tabitha geerbt. »Wie viele Stunden
dauert es noch, bis wir zu meinem neuen Haus fahren?«, fragte er.
»Ich meine, wie viele genau?«
»Genau? Im Moment würde ich schätzen …
182.«
Würde er sich noch an mich erinnern, wenn er
erst mal wieder zu Hause war?
Vor acht Monaten war Brian mit seinem Geschwader
aufgebrochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Hand am
Steuerknüppel zitterte, als er den Jet für die Landung auf dem
Flugzeugträger in den Wind stellte. Aber Scheidung ist ein scharfes
Schwert. Der Schmerz schneidet tief ins Fleisch, und ich wusste,
dass er trotz seiner gelassenen Haltung schwer angeschlagen war.
Sein befehlshabender Offizier wusste das auch. Er empfahl ihm, die
Zähne zusammenzubeißen und sich nicht von einer Frau in die Knie
zwingen zu lassen. Verständlicherweise hatte sein Vorgesetzter
etwas dagegen, dass Brian Delaney einen fünfzig Millionen Dollar
teuren Kampfjet auf dem Landedeck zerlegte, weil er gerade darüber
nachdachte, wo zum Teufel seine Frau jetzt gerade stecken
konnte.
Denn Tabitha war verschwunden. Sie löste ihr
Girokonto auf, belastete ihre Kreditkarten bis zum Maximum und
machte sich aus dem Staub. Sie bezahlte in bar und hinterließ
keinerlei Spuren. Wir konnten sie nicht finden.
Einen Monat später fing das mit den Briefen an. Sie
waren unter meiner Adresse an Luke gerichtet und enthielten weder
eine Absenderadresse noch irgendeine Entschuldigung. Mami
wünscht sich, sie könnte bei dir sein, aber sie war zu traurig und
musste weggehen, schrieb sie. Wenn Daddy nach Hause kommen
und sich um uns kümmern würde, könnte alles wieder in Ordnung
kommen.
Das waren Botschaften aus dem Land des
Selbstmitleids, diesem Themenpark am Rande der Realität, wo Spiegel
alle Beschwerden vervielfachen und »Who’s Sorry Now« in einer
Endlosschleife gespielt wird. Die Briefe raubten mir den Schlaf.
Glaubte sie tatsächlich, dass davon irgendetwas besser wurde? Dass
Luke sie verstehen würde? Dass er ihr zuliebe Brian umstimmen
würde? Der Junge hatte Albträume, Probleme in der Schule und
versteckte sich stundenlang in seinem Schrank. Ich hatte das Buch,
an dem ich schrieb, auf Eis gelegt, damit ich mich um ihn kümmern
konnte. Als er las Mami hat dich lieb, brach er in Tränen
aus.
Schließlich kam es so weit, dass er, als er ihre
Handschrift auf einem Briefumschlag erkannte, in den Garten
flüchtete und dort seine Lego-Astronauten mit dem Hammer
bearbeitete. Die kleinen Figuren zersprangen in tausend Stücke und
übersäten meine Blumenbeete mit Miniaturkörperteilen. Nachdem er
sie alle zerstört hatte, pinkelte er auf die Überreste.
Ab Juli kamen zu meiner Erleichterung keine Briefe
mehr. Aber jetzt hatte ich eine neue Nachricht erhalten, von Peter
Wyoming. Dann können Sie es der Zeichnerin gleich selbst sagen,
Sie sind nämlich mit ihr verwandt. Wie konnte er das wissen?
Tabitha musste es ihm verraten haben. Und warum sollte sie das tun?
Weil sie Luke wollte.
Noch 182 Stunden, etwas mehr als eine Woche, bevor
ich Luke zu Brian an dessen neuen Stationierungsort bringen konnte.
Mir gefiel das Timing nicht.
»Luke«, sagte ich, »warum spielst du nicht ein
bisschen Basketball mit den anderen Kindern vor Nikkis Haus.«
Als er aus der Tür war, folgte ich einer Eingebung:
Ich rief bei der Auskunft an und fragte, ob sie unter Tabitha
Delaney einen Eintrag zu verzeichnen hatten. Das hatte ich auch
schon früher versucht, denn ich war mir sicher, dass sie eines
Tages wieder nach Santa Barbara zurückkehren würde. Aber nie hatte
sich ein Eintrag bei der Telefongesellschaft finden lassen.
Bis jetzt. Die Auskunft nannte mir eine Nummer und
eine Adresse am West Camino Cielo. Mir wurde ganz kalt. Es war das
Haus, das Tabitha geerbt hatte, als ihre Mutter starb, eine
Bruchbude im Strauchland hoch in den Bergen hinter Santa Barbara.
Dort hatte SueJudi Roebuck immer das Abendessen unterbrochen, um in
Zungen zu sprechen, und Tabithas Schulkameradinnen beschworen, sich
im Whirlpool taufen zu lassen. Es war das Haus, das niemand ein
zweites Mal besuchte, der Ort, den Tabitha hinter sich gelassen
hatte, als sie sich vom Fundamentalismus ihrer Mutter lossagte. Sie
hatte das Haus jahrelang leer stehen lassen.
Einen halben Block weiter holte ich die
Babysitterin ein und bat sie, zurückzukommen. Ich zog mich rasch um
– Jeans, Stiefel und ein grünes Cordhemd, das Jesse gehörte – und
schnappte mir die Autoschlüssel.
Die Sonne glühte rot im Westen, als ich meinen
weißen Explorer durch einen ausgetrockneten Flusslauf an
Sandsteinfelsen und graugrünem Gestrüpp vorbei in Richtung von
Tabithas Haus steuerte. In der Luft lag ein starker Geruch von
Eukalyptus und Senfgewächsen. Die Aussicht auf die Stadt
sechshundert Meter unter mir war spektakulär: Santa Barbara lag
glitzernd wie eine samtene Schärpe zwischen den Bergen und dem
Pazifik.
Das Haus wirkte verwahrlost. Verblichene graue
Farbe blätterte von der Holzverkleidung, und Unkraut spross überall
aus dem ungepflegten Rasen. Als niemand auf mein Klopfen reagierte,
spähte ich durch eines der Fenster. Im Wohnzimmer konnte ich einige
Stühle aus dem Ramschladen und einen Arbeitstisch voller Stifte und
Zeichnungen erkennen. In der winzigen Küche standen Einkaufstüten,
die förmlich überquollen von Dosenmais und Frühstücksfleisch. War
es das, was sie für Brian gekocht hatte? Kein Wunder, dass er
lieber zur See fuhr.
An der Kühlschranktür hing eine Zeichnung. Schrein
Nummer zwei. Es war ein Porträt von Peter Wyoming. Ich lehnte
meinen Kopf gegen das Fenster. Anscheinend war Tabitha
zurückgekehrt – und zwar im doppelten Sinn.
In meinem Wagen nahm ich mir noch einmal das
Flugblatt der Standhaften vor. Wie ich mir schon dachte, hatte sein
Auftreten bei Claudines Beerdigung den Hass von Peter Wyoming noch
lange nicht gestillt. Er hatte alle »anständig denkenden Christen«
eingeladen, an diesem Abend noch einmal Zeugnis abzulegen. Ich
blickte auf die Uhr. Wyoming war gerade dabei, sich warm zu reden.
Ich ließ den Wagen an und machte mich auf den Weg – den langen Weg
in die Hölle.