13. Kapitel
Als wir schließlich am Butterfly Beach ankamen,
nahm Jesse Luke mit zum Body Surfing. Ich verzichtete und saß
lieber auf Jesses Terrasse mit einem kalten Heineken in der Hand
und beobachtete, wie sich die beiden ihren Weg in die Brandung
bahnten. In dem salzigen Sprühnebel brach sich das Licht. Luke
tollte herum wie ein Kobold und riss seine sehnigen Ärmchen hoch,
als die erste Welle ihm um die Füße schlug. »Es ist kalt.«
Jesse setzte sich in den Sand und robbte rückwärts
auf dem Hintern aufs Wasser zu. Mit seinem unversehrten Bein schob
er, mit einem Arm zog er. Als er damals das Haus kaufte, dachte
ich, er sei einem schlechten Witz aufgesessen, aber er hatte seine
Wochenenden zielstrebig damit verbracht, sich zwischen Felsen und
Sand einen Zugang zum Meer zu bahnen. Jetzt folgte er Luke in die
Brandung. Er warf sich in eine auslaufende Welle und verwandelte
sich in ein Wasserlebewesen voller Eleganz und Selbstvertrauen. Mit
weit ausholenden kraftvollen Armbewegungen glitt er auf Luke zu.
Das Wasser schimmerte im Sonnenlicht auf seinen Schultern.
Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Über
mir röhrte ein Löschflugzeug auf seinem Weg zurück zum Landeplatz
vorbei.
Nachdem Luke und Jesse wieder an Land gespült
worden waren, wickelte ich Luke in ein dickes gelbes Strandhandtuch
und führte ihn in die Dusche beim Gästezimmer. Das Haus hatte drei
Schlafzimmer, die sich an den großen offenen Bereich mit
Wohnzimmer, Essecke und Küche anschlossen. Ich überprüfte gerade
den Inhalt des Kühlschranks, als Jesse durch die Tür zum Innenhof
kam. Ich fragte ihn, ob er lieber Zwiebeln oder Backpulver zum
Abendessen wollte. »Ich hatte einfach keine Zeit zum Einkaufen.« Er
grinste, rieb sich das Haar mit einem Handtuch trocken und legte
eine CD ein: Hendrix, Electric Ladyland. Nachdem er die
Anlage aufgedreht hatte, ging er in sein Zimmer zum Duschen.
Ich machte Rühreier und toastete ein paar Bagels –
das musste als Abendessen reichen. Jesse kam barfuß in weißem
T-Shirt und Jeans vom Duschen zurück. »Das riecht wunderbar.« Er
stellte den Player auf »All Along The Watchtower«. Hendrix’ Gitarre
traf mich wie eine Sense.
There must be some kind of way out of here
…
Die untergehende Sonne glühte im Rauch des
Großbrandes rot wie der Mars. Das Licht, das durch die zum Strand
gerichteten Panoramafenster hereinfiel, färbte Jesses schönes
Gesicht und sein weißes T-Shirt blutrot. In der Küche entkorkte
Jesse eine Flasche Pinot Noir und füllte zwei Gläser, dann griff er
nach der Flasche mit den Pillen, die ihm der Arzt verschrieben
hatte. Er schüttete zwei auf seine Handfläche und schluckte sie
zusammen mit dem Wein.
»Sind die Schmerzen schlimm?«, fragte ich.
Er richtete sich im Rollstuhl auf. »Ich hatte schon
bessere Wochen.« Dann wechselte er das Gesprächsthema. »Ich hab dir
noch gar nicht von dem Wal erzählt.«
»Aber Luke. Zwei Jet-Ski-Fahrer steckten bis zum
Hals in Waltran.«
»Irgendwelche Angestellten von der Stadt hatten das
Tier mit der Winde an einen Fischkutter gehängt und waren gerade
dabei, es auf die offene See zu schleppen. Die beiden Witzbolde,
die dagegen geprallt sind, waren stockbesoffen.« Müde drehte er den
Rollstuhl, damit er mich ansehen konnte. »Als sie am nächsten Tag
im Krankenhaus aufwachten, haben mich diese Schwachköpfe angerufen.
Sie wollten, dass ich die Stadt wegen ihrer Verletzungen verklage.
Dank des Falls Gaul gegen Beowulf bin ich plötzlich Experte
für Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung von wilden Tieren.« Er
verzog das Gesicht. »Ich hab den Fall abgelehnt und ihnen
empfohlen, sich an Skip Hinkel zu wenden.«
»Wo wir gerade von ihm sprechen …«
Er schnaubte. »Richterin Rodriguez hat ihn wegen
seiner Äußerungen über mich in der Presse ermahnt.« Noch ein
Schluck Wein. »Also hat Skip der Bundesbehörde für Fischund
Wildbestand erzählt, dass ich die Frettchen bei mir
verstecke.«
Ich deckte gerade den Tisch, hielt aber inne. »Das
gibt’s doch nicht.«
»Es war ein anonymer Hinweis, aber wer sonst außer
Skip würde so was tun? Ein Beamter der Bundesbehörde ist am Freitag
in der Kanzlei aufgetaucht. Es ist ziemlich schwer, sich auf die
Arbeit zu konzentrieren, wenn ein eifriger kleiner Mann mit einem
Käfig in der Hand in der Firma herumwuselt.«
»Unglaublich.«
»Das kannst du laut sagen. Ein unglaublicher
Idiot.«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete ich. »Hier
geht es um deinen Ruf.«
»Ach, ich bin hart im Nehmen. Meinem Ruf wird das
nichts ausmachen.«
Nach dem Abendessen wurde es schnell dunkel. Als
ich Luke ins Bett gesteckt hatte, fand ich Jesse auf dem Sofa. Er
schaute sich die Wiederholung einer alten Folge von Akte X
an. Er hatte die Lippen zusammengepresst und die Schultern
hochgezogen. Die Pillen wirkten nicht. Ich stellte mich hinter das
Sofa und begann seinen Nacken und seine Schultern zu massieren. Ich
konnte die verkrampften Muskeln spüren, die sich mir
widersetzten.
Ich tätschelte ihm die Schulter. »Leg dich auf den
Boden.«
Er legte sich rücklings auf den Teppich, ich kniete
neben ihm nieder und begann abwechselnd seine Beine zu strecken.
Ich bog seine Knie, drehte seine Fußknöchel, bewegte die Hüften,
arbeitete mit seinen Oberschenkelmuskeln und Waden. Ich hatte zwar
keine Ausbildung als Physiotherapeutin, aber ich wusste, dass seine
Bewegungsfähigkeit erhalten werden musste, damit es nicht zu
Versteifungen in den Gelenken und Muskelverkürzungen kam, die ihn
noch weiter behindern würden. Er lag angespannt vor mir. Die
Lichter waren fast alle aus, nur der Fernseher flimmerte: Mulder
stellte den geheimnisvollen Raucher zur Rede. Stimmungsvolle
Beleuchtung.
»Warum hat der Mörder wohl Pastor Petes Leiche
verbrannt?«, fragte Jesse plötzlich.
Schlagartig waren die hämmernden Kopfschmerzen
wieder da, und die Wespenstiche juckten wie verrückt.
»Vielleicht war er ein Psychopath, oder er wollte
Beweise vernichten.«
»Er?«
»Oder sie. Oder vielleicht waren es mehrere.«
Er stützte sich auf seine Ellbogen. »Wenn der
Mörder die Beweise vernichten wollte, warum hat er die Leiche dann
nicht einfach in der Wüste verscharrt? Das macht die Mafia
auch.«
»Vielleicht hatte er Angst, die Nachbarn könnten
ihn beim Abtransport beobachten. Ich weiß auch nicht, womöglich war
er zu Fuß unterwegs und konnte die Leiche gar nicht
transportieren.«
»Ich glaube, es war anders. So wie der Mörder die
Leiche in der Mülltonne platziert hat – das sieht mir nach einem
Ritual aus. Oder nach einer Art Raserei.«
Für einen Moment lauschten wir der Brandung vor dem
Haus. Jesse streckte die Hand aus. Ich half ihm, sich aufzurichten.
Er zog die Füße an und saß dann im Schneidersitz mit dem Rücken
gegen die Couch gelehnt.
»Glaubst du immer noch, dass die Standhaften große
Pläne haben?«, fragte er.
Ich massierte mir die Schläfen. »Ja.«
»Glaubst du, dass der Tod von Pastor Pete sie aus
dem Konzept gebracht hat?«
»Nein, Chenille hat eher das Gegenteil angedeutet:
Dass sie jetzt mehr denn je bereit sind, gegen den Antichrist in
die Schlacht zu ziehen.« Ich dachte nach. »Das hat mich an was
erinnert, das Nikki gesagt hat. Dass wir auf der Hut vor einem
Ereignis sein sollten, das die Standhaften davon überzeugen könnte,
dass das Ende vor der Tür steht.«
»Und dass ihr Anführer wie eine Fackel abbrennt,
könnte dieses Ereignis sein.«
»Ja, genau das macht mir Angst.«
Er nahm meine Hand und ließ seine Finger an der
Innenseite meines Arms entlanggleiten. Selbst unter diesen
Umständen elektrisierte mich seine Berührung.
»Aber ich komm einfach nicht drauf, wie es in ihren
Plan passen könnte, Brian in die Sache reinzureiten. Wenn es
überhaupt passt«, sagte ich.
»Du bist verdammt loyal Brian gegenüber, weißt du
das?«
Sein kühler Blick verriet mir, dass diese Aussage
nicht unbedingt als Kompliment zu verstehen war. Langsam fügte er
hinzu: »Ev, hast du schon mal darüber nachgedacht, dass er kein
Alibi hat?«
Ich hatte ihm nichts von Marc Duprees Weigerung
erzählt, ihn zu entlasten. »Ich glaube, einer seiner Freunde kann
ihm ein Alibi verschaffen.«
»Ein Marineoffizier?«
»Ja, ein Pilot, ein Commander.«
»Na, dann müsste er ja in Windeseile wieder draußen
sein.«
»Wie meinst du das?«
Er blickte auf den Fernseher. Mulder und Scully
kamen sich nahe, aber natürlich nicht zu sehr. »Ich meine, dass du
die U.S. Navy in den Himmel hebst. Die Polizisten hier hältst du
für einen Haufen hirnloser Dorftrottel, während die Navy für dich
über allem steht. So leid es mir tut, aber die Gesetzeshüter beten
die Navy nicht so an wie du.«
»Das ist ziemlich drastisch ausgedrückt.«
»Aber zutreffend. Der Polizei von China Lake ist es
egal, dass Brian ein Kampfpilot ist. Aber du merkst das nicht, weil
du ihn vergötterst.«
»Das ist unfair.«
»Du fällst auf die Knie, schaust weder links noch
rechts und denkst nicht einmal an die Möglichkeit, dass er dir
nicht die ganze Wahrheit erzählt. Er hat Peter Wyoming bedroht, und
er könnte ihn auch -«
»Stopp!« Ich stand auf. »Sag’s nicht. Denk nicht
mal dran.«
Seine Augen glühten. »So etwas nennt man: sich
gegen die Realität verschließen.«
»Nein.«
Ein humorloses Lächeln. »Hiermit schließe ich mein
Plädoyer ab.«
»Jesse, halt den Mund.«
»Wenn du noch nicht mal gewillt bist, die
Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dann verhältst du dich
nicht wie eine gute Anwältin.«
»Ich stecke auch nicht als Anwältin in dieser
Situation, sondern als Brians Schwester. Und ich weigere mich, an
diese Möglichkeit zu denken. Wage nicht, das noch mal zu
erwähnen.«
»Evan, du brauchst etwas Abstand, damit du die
Situation objektiv betrachten kannst.«
»Blödsinn! Du meinst also, dass Brian es getan
hat?«
»Ich sage nur, dass sich die Cops nicht wie
vollkommene Idioten verhalten haben, als sie ihn verhafteten. Er
hatte ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit. Und du musst einer
Tatsache ins Auge sehen: Peter Wyoming hat Brian an seinem wunden
Punkt getroffen, als er versuchte, ihm Luke wegzunehmen. Ist es
nicht möglich, dass Brian durchgedreht ist und die Sache selbst in
die Hand genommen hat?«
»Nein.«
»Du und ich waren nicht dabei, warum bist du dir
also dermaßen sicher?«
Ich war noch nie so wütend auf ihn gewesen wie
jetzt. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du warst nicht
dabei. Also lass die Spekulationen! Nur weil dir Brian auf die
Nerven geht, hältst du ihn für einen Mörder? Du hast nur Scheiße im
Kopf, Blackburn.«
Vom Türeingang her waren ein Rascheln und ein
leises verängstigtes Wimmern zu hören. Ich konnte gerade noch
sehen, wie Luke seinen Kopf zurückzog, um sich zu verstecken.
»Oh mein Gott.«
Lukes Füße trappelten im Gang zurück zu seinem
Zimmer.
Ich fuhr zu Jesse herum. »Verdammt, er hat alles
gehört.«
Jesse wuchtete sich in seinen Rollstuhl. Er sah
völlig fertig aus, aber ich war zu aufgebracht, um mich darum zu
kümmern. Ich rannte zum Gästeschlafzimmer. Das Licht war aus.
»Luke?«
Er hatte sich unter dem Bett zusammengekauert. Als
ich nach ihm greifen wollte und seinen Rücken berührte, zuckte er
zurück. Ich legte mich auf den Bauch und versuchte unter das Bett
zu rutschen.
»Luke, Süßer. Komm raus.«
»Nein.« Er hatte Tränen in der Stimme.
»Bitte, Tiger, komm zu mir.«
Aber er rollte sich nur noch mehr zusammen und
weinte leise vor sich hin.
Jesse tauchte in der Tür auf. »Luke? Hey, Kleiner,
ich -«
Mit einer Handbewegung scheuchte ich ihn weg.
Es kostete mich eine halbe Stunde, bis ich Luke
wieder hervorgelockt hatte. Und selbst als ich ihn unter die
Bettdecke verfrachtet hatte, redete er noch nicht mit mir. Er
entspannte sich auch nicht, als ich ihm erklärte, Jesse hätte es
nicht so gemeint, und dass es mir leidtat, dass er unseren Streit
mitbekommen hatte … Warum sollte er auch? Meine Worte klangen in
meinen eigenen Ohren unpassend und unehrlich.
Ich fand Jesse vor den Panoramafenstern im
Wohnzimmer.
Er starrte hinaus auf die Wellen. Der Schein des
Feuers färbte den östlichen Himmel.
Er drehte sich nicht zu mir um. »Es tut mir so
unendlich leid.«
»Was glaubst du eigentlich, was kann ein
Sechsjähriger noch alles verkraften, bevor er dran
zerbricht?«
Er schloss die Augen und ließ die Schultern hängen.
»Evan …«
Ich konnte die Reue in seiner Stimme hören, aber
auch den Widerstand. »Du solltest jetzt besser keinen Streit mit
mir vom Zaun brechen, glaub mir das.«
Weitere Sekunden vergingen.
»Ich brauch frische Luft«, fügte ich hinzu.
Ich machte mich auf Richtung Strand. Die Nacht war
heiß, der Himmel orange-silbern gescheckt von Feuerschein und
Mondlicht. Die Wellen leckten an meinen Füßen wie schaumige Zungen.
Mein Kopf dröhnte. Nach wenigen Metern fing ich an zu laufen.
Wie konnte Jesse nur glauben, dass Brian Peter
Wyoming getötet hatte?
Ich wurde schneller, hörte, wie meine Füße auf den
Sand patschten, lief immer weiter, wollte, dass mein Herzschlag
alle anderen Geräusche, alle anderen Gedanken verdrängte. Ich
rannte und rannte, einige Kilometer, bis ich merkte, dass ich
wieder umkehren musste. Meine Lungen brannten von der
rauchgeschwängerten Luft. Ich blieb stehen, stützte die Hände in
die Hüften und warf den Kopf zurück. Mein Gesicht glühte vor Hitze,
unter meinem verschwitzten T-Shirt rann mir der Schweiß in Strömen
den Rücken hinunter. Die Stiche juckten.
So kalt die Wellen gewesen waren, als ich zu laufen
begann, so einladend wirkten sie nun auf mich. Ich schaute mich um
– kein Mensch weit und breit. Ich warf meine Kleider ab und stürmte
auf die Brandung zu. Als mir das Wasser bis zu den Oberschenkeln
reichte, stürzte ich mich in die nächste Welle.
Das Wasser kühlte meine Haut und linderte den
Juckreiz. Ich schwamm weiter hinaus, drehte mich auf den Rücken und
betrachtete die Milchstraße am Himmel. Der langgestreckte
Sternhaufen wirkte durch das Feuer wie eine rubinrote Ader in der
Nacht. Die Wellen hoben mich empor und ließen mich wieder sinken.
Ich fühlte mich wie am Ursprung allen Lebens.
Schließlich ließ ich mich wieder ans Ufer
zurücktragen. Als ich auf das Haus zuging, konnte ich sehen, dass
in Jesses Schlafzimmer Licht brannte. Es war eine Einladung. Aber
ich wusste nicht, ob er mir seine Entschuldigung anbot oder
weiterstreiten wollte.
Die warme Luft war wie eine erfrischende Brise auf
meiner Haut. Mit meinen verschwitzten Klamotten in der Hand
steuerte ich auf die Terrasse zu und wischte mir mit dem T-Shirt
vor dem Reingehen noch den Sand von den Füßen.
Ohne jede Vorwarnung traf mich der Strahl einer
Taschenlampe mitten im Gesicht.
»Nicht bewegen!«, sagte eine Männerstimme.
Zu spät. Ich riss meine Kleider hoch und versuchte
lächerlicherweise meine Blöße zu bedecken. »Jesse!«
Der Mann kam auf die Terrasse, hinter ihm folgte
noch jemand mit einer Taschenlampe. Ihre Gesichter konnte ich nicht
erkennen.
»Jesse! Lass die Hunde los!«
Taschenlampe Nummer eins zögerte. »Keine Bewegung!
Stehen bleiben und kein Wort mehr! Wir sind von der Bundesbehörde
für Fisch- und Wildbestand.«