18. Kapitel
Das Großfeuer war inzwischen gelöscht, und es
hatte wieder aufgeklart. Über dem Gipfel des La Cumbre konnte man
Drachenflieger beobachten, und entlang der gesamten Küstenlinie
reihten sich Segelboote wie kleine Punkte. Um die Mittagszeit des
nächsten Tages machte sich Jesse auf in das Los-Baños-Schwimmbad am
Hafen. 2000 Meter Freistil sollten ihm gegen die Schmerzen helfen
und dabei, sich mit seinem Körper zu versöhnen. Schwimmen bedeutete
Konzentration aufs Wesentliche: keine Kreuzverhöre, kein Gelaber
über die Endzeit, keine zwischen den Zeilen verborgenen
Gefühlswallungen. Nur der Rhythmus der Schwimmzüge und das Wasser,
das über ihn hinwegglitt. Nach den 2000 Metern fühlte er sich
besser. Er spürte, dass seine Herzfrequenz die 120 nicht
überstiegen hatte und entschied sich für ein paar zusätzliche
Einheiten: zehnmal 100 Meter Delfin, unter der Dreiminutengrenze.
Es war anstrengend, aber nichts Außergewöhnliches. Sein Rhythmus
war nicht mehr der gleiche wie früher, jetzt wo ihm die Kraft des
gesunden Beins fehlte, aber daran hatte er sich gewöhnen müssen.
Mit dem Kopf unter Wasser erreichte er mit einem letzten
langgezogenen Stoß das Beckenende und stützte sich schwer atmend
auf die Sperrmarkierung zwischen den Bahnen. Es gab nichts Besseres
als schwere körperliche Anstrengung, wenn man seine Perspektive auf
die Welt überdenken wollte.
Er fuhr gerade zurück zur Arbeit, als eine Frau vor
ihm auf die Straße rannte. »Scheiße.« Er riss an der Handbremse und
spürte, wie das ABS griff, als der Wagen langsamer wurde. Die Frau
schrie. Aber sie schrie nicht ihn an – sie hatte ihn nicht einmal
bemerkt. Sie war barfuß, trug Lockenwickler im Haar und schwenkte
ein Luftgewehr in den Händen. Sie zielte damit auf ein
Stinktier.
Der Gegenverkehr kam näher, der Straßenrand war
zugeparkt. Er konnte nirgendwohin ausweichen. Die eine Hand hatte
er am Steuer, die andere an der Bremse – so konnte er nicht einmal
auf die Hupe hauen.
Die Frau war äußerst wacklig zu Fuß. Zwischen den
Zehen hatte sie Wattebäuschchen, die den glänzenden pinkfarbenen
Nagellack schützten, den sie aufgetragen haben musste, kurz bevor
sie zur Waffe griff. Trotzdem war sie dem schwarz-weißen Tier, das
vor ihr über die Straße wackelte, direkt auf den Fersen. Das Gewehr
erhoben, zielte sie wie ein angetrunkener Saloon-Cowboy.
Jesses Wagen kam zum Stehen, und sie feuerte.
Vorbei. Das Stinktier blieb stehen und lüftete den Schwanz. Gerade
als das Tier sein Sekret versprühte, feuerte sie noch einmal: das
Stinktier zuckte getroffen zusammen, stolperte und fiel um.
Jesse kurbelte das Fenster hinunter. Der Gestank
war entsetzlich, aber weder das schien die Frau zu bemerken noch
die Tatsache, dass sie beinahe von einem tonnenschweren Fahrzeug
überrollt worden war.
»Lady, was zur Hölle machen Sie da eigentlich?«,
fragte Jesse.
Vorsichtig näherte sie sich dem kleinen Tier und
stupste es mit dem Lauf des Gewehrs in den Bauch. Es bewegte sich
nicht. Sie schnappte das Stinktier am Schwanz, hob es in die Höhe
und starrte ihm ins Gesicht.
»Hab ich dich, du kleiner Scheißer.«
Ihre Lockenwickler glänzten in der Sonne. »Ich hab
genau gesehen, wie es in meinen Büschen hockte und mich ganz
seltsam anschaute. Es war tollwütig, aber ich hab es
erwischt.«
Die Panik war also schon ausgebrochen.
Am Abend rief ein Beamter des Gesundheitsamts an
und wollte von mir Details über mein Zusammentreffen mit Neil
Jorgensen erfahren. Nachdem ich fünfzehn Minuten lang seine Fragen
beantwortet hatte, erkundigte ich mich meinerseits, wie sich
Jorgensen mit Tollwut angesteckt hatte.
»Ma’am, wir geben unsere Untersuchungsergebnisse
nicht an die Öffentlichkeit.«
»Ich bin nicht die Öffentlichkeit. Jorgensen hat
mir ins Gesicht gespuckt.«
Er dachte ein wenig darüber nach und überließ mir
dann ein paar Informationskrümel. »Na ja, in Kalifornien wurde das
höchste Aufkommen der Krankheit bei Stinktieren und Fledermäusen
festgestellt.«
»Wie sieht es mit Coyoten aus?«
»Da könnten auch welche infiziert sein.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich Sally Shimada
an. »Gibt es Neuigkeiten darüber, wie sich Jorgensen angesteckt
hat?«
Ich konnte hören, wie ein Bleistift auf die
Tischplatte trommelte. »Wissen Sie, ich versorge Sie immer mit den
allerneuesten Nachrichten. Es wäre schön, wenn mal was von Ihnen
zurückkäme.«
Autsch. Ich fragte, was ich für sie tun
konnte.
»Ich möchte ein Interview mit Ihrem Bruder.«
»Nein, Sally.«
»Kommen Sie, das ist eine Riesengeschichte. Gerade
wo er ausgerechnet in China Lake stationiert ist.«
»Was soll das heißen?«
»Man hört doch immer wieder davon, dass sie auf dem
Stützpunkt streng geheime Forschungen durchführen und die
allerneuesten Waffen für die CIA entwickeln. Aber die
Öffentlichkeit erfährt nie was davon.«
Das Große Schweigen … hier zeigte sich also die
Kehrseite von Marc Duprees Geheimniskrämerei. Im Zeitalter von
Akte X war die amerikanische Öffentlichkeit nur allzu
bereit, daran zu glauben, dass die Regierung in aller Heimlichkeit
ein tödliches Süppchen zusammenbraute.
»Was hat das mit Ihrer Geschichte über Peter
Wyomings Tod zu tun?«, fragte ich.
»Es ist der perfekte Aufhänger.«
»Das ist absurd, Sally. Glauben Sie mir.«
»Ihnen glauben? Sie sind da draußen aufgewachsen,
Sie müssen die Wahrheit kennen.«
Die Wahrheit? Seufzend kniff ich mir in den
Nasenrücken. Die Wahrheit, die ich kennengelernt hatte, als ich
da draußen aufwuchs, war, dass Marineoffiziere mittleren
Ranges alles gleichzeitig sein konnten: Ehrgeizlinge, Fachidioten,
Bürokraten und Patrioten. Dass sie, mit ihren Familien und Neurosen
der glühenden Hitze des Wüstenstützpunktes ausgesetzt, lernten zu
schweigen. Dass es ihnen wichtig war, die Kommunisten
zurückzudrängen, und besonders wichtig, die jungen Männer
oben in der Luft am Leben zu erhalten, indem sie sich immer neue
todbringende Erfindungen einfallen ließen. Aber ich konnte mich
auch an Barbecues erinnern, bei denen der exzessive Gebrauch von
billigem Bourbon oder exzessiver Ehebruch die Offiziere weinerlich
oder aggressiv werden ließ. Ich erinnerte mich an kluge Köpfe, die
bankrottgingen oder Selbstmordversuche unternahmen oder es mit
etwas Glück zu den Anonymen Alkoholikern schafften. Die Wahrheit
war: Auf sich allein angewiesen hätten diese Männer nicht mal einen
Autokorso organisieren können.
Aber das war nicht das, was Sally hören wollte. Sie
wollte etwas wissen über Intrigen, Strippenzieher hinter den
Kulissen und seltsame Lichter am Nachthimmel.
Ich hatte ein ungutes Gefühl im Magen, das mir
sagte, dass ich ihr besser zuhören sollte. Es spielte nämlich keine
Rolle, ob etwas tatsächlich wahr war oder nicht – solange die Leute
so darauf reagierten, als ob es die Wahrheit wäre.
Ich ging auf Nummer sicher. »Okay, ich werde mit
Brians Anwalt sprechen, und Sie kümmern sich um die Ursache der
Tollwut.«
Den Rest des Tages verbrachte ich mit
Telefonanrufen und Besorgungen. Ich sprach mit Chris Ramseur vom
Santa Barbara Police Department über Glory und versuchte mehrmals
die Sprechstundenhilfe aus Jorgensens Praxis zu erreichen, die
damals für die Inventarisierung der gestohlenen Medikamente
verantwortlich gewesen war. Meiner Mutter ließ ich Blumen ins
Krankenhaus nach Singapur schicken. Ich holte den Explorer vom
Lackieren ab und kaufte ein paar Lebensmittel, damit Jesses
Kühlschrank wieder etwas vorweisen konnte. Danach vergewisserte ich
mich – so gut ich es als Amateurdetektivin konnte -, dass mir
niemand von den Standhaften folgte und schaute bei mir zu Hause
vorbei. Nachdem ich den Briefkasten geleert hatte, schnappte ich
mir ein paar frische
Klamotten und griff spontan zu der Kette mit dem
kleinen goldenen Kruzifix, die mir meine Großmutter zur
Erstkommunion geschenkt hatte. Sie fühlte sich gut an um meinen
Hals und erinnerte mich an Großmutters liebevolle Art.
Am nächsten Morgen brachte ich Luke nach China
Lake, wir wollten Brian besuchen. Die Herbstsonne stand schon tief
über den Bergen, als wir ankamen. Auf der Fahrt hatte sich Luke
ziemlich gelangweilt, aber als wir vor dem Gefängnis hielten,
richtete er sich auf. Er hatte Angst und keine Ahnung, was ihn dort
drin erwartete.
»Okay, Tiger, ich muss dir jetzt erst mal was
erklären«, sagte ich. »Dein Dad ist da drin, er wartet auf uns in
einem Raum mit einer großen Scheibe mitten durch. Wir werden auf
der einen Seite sein und er auf der anderen. Du wirst ihn nicht
umarmen können.«
Er hörte mir zu und schaute mich mit großen dunklen
Augen an.
»Und er trägt andere Sachen als sonst.«
»Kann ich mit ihm reden?«, fragte er.
»Natürlich, mein Schatz. Komm, wir gehen
rein.«
Wir warteten nebeneinander im Besuchsraum und
starrten durch die Trennscheibe. Luke wirkte ausgelaugt vor lauter
Anspannung. Als der Wärter die Tür auf der anderen Seite der
Barriere aufschloss und Brian eintrat, erstarrte Luke. Brian ging
es nicht anders, sein Gesichtsausdruck schien irgendwo zwischen
Freude und Entsetzen eingefroren.
»Hi, Daddy.«
»Hallo, Champ.«
So etwas wie eine sinnvolle Unterhaltung gibt es im
Gefängnis einfach nicht. Brian saß leicht zusammengesunken auf
einem Stuhl, mit seinen hängenden Schultern erinnerte er an eine
Bulldogge. Er bemühte sich auf groteske Art um Smalltalk. Luke
wirkte, als ob man ihn gerade ins Weltall geschossen hätte – an
einen Ort ohne Luft, ohne Oben und Unten. Die Nachricht, dass
unsere Mutter Dengue-Fieber hatte, war eine unangenehme
Überraschung für Brian, und Sally Shimadas Interviewanfrage
verärgerte ihn noch mehr. Auf gar keinen Fall, sagte er. Ich
fragte, was sein Anwalt ihm erzählt hatte.
»Er denkt, dass die Cops zwei gegensätzliche
Theorien über den -« Sein Blick fiel auf Luke. »Über Peter Wyoming
haben. Entweder soll Eifersucht das Tatmotiv gewesen sein oder ein
aus dem Ruder gelaufener Waffendeal.«
Ich rückte näher an die Scheibe. »Sie glauben, du
hast Waffen an die Standhaften verkauft?«
»Anscheinend ist auf dem Stützpunkt was
weggekommen. Die Navy hat Probleme mit der Bestandsaufnahme, und
ich gehöre zur Navy, also bin ich daran schuld. Zwei plus
zwei ergibt siebzehn.«
Ich fragte mich, ob die Standhaften ihr Arsenal
vielleicht mit Waffen aufstocken wollten, die sie aus China Lake
gestohlen hatten. Vermutlich hielten sie die Basis für eine Art
Warenhaus der Supertodeswaffen – und hätten nur zu gerne ein paar
davon in die Finger gekriegt. Ich behielt den Gedanken für mich,
Luke brauchte das nicht zu hören. »Was hat dein Anwalt vor?«
»Er legt sich gerade seine Strategie zurecht. Ich
hab ihm gesagt, die einzige Strategie, die zählt, ist diese Dreck
-, äh, den Täter zu fangen.«
»Ich arbeite dran«, versicherte ich ihm. »Kommt dir
eigentlich der Name Mildred Hopp Antley irgendwie bekannt vor? Ihr
gehört das Gelände, auf dem die Standhaften ihr Rückzugsgebiet
eingerichtet haben, und wir sind damals in die Highschool gegangen
mit -«
»Casey Hopp, oh, mein Gott.«
»Du kennst sie?«
»Das war doch eine ganz harte Nummer. Ihr hat das V
für Verlierer schon auf der Stirn gestanden. Die war mal hinter mir
her, erinnerst du dich?«
»Ich hab nicht mal mehr gewusst, dass Casey eine
Frau ist.«
»Sie und ihre Mädchen-Gang haben immer vor unserem
Haus auf der Straße geparkt und gehofft, dass ich rauskomme. Am
nächsten Morgen haben wir dann immer ihre Bierdosen und
Zigarettenkippen auf dem Gehsteig gefunden.«
Meine Erinnerung daran war wirklich nur sehr vage.
»Das war Casey?«
»Oh ja. Hat sie etwa was mit den Standhaften zu
tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Er richtete sich auf. »Aber du wirst es rausfinden,
oder?«
»Das hab ich vor.«
Die Tür hinter ihm öffnete sich. Ein Wärter trat
ein und erklärte, dass die Besuchszeit zu Ende sei. Brian drehte
sich nicht mal um. »Okay.«
Ich verabschiedete mich und stand auf, aber Luke
rührte sich nicht.
»Wann kommst du wieder nach Hause?«, fragte
er.
Brian sah mich an. Ich wäre am liebsten im Erdboden
versunken.
»Ich weiß es nicht, Kleiner, aber ich hoffe
bald.«
Wenn ein Sechsjähriger so was von seinem Vater
hört, ist das, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggezogen
würde und er in die ewige Nacht stürzt. Die Gesprächspause dehnte
sich ewig.
»Sei lieb zu deiner Tante Evan«, sagte Brian
schließlich.
Luke Schultern hoben und senkten sich, und ich
fürchtete schon, er würde gleich anfangen zu heulen. Aber dann riss
er sich zusammen. Er stellte sich auf den Stuhl, drückte seine
Hände gegen das Plexiglas und hinterließ einen Kuss auf der
Scheibe.
»Ich hab dich lieb, Daddy.«
»Ich dich auch.«
Ich dachte, Brian hätte alles gesagt und nahm Luke
bei der Hand. Doch als er bei der Tür war, rief mein Bruder meinen
Namen. Er kämpfte mit den Tränen. Ich bat Luke zu warten und ging
zur Absperrung zurück.
»Bring ihn nicht noch einmal hierher«, sagte Brian,
dann drehte er sich um und ging.
Casey Hopp. Der Name konnte kein Zufall sein.
Dafür war die Stadt zu klein, dafür schlang sich dieser Albtraum zu
eng um meine Familie. Wo war Casey Hopp heute? Wer war Casey
Hopp heute?
Ich fuhr zu Abbie Hankins. Die kleine Hayley saß
auf einem Dreirad in der Hauseinfahrt, die blonden Haare umwehten
ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Freundlich winkend stieß sie die
Eingangstür auf. Abbie war in der Küche.
»Kannst du dich an das Foto von Casey Hopp in dem
Jahrbuch erinnern?«, fragte ich. »Kann ich es noch mal
sehen?«
Sie schob die Brille auf der Nase nach oben. »Ich
hab sogar noch was Besseres für dich.«
Sie hatte das Jahrbuch eines späteren Schuljahrs
gefunden. »Hier, ein Porträt von Miss Hopp als Abgängerin. Und
weißt du was? Casey war gar nicht ihr richtiger Name, es war nur
ein Spitzname wegen ihrer Initialen K. C.«
Ich sah ihr über die Schulter und betrachtete das
Bild genau. Sie hieß Kristal mit Vornamen, und auf dem Bild wirkte
sie ziemlich empört – vielleicht weil der Fotograf sie eine
Kunstpelzstola tragen ließ, die so gar nicht zu ihren sonstigen
»Nachsitzer-Club«-Klamotten passte. Sie hatte ausgeprägte
Wangenknochen, langes gerades Haar und tiefliegende Augen unter
dichten Augenbrauen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, wegen ihrer
Körperhaltung und wegen dem Hass, den selbst noch dieses Foto
ausstrahlte. Tatsächlich beschlich mich ein bestimmter
Verdacht.
»Ich würde das gerne mal der Polizei zeigen.
Vielleicht haben sie dort einen Zeichner, der ein Phantombild
anfertigen kann, wie sie heute aussieht.«
»Ein Polizeizeichner? In China Lake?«
Sie hatte recht. Wahrscheinlich war die einzige
Person hier in der Gegend, die so was konnte, Tabitha. Was ich
brauchte, war so was wie das Computer-Imaging-Programm aus Neil
Jorgensens Praxis. Doch Abbie wusste Rat. »Da hast du aber ganz
schön Glück, Liebes. Wally benutzt das gleiche Programm, um Eltern
zu zeigen, was ein kieferchirurgischer Eingriff bei ihren Kindern
verändern würde.«
Wallys Praxis lag in einem Einkaufszentrum in
Innenstadtnähe. Beim Eintreten umgab uns sofort diese furchtbare
typische Zahnarztatmosphäre: Beruhigungsmusik und Menschen, die
sich auf leisen Kreppsohlen bewegten. Im Behandlungszimmer hörten
wir einen Bohrer surren. Eine Zahnarzthelferin, der ein grüner
Mundschutz um den Hals hing, stand in der Nähe des Empfangs. Die
Helferin zuckte mit keiner Wimper, als sie Abbie, mich, Luke und
die drei Hankins-Kinder hereinstürmen sah. Ich fragte mich, wie oft
Abbie hier wohl so hereinrauschte.
Nachdem Abbie kurz erklärt hatte, dass es sich um
einen Notfall handelte, setzte sie Hayley auf dem Empfangsschalter
ab und begann das Foto aus dem Jahrbuch im Computer einzuscannen.
Über ihre Schulter hinweg bemerkte sie: »Übrigens, unser bissiger
Freund, der mich verspeisen wollte …« Sie hob ihren Arm und zeigte,
wie gut die Wunde inzwischen verheilt war. »Das war gar kein
Coyote.«
»Wie bitte?«
»Es war ein Coydog, eine Kreuzung aus Coyote und
Mastiff. Da hat sich wohl ein Eindringling auf vier Pfoten in den
Stall von Fifi gestohlen und mit ihr einen Wurf von ganz besonderen
Mischlingen gezeugt.« Sie schaute auf den Bildschirm und tippte
etwas ein. »Und das Veterinäramt sagt, dass er als Haustier
gehalten wurde. Seine letzte Mahlzeit war Pedigree Pal. Das Vieh
hat jemandem gehört, und derjenige wird eine Menge Ärger kriegen,
wenn ihm das Veterinäramt auf die Schliche kommt. Ich kann es kaum
erwarten.«
Wally hatte inzwischen den Bohrer beiseitegelegt
und sich uns angeschlossen. Sein Teddygesicht wirkte ungewohnt
ernst. Als Abbie das Foto auf dem Bildschirm aufrief, sagte er:
»Lass mich mal ran.«
Für jemand, der den ganzen Tag damit verbrachte,
Leuten in den Mund zu starren, war er ziemlich geschickt darin,
sich die Veränderungen vorzustellen, die die Zeit in einem Gesicht
anrichten konnte. Er zog die Mundwinkel auf dem Schirm etwas nach
unten, fügte den Ansatz von Hängebacken hinzu, dünnte die
Augenbrauen aus und verlängerte die Nase. »Das sind keine bloßen
Mutmaßungen«, sagte er. »Die Veränderungen beruhen auf der Anatomie
der Person, der Knochenstruktur, dem Muskelgewebe und dem, was wir
über den Alterungsprozess wissen.«
Das Bild auf dem Schirm veränderte sich. Mir lief
es heiß und kalt den Rücken herunter.
»Gib ihr ein hartes Leben und etwas mehr Fett auf
den Knochen.«
Die Partie um die Augen wirkte jetzt aufgedunsen,
und über den Hals hing ein Doppelkinn. Schließlich fragte er: »Etwa
so?«
Das Phantombild wirkte etwas künstlich, aber man
konnte die Person erkennen.
»Es ist Chenille Wyoming.«
Chenille kannte Brian also. Sie kannte ihn seit
fast zwanzig Jahren. Sie war hinter ihm her gewesen. Auf der
Fahrt zur Polizeiwache konnte ich mir noch keinen Reim darauf
machen. Kristal C. Hopp, K. C., Casey – ihre Entwicklung hatte vom
»Nachsitzer-Club« über Drogenmissbrauch zur Prostitution geführt.
Sie war schließlich in Santa Barbara gelandet, dem ewigen Ziel
jener Highschool-Absolventen, die – genau wie ich – die Flucht aus
China Lake angetreten hatten. Irgendwo auf ihrem Weg war sie zu
Chenille Krystal geworden. Aus ihrer Heiratsannonce konnte ich mich
noch an diesen pompösen Namen erinnern. Und dann war sie als
Chenille Wyoming wieder aufgetaucht, als Möchtegern-Revolutionärin,
die es darauf anlegte, als berühmteste Ex-Hure in die Geschichte
einzugehen. Sie wollte Maria Magdalena übertrumpfen – sie wollte
nicht als Sklavin bekannt werden, sondern als Domina.
Ich starrte auf die Straße. Die heiße Luft
flimmerte über dem Asphalt.
Chenille Wyoming, die so gerne peitschenknallend
über das Jenseits regiert hätte, hatte sich also einst auf der
Straße vor unserem Haus herumgetrieben, geraucht, getrunken und
nach Brian Ausschau gehalten. Allerdings umsonst, denn er hatte sie
nur mit stiller Missachtung gestraft. Und dann war er dieses Jahr
wieder in ihr Leben getreten, als sich Tabitha den Standhaften
anschloss. Ausgerechnet Tabitha, Brians Auserwählte und der neue
Liebling von Pastor Pete, Tabitha, die so großartig zeichnen
konnte. Eifersucht konnte gar kein Ausdruck für das sein, was
Chenille empfand.
Wie ich Jesse bereits erzählt hatte, glaubte ich,
dass die Standhaften Tabitha aufgewiegelt hatten, um Lukes und
Brians Leben ebenso wie das meine durcheinanderzubringen. Sollte
etwa eine offene Rechnung aus längst vergangenen Highschool-Zeiten
dahinterstecken? Wenn das so war, hatte Brian Chenille keinen Grund
zum Nachgeben geliefert. Als er sie sah, hat er sie nicht einmal
wiedererkannt. Er hat sie behandelt, als wäre sie gar nicht
da.
Jetzt glaubte sie, dass er ihren Mann umgebracht
hatte, und wollte Rache. Sie würde die ganze Welt dafür büßen
lassen. Meine Hände am Lenkrad waren schweißnass.
Detective McCracken fand das alles nicht so
aufregend wie ich. Er hielt das Phantombild zwischen seinen
Zigarrenstummelfingern und pfiff beim Atmen durch die Nase. »Eine
Highschool-Schwärmerei? Und weiter?«
»Und …« Was weiter? »Zumindest belegt das, dass sie
Informationen vor Ihnen zurückgehalten hat und dass sie Brian
kannte.«
»Sie haben wohl vergessen, wie das in so einer
Kleinstadt ist? Hier kennt jeder jeden, da erwarte ich nicht, dass
sie mir von jeder Affäre in der Highschool erzählt.«
»Es war keine Affäre.«
»Oh, Verzeihung, eine unerwiderte Liebe. Das
macht das Ganze natürlich noch brisanter.«
Mir fiel nichts mehr ein, ich konnte nur noch das
Thema wechseln. »Haben Sie schon die Tatwaffe gefunden?«
»Arbeite ich etwa für Sie?«
Als Luke und ich am nächsten Tag zurück nach Santa
Barbara fuhren, hörten wir in den Radionachrichten, dass ein Wagen
in einen Imbiss auf der State Street gekracht war – nachdem der
Fahrer anscheinend eine streunende Katze verfolgt hatte. »Wir
möchten Sie noch einmal daran erinnern«, sagte der
Nachrichtensprecher, »dass ein Minivan nicht das probate Mittel
ist, um streunende Tiere zur Strecke zu bringen. Wenn Sie einen
Verdacht auf Tollwut haben, informieren Sie das
Veterinäramt.«
Bei Jesse hörte ich meinen Anrufbeantworter ab –
keine neuen Nachrichten. Danach versuchte ich ein weiteres Mal
vergeblich die Sprechstundenhilfe von Dr. Jorgensen zu erreichen.
Meine Intuition sagte mir sehr deutlich, dass die gestohlenen
Medikamente etwas mit den Standhaften und Jorgensens Tod zu tun
hatten, deshalb probierte ich es noch einmal bei Kevin Eichner. Ich
erreichte ihn unter seiner Mobilnummer auf der Baustelle und
erzählte ihm von meinem Verdacht.
Er sprach leise. »Sie konnte mich nicht dazu
bringen, für sie zu stehlen, also legte sie bei Glory die
Daumenschrauben an. Tja, Glorys Gabe der Unterwürfigkeit war da ja
ganz schön praktisch für sie.«
Ich fragte ihn, ob sich Chenille näher geäußert
hatte, welche Medikamente er für sie stehlen sollte.
»Morphin – sie sagte, wir müssten uns einen Vorrat
anlegen, damit wir die Verwundeten in der Zeit der Drangsal
behandeln könnten. Außerdem wollte sie etwas von allem, was der
Neurologe so da hatte, falls wir einem Nervengasangriff ausgesetzt
würden. Ich sag Ihnen, die hat nicht mehr alle Tassen im
Schrank.«
Wenig später fuhr ich zur zweiten Impfung zur
Praxis meiner Ärztin. Als Dr. Abbott meine Armbeuge desinfizierte,
nutzte ich die Gelegenheit zu einer Frage. »Welche Arten von
Medikamenten würde ein Neurologe in seinem Giftschrank
aufbewahren?«
Offensichtlich hatte sie eher eine Frage zum Thema
Tollwut erwartet. »Warum fragen Sie?«
»Es geht um einen Fall, an dem ich arbeite.«
»Na ja, das dürften hauptsächlich krampflösende
Medikamente sein, Dilantin, Tegritol … Medikamente gegen Migräne
und Parkinson.«
»Und wie sieht es bei einem plastischen Chirurgen
aus?«
»Anästhetika, Beruhigungsmittel – Lidocain, Vicodin
…«
»Gibt es Überschneidungen mit den
Behandlungsmitteln bei einem Neurologen?«
Sie dachte nach und legte ihre gefurchte Stirn noch
mehr in Falten. »Vielleicht Botox.«
Als ich zu erkennen gab, dass mir das Wort nichts
sagte, fuhr sie fort: »Botulinumtoxin. Neurologen verwenden es
mittlerweile zur Behandlung bei zerebraler Kinderlähmung. Es hat
einen paralytischen Effekt, man kann damit schwere Krampfanfälle
behandeln, wenn andere Medikamente versagen.«
»Ist das etwa das Gift, das Botulismus
verursacht?«
»Genau. Es ist eine außergewöhnlich gefährliche
Substanz, deshalb dürfen Mediziner es nur in minimalsten Dosen
intramuskulär verabreichen.«
»Und warum findet sich das dann übehaupt bei
Schönheitschirurgen?«
»Sagen Sie bloß, Sie haben noch nie was davon
gehört? Das ist doch der letzte Schrei, es reduziert die
Stirnfaltenbildung.«
»Sie machen Witze, oder?«
»Man injiziert es unter die Haut an der Stirn, und
dort legt es die Muskeln lahm, sodass der Patient nicht mehr die
Stirn runzeln kann. Das lässt die Haut glatter werden und verleiht
ihr ein jüngeres Aussehen.«
Ich fuhr zurück zu Jesse. Jetzt gehörte also eine
Gesichtslähmung zum Schönheitsideal – der neue Totenmasken-Look.
Ich konnte es kaum fassen. Gar nicht auszudenken, wie Jesse auf die
Vorstellung reagieren würde, dass eine Lähmung einem gut zu Gesicht
stand.
Kurz darauf rief er mich an. Wir verabredeten uns
für später, wenn er mit der Arbeit fertig war. Ich erzählte ihm
nichts von dem Botox. Die Sache kam mir einfach zu obszön
vor.
Doch langsam hatte ich das Gefühl, dass ich einer
Lösung auf der Spur war, und versuchte es noch einmal bei
Jorgensens Sprechstundenhilfe. Dieses Mal erreichte ich sie.
»Bei dem Überfall wurden in erster Linie
Schmerzmittel entwendet«, sagte sie.
»Und was ist mit Botox?«
»Hm, ist ja seltsam, dass Sie danach fragen.«
»Wieso?«
»Weil wir nur darauf gewartet haben, eine Woche
später irgendwas über tote Drogensüchtige in der Zeitung zu lesen.
Jeder, der sich das Zeug spritzt, fällt innerhalb von ein paar
Tagen tot um. Und wissen Sie was? Das wäre eine gerechte Strafe
gewesen. Aber anscheinend ist nichts passiert – vielleicht konnten
die Räuber doch noch die Beschriftung auf den Ampullen
entziffern.«
Oder vielleicht hoben sie sich das Gift für eine
besondere Gelegenheit auf.
Beunruhigt stürzte ich mich in meinen Angstmacher
Nummer eins, das Internet. Die Suche nach Botox rief
Hunderte von Webseiten auf, von denen neunzig Prozent
Schönheitschirurgen gehörten, die kaum mit der großartigen
Nachricht hinter dem Berg halten konnten. »Dramatische
Verbesserungen! Nur eine einzige Injektion kann Muskeln für bis zu
sechs Monaten stilllegen.« Weiter unten auf der Liste wurden die
Nachrichten schlechter.
Botulinumtoxin als potenzieller biologischer
Kampfstoff.
Hier hatten wir es nicht mit den Schönheitstipps
von Dr. Rex zu tun, die Seite gehörte dem Verteidigungsministerium.
Ich musste nicht lange lesen, bevor mir die Spucke wegblieb: Neben
Anthrax stand Botox ganz oben auf der Wunschliste jedes
Bioterroristen. Es ist so gefährlich, dass das Einatmen weniger
Nanogramm des Stoffes den Betroffenen sofort tötet. Und
betroffen konnte jeder sein – Flugzeugpassagiere, die
UN-Generalversammlung oder die eigene Großmutter.
An diesem Punkt beschloss ich einen Waffenexperten
anzurufen, den ich kannte, einen Absolventen der Marinehochschule:
meinen Vater. Er war gerade in seinem Hotelbett in Singapur
aufgewacht.
»Bioterrorismus? Das ist die Atombombe des kleinen
Mannes«, sagte er. »Es gefällt mir nicht, wenn meine Tochter mir
Fragen dazu stellt. Was ist denn passiert?«
Ich gab ihm einen kurzen Abriss dessen, was ich
gerade erfahren hatte.
»Biowaffen sind Massenvernichtungsmittel, die
leicht zu bekommen sind«, erklärte er. »Man benötigt dazu keine
Isotopentrennanlagen und keine Kernforscher, nicht mal
stinknormales altmodisches Schießpulver oder Kanonen. Die
Krankheitserreger finden sich in der Natur oder man kann sie bei
Arzneimittelversendern bestellen. Ein Terrorist mit einem
Highschool-Abschluss und etwas Erfindergeist könnte genügend
Seuchenerreger züchten, um damit Zehntausende Menschen zu töten.
Oder der Täter könnte es sich leicht machen und das vorbereitete
Toxin stehlen.«
Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Das Toxin
stehlen? Chenille Wyoming, bitte vortreten.
»Sag mir, warum du das wissen willst, Kit.«
Kevin Eichner sollte für Chenille nicht deshalb die
Medikamente stehlen, damit die Opfer der biologischen Kriegsführung
damit behandelt werden konnten. Ganz im Gegenteil. Sie selbst
wollte den Untergang auslösen, indem sie die Reiter der Apokalypse
auf die Welt losließ.
Mit dem Telefon in der Hand ging ich hinaus auf die
Terrasse. Ich versuchte die Fassung zu bewahren. »Das hört sich
jetzt verrückt an.«
»Glaubst du, die Leute, mit denen Tabitha zu tun
hat, versuchen sich biologische Kriegswaffen zu beschaffen?«
Das Meer war von einem glasklaren Blau, und ein
scharfer Salzgeruch lag in der Luft. Draußen, jenseits der Brandung
glitt ein Pelikan über die Wasseroberfläche. Die Standhaften hatten
keine Augen für diese Schönheit. Sie sahen eine völlig andere Welt
vor sich: eine Welt, die sich vor dem Licht verbarg, ähnlich dem,
was die Wissenschaftler dunkle Materie nannten – ein Universum, in
dem unsichtbare Kräfte aufeinanderstießen, Leben schufen und
zerstörten und unser Schicksal kontrollierten. Und Chenille wollte
die Auslöserin des Sturms sein, sie wollte diejenige sein, die die
Kontrolle hatte: die Hohepriesterin der Zeit nach dem großen
Krieg.
»Ja, das glaube ich.«
Eine lange transpazifische Stille hielt Einzug.
Dann begann er wieder zu sprechen. »Die Aum-Sekte hat in der U-Bahn
von Tokio das Nervengift Sarin freigesetzt. Und die Rajneeshi haben
in Oregon Salmonellen über Salatbuffets gesprüht und damit über 750
Menschen ins Krankenhaus gebracht. Was du denkst, hört sich
überhaupt nicht verrückt an, Evan.«
»Danke, Dad.«
»Gibt es bei der Polizei jemandem, dem du vertraust
und dem du das erzählen kannst?«
»Nein. Nicht bei so wenigen Beweisen. Sie würden es
als Spekulation abtun.«
»Hör zu«, sagte er. »Vom Standpunkt des Täters aus
gesehen hat die chemische und biologische Kriegsführung
verschiedene Vorteile. Einer davon ist die leichte Verbreitung: Ein
paar verseuchte Bomben hier und da oder nachts ein Getreidefeld
einsprühen – es gibt unzählige simple Methoden, die Bevölkerung
auszulöschen. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit zur Flucht.
Es dauert oft Tage, Wochen oder gar Monate, bis Keime die Krankheit
übertragen haben. Die Wirkung eines biologischen Angriffs ist nicht
so unmittelbar wie die einer Gewehrkugel. Ein Terrorist kann sich
deshalb schon längst in Sicherheit gebracht haben, bevor sich die
Folgen seiner Tat zeigen. Die Opfer eines Biowaffenangriffs wissen
oft nicht, dass sie betroffen sind. Was dieses Szenario zum
Albtraum macht, ist auch der Umstand, dass es so lange dauert, bis
man herausfindet, ob man Ziel eines Angriffs geworden ist oder nur
Opfer einer natürlichen Epidemie.«
Jetzt spürte ich wieder dieses Kitzeln ganz tief
unten in meinem Hirn, das sich in den letzten Tagen immer wieder
einmal gemeldet hatte.
»Die Sache ist die«, fügte er hinzu, »du hast
gesagt, dass diese Kirche irgendeinen Angriff für die Zeit um
Halloween plant. Das ist in einer Woche. Wenn sie biologische
Kampfstoffe freisetzen wollen, könnten sie schon vorher damit
anfangen. Vielleicht haben sie es sogar bereits getan.«
Und dann traf es mich wie ein Schlag in die Nieren.
Ich hatte es die ganze Zeit direkt vor der Nase gehabt.
Inkubationszeiten, Krankheitsraten, Ausbrüche und Epidemien.
Ich sprach es aus: »Tollwut.«