18. Kapitel
Das Großfeuer war inzwischen gelöscht, und es hatte wieder aufgeklart. Über dem Gipfel des La Cumbre konnte man Drachenflieger beobachten, und entlang der gesamten Küstenlinie reihten sich Segelboote wie kleine Punkte. Um die Mittagszeit des nächsten Tages machte sich Jesse auf in das Los-Baños-Schwimmbad am Hafen. 2000 Meter Freistil sollten ihm gegen die Schmerzen helfen und dabei, sich mit seinem Körper zu versöhnen. Schwimmen bedeutete Konzentration aufs Wesentliche: keine Kreuzverhöre, kein Gelaber über die Endzeit, keine zwischen den Zeilen verborgenen Gefühlswallungen. Nur der Rhythmus der Schwimmzüge und das Wasser, das über ihn hinwegglitt. Nach den 2000 Metern fühlte er sich besser. Er spürte, dass seine Herzfrequenz die 120 nicht überstiegen hatte und entschied sich für ein paar zusätzliche Einheiten: zehnmal 100 Meter Delfin, unter der Dreiminutengrenze. Es war anstrengend, aber nichts Außergewöhnliches. Sein Rhythmus war nicht mehr der gleiche wie früher, jetzt wo ihm die Kraft des gesunden Beins fehlte, aber daran hatte er sich gewöhnen müssen. Mit dem Kopf unter Wasser erreichte er mit einem letzten langgezogenen Stoß das Beckenende und stützte sich schwer atmend auf die Sperrmarkierung zwischen den Bahnen. Es gab nichts Besseres als schwere körperliche Anstrengung, wenn man seine Perspektive auf die Welt überdenken wollte.
Er fuhr gerade zurück zur Arbeit, als eine Frau vor ihm auf die Straße rannte. »Scheiße.« Er riss an der Handbremse und spürte, wie das ABS griff, als der Wagen langsamer wurde. Die Frau schrie. Aber sie schrie nicht ihn an – sie hatte ihn nicht einmal bemerkt. Sie war barfuß, trug Lockenwickler im Haar und schwenkte ein Luftgewehr in den Händen. Sie zielte damit auf ein Stinktier.
Der Gegenverkehr kam näher, der Straßenrand war zugeparkt. Er konnte nirgendwohin ausweichen. Die eine Hand hatte er am Steuer, die andere an der Bremse – so konnte er nicht einmal auf die Hupe hauen.
Die Frau war äußerst wacklig zu Fuß. Zwischen den Zehen hatte sie Wattebäuschchen, die den glänzenden pinkfarbenen Nagellack schützten, den sie aufgetragen haben musste, kurz bevor sie zur Waffe griff. Trotzdem war sie dem schwarz-weißen Tier, das vor ihr über die Straße wackelte, direkt auf den Fersen. Das Gewehr erhoben, zielte sie wie ein angetrunkener Saloon-Cowboy.
Jesses Wagen kam zum Stehen, und sie feuerte. Vorbei. Das Stinktier blieb stehen und lüftete den Schwanz. Gerade als das Tier sein Sekret versprühte, feuerte sie noch einmal: das Stinktier zuckte getroffen zusammen, stolperte und fiel um.
Jesse kurbelte das Fenster hinunter. Der Gestank war entsetzlich, aber weder das schien die Frau zu bemerken noch die Tatsache, dass sie beinahe von einem tonnenschweren Fahrzeug überrollt worden war.
»Lady, was zur Hölle machen Sie da eigentlich?«, fragte Jesse.
Vorsichtig näherte sie sich dem kleinen Tier und stupste es mit dem Lauf des Gewehrs in den Bauch. Es bewegte sich nicht. Sie schnappte das Stinktier am Schwanz, hob es in die Höhe und starrte ihm ins Gesicht.
»Hab ich dich, du kleiner Scheißer.«
Ihre Lockenwickler glänzten in der Sonne. »Ich hab genau gesehen, wie es in meinen Büschen hockte und mich ganz seltsam anschaute. Es war tollwütig, aber ich hab es erwischt.«
Die Panik war also schon ausgebrochen.
 
Am Abend rief ein Beamter des Gesundheitsamts an und wollte von mir Details über mein Zusammentreffen mit Neil Jorgensen erfahren. Nachdem ich fünfzehn Minuten lang seine Fragen beantwortet hatte, erkundigte ich mich meinerseits, wie sich Jorgensen mit Tollwut angesteckt hatte.
»Ma’am, wir geben unsere Untersuchungsergebnisse nicht an die Öffentlichkeit.«
»Ich bin nicht die Öffentlichkeit. Jorgensen hat mir ins Gesicht gespuckt.«
Er dachte ein wenig darüber nach und überließ mir dann ein paar Informationskrümel. »Na ja, in Kalifornien wurde das höchste Aufkommen der Krankheit bei Stinktieren und Fledermäusen festgestellt.«
»Wie sieht es mit Coyoten aus?«
»Da könnten auch welche infiziert sein.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich Sally Shimada an. »Gibt es Neuigkeiten darüber, wie sich Jorgensen angesteckt hat?«
Ich konnte hören, wie ein Bleistift auf die Tischplatte trommelte. »Wissen Sie, ich versorge Sie immer mit den allerneuesten Nachrichten. Es wäre schön, wenn mal was von Ihnen zurückkäme.«
Autsch. Ich fragte, was ich für sie tun konnte.
»Ich möchte ein Interview mit Ihrem Bruder.«
»Nein, Sally.«
»Kommen Sie, das ist eine Riesengeschichte. Gerade wo er ausgerechnet in China Lake stationiert ist.«
»Was soll das heißen?«
»Man hört doch immer wieder davon, dass sie auf dem Stützpunkt streng geheime Forschungen durchführen und die allerneuesten Waffen für die CIA entwickeln. Aber die Öffentlichkeit erfährt nie was davon.«
Das Große Schweigen … hier zeigte sich also die Kehrseite von Marc Duprees Geheimniskrämerei. Im Zeitalter von Akte X war die amerikanische Öffentlichkeit nur allzu bereit, daran zu glauben, dass die Regierung in aller Heimlichkeit ein tödliches Süppchen zusammenbraute.
»Was hat das mit Ihrer Geschichte über Peter Wyomings Tod zu tun?«, fragte ich.
»Es ist der perfekte Aufhänger.«
»Das ist absurd, Sally. Glauben Sie mir.«
»Ihnen glauben? Sie sind da draußen aufgewachsen, Sie müssen die Wahrheit kennen.«
Die Wahrheit? Seufzend kniff ich mir in den Nasenrücken. Die Wahrheit, die ich kennengelernt hatte, als ich da draußen aufwuchs, war, dass Marineoffiziere mittleren Ranges alles gleichzeitig sein konnten: Ehrgeizlinge, Fachidioten, Bürokraten und Patrioten. Dass sie, mit ihren Familien und Neurosen der glühenden Hitze des Wüstenstützpunktes ausgesetzt, lernten zu schweigen. Dass es ihnen wichtig war, die Kommunisten zurückzudrängen, und besonders wichtig, die jungen Männer oben in der Luft am Leben zu erhalten, indem sie sich immer neue todbringende Erfindungen einfallen ließen. Aber ich konnte mich auch an Barbecues erinnern, bei denen der exzessive Gebrauch von billigem Bourbon oder exzessiver Ehebruch die Offiziere weinerlich oder aggressiv werden ließ. Ich erinnerte mich an kluge Köpfe, die bankrottgingen oder Selbstmordversuche unternahmen oder es mit etwas Glück zu den Anonymen Alkoholikern schafften. Die Wahrheit war: Auf sich allein angewiesen hätten diese Männer nicht mal einen Autokorso organisieren können.
Aber das war nicht das, was Sally hören wollte. Sie wollte etwas wissen über Intrigen, Strippenzieher hinter den Kulissen und seltsame Lichter am Nachthimmel.
Ich hatte ein ungutes Gefühl im Magen, das mir sagte, dass ich ihr besser zuhören sollte. Es spielte nämlich keine Rolle, ob etwas tatsächlich wahr war oder nicht – solange die Leute so darauf reagierten, als ob es die Wahrheit wäre.
Ich ging auf Nummer sicher. »Okay, ich werde mit Brians Anwalt sprechen, und Sie kümmern sich um die Ursache der Tollwut.«
 
Den Rest des Tages verbrachte ich mit Telefonanrufen und Besorgungen. Ich sprach mit Chris Ramseur vom Santa Barbara Police Department über Glory und versuchte mehrmals die Sprechstundenhilfe aus Jorgensens Praxis zu erreichen, die damals für die Inventarisierung der gestohlenen Medikamente verantwortlich gewesen war. Meiner Mutter ließ ich Blumen ins Krankenhaus nach Singapur schicken. Ich holte den Explorer vom Lackieren ab und kaufte ein paar Lebensmittel, damit Jesses Kühlschrank wieder etwas vorweisen konnte. Danach vergewisserte ich mich – so gut ich es als Amateurdetektivin konnte -, dass mir niemand von den Standhaften folgte und schaute bei mir zu Hause vorbei. Nachdem ich den Briefkasten geleert hatte, schnappte ich mir ein paar frische
Klamotten und griff spontan zu der Kette mit dem kleinen goldenen Kruzifix, die mir meine Großmutter zur Erstkommunion geschenkt hatte. Sie fühlte sich gut an um meinen Hals und erinnerte mich an Großmutters liebevolle Art.
Am nächsten Morgen brachte ich Luke nach China Lake, wir wollten Brian besuchen. Die Herbstsonne stand schon tief über den Bergen, als wir ankamen. Auf der Fahrt hatte sich Luke ziemlich gelangweilt, aber als wir vor dem Gefängnis hielten, richtete er sich auf. Er hatte Angst und keine Ahnung, was ihn dort drin erwartete.
»Okay, Tiger, ich muss dir jetzt erst mal was erklären«, sagte ich. »Dein Dad ist da drin, er wartet auf uns in einem Raum mit einer großen Scheibe mitten durch. Wir werden auf der einen Seite sein und er auf der anderen. Du wirst ihn nicht umarmen können.«
Er hörte mir zu und schaute mich mit großen dunklen Augen an.
»Und er trägt andere Sachen als sonst.«
»Kann ich mit ihm reden?«, fragte er.
»Natürlich, mein Schatz. Komm, wir gehen rein.«
Wir warteten nebeneinander im Besuchsraum und starrten durch die Trennscheibe. Luke wirkte ausgelaugt vor lauter Anspannung. Als der Wärter die Tür auf der anderen Seite der Barriere aufschloss und Brian eintrat, erstarrte Luke. Brian ging es nicht anders, sein Gesichtsausdruck schien irgendwo zwischen Freude und Entsetzen eingefroren.
»Hi, Daddy.«
»Hallo, Champ.«
So etwas wie eine sinnvolle Unterhaltung gibt es im Gefängnis einfach nicht. Brian saß leicht zusammengesunken auf einem Stuhl, mit seinen hängenden Schultern erinnerte er an eine Bulldogge. Er bemühte sich auf groteske Art um Smalltalk. Luke wirkte, als ob man ihn gerade ins Weltall geschossen hätte – an einen Ort ohne Luft, ohne Oben und Unten. Die Nachricht, dass unsere Mutter Dengue-Fieber hatte, war eine unangenehme Überraschung für Brian, und Sally Shimadas Interviewanfrage verärgerte ihn noch mehr. Auf gar keinen Fall, sagte er. Ich fragte, was sein Anwalt ihm erzählt hatte.
»Er denkt, dass die Cops zwei gegensätzliche Theorien über den -« Sein Blick fiel auf Luke. »Über Peter Wyoming haben. Entweder soll Eifersucht das Tatmotiv gewesen sein oder ein aus dem Ruder gelaufener Waffendeal.«
Ich rückte näher an die Scheibe. »Sie glauben, du hast Waffen an die Standhaften verkauft?«
»Anscheinend ist auf dem Stützpunkt was weggekommen. Die Navy hat Probleme mit der Bestandsaufnahme, und ich gehöre zur Navy, also bin ich daran schuld. Zwei plus zwei ergibt siebzehn.«
Ich fragte mich, ob die Standhaften ihr Arsenal vielleicht mit Waffen aufstocken wollten, die sie aus China Lake gestohlen hatten. Vermutlich hielten sie die Basis für eine Art Warenhaus der Supertodeswaffen – und hätten nur zu gerne ein paar davon in die Finger gekriegt. Ich behielt den Gedanken für mich, Luke brauchte das nicht zu hören. »Was hat dein Anwalt vor?«
»Er legt sich gerade seine Strategie zurecht. Ich hab ihm gesagt, die einzige Strategie, die zählt, ist diese Dreck -, äh, den Täter zu fangen.«
»Ich arbeite dran«, versicherte ich ihm. »Kommt dir eigentlich der Name Mildred Hopp Antley irgendwie bekannt vor? Ihr gehört das Gelände, auf dem die Standhaften ihr Rückzugsgebiet eingerichtet haben, und wir sind damals in die Highschool gegangen mit -«
»Casey Hopp, oh, mein Gott.«
»Du kennst sie?«
»Das war doch eine ganz harte Nummer. Ihr hat das V für Verlierer schon auf der Stirn gestanden. Die war mal hinter mir her, erinnerst du dich?«
»Ich hab nicht mal mehr gewusst, dass Casey eine Frau ist.«
»Sie und ihre Mädchen-Gang haben immer vor unserem Haus auf der Straße geparkt und gehofft, dass ich rauskomme. Am nächsten Morgen haben wir dann immer ihre Bierdosen und Zigarettenkippen auf dem Gehsteig gefunden.«
Meine Erinnerung daran war wirklich nur sehr vage. »Das war Casey?«
»Oh ja. Hat sie etwa was mit den Standhaften zu tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Er richtete sich auf. »Aber du wirst es rausfinden, oder?«
»Das hab ich vor.«
Die Tür hinter ihm öffnete sich. Ein Wärter trat ein und erklärte, dass die Besuchszeit zu Ende sei. Brian drehte sich nicht mal um. »Okay.«
Ich verabschiedete mich und stand auf, aber Luke rührte sich nicht.
»Wann kommst du wieder nach Hause?«, fragte er.
Brian sah mich an. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Ich weiß es nicht, Kleiner, aber ich hoffe bald.«
Wenn ein Sechsjähriger so was von seinem Vater hört, ist das, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggezogen würde und er in die ewige Nacht stürzt. Die Gesprächspause dehnte sich ewig.
»Sei lieb zu deiner Tante Evan«, sagte Brian schließlich.
Luke Schultern hoben und senkten sich, und ich fürchtete schon, er würde gleich anfangen zu heulen. Aber dann riss er sich zusammen. Er stellte sich auf den Stuhl, drückte seine Hände gegen das Plexiglas und hinterließ einen Kuss auf der Scheibe.
»Ich hab dich lieb, Daddy.«
»Ich dich auch.«
Ich dachte, Brian hätte alles gesagt und nahm Luke bei der Hand. Doch als er bei der Tür war, rief mein Bruder meinen Namen. Er kämpfte mit den Tränen. Ich bat Luke zu warten und ging zur Absperrung zurück.
»Bring ihn nicht noch einmal hierher«, sagte Brian, dann drehte er sich um und ging.
 
Casey Hopp. Der Name konnte kein Zufall sein. Dafür war die Stadt zu klein, dafür schlang sich dieser Albtraum zu eng um meine Familie. Wo war Casey Hopp heute? Wer war Casey Hopp heute?
Ich fuhr zu Abbie Hankins. Die kleine Hayley saß auf einem Dreirad in der Hauseinfahrt, die blonden Haare umwehten ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Freundlich winkend stieß sie die Eingangstür auf. Abbie war in der Küche.
»Kannst du dich an das Foto von Casey Hopp in dem Jahrbuch erinnern?«, fragte ich. »Kann ich es noch mal sehen?«
Sie schob die Brille auf der Nase nach oben. »Ich hab sogar noch was Besseres für dich.«
Sie hatte das Jahrbuch eines späteren Schuljahrs gefunden. »Hier, ein Porträt von Miss Hopp als Abgängerin. Und weißt du was? Casey war gar nicht ihr richtiger Name, es war nur ein Spitzname wegen ihrer Initialen K. C.«
Ich sah ihr über die Schulter und betrachtete das Bild genau. Sie hieß Kristal mit Vornamen, und auf dem Bild wirkte sie ziemlich empört – vielleicht weil der Fotograf sie eine Kunstpelzstola tragen ließ, die so gar nicht zu ihren sonstigen »Nachsitzer-Club«-Klamotten passte. Sie hatte ausgeprägte Wangenknochen, langes gerades Haar und tiefliegende Augen unter dichten Augenbrauen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, wegen ihrer Körperhaltung und wegen dem Hass, den selbst noch dieses Foto ausstrahlte. Tatsächlich beschlich mich ein bestimmter Verdacht.
»Ich würde das gerne mal der Polizei zeigen. Vielleicht haben sie dort einen Zeichner, der ein Phantombild anfertigen kann, wie sie heute aussieht.«
»Ein Polizeizeichner? In China Lake?«
Sie hatte recht. Wahrscheinlich war die einzige Person hier in der Gegend, die so was konnte, Tabitha. Was ich brauchte, war so was wie das Computer-Imaging-Programm aus Neil Jorgensens Praxis. Doch Abbie wusste Rat. »Da hast du aber ganz schön Glück, Liebes. Wally benutzt das gleiche Programm, um Eltern zu zeigen, was ein kieferchirurgischer Eingriff bei ihren Kindern verändern würde.«
Wallys Praxis lag in einem Einkaufszentrum in Innenstadtnähe. Beim Eintreten umgab uns sofort diese furchtbare typische Zahnarztatmosphäre: Beruhigungsmusik und Menschen, die sich auf leisen Kreppsohlen bewegten. Im Behandlungszimmer hörten wir einen Bohrer surren. Eine Zahnarzthelferin, der ein grüner Mundschutz um den Hals hing, stand in der Nähe des Empfangs. Die Helferin zuckte mit keiner Wimper, als sie Abbie, mich, Luke und die drei Hankins-Kinder hereinstürmen sah. Ich fragte mich, wie oft Abbie hier wohl so hereinrauschte.
Nachdem Abbie kurz erklärt hatte, dass es sich um einen Notfall handelte, setzte sie Hayley auf dem Empfangsschalter ab und begann das Foto aus dem Jahrbuch im Computer einzuscannen. Über ihre Schulter hinweg bemerkte sie: »Übrigens, unser bissiger Freund, der mich verspeisen wollte …« Sie hob ihren Arm und zeigte, wie gut die Wunde inzwischen verheilt war. »Das war gar kein Coyote.«
»Wie bitte?«
»Es war ein Coydog, eine Kreuzung aus Coyote und Mastiff. Da hat sich wohl ein Eindringling auf vier Pfoten in den Stall von Fifi gestohlen und mit ihr einen Wurf von ganz besonderen Mischlingen gezeugt.« Sie schaute auf den Bildschirm und tippte etwas ein. »Und das Veterinäramt sagt, dass er als Haustier gehalten wurde. Seine letzte Mahlzeit war Pedigree Pal. Das Vieh hat jemandem gehört, und derjenige wird eine Menge Ärger kriegen, wenn ihm das Veterinäramt auf die Schliche kommt. Ich kann es kaum erwarten.«
Wally hatte inzwischen den Bohrer beiseitegelegt und sich uns angeschlossen. Sein Teddygesicht wirkte ungewohnt ernst. Als Abbie das Foto auf dem Bildschirm aufrief, sagte er: »Lass mich mal ran.«
Für jemand, der den ganzen Tag damit verbrachte, Leuten in den Mund zu starren, war er ziemlich geschickt darin, sich die Veränderungen vorzustellen, die die Zeit in einem Gesicht anrichten konnte. Er zog die Mundwinkel auf dem Schirm etwas nach unten, fügte den Ansatz von Hängebacken hinzu, dünnte die Augenbrauen aus und verlängerte die Nase. »Das sind keine bloßen Mutmaßungen«, sagte er. »Die Veränderungen beruhen auf der Anatomie der Person, der Knochenstruktur, dem Muskelgewebe und dem, was wir über den Alterungsprozess wissen.«
Das Bild auf dem Schirm veränderte sich. Mir lief es heiß und kalt den Rücken herunter.
»Gib ihr ein hartes Leben und etwas mehr Fett auf den Knochen.«
Die Partie um die Augen wirkte jetzt aufgedunsen, und über den Hals hing ein Doppelkinn. Schließlich fragte er: »Etwa so?«
Das Phantombild wirkte etwas künstlich, aber man konnte die Person erkennen.
»Es ist Chenille Wyoming.«
 
Chenille kannte Brian also. Sie kannte ihn seit fast zwanzig Jahren. Sie war hinter ihm her gewesen. Auf der Fahrt zur Polizeiwache konnte ich mir noch keinen Reim darauf machen. Kristal C. Hopp, K. C., Casey – ihre Entwicklung hatte vom »Nachsitzer-Club« über Drogenmissbrauch zur Prostitution geführt. Sie war schließlich in Santa Barbara gelandet, dem ewigen Ziel jener Highschool-Absolventen, die – genau wie ich – die Flucht aus China Lake angetreten hatten. Irgendwo auf ihrem Weg war sie zu Chenille Krystal geworden. Aus ihrer Heiratsannonce konnte ich mich noch an diesen pompösen Namen erinnern. Und dann war sie als Chenille Wyoming wieder aufgetaucht, als Möchtegern-Revolutionärin, die es darauf anlegte, als berühmteste Ex-Hure in die Geschichte einzugehen. Sie wollte Maria Magdalena übertrumpfen – sie wollte nicht als Sklavin bekannt werden, sondern als Domina.
Ich starrte auf die Straße. Die heiße Luft flimmerte über dem Asphalt.
Chenille Wyoming, die so gerne peitschenknallend über das Jenseits regiert hätte, hatte sich also einst auf der Straße vor unserem Haus herumgetrieben, geraucht, getrunken und nach Brian Ausschau gehalten. Allerdings umsonst, denn er hatte sie nur mit stiller Missachtung gestraft. Und dann war er dieses Jahr wieder in ihr Leben getreten, als sich Tabitha den Standhaften anschloss. Ausgerechnet Tabitha, Brians Auserwählte und der neue Liebling von Pastor Pete, Tabitha, die so großartig zeichnen konnte. Eifersucht konnte gar kein Ausdruck für das sein, was Chenille empfand.
Wie ich Jesse bereits erzählt hatte, glaubte ich, dass die Standhaften Tabitha aufgewiegelt hatten, um Lukes und Brians Leben ebenso wie das meine durcheinanderzubringen. Sollte etwa eine offene Rechnung aus längst vergangenen Highschool-Zeiten dahinterstecken? Wenn das so war, hatte Brian Chenille keinen Grund zum Nachgeben geliefert. Als er sie sah, hat er sie nicht einmal wiedererkannt. Er hat sie behandelt, als wäre sie gar nicht da.
Jetzt glaubte sie, dass er ihren Mann umgebracht hatte, und wollte Rache. Sie würde die ganze Welt dafür büßen lassen. Meine Hände am Lenkrad waren schweißnass.
Detective McCracken fand das alles nicht so aufregend wie ich. Er hielt das Phantombild zwischen seinen Zigarrenstummelfingern und pfiff beim Atmen durch die Nase. »Eine Highschool-Schwärmerei? Und weiter?«
»Und …« Was weiter? »Zumindest belegt das, dass sie Informationen vor Ihnen zurückgehalten hat und dass sie Brian kannte.«
»Sie haben wohl vergessen, wie das in so einer Kleinstadt ist? Hier kennt jeder jeden, da erwarte ich nicht, dass sie mir von jeder Affäre in der Highschool erzählt.«
»Es war keine Affäre.«
»Oh, Verzeihung, eine unerwiderte Liebe. Das macht das Ganze natürlich noch brisanter.«
Mir fiel nichts mehr ein, ich konnte nur noch das Thema wechseln. »Haben Sie schon die Tatwaffe gefunden?«
»Arbeite ich etwa für Sie?«
 
Als Luke und ich am nächsten Tag zurück nach Santa Barbara fuhren, hörten wir in den Radionachrichten, dass ein Wagen in einen Imbiss auf der State Street gekracht war – nachdem der Fahrer anscheinend eine streunende Katze verfolgt hatte. »Wir möchten Sie noch einmal daran erinnern«, sagte der Nachrichtensprecher, »dass ein Minivan nicht das probate Mittel ist, um streunende Tiere zur Strecke zu bringen. Wenn Sie einen Verdacht auf Tollwut haben, informieren Sie das Veterinäramt.«
Bei Jesse hörte ich meinen Anrufbeantworter ab – keine neuen Nachrichten. Danach versuchte ich ein weiteres Mal vergeblich die Sprechstundenhilfe von Dr. Jorgensen zu erreichen. Meine Intuition sagte mir sehr deutlich, dass die gestohlenen Medikamente etwas mit den Standhaften und Jorgensens Tod zu tun hatten, deshalb probierte ich es noch einmal bei Kevin Eichner. Ich erreichte ihn unter seiner Mobilnummer auf der Baustelle und erzählte ihm von meinem Verdacht.
Er sprach leise. »Sie konnte mich nicht dazu bringen, für sie zu stehlen, also legte sie bei Glory die Daumenschrauben an. Tja, Glorys Gabe der Unterwürfigkeit war da ja ganz schön praktisch für sie.«
Ich fragte ihn, ob sich Chenille näher geäußert hatte, welche Medikamente er für sie stehlen sollte.
»Morphin – sie sagte, wir müssten uns einen Vorrat anlegen, damit wir die Verwundeten in der Zeit der Drangsal behandeln könnten. Außerdem wollte sie etwas von allem, was der Neurologe so da hatte, falls wir einem Nervengasangriff ausgesetzt würden. Ich sag Ihnen, die hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
Wenig später fuhr ich zur zweiten Impfung zur Praxis meiner Ärztin. Als Dr. Abbott meine Armbeuge desinfizierte, nutzte ich die Gelegenheit zu einer Frage. »Welche Arten von Medikamenten würde ein Neurologe in seinem Giftschrank aufbewahren?«
Offensichtlich hatte sie eher eine Frage zum Thema Tollwut erwartet. »Warum fragen Sie?«
»Es geht um einen Fall, an dem ich arbeite.«
»Na ja, das dürften hauptsächlich krampflösende Medikamente sein, Dilantin, Tegritol … Medikamente gegen Migräne und Parkinson.«
»Und wie sieht es bei einem plastischen Chirurgen aus?«
»Anästhetika, Beruhigungsmittel – Lidocain, Vicodin …«
»Gibt es Überschneidungen mit den Behandlungsmitteln bei einem Neurologen?«
Sie dachte nach und legte ihre gefurchte Stirn noch mehr in Falten. »Vielleicht Botox.«
Als ich zu erkennen gab, dass mir das Wort nichts sagte, fuhr sie fort: »Botulinumtoxin. Neurologen verwenden es mittlerweile zur Behandlung bei zerebraler Kinderlähmung. Es hat einen paralytischen Effekt, man kann damit schwere Krampfanfälle behandeln, wenn andere Medikamente versagen.«
»Ist das etwa das Gift, das Botulismus verursacht?«
»Genau. Es ist eine außergewöhnlich gefährliche Substanz, deshalb dürfen Mediziner es nur in minimalsten Dosen intramuskulär verabreichen.«
»Und warum findet sich das dann übehaupt bei Schönheitschirurgen?«
»Sagen Sie bloß, Sie haben noch nie was davon gehört? Das ist doch der letzte Schrei, es reduziert die Stirnfaltenbildung.«
»Sie machen Witze, oder?«
»Man injiziert es unter die Haut an der Stirn, und dort legt es die Muskeln lahm, sodass der Patient nicht mehr die Stirn runzeln kann. Das lässt die Haut glatter werden und verleiht ihr ein jüngeres Aussehen.«
Ich fuhr zurück zu Jesse. Jetzt gehörte also eine Gesichtslähmung zum Schönheitsideal – der neue Totenmasken-Look. Ich konnte es kaum fassen. Gar nicht auszudenken, wie Jesse auf die Vorstellung reagieren würde, dass eine Lähmung einem gut zu Gesicht stand.
Kurz darauf rief er mich an. Wir verabredeten uns für später, wenn er mit der Arbeit fertig war. Ich erzählte ihm nichts von dem Botox. Die Sache kam mir einfach zu obszön vor.
Doch langsam hatte ich das Gefühl, dass ich einer Lösung auf der Spur war, und versuchte es noch einmal bei Jorgensens Sprechstundenhilfe. Dieses Mal erreichte ich sie.
»Bei dem Überfall wurden in erster Linie Schmerzmittel entwendet«, sagte sie.
»Und was ist mit Botox?«
»Hm, ist ja seltsam, dass Sie danach fragen.«
»Wieso?«
»Weil wir nur darauf gewartet haben, eine Woche später irgendwas über tote Drogensüchtige in der Zeitung zu lesen. Jeder, der sich das Zeug spritzt, fällt innerhalb von ein paar Tagen tot um. Und wissen Sie was? Das wäre eine gerechte Strafe gewesen. Aber anscheinend ist nichts passiert – vielleicht konnten die Räuber doch noch die Beschriftung auf den Ampullen entziffern.«
Oder vielleicht hoben sie sich das Gift für eine besondere Gelegenheit auf.
Beunruhigt stürzte ich mich in meinen Angstmacher Nummer eins, das Internet. Die Suche nach Botox rief Hunderte von Webseiten auf, von denen neunzig Prozent Schönheitschirurgen gehörten, die kaum mit der großartigen Nachricht hinter dem Berg halten konnten. »Dramatische Verbesserungen! Nur eine einzige Injektion kann Muskeln für bis zu sechs Monaten stilllegen.« Weiter unten auf der Liste wurden die Nachrichten schlechter.
Botulinumtoxin als potenzieller biologischer Kampfstoff.
Hier hatten wir es nicht mit den Schönheitstipps von Dr. Rex zu tun, die Seite gehörte dem Verteidigungsministerium. Ich musste nicht lange lesen, bevor mir die Spucke wegblieb: Neben Anthrax stand Botox ganz oben auf der Wunschliste jedes Bioterroristen. Es ist so gefährlich, dass das Einatmen weniger Nanogramm des Stoffes den Betroffenen sofort tötet. Und betroffen konnte jeder sein – Flugzeugpassagiere, die UN-Generalversammlung oder die eigene Großmutter.
An diesem Punkt beschloss ich einen Waffenexperten anzurufen, den ich kannte, einen Absolventen der Marinehochschule: meinen Vater. Er war gerade in seinem Hotelbett in Singapur aufgewacht.
»Bioterrorismus? Das ist die Atombombe des kleinen Mannes«, sagte er. »Es gefällt mir nicht, wenn meine Tochter mir Fragen dazu stellt. Was ist denn passiert?«
Ich gab ihm einen kurzen Abriss dessen, was ich gerade erfahren hatte.
»Biowaffen sind Massenvernichtungsmittel, die leicht zu bekommen sind«, erklärte er. »Man benötigt dazu keine Isotopentrennanlagen und keine Kernforscher, nicht mal stinknormales altmodisches Schießpulver oder Kanonen. Die Krankheitserreger finden sich in der Natur oder man kann sie bei Arzneimittelversendern bestellen. Ein Terrorist mit einem Highschool-Abschluss und etwas Erfindergeist könnte genügend Seuchenerreger züchten, um damit Zehntausende Menschen zu töten. Oder der Täter könnte es sich leicht machen und das vorbereitete Toxin stehlen.«
Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Das Toxin stehlen? Chenille Wyoming, bitte vortreten.
»Sag mir, warum du das wissen willst, Kit.«
Kevin Eichner sollte für Chenille nicht deshalb die Medikamente stehlen, damit die Opfer der biologischen Kriegsführung damit behandelt werden konnten. Ganz im Gegenteil. Sie selbst wollte den Untergang auslösen, indem sie die Reiter der Apokalypse auf die Welt losließ.
Mit dem Telefon in der Hand ging ich hinaus auf die Terrasse. Ich versuchte die Fassung zu bewahren. »Das hört sich jetzt verrückt an.«
»Glaubst du, die Leute, mit denen Tabitha zu tun hat, versuchen sich biologische Kriegswaffen zu beschaffen?«
Das Meer war von einem glasklaren Blau, und ein scharfer Salzgeruch lag in der Luft. Draußen, jenseits der Brandung glitt ein Pelikan über die Wasseroberfläche. Die Standhaften hatten keine Augen für diese Schönheit. Sie sahen eine völlig andere Welt vor sich: eine Welt, die sich vor dem Licht verbarg, ähnlich dem, was die Wissenschaftler dunkle Materie nannten – ein Universum, in dem unsichtbare Kräfte aufeinanderstießen, Leben schufen und zerstörten und unser Schicksal kontrollierten. Und Chenille wollte die Auslöserin des Sturms sein, sie wollte diejenige sein, die die Kontrolle hatte: die Hohepriesterin der Zeit nach dem großen Krieg.
»Ja, das glaube ich.«
Eine lange transpazifische Stille hielt Einzug. Dann begann er wieder zu sprechen. »Die Aum-Sekte hat in der U-Bahn von Tokio das Nervengift Sarin freigesetzt. Und die Rajneeshi haben in Oregon Salmonellen über Salatbuffets gesprüht und damit über 750 Menschen ins Krankenhaus gebracht. Was du denkst, hört sich überhaupt nicht verrückt an, Evan.«
»Danke, Dad.«
»Gibt es bei der Polizei jemandem, dem du vertraust und dem du das erzählen kannst?«
»Nein. Nicht bei so wenigen Beweisen. Sie würden es als Spekulation abtun.«
»Hör zu«, sagte er. »Vom Standpunkt des Täters aus gesehen hat die chemische und biologische Kriegsführung verschiedene Vorteile. Einer davon ist die leichte Verbreitung: Ein paar verseuchte Bomben hier und da oder nachts ein Getreidefeld einsprühen – es gibt unzählige simple Methoden, die Bevölkerung auszulöschen. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit zur Flucht. Es dauert oft Tage, Wochen oder gar Monate, bis Keime die Krankheit übertragen haben. Die Wirkung eines biologischen Angriffs ist nicht so unmittelbar wie die einer Gewehrkugel. Ein Terrorist kann sich deshalb schon längst in Sicherheit gebracht haben, bevor sich die Folgen seiner Tat zeigen. Die Opfer eines Biowaffenangriffs wissen oft nicht, dass sie betroffen sind. Was dieses Szenario zum Albtraum macht, ist auch der Umstand, dass es so lange dauert, bis man herausfindet, ob man Ziel eines Angriffs geworden ist oder nur Opfer einer natürlichen Epidemie.«
Jetzt spürte ich wieder dieses Kitzeln ganz tief unten in meinem Hirn, das sich in den letzten Tagen immer wieder einmal gemeldet hatte.
»Die Sache ist die«, fügte er hinzu, »du hast gesagt, dass diese Kirche irgendeinen Angriff für die Zeit um Halloween plant. Das ist in einer Woche. Wenn sie biologische Kampfstoffe freisetzen wollen, könnten sie schon vorher damit anfangen. Vielleicht haben sie es sogar bereits getan.«
Und dann traf es mich wie ein Schlag in die Nieren. Ich hatte es die ganze Zeit direkt vor der Nase gehabt. Inkubationszeiten, Krankheitsraten, Ausbrüche und Epidemien.
Ich sprach es aus: »Tollwut.«