21. Kapitel
Detective Chris Ramseur betrat mein Haus durch die Schwingtür und setzte sich neben mich auf das Sofa in meinem Wohnzimmer. Sein Englischlehrergesicht wirkte ausgezehrt, er war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Nikki Vincent lief mit über ihrem enormen Bauch verschränkten Händen vor dem Kamin auf und ab. Die FBI-Beamten hatten sich nach draußen zurückgezogen, um zu beratschlagen. Zwei Männer in dunklen Anzügen, die mit ernsten Gesichtern auf dem Rasen standen, einer sprach in sein Handy. Vor Jesses Haus hatte sich die Presse an der Polizeiabsperrung versammelt. Sicherlich fotografierten sie gerade die demolierte Tür.
»In den letzten Stunden haben wir eine Menge Informationen sammeln können«, sagte Ramseur mit Blick auf sein kleines Notizbuch. »Das Jagdgewehr, das Paxton bei sich hatte, hatte Ladehemmung, weil Sand in die Abzugsmechanik geraten war. Diese Leute sind ziemlich schlampig.«
Ich erzählte, dass ich gesehen hatte, wie Smollek in Angel’s Landing ein Gewehr in den Sand fallen gelassen hatte.
Er nickte. »Wir haben noch mehr rausgefunden. Bei Smolleks Pistole handelt es sich um eine Armeewaffe. Wir haben die Seriennummer überprüft, die Pistole wurde in China Lake gestohlen.«
Ich starrte ihn an. »Ist das die Waffe, mit der Peter Wyoming erschossen wurde?«
»Nein, aber sie liefert uns trotzdem wertvolles Beweismaterial. Wir haben Fingerabdrücke davon nehmen können, die mit denen auf der Fettabsaugkanüle übereinstimmen, mit der Mel Kalajian getötet wurde.«
Nikki blieb stehen. »Meine Güte, Ev, Smollek hätte dich umgebracht. Du kannst Gott für das Frettchen danken und eine Kerze für den kleinen Racker anzünden.«
»Es ist ziemlich beeindruckend, wie Sie Ihre Angreifer entwaffnet haben«, sagte Ramseur.
Ich gab keine Antwort.
Er blätterte in seinem Notizbuch. »Vor ein paar Stunden haben wir Smolleks Bruchbude in Winchester Canyon durchsucht.« Er fuhr sich mit der Hand durch den Bart, zum Rasieren hatte er noch keine Zeit gehabt. »Er hält sich einen kleinen Zoo, lauter stinkende Käfige hinter seinem Haus. Wir haben kranke Fledermäuse gefunden und einen Käfig voll toter Kaninchen. Und ein paar Hunde, die eingeschläfert werden mussten.« Sein Blick bekam einen seltsamen Ausdruck. »Riesenviecher, wie ich sie noch nie gesehen habe.«
»Coydogs«, warf ich ein, »eine Kreuzung aus Mastiff und Coyote.«
Wieder nickte er bedächtig. Er machte fast eine Zeremonie daraus, dass er nun alles, was ich angedeutet hatte, bestätigte, aber seine Reue kam zu spät und war damit überflüssig.
Smollek war verschwunden, und mit ihm Paxton, Tabitha und Luke. Und was noch schlimmer war: Die Standhaften hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst. Ihre Kirche war verlassen, ihre Wohnungen standen leer, Angel’s Landing war wie ausgestorben. Die einzige Person, die die Polizei finden konnte, war Mildred Hopp Antley, die Eignerin des Geländes. Sie war Chenille Wyomings Mutter und lag mit Alzheimer in einem Pflegeheim. Ich starrte in meinen kalten Kamin. Mir kam es vor, als hätte sich ein schwarzes Loch vor mir aufgetan, in das ich hineinstürzte.
»Und noch was«, fuhr Ramseur fort. »Das Gesundheitsamt kann Peter Wyomings Leiche nicht finden.«
»Was?«
»Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass der Leichnam irgendwo eingelagert ist.«
Nikki und ich glotzten ihn mit offenen Mündern an.
»Ms. Delaney.«
Die FBI-Beamten waren wieder hereingekommen. Der ältere der beiden sprach mich an, ein Mann mit dünnem Haar und Knopfaugen namens DeKalb.
»Sie sagten, dass ihre Schwägerin letzte Nacht Paxton durch die Tür gefolgt ist. Ihrer Angabe nach war er zu diesem Zeitpunkt nicht bewaffnet. Sie hätte also auch zurückbleiben können.« Er legte seinen Kopf schief. »Sind Sie sich absolut sicher, dass sie unter Zwang handelte?«
»Sie ging mit ihm, um Luke zu beschützen.«
DeKalb warf seinem Partner einen kurzen Blick zu.
»Es geht hier nicht um Familienstreitigkeiten«, sagte ich. »Tabitha hat das keinesfalls geplant.«
»Warum sollten die Standhaften den Jungen sonst mitnehmen?«
»Ich weiß es nicht. Tabitha sagte, dass Chenille Wyoming …« Ich bekam eine Gänsehaut. »Sie sagte, Chenille Wyoming sei so fasziniert von Luke gewesen, dass es schon unheimlich war.«
DeKalb blieb ungerührt. Ich ballte meine Fäuste und presste sie gegen die Augen, um nicht loszuheulen. Nikki setzte sich und legte einen Arm um mich.
»Vielleicht hat es was mit Halloween zu tun«, sagte sie.
»Wieso das denn?«, fragte DeKalb.
»Ms. Delaney hat erfahren, dass die Standhaften zu diesem Zeitpunkt irgendeinen Angriff planen«, warf Ramseur ein.
DeKalb verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Sie wissen ja eine ganze Menge über die Aktivitäten dieser Gruppe.« Sein Ton verhieß nichts Gutes. »Tatsächlich ist es ja so, dass es innerhalb Ihrer Familie einige Querverbindungen zu den Standhaften gibt und dass Ihre Familie in verschiedene gewalttätige Handlungen bis zum Mord verstrickt ist. Möchten Sie uns nicht endlich erzählen, um was es hier wirklich geht?«
Ich stand auf. »Um was es hier wirklich geht? Die Standhaften sind gefährlich, darum geht es! Und wenn Sie mich nicht andauernd ausgelacht, sondern mir nur einmal zugehört hätten, als ich die Behörden warnen wollte, dann wäre Luke jetzt hier bei uns in Sicherheit!«
Seine Knopfaugen blinzelten nicht einmal. »Das FBI hat sich jetzt des Falls angenommen. Ihre Chancen, Luke wieder gesund zurückzubekommen stehen am besten, wenn Sie die Angelegenheit uns überlassen.«
Ramseur nickte ernst. »Wir werden ihn finden, Ms. Delaney.«
»Das werden Sie allerdings, verdammt noch mal«, fuhr Nikki dazwischen.
»Und Sie beeilen sich besser ein bisschen«, knurrte ich. »Halloween ist schon in fünf Tagen.«
DeKalb knöpfte sich sein Jackett zu, als ob er aufbrechen wollte. »Da wäre noch eine Sache.«
Sein Kollege warf mir einen bedeutsamen Blick zu. »Es geht um Ihren Anwalt.«
Jesse war in der Nacht zuvor nicht nach Hause gekommen. Weder hatte er Überstunden in der Kanzlei gemacht noch Freunde nach der Arbeit besucht. Seine Familie hatte nichts von ihm gehört und er ging auch nicht an sein Handy.
»Der Anruf, den ich vorhin reinbekam, war von der Highway Patrol. Sie haben das Wrack von Mr. Blackburns Wagen in einer Schlucht zwei Meilen von seinem Haus entfernt gefunden.«
Schlagartig verengte sich mein Sichtfeld, und summende Lichter begannen vor DeKalbs Gesicht zu tanzen. »Ist Jesse in Ordnung?«
»Es gab keine Spuren von ihm an der Unfallstelle.«
»Aber er kann nicht einfach so davonspaziert sein, er sitzt im Rollstuhl -«
»Der lag auf dem Rücksitz«, ergänzte sein Partner.
»Es gibt Anzeichen dafür, dass der Wagen an einem Zusammenstoß beteiligt war und dass er von der Straße gedrängt wurde«, sagte DeKalb.
Ich spürte, wie Nikkis Hand sich erneut um meinen Arm schloss. »Die Standhaften haben ihn entführt.«
»Davon müssen wir ausgehen.«
Ich hörte kaum das Klopfen an der Tür, spürte nur, wie die Beamten hochschreckten. Es war ein Bote. DeKalb ging zur Tür und nahm ihm einen großen Umschlag ab. DeKalb untersuchte ihn, hielt ihn hoch und fragte, ob mir der Absender bekannt sei. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Der Umschlag kam von Jesses Rechtsanwaltskanzlei. Alle postierten sich um mich herum und warteten darauf, dass ich den Umschlag öffnete. Sie wollten sehen, ob es sich um einen Erpresserbrief handelte.
Ich zog einen Stapel Gerichtsunterlagen heraus und überflog sie kurz, dann drückte ich die Augen zu, schüttelte den Kopf und ließ die Papiere zu Boden fallen.
»Es ist die einstweilige Verfügung. Sie wurde heute Morgen ausgestellt.«
 
Der Wärter öffnete die Tür und brachte Brian in den Besuchsraum des Gefängnisses. Als er mich sah, leuchteten seine Augen kurz auf, aber gleich darauf erkannte er, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Mir war schon wieder schlecht.
Ich hatte einen ganzen Tag warten müssen, bis ich nach China Lake fahren konnte. Es war später Nachmittag geworden, bis das FBI mit mir durch war – zu spät, um Brian noch zu besuchen. Seinem Anwalt hatte ich zwar telefonisch die Neuigkeiten von der Entführung mitgeteilt, aber darauf bestanden, dass Brian es von mir erfahren sollte. Auf dem Weg zum Besuchsraum hatte ich mich in der Toilette übergeben.
Er nahm hinter der Trennscheibe Platz. Die Anspannung war seinem Gesicht abzulesen. »Luke …«
»Sie haben ihn.«
Brian wurde kreidebleich. Mit einem Blick auf die blauen Flecken an meinen Armen und meinem Hals sagte er: »Raus damit.«
Ich gab mir Mühe, meiner Stimme nichts anmerken zu lassen, scheiterte jedoch kläglich. »Sie sind in Jesses Haus eingebrochen.«
»Jesse hat geschworen, dass sie nicht rausbekommen, wo er wohnt.«
»Das haben sie auch nicht.«
»Das haben sie verdammt noch mal doch.«
»Brian -«
»Was hat er gemacht? Ihnen extra noch eine Karte gezeichnet, oder was?« Seine Finger krallten sich in die Tischauflage.
»Nein. Jesse wird vermisst. Die Polizei glaubt, dass die Standhaften ihn von der Straße gedrängt haben. Dann haben sie seine Brieftasche gefunden, in seinem Führerschein steht seine Adresse und -« Meine Stimme versagte. Ich schaffte es nicht, ihm den Rest zu erzählen: von den Blutspuren im Wagen, weswegen man davon ausging, dass Jesse nicht mehr lebte.
Er schaute mich an, seine Kiefermuskeln mahlten. »Weiter.«
Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen und atmete tief durch. »Du willst mich also anschreien? Gut, dann mach schon. Ich liebe dich, Brian, und für Luke würde ich sterben. Also bring’s hinter dich, dann kann ich mich auf die Suche nach Luke machen.«
Seine Halsschlagader pulsierte. »Erzähl mir einfach, was passiert ist.«
»Tabitha hat die Kirche verlassen. Sie hat bei mir Hilfe gesucht.« Ich schilderte ihm ihre Geschichte, dass ich an ihre Unschuld glaubte und wie die Standhaften das Haus angegriffen hatten. Und dass uns fast die Flucht gelungen wäre. Meine Stimme ließ mich wieder im Stich. »Tabitha hat etwas sehr Mutiges getan, Brian. Sie ist mit ihnen gegangen, obwohl sie das nicht gemusst hätte.«
»Sie wollte Luke beschützen?«
»Ja.«
Er betrachtete den ausgefransten Ärmel seines Gefängnisoveralls. Seine Hand, die er immer noch fest gegen die Tischauflage gepresst hatte, begann zu zucken. »Vielleicht findet sie eine Möglichkeit, mit ihm zu flüchten.«
»Vielleicht.«
Die Stille, die sich danach über uns legte, war wie ein Kommentar zur Erfolgschance dieser Variante.
Ich erzählte ihm vom FBI und dass die Behörden im gesamten Bundesstaat nach den Standhaften fahndeten. »Und was wirst du tun?«, fragte er.
»Ich fahre noch mal raus nach Angel’s Landing. Die Polizei behauptet zwar, dass Gelände sei aufgegeben worden, aber vielleicht finde ich irgendwas, das sie übersehen haben.«
»Geh bloß nicht alleine. Nimm Marc Dupree mit.«
Hinter ihm öffnete sich die Tür. Ein Wärter trat ein und bedeutete Brian, dass die Besuchszeit abgelaufen war.
Brian ballte seine zuckende Hand zur Faust. Er stand auf, aber er wandte sich nicht ab. Langsam beugte er sich ganz nah an die Plexiglasscheibe, damit ich sein Flüstern hören konnte.
»Du hättest die Pistole nehmen sollen, als ich sie dir geben wollte.«
 
So schnell es ging, ließ ich mit dem Explorer das Gefängnis hinter mir. Die Straße erstreckte sich pfeilgerade vor mir in der Hitze. Ich fühlte mich wie gerädert und versuchte, das überwältigende Gefühl der Mitschuld zu verdrängen, dass ich Luke nicht hatte beschützen können. Aber die Verzweiflung holte mich immer wieder ein. Wo war er? Wie ging es ihm wohl gerade? Bestimmt fühlte er sich schrecklich verlassen und hatte furchtbare Angst.
Und Jesse. Ich stellte mir seine blauen Augen vor, sein verführerisches Grinsen, und wie er mich in die Arme nahm. Jesus. Gott. Barmherziger. Immanenz. Ältester an Tagen. Stille sanfte Stimme im Wind. Bitte pass auf ihn auf. Mea culpa, mea maxima culpa, vergib mir die letzten Worte, die ich zu ihm gesagt habe, und lass ihn noch am Leben sein.
Erst bei einem Blick auf den Tacho fiel mir auf, dass ich mit hundertzehn durch das Stadtgebiet raste. Ich fuhr rechts ran, hielt an und ließ meine Hände vom Lenkrad sinken. Nach einer Minute stellte ich den Motor ab. Der Wind schaukelte den Explorer sanft hin und her und wirbelte Sand auf, der die Berge in der Entfernung schimmern ließ wie Sanddünen in der Sahara. Über mir donnerte eine F/A-18 am Himmel entlang. Ich holte mein Handy heraus und rief bei Marc Dupree an, doch er war nicht zu Hause. Seine Frau sagte, er sei noch auf der Basis, wäre aber bis zum Abendessen zurück.
So lange konnte ich nicht warten, ich musste mich in Angel’s Landing umsehen. Trotzdem hatte Brian recht: Ich sollte nicht allein gehen. Die Erinnerung an Paxton und sein Jagdgewehr lag mir noch schwer im Magen. Ich öffnete das Handschuhfach und suchte darin nach dem Papierfetzen, den mir Garrett Holt, U.S. Navy, stets zu Ihren Diensten, gegeben hatte. Seine Telefonnummer stand darauf.
Wenn er allerdings dachte, dass es sich um unser erstes Date handelte, würde er eine ziemlich unangenehme Überraschung erleben.
 
Ungefähr eine halbe Stunde später überraschte der Gefängniswärter Brian damit, dass er seine Zelle aufsperrte. »Besuch für Sie, Delaney.« Brian fragte sich, warum seine Schwester so schnell wieder zurückgekommen war.
Aber es war jemand anders. Brian betrat den Besuchsraum und erkannte zwei Menschen hinter der Trennscheibe, eine Frau und einen Mann. Er zögerte. Der Wärter sah ihn fragend an.
Auf der Besucherseite saß Tabitha mit weißen zusammengekniffenen Lippen. Neben ihr, das Gesicht von einer Schirmmütze mit der Aufschrift Ed’s Futter & Munition überschattet, saß Ice Paxton.
Er tippte sich an die Mütze. »N’Abend, Commander.«