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So kam es, dass am 5. Januar 1950 mein erster Beitrag auf der Meinungsseite von El Heraldo in Barranquilla veröffentlicht wurde. Ich wollte ihn nicht mit meinem Namen unterzeichnen für den Fall, dass ich nicht die richtige Gangart finden würde, wie es mir bei El Universal passiert war. Über das Pseudonym habe ich nicht lange nachgedacht: »Septimus« nach Septimus Warren Smith, dem Wahnsinnigen aus Mrs. Dalloway. Der Titel der Kolumne - »La Jirafa« - war der heimliche Spitzname, unter dem nur ich meine einzige feste Tanzpartnerin auf den Bällen in Sucre kannte.

Mir schien es, als ob die Januarbrisen in jenem Jahr sehr viel stärker als sonst wehten, denn bis in die Morgenstunden strafte der Wind die Straßen, und man kam kaum vorwärts. Gesprächsthema beim Aufstehen waren die Schäden, die über Nacht von den verrückten Winden angerichtet wurden, wenn sie Träume und Hühnerställe mit sich rissen und die Zinkbleche der Dächer in fliegende Guillotinen verwandelten.

Heute denke ich, dass diese verrückten Brisen die Stoppeln einer unfruchtbaren Vergangenheit hinwegfegten und mir die Türen in ein neues Leben aufstießen. Mein Verhältnis zu der Gruppe war nun nicht mehr allein von gemeinsamen Vergnügungen bestimmt und wurde zu einer Arbeitsbeziehung zwischen Komplizen. Zunächst besprachen wir die geplanten Themen oder übten Textkritik, die keineswegs pedantisch war, aber nicht übergangen werden durfte. Ein für mich entscheidendes Urteil traf mich, als ich eines Vormittags ins Café Japy kam, wo Germán gerade einen Zeitungsausschnitt mit der »Jirafa« des Tages las. Die anderen aus der Gruppe warteten auf sein Verdikt, saßen um den Tisch, gewissermaßen mit ehrfürchtig angehaltenem Atem, was den Rauch im Raum noch dichter erscheinen ließ. Als er fertig gelesen hatte, zerriss Germán wortlos und ohne mich anzusehen den Zeitungsausschnitt und mengte die Schnipsel zwischen die Kippen und die abgebrannten Streichhölzer im Aschenbecher. Keiner sagte etwas, die Stimmung am Tisch änderte sich nicht, und der Vorfall wurde auch später nicht weiter kommentiert. Doch die Lektion wirkt noch immer, wenn ich aus Trägheit oder aus Eile versucht bin, einen Absatz einfach nur hinzuhauen, um fertig zu werden.

In dem Stundenhotel, wo ich fast ein Jahr lang wohnte, behandelten mich die Eigentümer schließlich wie ein Familienmitglied. Mein einziger Besitz waren zu jener Zeit meine historischen Sandalen, zwei Garnituren Wäsche, die ich unter der Dusche wusch, und die Ledermappe, die ich während der Tumulte des 9. April im vornehmsten Teesalon von Bogotá geklaut hatte. Ich schleppte darin dauernd die Manuskripte, an denen ich gerade schrieb, mit mir herum, denn sie waren das Einzige, was ich zu verlieren hatte. Ich hätte nicht einmal gewagt, sie in einem siebenfach verschlossenen Banktresor zurückzulassen. Der einzige Mensch, dem ich sie in meinen ersten Nächten im Haus anvertraute, war der verschwiegene Portier Lácides, der sie als Garantie für die Bezahlung des Zimmers annahm. Er sah die getippten und mit Korrekturen wirr bekritzelten Papierstreifen genau durch und verwahrte sie in der Schublade der Theke. Am nächsten Tag löste ich sie zur versprochenen Uhrzeit aus und war weiterhin so gewissenhaft mit meinen Zahlungen, dass Lácides die Mappe dann für bis zu drei Nächte als Pfand akzeptierte. Das wurde zu einer so festen Abmachung, dass ich ihm manchmal nur die Mappe auf die Theke legte, ihm eine Gute Nacht wünschte und mir den Schlüssel selbst vom Brett nahm, um zu meinem Zimmer hochzugehen.

Germán passte immer auf, ob es mir an etwas mangelte, wusste sogar, wenn ich keinen Schlafplatz hatte, und steckte mir heimlich die anderthalb Pesos zu. Dank meiner guten Führung genoss ich bald das Vertrauen des Hotelpersonals, und schließlich liehen mir sogar die Hürchen ihre Seife zum Duschen. Auf der Kommandobrücke herrschte mit himmlischen Brüsten und einem Kürbisschädel Catilina die Große, Inhaberin und Herrin über das Leben. Ihr fest angestellter Beschäler, der Mulatte Jonás San Vicente, war ein Klassetrompeter gewesen, bis man ihm bei einem Überfall die Zähne ausschlug, um die Goldkronen zu rauben. Übel zugerichtet und ohne Mundstück zum Trompeten musste er den Beruf wechseln und hätte für seine Sechs-Zoll-Stange nichts Besseres finden können als das goldene Bett von Catilina der Großen. Auch sie hatte einen intimen Schatz, der ihr dazu verhelfen hatte, innerhalb von zwei Jahren von den elenden Frühschichten am Kai der Flussschiffe zu ihrem Thron einer Oberpriesterin aufzusteigen. Ich hatte das Glück zu erleben, mit welchem Einfallsreichtum und welch freigebiger Hand die beiden ihre Freunde glücklich machten. Sie begriffen jedoch nie, weshalb ich so oft nicht die anderthalb Pesos zum Schlafen zusammenbrachte, obwohl mich doch gewichtige Leute in Staatskarossen abholen kamen.

Ein weiterer glücklicher Schritt vorwärts war, dass ich es in jenen Tagen zum einzigen Kopiloten von Mono Guerra brachte, einem Taxifahrer, der so blond war, dass er wie ein Albino aussah, und so intelligent und sympathisch, dass man ihn ohne Wahlkampagne zum Ehrenstadtrat ernannt hatte. Seine Nächte im Barrio Chino waren oft filmreif, weil er sie mit frechen Einfallen bereicherte und zuweilen den Wahnsinn auf die Spitze trieb. Er sagte mir Bescheid, wenn er eine ruhige Nacht hatte, und die verbrachten wir dann zusammen im leichtlebigen Barrio Chino, wo unsere Väter und die Väter ihrer Väter gelernt hatten, uns zu machen.

Ich habe nie herausbekommen, warum ich bei einem so einfachen Leben plötzlich und unvorhersehbar in Unlust versank. Der Roman, an dem ich arbeitete - La casa -, erschien mir, sechs Monate nachdem ich ihn zu schreiben begonnen hatte, als geistlose Farce. Ich sprach mehr über das Buch, als dass ich daran schrieb, und das wenige Zusammenhängende,das ich vorzuweisen hatte, waren die Fragmente, die ich früher oder später in »La Jirafa« und in Cronica veröffentlichte, wenn mir kein anderes Thema einfiel. An den einsamen Wochenenden, wenn die anderen sich zu ihren Familien zurückzogen, blieb ich einsam und allein in der leeren Stadt zurück. Ich war absolut arm und scheu wie eine Wachtel, was ich durch einen schwer erträglichen Hochmut und brutale Offenheit wettzumachen suchte. Ich fühlte mich überall als fünftes Rad am Wagen, und einige Bekannte ließen mich so etwas auch spüren. Besonders kritisch war das in der Redaktion von El Heraldo, wo ich bis zu zehn Stunden hintereinander schrieb, eingenebelt von den billigen Zigaretten, die ich in ungelinderter Einsamkeit pausenlos rauchte. Gehetzt schrieb ich oft bis zum Morgengrauen die Druckpapierstreifen voll, die ich stets in meiner Ledermappe mit mir herumtrug.

In einem der vielen unachtsamen Momente jener Tage vergaß ich sie in einem Taxi und buchte das ohne Bitterkeit als eine weitere Gemeinheit des Schicksals ab. Ich unternahm nichts, um die Mappe zurückzubekommen, doch Alfonso Fuenmayor, den meine Lässigkeit beunruhigte, schrieb eine Notiz, die er unter meiner Kolumne drucken ließ: »Am letzten Samstag ist eine Aktenmappe in einem Taxi vergessen worden. Angesichts der Tatsache, dass der Eigentümer dieser Mappe und der Autor dieser Kolumne ein und dieselbe Person sind, wären beide sehr dankbar, wenn der Finder sich mit einem von ihnen in Verbindung setzen würde. Die Mappe enthält keine Wertgegenstände, nur unveröffentlichte >Jirafas<.« Zwei Tage später gab jemand meine Kladden beim Portier von El Heraldo ab, ohne die Mappe, dafür aber mit drei sorgfältig in grüner Tinte ausgeführten Rechtschreibkorrekturen.

Der tägliche Lohn reichte gerade nur, um das Zimmer zu bezahlen, doch in jenen Tagen machte mir dieser Abgrund von Armut noch am wenigsten Sorgen. Wenn ich, wie so oft, kein Geld für das Zimmer hatte, ging ich ins Café Roma zum Lesen und wirkte wie ein einsamer Herumtreiber in der Nacht des Paseo Bolívar, was ich ja auch war. Sah ich irgendeinen Bekannten, grüßte ich ihn von fern, wenn ich ihn denn überhaupt eines Blicks würdigte, und ging weiter bis zu meinem Stammplatz, wo ich oft so lange las, bis mich die Sonne verscheuchte. Denn ich war immer noch ein unersättlicher Leser ohne jede systematische Bildung. Vor allem las ich Lyrik, auch schlechte Lyrik, da ich sogar in der schlimmsten Verfassung davon überzeugt war, dass schlechte Poesie früher oder später zu guter führt.

Meine »Jirafa«-Kolumnen verrieten ein Gespür für die Volkskultur, ganz im Gegensatz zu meinen Erzählungen, die wie kafkaeske Rätsel wirkten, geschrieben von einem, der nicht wusste, in welchem Land er lebte. Die Wahrheit war jedoch, dass das Drama Kolumbiens nur wie ein fernes Echo mein Herz erreichte und mich nur bewegte, wenn es sich in Strömen von Blut offenbarte. Ich zündete eine Zigarette an der anderen an und sog den Rauch so lebensgierig ein wie ein Asthmatiker die Luft. Die drei Päckchen, die ich täglich rauchte, waren meinen Nägeln anzusehen, und ich hustete in meinen jungen Jahren qualvoll wie ein alter Köter. Kurz, ich war schüchtern und traurig wie jeder gute Karibe und wachte so eifersüchtig über mein Innenleben, dass ich jeder Frage dazu eine rhetorische Abfuhr erteilte. Ich war davon überzeugt, dass mein Pech angeboren und unheilbar war, besonders was Frauen und Geld betraf, aber das war mir egal, da ich glaubte, Glück sei nicht nötig, um gut zu schreiben. Ich dachte nicht an Ruhm, noch an Geld oder an das Alter, weil ich sicher war, jung und auf der Straße zu sterben.

Die Reise mit meiner Mutter nach Aracataca rettete mich vor diesem Abgrund, und die Gewissheit des neuen Romans wies mir am Horizont eine andere Zukunft. Unter den vielen Reisen meines Lebens war diese eine die entscheidende, da ich dabei am eigenen Leibe erfuhr, dass das Buch, das ich zu schreiben versuchte, nur eine rhetorische Erfindung war, die sich auf keine dichterische Wahrheit stützen konnte. Als das Romanprojekt bei dieser lehrreichen Reise auf die Realität stieß, zerbrach es natürlich in tausend Stücke.

Als Modell für eine Saga, wie ich sie erträumte, konnte nur meine eigene Familie dienen, in der es keine Helden, ja nicht einmal Opfer gab, sondern in der alle immer nur nutzlose Zeugen und Leidtragende der Ereignisse waren. Noch in der Stunde meiner Rückkehr begann ich mit dem neuen Roman, ich wusste, es war sinnlos, bei der Darstellung mit artifiziellen Mitteln zu arbeiten, entscheidend war die emotionale Fracht, die ich, ohne es zu wissen, mit mir herumgeschleppt hatte und die im Haus der Großeltern unversehrt zum Vorschein kam. Mit dem ersten Schritt, den ich in den glühenden Sand des Dorfes tat, wurde mir klar, dass meine bisherige Methode keineswegs glücklich war, um von diesem irdischen Paradies der Verlassenheit und der Nostalgie zu erzählen, es kostete mich dann allerdings noch viel Mühe und Zeit, den richtigen Weg zu finden. Die Arbeitsbelastung durch Crónica, die vor dem Erscheinen stand, war kein Hindernis, sondern ganz im Gegenteil: Sie nahm meine Unruhe an die Kandare.

Außer Alfonso Fuenmayor - der mich wenige Stunden nach Schreibbeginn im schöpferischen Fieber überrascht hatte - glaubten alle anderen Freunde noch lange, dass ich weiter an La casa schrieb. Ich wollte das so, weil ich eine kindische Angst davor hatte, dass das Scheitern eines Projekts, von dem ich ständig wie von einem Meisterwerk gesprochen hatte, offensichtlich würde. Aber ich entschied mich dazu auch wegen des Aberglaubens, dem ich immer noch anhänge, dass es gut ist, eine Geschichte zu erzählen und an einer völlig anderen zu schreiben, damit man nicht weiß, welche welche ist. Vor allem bei Zeitungsinterviews, ein schillerndes Genre und gefährlich für schüchterne Schriftsteller, die nicht mehr sagen wollen, als notwendig ist. Germán Vargas muss jedoch mit seinem geheimnisvollen Scharfblick dahintergekommen sein, weil er einige Monate nach Don Ramóns Abreise an diesen schrieb: »Ich glaube, dass Gabito das Projekt La casa aufgegeben hat und an einem anderen Roman sitzt.« Don Ramon hatte das natürlich schon vor seiner Abfahrt gewusst.

Von der ersten Zeile an war mir klar, dass der neue Roman von den Erinnerungen eines Siebenjährigen ausgehen sollte, der 1928 das öffentliche Massaker in der Bananenregion überlebt hatte. Ich habe diesen Ansatz jedoch bald aufgegeben, weil damit die Darstellung auf die Perspektive einer Figur eingeschränkt war, die nicht genügend dichterische Mittel bot, die Geschichte zu erzählen. Es wurde mir bewusst, dass mein tollkühnes Abenteuer, den Ulysses mit zwanzig Jahren zu lesen und kurz darauf Schall und Wahn, verfrüht und zukunftslos gewesen war, und ich beschloss, mir beide Bücher unvoreingenommen noch einmal vorzunehmen. Tatsächlich offenbarte sich mir vieles von dem, was mir bei Joyce und Faulkner zunächst als hermetisch oder pedantisch erschienen war, nun in einer beängstigenden Schönheit und Einfachheit. Ich kam auf die Idee, den Monolog auf Stimmen aus dem ganzen Dorf aufzuteilen, in der Art eines erzählenden griechischen Chors, wie in Als ich im Sterben lag, einem Roman, der aus den gegeneinander geschnittenen Reflexionen einer Familie besteht, die sich um einen Sterbenden versammelt hat. Ich hielt es für unmöglich, Faulkners einfaches Mittel, den Namen des jeweiligen Sprechers wie bei einem Theaterstück anzugeben, noch einmal zu verwenden, aber solche Überlegungen brachten mich darauf, nur mit drei Stimmen zu arbeiten, der des Großvaters, der Mutter und des Jungen, Stimmen, die von der Sprache und vom Schicksal her so unterschiedlich waren, dass man jede für sich erkennen konnte. Der Großvater in dem Roman würde nicht einäugig wie der meine sein, aber hinken; die Mutter in Gedanken versunken, doch intelligent wie die meine, und der Junge unbeweglich und verschreckt, wie ich es in diesem Alter immer gewesen war. Das war keineswegs eine schöpferische Eingebung, sondern gerade einmal ein technischer Kniff.

Das neue Buch erfuhr keine grundlegende inhaltliche Änderung während des Schreibens, und es gab auch keine andere Fassung neben dem Original, dafür Streichungen und Verbesserungen in den zwei Jahren bis zur Erstveröffentlichung, und es war fast ein Laster, möglichst immer weiter zu korrigieren, bis man starb. Das Dorf - das ganz anders als das des vorherigen Projekts war - hatte ich in der Wirklichkeit gesehen, als ich mit meiner Mutter nach Aracataca zurückgekehrt war, doch - dank der Warnung des weisen Don Ramon - schien mir dieser Ortsname ebenso wenig überzeugend wie Barranquilla, weil auch ihm nicht der mythische Hauch innewohnte, den ich für meinen Roman suchte. Also beschloss ich, dem Dorf einen Namen zu geben, den ich zweifellos schon als Kind gekannt hatte, dessen magischer Nachklang sich mir aber erst jetzt offenbart hatte: Macondo.

Den Titel La casa - meinen Freunden inzwischen sehr vertraut -musste ich ändern, da er nichts mit dem neuen Projekt zu tun hatte, ich beging jedoch den Fehler, alle Titel, die mir beim Schreiben einfielen, in ein Schulheft zu notieren, so dass ich schließlich über achtzig hatte. Als ich die erste Fassung fast beendet hatte, gab ich der Versuchung nach, einen Prolog zu schreiben, und dabei fand ich den Titel, ohne danach zu suchen. Er sprang mich förmlich an, und es war der so geringschätzige wie mitleidige Begriff, mit dem meine Großmutter in ihren aristokratischen Anwandlungen den Tross der United Fruit Company belegt hatte: Laubsturm.

Beim Schreiben dieses Buches wurde ich am meisten von nordamerikanischen Romanciers angeregt, besonders von jenen, die mir die Freunde aus Barranquilla nach Sucre geschickt hatten. Vor allem, weil ich in diesen Büchern Verwandtschaften aller Art zwischen der Kultur der Südstaaten und jener der Karibik entdeckte, mit der ich mich als Mensch und als Schriftsteller auf eine absolute, wesentliche und nicht austauschbare Weise identifiziere. Nachdem mir das bewusst geworden war, begann ich wie ein echter Handwerker des Romans zu lesen, nicht nur zum Vergnügen, sondern weil ich, von unersättlicher Neugier getrieben, herausbekommen wollte, wie die Bücher der Weisen aufgebaut waren. Ich las sie erst vorwärts und dann rückwärts und unterzog sie gewissermaßen chirurgischen Eingriffen, um die verborgensten Geheimnisse ihrer Struktur freizulegen. Schon deshalb ist meine Bibliothek nie mehr als ein Arbeitsinstrument gewesen, in der ich sofort ein Kapitel von Dostojewski überprüfen oder eine Information über Caesars Epilepsie oder den Mechanismus eines Vergasers bekommen kann. Ich habe sogar ein Handbuch über den perfekten Mord, falls eine meiner hilflosen Figuren einmal so etwas brauchen sollten. Für das Übrige haben meine Freunde gesorgt, die mich bei meiner Lektüre leiteten und mir die richtigen Bücher im richtigen Augenblick liehen und außerdem meine Manuskripte vor der Veröffentlichung einer schonungslosen Lektüre unterwarfen.

Vorbilder wie diese Bücher gaben mir auch ein neues Bewusstsein meiner selbst, und das Projekt Crónica beflügelte mich geradezu. Die Moral der Mannschaft war so gut, dass wir es trotz scheinbar unüberwindlicher Hindernisse sogar zu einem eigenen Büro brachten, es lag im dritten Stock ohne Aufzug, inmitten des Marktgeschreis der Händlerinnen und der wild fahrenden Busse in der Galle San Blas, die von frühmorgens bis sieben Uhr abends ein einziger turbulenter Markt war. Wir passten kaum alle in das Büro. Es gab noch kein Telefon, und eine Klimaanlage war ein Traum, der uns mehr als das Wochenblatt gekostet hätte, doch Fuenmayor hatte bereits Zeit gefunden, den Raum mit seinen zerfledderten Lexika, seinen Zeitungsausschnitten in allen Sprachen und seinen berühmten Handbüchern seltener Berufe voll zu stopfen. Auf seinem Direktorenschreibtisch stand die historische Underwood, die er unter Lebensgefahr aus einer brennenden Botschaft gerettet hatte und die heute das Museo Romántico in Barranquilla ziert. Am zweiten und letzten Schreibtisch saß ich als frisch gebackener Chefredakteur vor einer bei El Heraldo ausgeliehenen Schreibmaschine. Es gab einen Zeichentisch für Alejandro Obregón, Orlando Guerra und Orlando Melo, drei berühmte Maler, die sich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte dazu verpflichtet hatten, die Beiträge gratis zu illustrieren, was sie auch taten, zunächst aus angeborener Großzügigkeit heraus und dann am Ende, weil wir keinen Centavo mehr hatten, nicht einmal für uns selbst. Meine Fotos machte Quique Scopell, der besonders häufig und engagiert für uns arbeitete.

Neben der Redaktionsarbeit, die mir von meinem Titel her oblag, war ich auch zuständig für die Überwachung der Herstellung und hatte, trotz meiner Holzfällerorthografie, dem Fahnenkorrektor zur Hand zu gehen. Da ich weiterhin für den Heraldo »La Jirafa« schreiben musste, hatte ich für regelmäßige Beiträge in Crónica nicht viel Zeit. Sie reichte aber, in den toten Stunden vor Tagesanbruch an meinen Erzählungen zu schreiben.

Alfonso, ein Spezialist aller Gattungen, setzte voll und ganz auf Kriminalgeschichten, für die er eine geradezu triebhafte Leidenschaft hatte. Er übersetzte sie oder wählte sie aus, und ich unterzog sie einem Prozess der formalen Vereinfachung, was mir später in meinem Beruf von Nutzen sein sollte. Ich musste Platz sparen und strich nicht nur unnütze Wörter, sondern auch überflüssige Episoden, bis ich die Geschichten auf das Wesentliche reduziert hatte, ohne ihnen ihre Überzeugungskraft zu nehmen. Das hieß, alles streichen, was bei einer drastischen Gattung, in der jedes Wort für die Gesamtstruktur geradestehen muss, zu viel sein konnte. Bei meinen Versuchen, die Technik des Geschichtenerzählens zu erkunden, waren dies höchst nützliche Übungen.

Einige der besten Erzählungen von José Felix Fuenmayor retteten uns über mehrere Samstage hinweg, doch die Verbreitung von Crónica machte keine Fortschritte. Die ewige Rettungsplanke war aber die Haltung von Alfonso Fuenmayor, der nicht für seine unternehmerischen Fähigkeiten bekannt war, sich jedoch mit einer Zähigkeit in unser Unternehmen einbrachte, die seine Kräfte überstieg. Das aber suchte er mit seinem schrecklichen Sinn für Humor zu überspielen. Er machte alles, schrieb höchst scharfsichtige Leitartikel und völlig sinnlose Notizen, und zwar mit der gleichen Beharrlichkeit, mit der er Anzeigen, unvorstellbare Kredite und Exklusivbeiträge von schwierigen Mitarbeitern eintrieb. Das waren jedoch folgenlose Wunder. Wenn die Ausrufer mit ebenso vielen Exemplaren zurückkehrten, wie sie zum Verkauf mitgenommen hatten, versuchten wir die Zeitschrift persönlich in unseren Lieblingskneipen zu vertreiben, vom El Tercer Hombre bis zu den düsteren Schenken am Flusshafen, wo wir die geringen Einnahmen in äthylischer Währung kassieren mussten.

Als auffallend pünktlicher Mitarbeiter stellte sich der Vates Osío heraus, der zweifellos auch am meisten gelesen wurde. Er war seit der ersten Nummer von Crónica einer der Zuverlässigsten und sein »Tagebuch einer Tippse«, unter dem Pseudonym Dolly Melo veröffentlicht, eroberte die Herzen der Leser. Es war kaum zu glauben, dass ein und derselbe Mann so viele unterschiedliche Aufgaben mit so viel Anstand bewältigen konnte.

Bob Prieto hätte den Schiffbruch von Crónica mit irgendeinem medizinischen oder künstlerischen Fund aus dem Mittelalter abwenden können. Aber beim Arbeiten hielt er sich an eine klare Regel: ohne Geld keine Ware. Folglich gab es ihn, zu unserem tiefen Schmerz, bald nicht mehr.

Von Julio Mario Santodomingo veröffentlichten wir insgesamt vier rätselhafte Geschichten, die auf Englisch geschrieben waren, von Alfonso, dem eifrigen Libellenjäger in den üppigen Wäldern seiner seltenen Wörterbücher, übersetzt und von Alejandro Obregon mit der Raffinesse eines großen Künstlers illustriert wurden. Doch Julio Mario war so oft und zu so entgegengesetzt liegenden Zielen unterwegs, dass er zum unsichtbaren Partner wurde. Nur Alfonso wusste, wo er zu finden war, und offenbarte es uns mit einer beunruhigenden Erklärung:

»Jedes Mal, wenn ich ein Flugzeug vorbeifliegen sehe, denke ich, dass Julio Mario Santodomingo darin sitzt.«

Ansonsten gab es nur gelegentliche Mitarbeiter, die uns in den letzten Minuten vor Redaktionsschluss - oder vor der Bezahlung -in Angst und Schrecken versetzten.

Bogotá kam uns wie Gleichberechtigten entgegen, doch keiner unserer nützlichen Freunde machte irgendeine Anstrengung, um die Wochenzeitung über Wasser zu halten. Eine Ausnahme war Jorge Zalamea, der die Berührungspunkte zwischen seiner und unserer Zeitschrift erkannte und uns den Austausch von Material anbot, was sich als sinnvoll erwies. Ich glaube aber, dass niemand wirklich begriff, dass es bereits ein Wunder war, dass es Crónica überhaupt gab. Der Redaktionsrat bestand aus sechzehn Mitgliedern, die wir nach ihren jeweiligen Verdiensten ausgewählt hatten, alle waren sie Wesen aus Fleisch und Blut, jedoch so mächtig und beschäftigt, dass man auch an ihrer Existenz hätte zweifeln können.

Crónica hatte für mich den Nebeneffekt, dass die Redaktionsarbeit mich dazu zwang, unvorhergesehene Leerräume in der Panik vor Redaktionsschluss mit improvisierten Erzählungen zu füllen. Während Setzer und Hersteller ihrer Arbeit nachgingen, setzte ich mich an die Maschine und dachte mir aus dem Nichts eine Geschichte in der Länge der Lücke aus. Auf diese Weise schrieb ich De cómo Natanael hace una, visita (Natanael macht einen Besuch), mit der ich ein dringendes Problem bei Tagesanbruch löste, und, fünf Wochen später, Augen eines blauen Hundes.

Die erste dieser beiden Erzählungen war der Ursprung für eine ganze Folge mit der gleichen Figur, deren Namen ich ohne zu fragen von André Gide übernommen hatte. Später schrieb ich noch El final de Natanael (Natanaels Ende), um wieder einmal ein Drama in letzter Minute aufzuhalten. Beide gehörten zu einer Serie von sechs Erzählungen, von denen ich mich schmerzlos trennte, als mir klar wurde, dass sie nichts mit mir zu tun hatten. Zu denen, die mir halbwegs im Gedächtnis geblieben sind, gehört De cómo Natanael se viste de novia (Wie Natanael sich bräutlich kleidet), auch wenn ich mich nicht an den Handlungsfaden erinnern kann. Von heute aus gesehen scheint mir die Figur keine Ähnlichkeit mit irgendjemandem zu haben, den ich kannte, noch waren eigene oder fremde Erlebnisse in die Geschichte eingegangen, und ich kann mir angesichts des verdächtigen Themas auch gar nicht vorstellen, dass ich sie geschrieben habe. Natanael war also ein literarisches Wagnis ohne jede menschliche Bedeutung. Es ist gut, sich an solche Katastrophen zu erinnern, um vor Augen zu haben, dass man eine Figur nicht aus dem Nichts heraus erfinden kann, wie ich es mit Natanael versucht habe. Zum Glück reichte meine Vorstellungskraft nicht aus, um mich auf Dauer so weit von mir selbst zu entfernen. Und zu meinem Pech war ich auch noch davon überzeugt, dass die literarische Arbeit genauso gut bezahlt werden müsste wie die eines Maurers und dass, wenn wir die Setzer gut und pünktlich bezahlten, die Schriftsteller erst recht bezahlt werden mussten.

Die beste Resonanz auf unsere Arbeit bei Crónica bekamen wir in den Briefen von Don Ramon an Germán Vargas. Don Ramon interessierte sich für die abwegigsten Nachrichten, für die Freunde und Ereignisse in Kolumbien, und Germán schickte ihm Zeitungsausschnitte und berichtete ihm in endlosen Briefen über das, was die Zensur unterschlug. Für Don Ramon gab es also zwei Crónicas, die Zeitschrift, die wir machten, und die andere, die Germán ihm am Wochenende zusammenstellte. Gierig waren wir aber vor allem auf Don Ramóns begeisterte oder strenge Kommentare zu unseren Artikeln.

Einer der vielen Gründen, mit denen man sich die Schwierigkeiten von Crónica und sogar die Unsicherheiten in der Gruppe zu erklären suchte, war, wie ich zufällig erfuhr, mein angeborenes Pech, das angeblich ansteckend wirkte. Als schlagender Beweis wurde meine Reportage über den uruguayischen Fußballspieler Berascochea angeführt, mit der wir Sport und Literatur in einer neuen Gattung hatten versöhnen wollen und die ein fulminanter Reinfall gewesen war. Als ich von meinem ruinösen Ruf erfuhr, war er unter den Gästen des Japy schon allgemein bekannt. Völlig demoralisiert sprach ich mit Germán Vargas darüber, der, wie auch der Rest der Gruppe, schon davon wusste.

»Immer mit der Ruhe, Meister«, sagte er völlig unbeirrt zu mir, »wenn man so wie Sie schreiben kann, zeugt das von einem Glück, das von nichts und niemandem unterzukriegen ist.«

Es gab nicht nur schlechte Nächte. Die vom 27. Juli 1950, die wir im Freudenhaus der Negra Eufemia verbrachten, hat in meinem Schriftstellerleben eine gewisse historische Bedeutung. Ich weiß nicht, aus welchem guten Grund die Herrin des Hauses einen epischen Sancocho-Eintopf mit viererlei Fleisch bestellt hatte, jedenfalls flatterten die von den wilden Gerüchen aufgestörten Rohrdommeln schrill kreischend um den offenen Herd. Ein Gast rastete aus, packte eine Rohrdommel am Hals und warf sie lebend in den brodelnden Topf. Das Tier konnte gerade noch mit einem letzten Flügelschlag einen panischen Klagelaut ausstoßen und versank dann in höllische Tiefen. Der barbarische Mörder versuchte einen zweiten Vogel zu packen, doch die allmächtige Negra Eufemia hatte sich schon von ihrem Thron erhoben.

»Aufhören, verdammt!«, schrie sie. »Die Rohrdommeln werden euch die Augen aushacken!«

Nur ich war bestürzt und brachte es als Einziger nicht über mich, den ketzerischen Sancocho zu probieren. Statt schlafen zu gehen, eilte ich in das Büro von Crónica und schrieb in einem Zug die Geschichte von drei Bordellbesuchern nieder, denen die Rohrdommeln die Augen ausgehackt hatten, was aber niemand glauben wollte. Die Geschichte, mit doppeltem Zeilenabstand getippt, war nur vier Seiten lang und wurde in der ersten Person Plural von einer namenlosen Stimme erzählt. Obwohl von durchsichtigem Realismus, ist es die rätselhafteste meiner Erzählungen, und sie brachte mich erneut auf einen Weg, den ich schon hatte verlassen wollen, weil ich darauf nicht weiterkam. Besessen von der Verzückung eines Hellsehers hatte ich am Freitag um vier Uhr morgens zu schreiben begonnen und war um acht Uhr damit fertig. Mit der unfehlbaren Komplizenschaft von Porfirio Mendoza, dem legendären Hersteller bei El Heraldo, veränderte ich das Layout der neuen Ausgabe von Crónica, die am nächsten Tag erscheinen sollte, und diktierte in Panik vor der Guillotine des Redaktionsschlusses Porfirio dann den endgültigen Titel, den ich schließlich für die Geschichte gefunden hatte, und er schrieb ihn direkt ins geschmolzene Blei: Die Nacht der Rohrdommeln.

Für mich war das nach neun Erzählungen, die noch am Rand des Metaphysischen angesiedelt waren, der Beginn einer neuen Epoche, zumal ich damals nicht mehr gewusst hatte, wie ich mit einer Gattung fortfahren sollte, die ich nicht in den Griff bekam. Jorge Zalamea übernahm die Geschichte drei Monate später in Crítica, seiner hervorragenden Zeitschrift für große Dichtung. Bevor ich diesen Absatz schrieb, habe ich Die Nacht der Rohrdommeln nach fünfzig Jahren wieder gelesen, und ich glaube, ich würde kein Komma daran ändern. Inmitten der Unordnung, in der ich ohne Kompass lebte, war dies der Vorbote eines neuen Frühlings.

Das Land hingegen geriet ins Trudeln. Laureano Gómez war aus New York zurückgekehrt, um sich zum Präsidentschaftskandidaten der Konservativen küren zu lassen. Die Liberalen übten angesichts der herrschenden violencia Stimmenthaltung, und Gómez wurde ohne Gegenkandidat am 7. August 1950 gewählt. Da das Parlament in Urlaub war, fand seine Vereidigung vor dem Höchsten Gerichtshof statt.

Aus Gesundheitsgründen war es ihm jedoch kaum möglich, als Regierungschef präsent zu sein, und er musste dann nach fünfzehn Monaten das Amt niederlegen. Er wurde durch seinen designierten Stellvertreter ersetzt, den konservativen Parlamentarier und Juristen Roberto Urdaneta Ar-beläez. Eingeweihte sahen darin eine für Laureano Gómez typische Lösung, nämlich die Macht in andere Hände zu geben, ohne sie zu verlieren, um von zu Hause aus über eine Mittelsperson weiter zu regieren. Und in dringenden Fällen übers Telefon.

Der Umstand, dass Álvaro Cepeda etwa einen Monat, bevor die Rohrdommel geopfert wurde, mit einem Abschluss von der Columbia University zurückkehrte, war für mich, glaube ich, sehr wichtig, um diese düster schicksalhafte Zeit zu überstehen. Álvaro kam mit kürzer geschnittenem Haar, ohne Schnauzbart und ungestümer als zuvor zurück. Germán Vargas und ich, die wir ihn schon seit einigen Monaten erwartet hatten und befürchteten, man hätte ihn in New York gebändigt, lachten uns tot, als wir ihn in Jackett und Krawatte aus dem Flugzeug steigen sahen und er uns schon von der Gangway aus mit Hemingways gerade erst erschienenem Buch Über den Fluss und in die Wälder zuwinkte. Ich riss es ihm aus der Hand, streichelte den Einband, und als ich etwas fragen wollte, kam Álvaro mir zuvor:

»Es ist Scheiße!«

Germán Vargas, der vor Lachen keine Luft bekam, flüsterte mir ins Ohr: »Er ist noch ganz derselbe.« Álvaro stellte allerdings später klar, dass sein Urteil über das Buch ein Witz gewesen sei, er habe es nämlich gerade erst auf dem Flug von Miami nach Barranquilla zu lesen begonnen. Wie auch immer, wir wurden jedenfalls davon aufgemuntert, dass er mehr denn je vom Bazillus des Journalismus, der Kunst und des Films befallen war. Während er sich in den folgenden Monaten wieder akklimatisierte, trieb er das Fieber bei uns auf dauerhafte vierzig Grad hoch.

Die Ansteckung war sofort erfolgt. »La Jirafa«, mit der ich mich seit Monaten blind tastend im Kreis drehte, kam mit zwei Fragmenten, für die ich die Kladde von La casa plünderte, wieder zu Atem. Das eine Fragment war El hijo del coronel, ein Kind, das nie zur Welt kam, und das andere Ny, ein Flüchtlingsmädchen, an dessen Türe ich auf der Suche nach anderen Möglichkeiten oft geklopft hatte, ohne gehört zu werden. Nun, als Erwachsener, gewann ich auch mein Interesse für die Comics zurück, die ich nicht als sonntägliche Ablenkung verstand, sondern als neue Gattung, die ohne Grund ins Kinderzimmer abgeschoben wurde.

Mein Held war, unter vielen anderen, Dick Tracy. Und dann fand ich - wie konnte es anders sein - zur Begeisterung für das Kino zurück, die der Großvater in mir geweckt, die Antonio Daconte genährt hatte und Alvaro Cepeda zu einer frommen Leidenschaft steigerte, und das in einem Land, das die besten Filme nur aus den Erzählungen von Reisenden kannte. Es war ein glücklicher Zufall, dass Alvaros Heimkehr mit der Premiere von zwei Meisterwerken zusammenfiel: Griff in den Staub, unter der Regie von Clarence Brown nach einem Roman von William Faulkner gedreht, und Jennie, die Verfilmung eines Romans von Robert Natham durch William Dieterle. Über beide Filme schrieb ich nach langen Diskussionen mit Alvaro Cepeda in »La Jirafa«. Das alles war so anregend, dass ich den Film als Kunstform mit anderen Augen zu sehen begann. Bevor ich Alvaro begegnet war, hatte ich nicht gewusst, dass das Wichtigste der Name des Regisseurs war, der ganz zuletzt im Abspann auftaucht. Für mich bedeutete Filmemachen einfach, ein Drehbuch zu schreiben und die Schauspieler zu führen, alles Weitere erledigten dann die zahlreichen Mitglieder des Teams. Als Alvaro zurück war, erteilte er mir einen vollständigen Kurs in Sachen Kino, und zwar unter lautem Geschrei und bei weißem Rum an den Tischen der übelsten Kneipen, um mir bis zum frühen Morgen das einzutrichtern, was man ihm in den USA beigebracht hatte. Den Tag begrüßten wir dann mit unseren Wachträumen, in denen es darum ging, Filme in Kolumbien zu machen.

Abgesehen von solch leuchtendem Feuerwerk, das Alvaro zur Explosion bringen konnte, hatten wir, wenn wir ihm in seinem Tempo eines Schlachtkreuzers zu folgen versuchten, den Eindruck, dass unserem Freund die innere Ruhe fehlte, um sich zum Schreiben hinzusetzen. Wir, die wir ihn aus der Nähe erlebten, konnten ihn uns nicht länger als eine Stunde an einem Schreibtisch sitzend vorstellen. Zwei oder drei Monate nach seiner Rückkehr rief uns jedoch Tita Manotas - seine langjährige Freundin und lebenslange Frau - völlig entsetzt an, um uns mitzuteilen, dass Alvaro seinen historischen Kleinlaster verkauft und im Handschuhfach die Originalmanuskripte seiner unveröffentlichten Erzählungen vergessen hatte, von denen es keine Kopie gab. Alvaro hatte keinerlei Anstrengungen unternommen, um die Manuskripte wiederzubekommen, mit dem für ihn typischen Argument, es habe sich nur um »sechs oder sieben Scheißgeschichten« gehandelt. Freunde und Korrespondenten unterstützen Tita dabei, den mehrfach weiter verkauften Kleinlaster aufzufinden, eine Suche, die sich über die ganze Karibikküste und landeinwärts bis Medellin erstreckte. Schließlich fanden wir ihn in einer gut zweihundert Kilometer entfernten Werkstatt in Sincelejo. Die auf Druckpapierstreifen geschriebenen Originalmanuskripte übergaben wir unvollständig und übel zugerichtet nicht Álvaro, sondern Tita, da wir befürchteten, dass er sie aus Unachtsamkeit oder Absicht wieder verlegen würde.

Zwei dieser Erzählungen wurden in Crónica veröffentlicht, und die übrigen bewahrte Germán Vargas etwa zwei Jahre lang auf, bis man dafür einen Verlag fand. Die Malerin Cecilia Porras, die der Gruppe stets die Treue hielt, illustrierte sie mit inspirierten Zeichnungen, die eine Röntgenaufnahme von Álvaro waren, indem sie ihn als all das zeigte, was er gleichzeitig sein konnte: Lastwagenfahrer, Jahrmarktsclown, verrückter Dichter, Student der Columbia oder sonst einen Beruf ausübend, nur nicht als ganz gewöhnlichen Menschen. Das Buch wurde von der Libreria Mundo unter dem Titel Todos estábamos a la espera - Wir alle warteten -verlegt und erwies sich als literarisches Ereignis, das nur von der elitären Kritik nicht wahrgenommen wurde. Für mich war es - und das schrieb ich damals auch - der beste Erzählband, der je in Kolumbien veröffentlicht worden war.

Alfonso Fuenmayor seinerseits schrieb kritische Beiträge und literarische Essays für Zeitungen und Zeitschriften, gab sich aber sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, sie gesammelt zu veröffentlichen. Als Leser war er von einer ungewöhnlichen Gefräßigkeit, darin höchstens mit Álvaro Mutis oder Eduardo Zalamea zu vergleichen. Germán Vargas und Alfonso Fuenmayor waren als Kritiker so unerbittlich, dass sie mit sich selbst noch strenger als mit ihren Nächsten verfuhren, lagen bei ihrem Steckenpferd, junge Talente zu entdecken, jedoch stets richtig. Es war in jenem kreativen Frühling, als das hartnäckige Gerücht umging, Germán schreibe die Nächte hindurch an meisterhaften Erzählungen, von deren konkreter Existenz man aber erst Jahre später erfuhr, als er sich, wenige Stunden bevor er meine Gevatterin Susana Linares heiratete, einsperrte und die Manuskripte verbrannte, um sicherzugehen, dass sie nichts davon lesen würde. Man vermutete, dass es sich um Erzählungen und Essays handelte, vielleicht war auch ein Romanentwurf dabei, aber Germán verlor nie ein Wort darüber, auch später nicht, bis er am Vorabend seiner Hochzeit diese drastische Vorsichtsmaßnahme ergriff, damit nicht einmal das Mädchen, das am nächsten Tag seine Frau sein würde, etwas davon erführe. Susana merkte, was vor sich ging, stürzte aber nicht ins Zimmer, um es zu verhindern, weil ihre Schwiegermutter es ihr nicht erlaubt hätte. »In jener Zeit«, sagte Susi Jahre später mit ihrem vorwitzigen Humor zu mir, »durfte eine Verlobte vor der Heirat doch nicht in das Schlafzimmer ihres Versprochenen.«

Es war noch kein Jahr vergangen, als die Briefe von Don Ramon weniger ausführlich wurden, auch immer trauriger und seltener. Am 7. Mai 1952 kam ich um zwölf Uhr mittags in die Librería Mundo, und Germán musste mir nichts sagen. Ich begriff, Don Ramon war gestorben, vor zwei Tagen, im Barcelona seiner Träume. Als einzigen Kommentar sagten alle, als sie nacheinander im Café eintrafen:

»Das gibt es nicht.«

Damals war ich mir nicht dessen bewusst, dass ich ein besonderes Jahr meines Lebens lebte, doch heute weiß ich, wie entscheidend es war. Bis dahin war ich mit meinem Penneraufzug zufrieden gewesen. In einer Stadt, in der jeder nach seiner Facön lebte, wurde ich von vielen gemocht und respektiert und von einigen auch bewundert. Ich führte ein geselliges Leben und nahm an künstlerischen Wettbewerben und gesellschaftlichen Ereignissen teil, und das alles mit meinen Jesuslatschen, die wie gekauft schienen, um Álvaro Cepeda zu imitieren, mit einer Hose aus grobem Leinen und zwei schräg gestreiften Hemden, die ich unter der Dusche wusch.

Von einem Tag auf den anderen begann ich aus diversen Gründen - darunter auch reichlich oberflächlichen - mir bessere Kleidung zuzulegen, ließ mir das Haar wie ein Rekrut schneiden, stutzte meinen Schnurrbart und lernte in Senatorenschuhen zu gehen, die mir Dr. Rafael Marriaga, Stadthistoriker und sporadisches Mitglied der Gruppe, noch ungetragen geschenkt hatte, weil sie ihm zu groß waren. Die unbewusste Dynamik des gesellschaftlichen Aufstiegs führte dazu, dass ich allmählich in meiner Pappkammer im Rascacielos vor Hitze zu ersticken meinte, als hätte Aracataca in Sibirien gelegen, und unter den Freiern litt, die beim Aufstehen laut redeten, auch klagte ich unermüdlich darüber, dass die Nachtvögelinnen weiterhin ganze Heerscharen von Süßwassermatrosen in ihre Zimmer trieben.

Heute wird mir klar, dass mein Bettleraufzug nicht meiner Armut oder der Dichtkunst geschuldet war, sondern der Tatsache, dass ich alle meine Energie stur darauf konzentrierte, schreiben zu lernen. Sobald ich dann glaubte, auf dem richtigen Weg zu sein, verließ ich den Rascacielos und zog in das friedliche Viertel El Prado, sozial gesehen das andere Ende der Stadt, zwei Straßen von Meira Delmars Haus und fünf von dem historischen Hotel entfernt, in dem de Söhne der Reichen mit ihren jungfräulichen Geliebten nach der Sonntagsmesse tanzten. Wie Germán es ausdrückte: Ich verbesserte mich zum Schlimmeren.

Ich wohnte im Haus der Schwestern Avila - Esther, Mayito und Tona -, die ich in Sucre kennen gelernt hatte und die sich schon seit längerem darum bemühten, mich von der ewigen Verdammnis zu erlösen. Statt der Pappkammer, in der ich so viele Federn des verwöhnten Enkels gelassen hatte, bewohnte ich nun ein Zimmer mit eigenem Bad und einem Fenster zum Garten und bekam drei Mahlzeiten pro Tag für wenig mehr als meinen Kärrnerlohn. Ich kaufte mir eine Hose und ein halbes Dutzend Tropenhemden mit aufgemalten Blumen und Vögeln, die mir den geheimen Ruf eines Hafenstrichers eintrugen. Alte Freunde, denen ich nie mehr begegnet war, traf ich auf einmal allenthalben. Mit Freude nahm ich zur Kenntnis, dass sie Ungereimtes aus »La Jirafa« auswendig zitieren konnten, für Crónica schwärmten wegen ihres - wie sie es nannten - sportlichen Ehrgefühls und sogar meine Erzählungen lasen, ohne sie ganz zu verstehen. Ich traf Ricardo González Ripoll, meinen Bettnachbarn vom Liceo Nacional, der sich als Diplomarchitekt in Barranquilla niedergelassen hatte und in kaum einem Jahr sein Leben mit einem Chevrolet mit Haifischflossen verschönt hatte, ein Auto von Ungewissem Alter, in das er bei Morgengrauen bis zu acht Passagiere packte. Er holte mich dreimal in der Woche spätabends ab, um mit neuen Freunden zu feiern, die das Land einrenken wollten, entweder mit magischen Politformeln oder durch Schlägereien mit der Polizei.

Als meine Mutter von diesen Neuigkeiten erfuhr, schickte sie mir eine Nachricht nach ihrer Art: »Geld ruft nach mehr Geld.« Der Gruppe teilte ich meinen Umzug zunächst nicht mit, bis ich mich eines Abends am Tisch im Japy mit der magischen Formel von Lope de Vega erklärte: »So habe ich denn meine Verhältnisse geordnet, weil es meiner Unordnung ziemte, dass ich mich ordnete.« Nicht einmal im Fußballstadion hatte ich erlebt, dass jemand so ausgepfiffen wurde. Germán wettete, dass mir außerhalb des Rascacielo nichts einfallen würde. Álvaro zufolge würde ich die Koliken durch drei Mahlzeiten pro Tag, und das noch regelmäßig, nicht überleben. Alfonso dagegen schlug sich auf meine Seite, protestierte gegen die ungebührliche Einmischung in mein Privatleben und beendete die Angelegenheit mit einer Diskussion darüber, wie dringlich es war, radikale Entscheidungen für die Zukunft von Crónica zu treffen. Ich denke, sie fühlten sich im Grunde schuldig an meinem unordentlichen Leben, waren jedoch zu diskret, meinen Entschluss mit einem dankbaren Seufzer der Erleichterung aufzunehmen.

Anders als zu erwarten, ging es mit Gesundheit und Moral bergauf. Da meine Zeit knapp war, las ich weniger, stimmte dafür jedoch den Ton in »La Jirafa« höher und zwang mich in meinem neuen Zimmer dazu, auf der steinzeitlichen Maschine, die mir Alfonso Fuenmayor geliehen hatte, weiter an Laubsturm zu schreiben, auch in den frühen Morgenstunden, die ich früher zusammen mit Mono Guerra verplempert hatte. An einem normalen Nachmittag in der Zeitungsredaktion schaffte ich es, »La Jirafa« zu schreiben, dazu noch einen Kommentar, ein paar der vielen unsignierten Meldungen, dampfte eine Kriminalgeschichte ein und verfasste kurz vor Redaktionsschluss die letzten Notizen für Crónica. Statt mit der Zeit einfacher zu werden, setzte der entstehende Roman aber zunehmend seine eigenen Vorstellungen gegen die meinen durch, und ich war so naiv, das als günstiges Zeichen aufzufassen.

Ich war so voller Elan, dass ich in einer Notsituation, als ein Autor politischer Kommentare, dem wir drei Seiten in Crónica eingeräumt hatten, mit einem Herzinfarkt darniederlag, meine zehnte Erzählung verfasste - Jemand bringt die Rosen in Unordnung. Erst als ich die Druckfahnen korrigierte, fiel mir auf, dass es sich wieder um eins der statischen Dramen handelte, die ich einfach so, ohne es noch zu merken, herunterschrieb. Diese ärgerliche Erkenntnis verstärkte meine Gewissensbisse, dass ich einen Freund kurz vor Mitternacht aufgeweckt hatte, damit er mir den Artikel in weniger als drei Stunden lieferte. Gleichsam zur Buße hatte ich meine Geschichte in der gleichen Zeit geschrieben, und am Montag wies ich dann in der Redaktionskonferenz noch einmal darauf hin, dass wir schleunigst auf die Straße gehen müssten, um mit knalligen Reportagen die Zeitschrift in Schwung zu bringen. Dieser Gedanke, den eigentlich alle teilten, wurde jedoch wieder einmal verworfen, und zwar mit einem Argument, das meinem Glück zuträglich war: Wenn wir mit unserer idyllischen Vorstellung von der Reportage jetzt auf die Straße stürzten, würde die nächste Nummer der Zeitschrift nicht rechtzeitig herauskommen, wenn sie denn überhaupt herauskäme. Ich hätte es als Kompliment auffassen müssen, konnte aber nicht den bitteren Gedanken loswerden, dass der wahre Grund für die Ablehnung war, dass die anderen noch meine Reportage über Berascochea in schlechter Erinnerung hatten. Ein Trost war in jenen Tagen der Anruf von Rafael Esca-lona, dem Autor der Lieder, die man auf dieser Seite der Welt sang und noch immer singt. Barranquilla war ein lebendiges Zentrum der Musik, weil die fahrenden Sänger und Akkordeonspieler, die wir von den Festen in Aracataca kannten, oft durch die Stadt kamen und die Rundfunkstationen an der Karibikküste für die Verbreitung dieser Musik sorgten. Ein damals sehr bekannter Sänger war Guillermo Buitrago, der sich damit brüstete, mit den Neuigkeiten aus Der Provinz auf dem Laufenden zu sein. Sehr populär war auch Crescencio Salcedo, ein barfüßiger Indio, der sich an der Ecke der Lunchería Americana aufstellte und einfach lossang, Lieder aus eigener oder fremder Ernte, mit einer etwas blechernen Stimme, aber einer eigenen Kunstfertigkeit, die ihn bei den täglichen Menschenmengen in der Galle San Blas beliebt machte. Einen guten Teil meiner frühen Jugend habe ich damit verbracht, mich in seine Nähe zu stellen, ohne ihn auch nur zu grüßen, ohne aufzufallen, bis ich sein breites Liederrepertoire auswendig konnte.

Diese Leidenschaft erreichte ihren Höhepunkt an einem schläfrigen Nachmittag, als ich an »Lajirafa« schrieb und das Telefon mich dabei unterbrach. Eine Stimme wie die so vieler Bekannten aus meiner Kindheit begrüßte mich ohne weitere Einleitungsformeln:

»Wie steht's, Bruder. Hier ist Rafael Escalona.«

Fünf Minuten später trafen wir uns an einem reservierten Tisch im Café Roma, um eine Freundschaft fürs Leben zu schließen. Wir hatten uns kaum begrüßt, als ich Escalona auch schon drängte, mir seine letzten Lieder vorzusingen. Lockere Verse, mit einer sehr tiefen und wohl temperierten Stimme gesungen, die vom Trommeln der Finger auf den Tisch begleitet wurde. Die Volkspoesie unseres Landstrichs zeigte sich Strophe für Strophe in einem neuen Kleid. »Ich geb dir einen Strauß Vergissmeinnicht, damit du tust, was er bedeutet«, sang Escalona. Ich wiederum bewies ihm, dass ich die besten Lieder aus seiner Gegend auswendig kannte, weil ich sie schon im Kindesalter aus dem aufgewühlten Fluss der mündlichen Tradition aufgefischt hatte. Am meisten überraschte ihn aber, dass ich von Der Provinz so sprach, als ob ich sie kennen würde.

Ein paar Tage zuvor war Escalona mit dem Bus von Villa-nueva nach Valledupar gefahren und hatte dabei Musik und Text eines neuen Liedes für die Karnevalsfeier am nächsten Sonntag im Kopf komponiert. Das war seine Methode, da er keine Noten schreiben und auch kein Instrument spielen konnte. In einem der Dörfer auf dem Weg stieg einer der zahllosen fahrenden Troubadoure mit Holzschuhen und Akkordeon in den Bus, die von Jahrmarkt zu Jahrmarkt fahren, um dort zu singen. Escalona bat den Mann, sich neben ihn zu setzen, und sang ihm die einzigen zwei fertigen Strophen seines neuen Lieds ins Ohr.

Auf halber Strecke stieg der fahrende Sänger glücklich aus dem Bus, und Escalona fuhr weiter bis nach Valledupar, wo er sich ins Bett legen musste, um das Vierzig-Grad-Fieber einer gewöhnlichen Erkältung auszuschwitzen. Drei Tage später, am Karnevalssonntag, fegte das unvollendete Lied, das er leise seinem Zufallsfreund vorgesungen hatte, alle alte und neue Musik von Valledupar bis zum Cabo de la Vela beiseite. Nur Escalona wusste, wer das Lied, während er selbst sein Karnevalsfieber ausschwitzte, verbreitet und ihm den Titel »La vieja Sara« gegeben hatte.

Die Geschichte ist wahr, aber nicht überraschend in einer Gegend und bei einem Berufsstand, wo das Erstaunliche das Natürliche ist. Das Akkordeon ist in Kolumbien nicht heimisch oder allgemein verbreitet und nur in der Provinz Valledupar populär, wahrscheinlich ein Import aus Aruba und Curacao. Während des Zweiten Weltkriegs war die Einfuhr aus Deutschland unterbrochen, und die Instrumente, die es bereits in der Provinz gab, überlebten nur durch die Pflege, die ihnen ihre hiesigen Besitzer angedeihen ließen. Einer von diesen war Leandro Díaz, ein Schreiner, der nicht nur ein genialer Komponist und ein meisterhafter Akkordeonspieler war, sondern auch der Einzige, der während des Kriegs die Instrumente reparieren konnte, und das obwohl er von Geburt an blind war. Das Leben der wahren fahrenden Sänger besteht darin, von Ort zu Ort ziehend die komischen und simplen Ereignisse aus der täglichen Geschichte auf kirchlichen oder weltlichen Festen zu besingen, vor allem aber im Trubel des Karnevals. Der Fall Rafael Escalona liegt anders. Als Sohn von Oberst Clemente Escalona, Neffe des berühmten Bischofs Celedon und Abiturient des Liceo von Santa Marta, das dessen Namen trägt, begann er schon im Kindesalter zu komponieren, zum Schrecken seiner Familie, die Singen und Akkordeonspielen als Beschäftigung für Handwerker ansah. Er war nicht nur der einzige fahrende Sänger mit Abitur, sondern auch einer der wenigen, die damals überhaupt lesen und schreiben konnten, außerdem ein stolzer und liebeshungriger Mann, der seinesgleichen sucht. Aber er war und ist nicht der Letzte seiner Zunft: Heute gibt es sie zu Hunderten, und sie werden immer jünger. Das hat Bill Clinton begriffen, als er einer Volksschulgruppe zuhörte, die aus Der Provinz angereist war, um im Weißen Haus für ihn zu singen.

In jenen Tagen eines gütigen Schicksals traf ich zufällig Mercedes Barcha, die Tochter des Apothekers von Sucre, der ich bereits die Ehe angetragen hatte, als sie dreizehn war. Anders als bei früheren Gelegenheiten nahm sie nun endlich meine Einladung an, am nächsten Sonntag ins Hotel del Prado tanzen zu gehen. Erst da erfuhr ich, dass sie mit ihrer Familie wegen der immer bedrohlicheren politischen Lage nach Barranquilla gezogen war. Ihr Vater Demetrio war ein gestandener Liberaler, der sich weder von den ersten Drohungen im Zeichen zunehmender politischer Verfolgung hatte einschüchtern lassen, noch von der möglichen gesellschaftlichen Schande durch die Schmähschriften. Auf den Druck der Familie hin versteigerte er jedoch dann die wenigen Dinge, die ihm noch in Sucre geblieben waren, und machte seine Apotheke in Barranquilla neben dem Hotel del Prado auf. Obwohl er im Alter meines Vaters war, verband ihn mit mir eine jugendliche Freundschaft, die wir in der Kneipe gegenüber aufzuwärmen pflegten, und mehr als einmal landeten wir beide im Tercer Hombre zum gemeinsamen Besäufnis mit der ganzen Gruppe. Mercedes ging damals in Medellin zur Schule und kam nur in den Weihnachtsferien heim. Sie war immer lustig und freundlich zu mir, wich aber mit dem Talent einer Zauberkünstlerin Fragen und Antworten aus und ließ sich nie festlegen. Ich hatte das zu akzeptieren, immerhin war es eine barmherzigere Strategie als Gleichgültigkeit oder Ablehnung, und so gab ich mich damit zufrieden, dass sie mich mit ihrem Vater und dessen Freunden in der Kneipe gegenüber sah. Demetrio entdeckte mein Interesse für Mercedes in jenen Ferien des Verlangens nur deshalb nicht, weil es das bestgehütete Geheimnis der ersten zwanzig Jahrhunderte der Christenheit war. Bei mehreren Gelegenheiten brüstete er sich im Ter-cer Hombre mit dem Spruch, den sie bei unserem ersten Ball in Sucre erwähnt hatte: »Mein Papa sagt, der Prinz ist noch nicht geboren, der mich einmal heiraten wird.« Ich wusste auch nicht, ob sie das glaubte, aber bis zu den vorweihnachtlichen Tagen jenes Jahres, als sie die Einladung zur Tanzmatinee im Hotel del Prado annahm, verhielt sie sich so als ob. Ich bin derart abergläubisch, dass ich ihre Zusage auf meinen getrimmten Schnurrbart und den Künstlerhaarschnitt zurückführte, den mir der Friseur verpasst hatte, sowie auf den Anzug aus grobem Leinen und die Seidenkrawatte, die ich für diese Gelegenheit bei den Syrern ersteigert hatte. Ich war mir sicher, Mercedes würde wie immer von ihrem Vater begleitet, und so lud ich meine Schwester Aida Rosa, die ihre Ferien bei mir verbrachte, ein, mitzukommen. Doch Mercedes erschien ganz allein, und sie tanzte mit solcher Natürlichkeit und war so voller Ironie, dass jeder ernsthafte Antrag lächerlich gewirkt hätte. An jenem Tag wurde die unvergessliche Saison meines Gevatters Pacho Galan eröffnet, des ruhmreichen Schöpfers des Merecumbe, der dann jahrelang getanzt wurde und aus dem neue karibische Rhythmen hervorgingen, die noch heute beliebt sind. Mercedes tanzte sehr gut und beherrschte die Modetänze, und sie nutzte ihre Meisterschaft aus, um mit magischen Listen den Anträgen auszuweichen, mit denen ich sie belagerte. Ich glaube, ihre Taktik bestand darin, mich glauben zu machen, dass sie mich nicht ernst nahm, das tat sie aber so raffiniert, dass mir immer eine Möglichkeit blieb, weiter um sie zu werben.

Um Punkt zwölf schreckte sie zusammen, weil es schon so spät war, und ließ mich mitten im Tanz stehen, wollte aber nicht, dass ich sie bis zur Tür begleitete. Auf meine Schwester wirkte das so seltsam, dass sie sich auf irgendeine Weise schuldig fühlte, und ich frage mich noch heute, ob dieses schlechte Beispiel etwas mit ihrer plötzlichen Entscheidung zu tun hatte, ins Kloster der Salesianerinnen in Medellin einzutreten. Von jenem Tag an begannen Mercedes und ich einen persönlichen Kode zu entwickeln, mit dem wir uns verständigten, ohne etwas sagen zu müssen, selbst wenn wir uns nicht sahen.

Ich hörte nach einem Monat, am 22. Januar des neuen Jahres, wieder von ihr. Sie hatte eine knappe Botschaft für mich bei El Heraldo hinterlassen: »Sie haben Cayetano getötet.« Für uns konnte es nur einer sein: Cayetano Gentile, unser Freund aus Sucre, künftiger Arzt, Stimmungsmacher auf Bällen und von Beruf verliebt. Die erste Version des Geschehens lautete, die zwei Brüder der kleinen Lehrerin aus Chaparral, die wir mit Cayetano auf dem Pferd gesehen hatten, hätten ihn abgestochen. Im Laufe des Tages, von Telegramm zu Telegramm, erfuhr ich die vollständige Geschichte.

Es waren noch nicht die Zeiten, in denen man einfach telefonieren konnte, und private Ferngespräche mussten durch Telegramme angekündigt werden. Meine unmittelbare Reaktion war die eines Reporters. Ich beschloss, nach Sucre zu fahren, um über den Fall zu schreiben, doch bei der Zeitung sah man das als sentimentale Anwandlung. Heute kann ich es verstehen, schließlich hatten wir Kolumbianer schon damals die Angewohnheit, einander aus irgendwelchen Gründen umzubringen, und manchmal erfanden wir sogar Gründe, um uns umbringen zu können. Verbrechen aus Leidenschaft waren jedoch ein Luxus, der den Reichen in den Städten vorbehalten blieb. Mir aber schien es ein unvergängliches Thema zu sein, und ich begann Zeugen zu befragen, bis meine Mutter meine geheimen Absichten entdeckte und mich anflehte, die Reportage nicht zu schreiben. Wenigstens nicht, solange Cayetanos Mutter Dona Julieta Chimento lebte, zumal diese als Taufpatin von Hernando, meinem Bruder Nummer acht, auch noch eine Gevatterin meiner Mutter war. Ihr Argument -unerlässlich für eine gute Reportage -war gewichtig. Als Cayetano, verfolgt von den beiden Brüdern der Lehrerin, versuchte, in sein Haus zu flüchten, war Dona Julieta gerade zum Eingang gestürzt und hatte die Tür abgesperrt, da sie glaubte, ihr Sohn sei bereits in seinem Schlafzimmer. Er kam deshalb nicht herein, und sie meuchelten ihn mit ihren Messern an der verschlossenen Tür.

Ich wollte mich sofort an eine Reportage über das Verbrechen setzen, stieß jedoch auf alle möglichen Hindernisse. Dabei interessierte mich nicht mehr das Verbrechen als solches, sondern das literarische Thema der kollektiven Verantwortung. Aber kein Argument konnte meine Mutter überzeugen, und ohne ihre Erlaubnis darüber zu schreiben schien mir ein Zeichen mangelnden Respekts. Seitdem verging jedoch kein Tag, an dem mir nicht der Wunsch zugesetzt hätte, diese Reportage zu schreiben. Viele Jahre später, ich hatte schon fast resigniert, wartete ich auf dem Flughafen von Algier auf den Abflug meiner Maschine. Die Tür der Wartehalle für die erste Klasse öffnete sich plötzlich, und herein schritt in der makellos weißen Tunika seines Adelsgeschlechts ein arabischer Prinz; auf der Faust trug er ein herrliches Wanderfalkenweibchen, das statt der Lederhaube der klassischen Falknerei eine mit Diamanten besetzte Goldhaube trug. Natürlich dachte ich an Cayetano Gentile, der von seinem Vater die hohe Kunst der Beizjagd erlernt hatte, erst mit einheimischen Sperbern und dann mit herrlichen Falken, die aus dem glücklichen Arabien angesiedelt worden waren. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er auf seinem Gut ein professionelles Falkengehege mit zwei Falkenweibchen und einem Männchen, die für die Rebhuhnjagd abgerichtet waren, und einem schottischen Turmfalken, dressiert zur persönlichen Verteidigung. Ich kannte zu der Zeit schon das historische Interview, das George Plimpton mit Ernest Hemingway für The Paris Review geführt hatte. Es ging um den Vorgang, in dem sich eine Person aus dem wirklichen Leben in eine Romanfigur verwandelt. Hemingway sagte: »Wollte ich erklären, wie man das macht, so wäre das in manchen Fällen ein Leitfaden für Anwälte, die auf Diffamierungsfälle spezialisiert sind.« Seit jenem bedeutsamen Morgen in Algier galt für mich aber das Gegenteil: Ich fühlte mich nicht in der Lage, weiter in Frieden zu leben, wenn ich nicht die Geschichte von Cayetanos Tod niederschrieb.

Meine Mutter verweigerte sich jedem Argument und blieb fest entschlossen, diese Geschichte zu verhindern, bis sie mich in Barcelona dreißig Jahre nach der Tragödie anrief, um mir selbst die traurige Nachricht mitzuteilen, Julieta Chimento sei gestorben, ohne den Tod ihres Sohnes verwunden zu haben. Diesmal fand selbst meine Mutter mit ihrer eisernen Moral keine Gründe, die Reportage zu verhindern.

»Als Mutter bitte ich dich jedoch um eines«, sagte sie zu mir, »gehe es so an, als wäre Cayetano mein eigener Sohn.«

Der Bericht wurde unter dem Titel Chronik eines angekündigten Todes zwei Jahre später veröffentlicht. Meine Mutter las ihn nicht und gab dafür einen Grund an, den ich als weiteres Kleinod in meinem privaten Museum verwahre: »Was im Leben so schlecht ausgegangen ist, kann in einem Buch nicht gut ausgehen.«

Eine Woche nach Cayetanos Tod klingelte um fünf Uhr nachmittags, als ich gerade mein journalistisches Tagwerk in El Heraldo beginnen wollte, das Telefon auf meinem Schreibtisch. Es war mein Vater, der ohne Vorankündigung in Barranquilla eingetroffen war und mich dringend im Café Roma erwartete. Die Anspannung in seiner Stimme erschreckte mich, aber noch besorgter war ich, als ich ihn sah, unordentlich und unrasiert wie sonst nie. Er trug seinen von der Hitze der Landstraße mitgenommenen himmelblauen Anzug vom 9. April und schien nur gerade noch von der seltsamen Zufriedenheit der Besiegten aufrecht gehalten zu werden.

Ich war nach dem Treffen so erschlagen, dass ich heute kaum noch die Sorge und die Klarsicht vermitteln kann, mit der mein Vater mich über die katastrophale Lage der Familie unterrichtete. Sucre, das Paradies des leichten Lebens und der schönen Mädchen, war dem Erdstoß der politischen Gewalt erlegen. Der Tod von Cayetano war nur ein Symptom dafür.

»Du hast keine Ahnung, was das für eine Hölle ist, weil du in dieser Oase des Friedens wohnst«, sagte er. »Aber wir, die wir dort noch am Leben sind, sind das nur, weil Gott uns kennt.«

Mein Vater war eines der wenigen Mitglieder der konservativen Partei, die sich nach dem 9. April nicht vor den aufgebrachten Liberalen hatten verstecken müssen, aber er wurde jetzt von eben den Parteifreunden, die damals in seinem Schatten Schutz gesucht hatten, wegen seiner Lauheit angegriffen. Er malte mir ein derart erschreckendes - und realistisches - Bild von der Situation, dass seine überstürzte Entscheidung, alles aufzugeben, um die Familie nach Cartagena zu bringen, mehr als gerechtfertigt schien. Ich hatte keinen Grund und nicht das Herz, ihm zu widersprechen, dachte aber, ihn mit einer weniger radikalen Lösung als dem sofortigen Umzug beruhigen zu können.

Zeit zum Nachdenken tat Not. Wir tranken schweigend zwei Limonaden, jeder mit sich beschäftigt, doch dann, bevor er noch ausgetrunken hatte, gewann er seinen fiebrigen Idealismus zurück, der mir die Sprache verschlug. »Das einzig Tröstliche bei der ganzen Geschichte ist«, sagte er mit einem bewegten Seufzer, »dass du zum Glück endlich dein Studium abschließen kannst.« Ich habe ihm nie gesagt, wie sehr mich diese freudige Phantasterei über einen so trivialen Tatbestand erschüttert hat. Ich spürte einen eisigen Schauer in den Eingeweiden, ausgelöst von dem perversen Gedanken, der Exodus der Familie wäre eine bloße List des Vaters, mit der er mich dazu zwingen wollte, Rechtsanwalt zu werden. Ich sah ihm direkt in die Augen, und sie waren zwei stille Seen. Ich begriff, er war so wehrlos und beklommen, dass er mich zu nichts zwingen, mir auch nichts abschlagen würde; zugleich hatte er aber doch noch genügend Vertrauen in die göttliche Vorsehung, um zu glauben, dass er mich so weit bringen würde, aus Ermüdung zu kapitulieren. Mehr noch: Mit eben der gezielten Zuversicht eröffnete er mir, dass er mir eine Arbeit in Cartagena verschafft und alles geregelt habe, damit ich am nächsten Montag dort anfangen könne. Eine großartige Stelle, erklärte er mir, ich müsse nur alle zwei Wochen dort vorsprechen, um das Gehalt zu kassieren.

Das war sehr viel mehr, als ich verdauen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen machte ich ein paar Einwände geltend, die ihn auf die endgültige Absage vorbereiten sollten. Ich erzählte ihm von dem langen Gespräch mit meiner Mutter während der Reise nach Aracataca, wozu ich nie irgendeinen Kommentar von ihm gehört hatte, und begriff, dass seine Gleichgültigkeit dem Thema gegenüber die beste Antwort war. Traurig war vor allem, dass ich mit gezinkten Karten spielte, da ich wusste, dass man mich an der Universität nicht mehr annehmen würde, nachdem ich zwei Fächer des zweiten Studienjahrs nicht bestanden und auch nie nachgeholt hatte und im dritten Studienjahr in drei weiteren Fächern durchgefallen war, die ich nicht mehr wiederholen durfte. Ich hatte es der Familie verschwiegen, um ihr unnötigen Kummer zu ersparen, und ich wollte mir Papas Reaktion nicht einmal vorstellen, wenn ich es ihm an diesem Nachmittag erzählen würde. Zu Beginn des Gesprächs hatte ich mir vorgenommen, mir nicht das Herz erweichen zu lassen, nur weil es mir wehtat, dass ein so gütiger Mann vor seinen Kindern als Geschlagener dastand. Dann aber schien mir das zu vertrauensselig. Am Ende fand ich die einfache Formel, er möge mir eine Nacht Galgenfrist zum Nachdenken gewähren.

»Einverstanden«, sagte er, »vorausgesetzt, du verlierst dabei nicht aus den Augen, dass das Schicksal der Familie in deinen Händen liegt.«

Der Hinweis war überflüssig. Ich war mir meines Versagens so bewusst, dass ich, als ich ihn abends um sieben Uhr am letzten Bus verabschiedete, es kaum übers Herz brachte, mich nicht neben ihn zu setzen und mitzufahren. Mir war klar, der Kreis hatte sich geschlossen, und die Familie war wieder so arm, dass ein Überleben nur möglich schien, wenn alle halfen.

Es war keine gute Nacht für eine Entscheidung. Die Polizei hatte mehrere Familien, die vor der violencia auf dem Lande geflohen waren und im Parque de San Nicolás kampierten, gewaltsam vertrieben. Der Frieden im Café Roma war dennoch unerschütterlich. Die spanischen Exilanten pflegten mich immer nach Don Ramon Vinyes zu fragen, und immer sagte ich scherzend, dass in seinen Briefen keine Neuigkeiten aus Spanien, sondern nur sehnsüchtige Fragen nach Barran-quilla stünden. Seitdem er gestorben war, erwähnten sie ihn nicht mehr, hielten aber seinen Stuhl an ihrem Tisch frei. Ein Gast beglückwünschte mich zu der »Jirafa« des Vortags, die ihn irgendwie an den ungebändigten Romantizismus von Mariano José de Larra erinnerte, allerdings erfuhr ich nicht warum. Professor Pérez Domenech erlöste mich mit einem seiner passenden Sätze aus der Verlegenheit: »Ich hoffe, Sie eifern ihm nicht auch darin nach, sich zu erschießen.« Das hätte er, glaube ich, nicht gesagt, wenn er gewusst hätte, wie nah daran ich in jener Nacht war.

Eine halbe Stunde später nahm ich Germán Vargas am Arm und führte ihn in den hinteren Teil des Café Japy. Sobald man uns bedient hatte, sagte ich ihm, ich müsse ihn dringend um Rat bitten. Die Tasse, aus der er gerade trinken wollte, blieb auf halbem Weg zum Mund stehen - ganz wie bei Don Ramón -, und er fragte mich alarmiert:

»Wo wollen Sie hin?«

Ich staunte über seine Hellsicht:

»Verdammt, woher wissen Sie?«

Er wusste es nicht, hatte es aber vorausgesehen und meinte, dass mein Abgang das Ende von Crónica bedeute, und eine Verantwortungslosigkeit sei, die mich den Rest meines Lebens über belasten würde. Er gab mir zu verstehen, es sei fast schon Verrat, und er hatte mehr Recht als jeder andere, so etwas zu sagen. Keiner von uns wusste, was wir mit Crónica machen sollten, aber uns allen war bewusst, dass Alfonso die Zeitschrift in einem prekären Augenblick am Leben erhalten hatte, und zwar auch durch Investitionen, die seine Möglichkeiten überstiegen. So ist es mir nicht gelungen, Germán von dem bösen Gedanken abzubringen, dass mein unvermeidlicher Umzug das Todesurteil für die Zeitschrift war. Ich bin mir sicher, dass er, der alles verstand, wusste, dass meine Gründe zwingend waren, doch er erfüllte seine moralische Pflicht, als er mir sagte, was er dachte.

Am nächsten Tag lieferte Álvaro Cepeda, während er mich zum Büro von Crónica fuhr, einen anrührenden Beweis dafür, wie sehr ihn intime Gewitter zwischen den Freunden belasteten. Germán hatte Álvaro zweifellos von meiner Absicht wegzuziehen erzählt, doch seine vorbildliche Zurückhaltung bewahrte uns beide vor jeder müßigen Diskussion.

»Was soll's«, sagte er zu mir. »Gehst du nach Cartagena, gehst du nirgendwohin. Beschissen wäre, wenn du nach New York zögest, wie ich es musste, aber hier siehst du mich, heil und ganz.«

Das war eine der Parabeln, die ihm in Fällen wie dem meinen halfen, über den Kummer hinwegzukommen. Deshalb wunderte es mich auch nicht, dass er es dann vorzog, zum ersten Mal über mögliche Filmprojekte in Kolumbien zu sprechen, ein Thema, das wir ohne Ergebnis unser Leben lang bewegen sollten. Er streifte es eher nebenbei, wie um mir noch eine gemeinsame Hoffnung zu lassen, und blieb dann abrupt inmitten der sich stauenden Menschenmenge zwischen den Töpferständen der Galle San Blas stehen.

»Ich habe schon zu Alfonso gesagt«, schrie er mir noch vom Autofenster aus zu, »er soll diese Zeitschrift abservieren, und dann machen wir so was wie Time!«

Das Gespräch mit Alfonso war weder für ihn noch für mich leicht, weil schon seit sechs Monaten etwas zur Klärung anstand und wir beide in heiklen Situationen an einer Art mentaler Sprachstörung litten. Folgendes war vorgefallen: In einem meiner Anfälle von kindischem Trotz hatte ich in der Setzerei meinen Namen und meine Funktion aus dem Titel von Crónica entfernt, quasi die Metapher einer formellen Kündigung, und ich hatte, als das Gewitter vorüber war, vergessen, beides wieder einzusetzen. Erst nach zwei Wochen fiel es Germán Vargas auf, der Alfonso darauf ansprach. Auch dieser war überrascht. Porfirio, der Chef der Herstellung, erzählte ihnen, was passiert war, und sie kamen überein, die Dinge so zu lassen, bis ich mich dazu geäußert hätte. Zu meinem Unglück vergaß ich das völlig, bis zu dem Tag, an dem Alfonso und ich uns über meinen Abschied von Crónica einigten. Als wir das erledigt hatten, verabschiedete er mich lachend mit einem seiner typischen Witze, hart, aber unwiderstehlich.

»Ein Glück«, sagte er, »dass wir nicht einmal Ihren Namen von der Titelseite entfernen müssen.«

Erst da kam mir der Zwischenfall mit der Schärfe eines Messerstichs wieder ins Bewusstsein, und ich glaubte, im Boden zu versinken, nicht wegen Alfonsos schlagfertiger Bemerkung, sondern weil ich vergessen hatte, diese Geschichte zu klären. Alfonso hatte, wie zu erwarten, ein vernünftiges Argument für seine Spitze. Da es sich um den einzigen unbereinigten Missklang handelte, wäre es nicht anständig gewesen, ihn ungeklärt zu lassen. Um den Rest würde sich Alfonso gemeinsam mit Álvaro und Germán kümmern, und wenn es mal so weit käme, dass man das Schiff mit vereinten Kräften vor dem Untergang bewahren musste, konnte ich ja auch in zwei Stunden zurück sein. Als eiserne Reserve für Notfälle rechneten wir mit dem Redaktionsbeirat, einer Art von göttlicher Vorsehung, wir hatten ihn allerdings noch nie an dem langen Nussbaumtisch der großen Entscheidungen vollständig versammeln können.

Germáns und Álvaros Stellungnahmen gaben mir den nötigen Mut für meinen Aufbruch nach Cartagena. Alfonso hatte Verständnis für meine Gründe, und das erleicherte ihm den Abschied, er insinuierte aber nicht, dass meine Kündigung das Ende von Crónica bedeuten könne. Im Gegenteil, er empfahl mir, die Krise nicht allzu ernst zu nehmen, man werde der Zeitschrift, so beruhigte er mich, mit Hilfe des Redaktionsbeirats eine solide Basis verschaffen, und wenn es etwas zu tun gäbe, das wirklich der Mühe wert sei, würde er mir Bescheid sagen.

Das war für mich der erste Hinweis, dass Alfonso die unglaubliche Möglichkeit des Endes von Crónica überhaupt in Betracht zog. Und es kam, ohne Tränen oder Jubel. Ein halbes Jahrhundert später habe ich dennoch den Eindruck, dass die Zeitschrift ein wichtiges Ereignis im Journalismus des Landes war. Es ist keine vollständige Sammlung von Crónica erhalten, nur sechs Nummern - die sechs ersten - und einige Ausschnitte in der katalanischen Bibliothek von Don Ramón Vinyes.

Ein glücklicher Zufall war, dass man in dem Haus, in dem ich mich eingemietet hatte, neue Wohnzimmermöbel kaufen wollte und mir die alten zum Versteigerungspreis anbot. Am Vorabend meiner Reise, als ich mit El Heraldo abrechnete, ließen sie sich bei der Zeitung darauf ein, mir das Honorar für sechs Monate »La Jirafa« vorzustrecken. Mit einem Teil dieses Geldes kaufte ich Mayito die Möbel für unser Haus in Cartagena ab, weil ich wusste, dass die Familie nicht die aus Sucre mitnehmen und auch keine anderen kaufen konnte. Dabei muss ich erwähnen, dass die Möbel nach weiteren fünfzig Jahren immer noch gut erhalten und in Gebrauch sind, weil die dankbare Mutter nie zugelassen hat, dass man sie verkaufte.

Eine Woche nach dem Besuch meines Vaters zog ich mit den Möbeln und nur wenig mehr, als ich am Leibe trug, nach Cartagena. Anders als beim ersten Mal wusste ich, wie ich alles Nötige zu erledigen hatte, kannte die Leute, an die ich mich wenden konnte, und wünschte von ganzem Herzen, dass es der Familie gut ergehen möge, mir dagegen sollte es als Strafe für meinen schwachen Charakter schlecht ergehen.

Das Haus hatte eine gute Lage im Viertel La Popa, im Schatten des historischen Klosters, das aussah, als sei es kurz davor einzustürzen. Die vier Schlafzimmer und zwei Bäder im Erdgeschoss waren für die Eltern und ihre elf Kinder vorgesehen, von denen ich, der Älteste, fast sechsundzwanzig und Eligio, der Jüngste, fünf Jahre alt war. Alle aber waren gut erzogen in der karibischen Kultur der Hängematten, Bodenmatten und der Betten für mehrere Schläfer.

Im Obergeschoss wohnte Onkel Hermogenes Sol, ein Bruder meines Vaters, mit seinem Sohn Carlos Martínez Simahan. Das Haus war nicht groß genug für so viele Leute, aber die Miete war niedrig dank der Geschäfte des Onkels mit der Eigentümerin, von der wir nur wussten, dass sie Pepa genannt wurde. Die Familie, mit ihrem unerbittlichen Sinn für Spott, hatte aus der Adresse bald ein perfektes Couplet gemacht: »Das Haus von der Pepa am Pie de la Popa.«

Die Ankunft des Familientrosses ist für mich eine Erinnerung voller Geheimnisse. In der halben Stadt war der Strom ausgefallen, und wir versuchten im Finsteren das Haus herzurichten, um die Kinder schlafen legen zu können. Die älteren Geschwister erkannte ich an den Stimmen, die Kleinen hatten sich jedoch seit meinem letzten Besuch dermaßen verändert, dass ihre riesigen, traurigen Augen mir im Kerzenlicht unheimlich waren. Das Durcheinander von Koffern, Bündeln und im Dunkeln baumelnden Hängematten durchlitt ich wie einen häuslichen 9. April. Am größten war jedoch mein Entsetzen, als ich einen formlosen Sack wegtragen wollte, der mir aber aus den Händen glitt. Es waren Großmutter Tranquilinas sterbliche Überreste, die meine Mutter ausgegraben hatte, um sie im Beinhaus von San Pedro Claver beizusetzen, wo nun, in derselben Krypta, auch die meines Vaters und die meiner Tante Elvira Carrillo liegen.

Mein Onkel Hermógenes Sol war genau der richtige Mann in jener Notsituation. Man hatte ihn zum Generalsekretär der Bezirkspolizei in Cartagena ernannt, und seine erste durchgreifende Maßnahme im Amt war, eine bürokratische Schneise zur Rettung der Familie zu schlagen. Es gab Arbeit für alle. Mich eingeschlossen, einen politisch Verirrten, von dem es hieß, er sei ein Kommunist. Diesen Ruf hatte ich mir nicht aufgrund meiner Ideologie, sondern wegen meiner Kleidung erworben. Papa bekam eine Stellung ohne politische Verantwortung in der Verwaltung. Mein Bruder Luis Enrique wurde zum Detektiv ernannt, und ich bekam einen Druckposten im Büro der Volkszählung, die von der konservativen Regierung anberaumt worden war, vielleicht weil man feststellen wollte, wie viele von uns Gegnern noch am Leben waren. Der moralische Preis des Postens war höher als der politische, weil ich alle zwei Wochen das Gehalt abholte und mich die übrige Zeit nicht in der Gegend sehen lassen durfte, um Fragen aus dem Weg zu gehen. Die offizielle Rechtfertigung, nicht nur für mich, sondern für über hundert weitere Angestellte, lautete, dass man in offiziellem Auftrag außerhalb der Stadt unterwegs war.

Das Café Moka, das gegenüber vom Volkszählungsbüro lag, war ständig überfüllt mit falschen Beamten, die nur zum Kassieren aus den Nachbardörfern kamen. In der Zeit, in der ich dort auf der Gehaltsliste stand, habe ich keinen Centavo des Geldes für mich persönlich ausgegeben, da die Summe lebensnotwendig für die Familie war und vollständig im Haushaltsgeld aufging. Inzwischen hatte mein Vater versucht, mich in der juristischen Fakultät einzuschreiben, und war dabei auf die Wahrheit gestoßen, die ich ihm verschwiegen hatte. Allein die Tatsache, dass er nun Bescheid wusste, machte mich so glücklich, als hätten sie mir ein Diplom verliehen. Mein Glück war sogar verdient, weil ich trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse endlich die Zeit und den Raum gefunden hatte, um meinen Roman zu beenden.

Als ich bei El Universal auftauchte, behandelten sie mich wie einen Heimkehrer. Es war sechs Uhr abends, die geschäftigste Zeit, und bei meinem Eintreten schwiegen abrupt die Setz-und Schreibmaschinen, so dass ich einen Kloß im Hals hatte. Für die Indiosträhnen Maestro Zabalas war die Zeit stehen geblieben. Ich schien nie weg gewesen zu sein, denn Zabala bat mich sogleich um den Gefallen, ihm einen Kommentar zu schreiben, zu dem er noch nicht gekommen war. An meiner Schreibmaschine saß ein jugendlicher Anfänger, der mir so eilig und ungeschickt den Platz freimachte, dass er hinfiel. Nach zwei Jahren der Ungebundenheit bei »La Jirafa« war ich zunächst überrascht, wie schwer es mir fiel, einen anonymen Beitrag mit der gebotenen editorischen Umsicht zu verfassen. Ich hatte etwa eine Seite geschrieben, als Direktor López Escauriaza kam, um mich zu begrüßen. Seine britische Gelassenheit war unter Freunden und in politischen Karikaturen ein Allgemeinplatz, so dass ich über sein freudiges Erröten bei der Begrüßungsumarmung mehr als überrascht war. Als ich den Beitrag fertig geschrieben hatte, wartete Zabala mit einem Zettel auf mich, auf dem der Direktor ausgerechnet hatte, dass er mir ein Gehalt von 120 Pesos pro Monat für Redaktionsbeiträge anbieten konnte. Ich war so beeindruckt von der Summe, die für die Zeit und den Ort ungewöhnlich war, dass ich nicht einmal antwortete oder dankte, sondern mich gleich hinsetzte, um zwei weitere Beiträge zu schreiben, berauscht von dem Gefühl, dass die Erde tatsächlich um die Sonne kreist.

Es war wie eine Rückkehr zu den Ursprüngen. Die gleichen Themen, mit liberalem Rot von Maestro Zabala korrigiert, von der gleichen Zensur eines inzwischen durch die j ruchlosen Listen der Redaktion gezähmten Zensors synkopisch gekürzt, die gleichen Mitternachtsstunden mit Beefsteaks, Spiegelei und Bananen im La Cueva und die gleichen Weltverbesserungsgespräche im Morgengrauen auf dem Paseo de los Mártires. Rojas Herazo hatte ein Jahr lang seine Bilder verkauft, um irgendwo anders hinzuziehen, bis er Rosa lsabel die Große heiratete und nach Bogotá zog. Gegen Ende der Nacht setzte ich mich hin, um »La Jirafa« zu schreiben, die ich mit der gewöhnlichen Post - etwas Moderneres gab es damals nicht - an El Heraldo schickte. Mit Ausnahmen, die höherer Gewalt geschuldet waren, lieferte ich pünktlich, bis ich meine Schulden abgearbeitet hatte.

Das Leben mit der ganzen Familie unter schwierigsten Bedingungen ist keine Sache der Erinnerung, sondern der Vorstellungskraft. Die Eltern schliefen mit dem einen oder anderen der kleinen Kinder in einem Zimmer im Erdgeschoss. Die vier Schwestern meinten inzwischen Anspruch auf ein eigenes Zimmer zu haben. Im dritten schliefen Hernando und Alfrede Ricardo unter der Aufsicht von Jaime, der sie mit seinen philosophischen und mathematischen Predigten wach hielt. Rita, die etwa vierzehn war, lernte bis Mitternacht vor der Eingangstür unter dem Licht der Straßenlaterne, um im Haus Strom zu sparen. Sie lernte die Lektionen auswendig, indem sie sich diese laut vorsang, mit der Anmut und der guten Diktion, die sie noch immer hat. Viele Merkwürdigkeiten in meinen Büchern stammen aus ihren Leseübungen, wie etwa das Maultier geht zur Mühle oder die Schokolade des Schülers schmilzt in der schummrigen Schule oder der Dompteur widmet sich dem dräuenden Drachen. Das Haus wurde nach Mitternacht noch lebendiger, vor allem menschlicher; da ging jemand in die Küche, um Wasser zu trinken, oder auf die Toilette wegen fester oder flüssiger Dringlichkeiten, und Hängematten wurden in den Gängen über Kreuz auf unterschiedlicher Höhe befestigt. Nachdem der Onkel und sein Sohn sich in ihrem eigenen Haus eingerichtet hatten, wohnte ich zusammen mit Gustave und Luis Enrique und später auch Jaime im Obergeschoss; Jaime war bei Strafe auferlegt, nach neun Uhr abends über nichts mehr zu salbadern. Einmal hielt uns nach Mitternacht das zyklische Blöken eines verwaisten Lämmchens stundenlang wach. Gustave sagte verzweifelt:

»Wie ein Leuchtturm.«

Ich habe es nie vergessen, denn das war die Art von Vergleichen, die ich damals im wirklichen Leben für den entstehenden Roman aufschnappte.

Es war das lebendigste Haus unter all den Häusern, in denen wir in Cartagena wohnten und die, wie die Mittel der Familie, immer bescheidener wurden. Auf der Suche nach billigeren Vierteln sind wir abgestiegen bis zu dem Haus in Toril, wo um Mitternacht der Geist einer Frau spukte. Ich hatte das Glück, damals nicht in Cartagena zu sein, aber allein die Zeugnisse von Eltern und Geschwistern weckten ein Grauen in mir, als sei ich da gewesen. Meine Eltern lagen in der ersten Nacht im Halbschlaf auf dem Sofa im Salon, als sie sahen, wie die Wiedergängerin in einem Kleid mit roten Blümchen und mit kurzem Haar, das hinter den Ohren von roten Schleifen gehalten wurde, von einem Schlafzimmer zum anderen ging, ohne die Eltern eines Blicks zu würdigen. Meine Mutter konnte sogar den Schnitt ihres Kleids und die Form der Schuhe beschreiben. Papa bestritt, den Geist gesehen zu haben, um seine Frau nicht noch mehr aufzuregen und die Kinder nicht zu erschrecken, doch die Selbstverständlichkeit, mit der sich das

Gespenst von Einbruch der Dunkelheit an im Haus bewegte, erlaubte nicht, es zu ignorieren. Meine Schwester Margot wachte eines frühen Morgens auf und sah, wie die Frau sie vom Gitter des Betts aus anstarrte. Am meisten gruselte ihr jedoch davor, aus einem anderen Leben angesehen zu werden.

Am Sonntag nach der Messe bestätigte eine Nachbarin meiner Mutter, dass das Haus über Jahre leer gestanden hatte, weil die Gespensterfrau so dreist gewesen war, auch schon mal am helllichten Tage, als die Mieter zu Mittag aßen, im Esszimmer zu erscheinen. Am nächsten Tag machte sich meine Mutter mit zwei der kleineren Kinder auf die Suche nach einem anderen Haus und hatte es innerhalb von vier Stunden gefunden. Den meisten Geschwistern fiel es jedoch schwer, die Angstvorstellung zu bannen, dass der Geist der Toten mit ihnen umgezogen war.

Trotz der vielen Zeit, die ich im Haus am Pie de la Popa zur Verfügung hatte, waren die Tage für mich zu kurz, weil ich so viel Lust zum Schreiben hatte. Don tauchte auch wieder Ramiro de la Espnella mit dem Diplom eines Doktors der Jurisprudenz auf, er war politisierter denn je und begeistert von der Lektüre neu erschienener Romane. Vor allem von Curzio Malapartes Die Haut, einem Roman, der sich in jenem Jahr zu einem Schlüsseltext meiner Generation entwickelte. Die effektsichere Prosa, die Kraft der Intelligenz und die schauerliche Darstellung der zeitgenössischen Geschichte hielten uns bis zum Morgengrauen in Atem. Die Zeit hat uns jedoch gezeigt, dass Malaparte dazu bestimmt war, ein nützliches Beispiel für ganz andere Tugenden als jene zu sein, die ich mir wünschte, und das hat sein Ansehen schließlich zerstört. Eine gegenteilige Erfahrung machten wir fast zur gleichen Zeit mit Albert Camus.

Die Familie De la Espriella wohnte damals in unserer Nähe, und sie hatte einen Weinkeller, aus dem die Brüder unschuldige einzelne Flaschen stibitzten, um sie uns zu bringen. Gegen den Rat von Don Ramon Vinyes las ich den De la Espriellas und meinen Brüdern lange Stücke aus meinen Manuskripten vor, so wie sie waren, unbearbeitet auf eben den Druckpapierstreifen, auf denen ich in den schlaflosen Nächten von El Universal alles schrieb.

Zu jener Zeit kamen auch Alvaro Mutis und Gonzalo Mallarino zurück, doch ich war schamvoll genug, sie nicht darum zu bitten, meinen unfertigen Entwurf zu lesen, der noch keinen Titel hatte. Ich wollte mich zurückziehen, um vor der letzten Korrektur eine Abschrift im normalen Seitenformat anzufertigen. Diese Fassung war dann etwa vierzig Seiten länger als vorgesehen, aber mir war damals noch nicht bewusst, dass das ein schwer wiegender Makel war. Eins wurde mir bald klar: Ich hänge sklavisch einer perfektionistischen Strenge an, die mich dazu zwingt, im Vorhinein den Umfang eines Buches zu berechnen, die genaue Seitenzahl jedes Kapitels und des Buches insgesamt. Ein einziger deutlicher Fehler in dieser Berechnung zwingt mich dazu, alles noch einmal neu zu bedenken, sogar ein Tippfehler bringt mich in Unruhe, als sei es ein Fehler im schöpferischen Entwurf. Ich dachte damals, dieser absolute Anspruch sei einer besonders strengen Pflichtauffassung geschuldet, doch heute weiß ich, es war einfach Angst, die pure physische Angst.

Wieder einmal ließ ich die Warnung von Don Ramon Vinyes außer Acht und schickte Gustavo Ibarra die vollständige Rohfassung noch ohne Titel, als ich sie für beendet hielt. Zwei Tage später lud er mich zu sich ein. Er saß auf der Terrasse zum Meer in einem Schaukelstuhl aus Rohrgeflecht, sonnengebräunt, entspannt und in Strandkleidung, und ich war voller Rührung ob der Zärtlichkeit, mit der er über meine Seiten strich, während er mit mir redete. Ein wirklicher Lehrer, der mir keine Lektion über das Buch erteilte, mir auch nicht sagte, ob er es gut oder schlecht fand, sondern mir die ethischen Implikationen des Romans bewusst machte. Als er zu Ende gesprochen hatte, sah er mich zufrieden an und schloss mit der üblichen Einfachheit:

»Das ist der Mythos von Antigone.«

Er sah mir an, dass ich nicht folgen konnte, holte aus seinem Regal den Sophokles-Band und las mir vor, was er meinte. Der tragische Konflikt in meinem Roman war im Kern tatsächlich der gleiche wie der Antigones, der ein Befehl König Kreons, ihres Onkels, verbot, die Leiche ihres Bruders Polyneikes zu bestatten. Ich hatte Ödipus auf Kolonos in dem Band gelesen, den mir Gustavo, als wir uns kennen lernten, geschenkt hatte, erinnerte mich jedoch nicht mehr so gut an den Antigone-Mythos, als dass ich ihn im Drama der Bananenregion hätte rekonstruieren können, auch waren mir die emotionalen Ähnlichkeiten bis dahin nicht aufgefallen. Mein Herz war erschüttert vor Glück und Enttäuschung. In jener Nacht las ich das Werk mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Schmerz. Stolz, weil ich guten Glaubens mit einem so großen Dichter übereingestimmt hatte, und Schmerz wegen der öffentlichen Schande des Plagiats. Nach einer tRuben Woche der Krise entschied ich mich für einige inhaltliche Änderungen, die meinen guten Glauben belegen sollten, merkte dabei aber noch nicht, welch übermenschliche Hoffart darin lag, ein eigenes Buch zu verändern, damit es nicht an Sophokles erinnere. Am Ende resignierte ich, fühlte mich aber moralisch berechtigt, einen Satz von Sophokles als ehrerbietiges Motto zu verwenden, was ich dann auch tat.

Der Umzug nach Cartagena bewahrte uns gerade noch rechtzeitig vor dem ernsten und bedrohlichen Verfall Sucres, doch die meisten unserer Berechnungen erwiesen sich als illusorisch, sowohl wegen der knappen Einkünfte als auch wegen der Größe der Familie. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass die Kinder der Armen mehr essen und schneller wachsen als die der Reichen, und führte als Beweis ihre Familie an. Alle Gehälter zusammen reichten nicht, um ohne böse Überraschungen zu leben.

Die Zeit sorgte für das Übrige. Jaime wurde - durch eine weitere Familienverschwörung - Bauingenieur und hatte damit in einer Familie, für die ein Diplom so wertvoll wie ein Adelsprädikat war, als Einziger einen akademischen Abschluss. Luis Enrique wurde Lehrer für Buchführung, und Gustave machte eine Ausbildung als Topograf. Und beide hörten nicht auf, Gitarristen und Sänger von Auftragsserenaden zu sein. Eligio - Yiyo - versetzte uns seit seiner Kindheit mit seinem offensichtlichen literarischen Talent und seinem eigenwilligen Charakter in Erstaunen, von dem er uns als Fünfjähriger eine frühreife Probe gegeben hatte, als man ihn bei dem Versuch ertappte, einen Kleiderschrank in Brand zu setzen, weil er gerne sehen wollte, wie die Feuerwehrleute bei uns im Haus das Feuer löschten. Später einmal, als er und sein Bruder Cuqui von älteren Mitschülern Marihuana angeboten bekamen, lehnte Yiyo erschrocken ab, Cuqui dagegen, der immer neugierig und wagemutig gewesen ist, sog den Rauch tief ein. Jahre später, als er schon ein Schiffbrüchiger im Sumpf der Drogen war, erzählte er mir, dass er sich bei jenem ersten Trip gesagt hatte: »Scheiße! Ich will im Leben einzig und allein das.« In den folgenden vierzig Jahren dieser zukunftslosen Leidenschaft hat er nichts anderes getan, als Wort zu halten. Im Alter von zweiundfünfzig Jahren gönnte er sich in seinem künstlichen Paradies zu viel des tödlich Guten und wurde von einem schweren Herzinfarkt dahingerafft.

Nanchi - der friedlichste Mensch der Welt - blieb nach dem obligatorischen Wehrdienst in der Armee, übte sich an allen Arten moderner Waffen und nahm an zahlreichen Gefechtsübungen teil, hatte aber nie Gelegenheit, in einem unserer vielen chronischen Kriege zu kämpfen. Also gab er sich, als er die Armee verließ, mit dem Beruf eines Feuerwehrmanns zufrieden, kam aber in über fünf Jahren nicht dazu, einen einzigen Brand zu löschen. Trotz allem war er nie frustriert, denn er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, der ihn daheim als Meister des schnellen Witzes auswies und ihm erlaubte, glücklich zu sein, schon allein deswegen, weil er lebendig war.

Yiyo entwickelte sich in den schlimmsten Jahren der Armut freihändig zum Schriftsteller und Journalisten, ohne je geraucht oder einen Schluck zu viel getrunken zu haben. Seine brennende Berufung zur Literatur und seine verschwiegene Kreativität setzten sich gegen alle Widrigkeiten durch. Er starb mit vierundfünfzig Jahren, und die Zeit hatte ihm gerade noch gereicht, um eine meisterhafte Untersuchung des verborgenen Lebens in Hundert Jahre Einsamkeit zu veröffentlichen. Er arbeitete jahrelang an dem Werk, das über sechshundert Seiten hatte, ohne dass ich davon gewusst und ohne dass er mich je direkt um eine Information gebeten hätte.

Rita, kaum erwachsen, war aus fremdem Schaden klug geworden. Als ich nach langer Abwesenheit ins Elternhaus zurückkehrte, schmorte sie im üblichen Fegefeuer wegen ihrer Liebe zu einem dunkelhäutigen jungen Mann, der, stattlich und rechtschaffen, allenfalls wegen des Größenunterschieds von zweieinhalb Spannen nicht zu Rita passte. Am selben Abend noch ging ich zu meinem Vater, der gerade in seiner Hängematte im Schlafzimmer Nachrichten hörte. Ich drehte die Lautstärke des Radios herunter, setzte mich auf das Bett gegenüber und fragte ihn mit dem Recht des Erstgeborenen, was es denn mit Ritas Liebe auf sich habe. Er feuerte mir die Antwort, die er zweifellos schon seit langem vorbereitet hatte, ins Gesicht:

»Nichts, außer dass der Kerl ein Dieb ist.«

Genau so etwas hatte ich erwartet.

»Was für ein Dieb?«, fragte ich ihn.

»Ein richtiger Dieb«, sagte er und sah mich noch immer nicht an.

»Aber was hat er denn gestohlen?«, fragte ich mitleidlos weiter.

Er sah mich noch immer nicht an.

»Na ja«, seufzte er schließlich, »nicht er, aber sein Bruder sitzt wegen Diebstahls im Gefängnis.«

»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte ich unverfroren, »denn Rita will ja nicht den Sträfling heiraten, sondern den, der nicht im Gefängnis sitzt.«

Er erwiderte nichts. Seine Rechtschaffenheit ohne Tadel war schon bei der ersten Antwort an ihre Grenzen gestoßen, da er inzwischen bereits wusste, dass auch das Gerücht mit dem Bruder im Gefängnis nicht stimmte. Nachdem ihm die Argumente ausgegangen waren, versuchte Papa wenigstens den Mythos des Anstands hochzuhalten.

»Na gut, aber dann sollen sie gleich heiraten, denn ich dulde keine langen Verlobungszeiten in meinem Haus.«

Meine Antwort kam sofort und war von einer Erbarmungslosigkeit, die ich mir nie verziehen habe:

»Morgen früh.«

»Mann! Warum denn gleich übertreiben?«, erwiderte mein Vater überrumpelt, aber schon mit einem ersten Lächeln. »Das Mädelchen hat doch noch nicht mal was zum Anziehen.«

Tante Pa sah ich zum letzten Mal, als sie fast neunzigjährig an einem niederträchtig heißen Nachmittag unangekündigt in Cartagena auftauchte. Sie war mit ihrem Schulköfferchen in einem Schnelltaxi gekommen, trug Trauerkleidung und hatte sich einen schwarzen Stofffetzen als Turban umgebunden. Strahlend und mit ausgebreiteten Armen betrat sie das Haus und rief für alle hörbar:

»Ich komme, mich zu verabschieden, weil ich nun bald sterbe.«

Wir nahmen sie auf, nicht nur weil sie die Tante war, sondern weil wir wussten, wie gut sie sich mit dem Geschäft des Todes auskannte. Sie blieb im Haus, wartete auf ihre Stunde in der Dienstbotenkammer, denn nur dort wollte sie schlafen, und dort starb sie schließlich auch, im Duft der Keuschheit und in einem Alter, das wir auf hundert und ein Jahr schätzten.

Jene Zeit war für mich bei El Universal ungewöhnlich intensiv. Zabala wies mir mit seiner politischen Klugheit den Weg, damit meine Beiträge das aussagten, was sie sollten, ohne dem Stift der Zensur zum Opfer zu fallen, und zum ersten Mal zeigte er auch Interesse für meinen alten Wunsch, Reportagen für die Zeitung zu schreiben. Bald kam das schreckliche Thema der am Strand von Marbella von Haien angegriffenen Touristen auf. Der Stadtverwaltung fiel jedoch nichts Originelleres dazu ein, als fünfzig Pesos für jeden toten Hai auszusetzen, und schon am nächsten Tag reichten die Zweige der Mandelbäume nicht aus, um die in der Nacht gefangenen Haie auszustellen. Héctor Rojas Herazo lachte sich darüber tot und schrieb in seiner neuen Kolumne in El Tiempo einen spöttischen Beitrag aus Bogotá über den Unsinn, bei der Jagd auf Haie nach bewährter Art das Pferd beim Schwanz aufzuzäumen. Das brachte mich auf die Idee, eine Reportage über die nächtliche Jagd zu schreiben. Zabala unterstützte den Plan begeistert, doch mein Scheitern zeichnete sich schon ab, als ich ins Boot steigen wollte und man mich fragte, ob ich seekrank würde, und ich das abstritt; ob ich Angst vor dem Meer hätte, und ich das ebenfalls abstritt, obwohl ich große Angst hatte, und dann wurde mir zum Schluss noch die Frage gestellt, die am Anfang hätte stehen müssen, ob ich schwimmen könne, und ich wagte nicht zu lügen. Allerdings erfuhr ich auf dem Trockenen durch ein Gespräch mit Seeleuten, dass die Jäger bis zu den 89 Seemeilen entfernten Bocas de Ceniza hinausfuhren und von dort mit unschuldigen Haien beladen zurückkehrten, um für die angeblichen Bösewichte fünfzig Pesos das Stück zu kassieren. Die große Nachricht verpuffte noch am gleichen Tag, und mir verging die Lust an der Reportage. Stattdessen veröffentlichte ich meine achte Erzählung: Naibo, der Neger, der die Engel warten ließ. Immerhin bescheinigten mir zwei ernst zu nehmende Kritiker und meine strengen Freunde in Barranquilla eine positive Neuorientierung.

Ich war wohl nicht politisch reif genug, um mich aufrütteln zu lassen, jedenfalls versackte ich ähnlich wie schon einmal zuvor. Ich hatte das Gefühl, so festgefahren zu sein, dass mein einziges Vergnügen war, mit den Betrunkenen bis zum Morgengrauen in Las Bovedas zu singen. Das waren die Kasematten in der Befestigungsmauer, in denen während der Kolonialzeit Bordelle für die Soldaten untergebracht gewesen waren und später ein finsteres politisches Gefängnis. General Francisco de Paula Santander hatte dort eine achtmonatige Strafe abgesessen, bevor er von seinen Waffen- und Gesinnungskameraden nach Europa in die Verbannung geschickt wurde.

Der Ajfseher dieser historischen Reliquien war ein Setzer im Ruhestand. Wenn die Zeitungen schlössen, rückten seine noch aktiven Kollegen an, um jeden Tag den neuen Tag mit einem Demijohn weißen Rums zu begehen, der heimlich nach Gaunerart gebrannt worden war. Die Setzer waren schon aus Familientradition gebildet, zudem besessene Grammatiker und große Samstagstrinker. Ich schloss mich ihrer Zunft an.

Der jüngste Setzer hieß Guillermo Davila, und ihm war die Großtat gelungen, trotz des Starrsinns einiger regionaler Führer, die keine Cachacos in ihre Innung aufnehmen wollten, an der Küste Arbeit zu finden. Vielleicht war ihm dabei seine besondere Kunstfertigkeit zustatten gekommen, denn er verstand nicht nur sein Handwerk und strahlte Sympathie aus, sondern war auch ein wunderbarer Taschenspieler. Wir konnten nur immer wieder über seine magischen Streiche staunen, wenn er lebende Vögel aus den Schreibtischschubladen fliegen ließ oder wenn die Seite mit dem Artikel, den wir gerade kurz vor Redaktionsschluss abgegeben hatten, plötzlich leer war. Der strenge und pflichtbewusste Maestro Zabala vergaß dann für einen Augenblick Paderewski und die proletarische Revolution und bat um Applaus für den Magier, allerdings stets mit dem nie befolgten Hinweis verbunden, dies sei nun wirklich das letzte Mal. Mit einem Zauberer die Routine des Alltags zu teilen war für mich, als entdeckte ich endlich die Wirklichkeit.

An einem jener frühen Morgende in Las Bovedas erzählte mir Davila von seiner Idee, eine Zeitung von vierundzwanzig mal vierundzwanzig zu machen, also im halben Seitenformat, um sie gratis in der Stoßzeit nach Geschäftsschluss zu verteilen. Es sollte die kleinste Zeitung der Welt werden, in nur zehn Minuten zu lesen. Das war sie dann auch. Sie hieß Comprimido, und ich schrieb sie gegen elf Uhr vormittags in einer Stunde, Dávila brauchte zwei Stunden für Layout und Druck, und ein wagemutiger Zeitungsverkäufer, der nicht genügend Puste hatte, um sie mehr als einmal auszurufen, verteilte sie.

Comprimido erschien am 18. September 1951 zum ersten Mal, und der Erfolg hätte nicht durchschlagender und kürzer sein können: drei Ausgaben in drei Tagen. Dávila gestand mir, dass er nicht einmal mit schwarzer Magie eine so bedeutende Idee mit so geringen Mitteln hätte umsetzen können, die so wenig Raum beanspruchte, in so wenig Zeit verwirklicht wurde, um dann so schnell wieder zu verschwinden. Am seltsamsten war, dass ich am zweiten Tag, berauscht davon, wie fanatisiert man sich auf der Straße um die Exemplare riss, einen Augenblick lang dachte, so einfach ließe sich mein Leben gestalten. Der Traum dauerte bis zum Donnerstag, als der Geschäftsführer uns erklärte, dass eine weitere Nummer die Pleite bedeuten würde, selbst wenn wir uns entschieden, Anzeigen zu drucken, da diese so klein und so teuer sein müssten, dass es einfach keine vernünftige Lösung für das Problem gab. Die Konzeption der Zeitung, die sich aus ihrem Format ergab, trug, mathematisch gesehen, den Keim der Zerstörung in sich: Je höher die Auflage war, desto kostspieliger wurde Comprimido.

Ich hing in der Luft. Der Umzug nach Cartagena war nach der Erfahrung mit Crónica angebracht und nützlich gewesen und hatte mir zudem eine günstige Atmosphäre beschert, um weiter an Laubsturm zu schreiben, vor allem, weil man in unserem Haus, wo Unerhörtes stets möglich schien, gewissermaßen in einem kreativen Fieber lebte. Ich muss mich nur an ein Mittagessen erinnern, als wir mit meinem Vater darüber sprachen, wie schwierig es für viele Schriftsteller sei, ihre Memoiren zu schreiben, wenn sie sich schon an nichts mehr erinnerten. Cuqui, kaum sechs Jahre alt, kam mit großartiger Einfachheit zu dem Schluss:

»Dann muss ein Schriftsteller eben als Erstes seine Memoiren schreiben, solange er sich noch an alles erinnert.«

Ich wagte nicht zuzugeben, dass mir mit Laubsturm das Gleiche widerfuhr wie einst mit La casa: Die Erzähltechnik interessierte mich inzwischen mehr als das Thema. Nachdem ich ein Jahr lang mit so viel Begeisterung daran gearbeitet hatte, offenbarte sich mir der Roman nun als Labyrinth ohne Ein- und Ausgang. Heute glaube ich den Grund dafür zu kennen. Durch den costumbrismo, das Genre der regionalistischen Sittenschilderung, das anfangs für so viel Erneuerung gesorgt hatte, bekamen schließlich auch die großen nationalen Themen, mit denen man seine Enge überwinden wollte, etwas Abgestandenes. Tatsächlich konnte ich damals keine Minute der Ungewissheit mehr aushaken. Ich musste nur noch einige Daten und stilistische Entscheidungen überprüfen, bevor ich den Schlusspunkt setzte, und dennoch hatte ich den Eindruck, dass der Roman nicht atmete. Nach der langen Arbeit in Finsternis war ich so festgefahren, dass ich das Buch schon untergehen sah, die Lecks aber nicht erkannte. Das Schlimme war, dass mir an diesem Punkt niemand mehr helfen konnte, da die Risse sich nicht im Text, sondern in mir selbst auftaten und nur meine Augen sie entdecken und nur mein Herz darunter leiden konnte. Vielleicht habe ich auch deshalb, als ich meine Schulden vom Möbelkauf bei El Heraldo abgearbeitet hatte, ohne es lang zu bedenken, mit dem Schreiben von »La Jirafa« ausgesetzt.

Leider reichten weder Findigkeit noch Widerstandskraft oder Liebe aus, um die Armut zu besiegen. Alles schien sie zu begünstigen. Nach einem Jahr wurde der Ausschuss für die Volkszählung aufgelöst, und mein Gehalt bei El Universal war zu gering, um das auszugleichen. Ich ging nicht an die juristische Fakultät zurück, obwohl sich einige Lehrer listenreich verschworen hatten, mich trotz meines Desinteresses an ihrem Interesse und ihrer Wissenschaft vorwärts zu bringen. Was wir alle zusammen verdienten, reichte für die Familie nicht aus; mein Beitrag war immer zu klein, das klaffende Loch zu stopfen, und der Mangel an Hoffnungen machte mir mehr zu schaffen als der Mangel an Geld.

»Wenn wir schon alle ertrinken sollen«, sagte ich an einem entscheidenden Tag beim Mittagessen, »dann lasst doch wenigstens zu, dass ich mich rette, um ein Ruderboot für euch aufzutreiben.«

In fester Erwartung des Bootes ergaben sie sich darein, und ich zog in der ersten Dezemberwoche wieder nach Barranquilla.

Alfonso Fuenmayor muss das alles auf den ersten Blick erraten haben, als er mich unangemeldet in unser altes Büro von El Heraldo - das von Cronica war wegen Geldmangels aufgegeben worden - treten sah. Er schaute mich über die Schreibmaschine an, als sei ich ein Gespenst, und rief besorgt aus:

»Was zum Teufel machen Sie hier, ohne Bescheid zu geben?«

Nicht oft in meinem Leben habe ich etwas geantwortet, das der Wahrheit so nahe kam:

»Ich bin am Ende, Maestro.«

Alfonso beruhigte sich.

»Ach so!«, sagte er, und in seiner alten Art spielte er dann auf die kolumbianischste Wendung aus der Nationalhymne an: »Der ganzen Menschheit, die in Ketten klagt, geht es zum Glück nicht anders.«

Er zeigte keinerlei Neugier für den Grund meiner Reise. Er glaubte eher an einen telepathischen Akt, hatte er doch allen, die in den vergangenen Monaten nach mir gefragt hatten, gesagt, dass ich jetzt irgendwann endgültig zurückkommen würde. Er erhob sich glücklich vom Schreibtisch, zog sich dabei sein Jackett an und meinte, ich käme wie vom Himmel gesandt, da er schon eine halbe Stunde zu spät für eine Verabredung sei, aber seinen Beitrag für den nächsten Tag noch nicht beendet habe; den solle ich doch bitte fertig schreiben. Ich kam gerade noch dazu, nach dem Thema zu fragen, und er antwortete mir in Eile vom Gang aus mit der Unverfrorenheit, die für unsere Freundschaft typisch war:

»Lesen Sie, dann werden Sie schon sehen.«

Am nächsten Tag standen sich im Büro von El Heraldo wieder zwei Schreibmaschinen gegenüber, und ich schrieb »La Jirafa«, immer noch für die gleiche Seite und - selbstverständlich - für das gleiche Geld. Und unter den gleichen persönlichen Bedingungen zwischen Alfonso und mir, so dass viele Beiträge absatzweise von dem einen und dem anderen geschrieben waren und es unmöglich war, sie zu unterscheiden.

Studenten der Zeitungswissenschaft oder Literatur haben in den Archiven versucht, die Texte zuzuordnen, das ist ihnen aber nur bei solchen gelungen, die ein spezifisches Thema haben, und dann nicht vom Stil her, sondern nur aufgrund der kulturellen Informationen.

Im Tercer Hombre hörte ich betrübt die schlechte Nachricht, dass man unseren Freund, den kleinen Dieb, getötet hatte. Eines Nachts war er wie immer losgezogen, um seinem Handwerk nachzugehen, und dann hatte man nur noch, ohne weitere Details, gehört, dass ihn in dem Haus, in das er gerade eingebrochen war, eine Kugel ins Herz getroffen hatte. Seine einzige Verwandte, die ältere Schwester, bat um die Herausgabe der Leiche, und zu dem Armenbegräbnis kamen nur wir und der Wirt des Tercer Hombre.

Ich zog wieder zu den Avilas. Meira Delmar, die nun erneut meine Nachbarin war, sorgte mit ihren beruhigenden Abendeinladungen für Läuterung nach meinen üblen Nächten im Gato Negro. Sie und ihre Schwester Alicia wirkten in ihrem Temperament wie Zwillingsschwestern, auch weil sie beide es schafften, dass die Zeit, wenn wir bei ihnen waren, im Kreis zu verlaufen schien. Auf eine ganz eigene Weise gehörten sie immer noch zur Gruppe. Mindestens einmal im Jahr wurden wir von ihnen zu einem Gastmahl mit arabischen Köstlichkeiten gebeten, die unsere Seelen labten, und dann gab es auch überraschende Einladungen, wenn berühmte Leute zu Besuch kamen, von großen Künstlern jedweder Sparte bis hin zu verirrten Poeten. Ich glaube, die Schwestern waren es, die gemeinsam mit Pedro Viaba Ordnung in meine chaotische Musikbegeisterung brachten und mich in die glückliche Clique des Centro Artistico aufnahmen.

Heute meine ich, dass Barranquilla mir einen schärferen Blick auf Laubstunn gewährte, jedenfalls machte ich mich, sobald ich wieder einen Schreibtisch und eine Maschine hatte, mit neuem Elan an die Korrektur. In jener Zeit wagte ich es dann auch, der Gruppe die erste lesbare Abschrift des Romans zu geben, wohl wissend, dass er noch nicht fertig war. Wir hatten schon so oft darüber geredet, dass jede Erklärung überflüssig war. Alfonso saß mir zwei Tage lang gegenüber, ohne den Text auch nur zu erwähnen. Am dritten Tag legte er, nachdem wir die letzten Arbeiten am Abend erledigt hatten, das offene Manuskript auf den Schreibtisch und las aus den Seiten vor, die er mit Papierstreifen markiert hatte. Er zeigte sich weniger als Kritiker denn als Lektor, der Widersprüche aufspürte und stilistische Verbesserungen vorschlug. Seine Anmerkungen waren so treffend, dass ich alles übernahm, außer den Einwänden gegen eine Episode, die er an den Haaren herbeigezogen fand, obwohl ich ihm dargelegt hatte, dass es sich um ein reales Erlebnis aus meiner Kindheit handelte.

»Sogar die Realität irrt sich, wenn die Literatur schlecht ist«, sagte er und lachte sich kaputt.

Germán Vargas hatte eine andere Methode. Wenn der Text so weit in Ordnung war, ging er nicht sofort ins Detail, sondern gab erst einmal einen beruhigenden Kommentar ab, der mit einem Ausrufezeichen endete:

»Klasse!«

In den folgenden Tagen ließ er jedoch immer wieder verstreute Bemerkungen über das Buch fallen, die an irgendeinem feuchtfröhlichen Abend in einem scharfsinnigen und strengen Urteil gipfelten. Wenn er den Entwurf nicht gut fand, führte er mit dem Autor ein Gespräch unter vier Augen und sagte ihm das mit solcher Offenheit und Eleganz, dass dem Anfänger, der eigentlich am liebsten geweint hätte, nichts anderes übrig blieb, als von Herzen zu danken. Dazu kam es bei mir nicht. Als ich es am wenigsten erwartete, machte Germán eines Tages eine halb scherzhafte, halb ernste Bemerkung über mein Manuskript, die mein Herz wieder ruhig schlagen ließ.

Álvaro war aus dem Japy verschwunden und gab kein Lebenszeichen. Fast eine Woche später, als ich überhaupt nicht mit ihm rechnete, schnitt er mir auf dem Paseo Bolívar mit seinem Wagen den Weg ab und schrie mir in bester Laune zu:

»Steigen Sie ein, Maestro, jetzt kriegen Sie was ab, das haben Sie verdient.«

Das war sein schmerzstillender Satz. Wir fuhren ziellose Runden durch das brütend heiße Geschäftszentrum, während Álvaro schreiend eine zwar emotionale, doch sehr beeindruckende Analyse seiner Leseeindrücke zum Besten gab. Er unterbrach sich dabei, wenn er einen Bekannten auf dem Gehsteig sah, rief einen herzlichen oder spöttischen Gruß hinüber und nahm dann, mit einer Stimme, die ob der Anstrengung einem Reibeisen glich, wieder seine exaltierte Argumentation auf, das Haar zerwühlt und die Augen aufgerissen, als blickten sie mich durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses an. Schließlich landeten wir mit einem kalten Bier auf der Terrasse von Los Almendros, das fanatische Geschrei für Junior oder Sporting auf der anderen Straßenseite im Ohr, und wurden am Ende von der Menge der Irren überrannt, die, empört über ein unwürdiges 2 : 2, aus dem Stadion stürmten. Das einzige endgültige Urteil über mein Romanmanuskript schrie mir Álvaro ganz zuletzt durchs Wagenfenster zu:

»Wie auch immer, Maestro, da steckt noch viel costumbrismo drin.«

Ich konnte ihm gerade noch erfreut zurufen:

»Aber von der guten Sorte, wie bei Faulkner!«

Er brach in ein phänomenales Gelächter aus, das alles, was weder gesagt noch gedacht war, wegfegte:

»Seien Sie bloß kein Arschloch!«

Fünfzig Jahre später höre ich noch immer, wenn ich an den Nachmittag denke, das explosive Lachen, das wie Steinhagel in der glühenden Straße widerhallte.

Ich kam zu dem Schluss, dass allen dreien, abgesehen von ihren ganz persönlichen und vielleicht berechtigten Einwänden, der Roman gefallen hatte, dass sie es aber vielleicht deshalb nicht so deutlich sagten, weil ihnen das zu billig schien. Keiner sprach von einer Veröffentlichung, und auch das war typisch für sie, denn ihnen ging es nur darum, gut zu schreiben. Der Rest war Sache der Verleger.

Das heißt: Ich war wieder im guten alten Barranquilla, doch mich quälte das Bewusstsein, dass ich diesmal nicht genügend Ausdauer aufbringen würde, weiter »La Jirafa« zu schreiben. Die Kolumne hatte ihre Aufgabe erfüllt, mir täglich eine handwerkliche Übung aufzuerlegen, um das Schreiben von der Pike auf zu lernen, und darum hatte ich mich mit der Hartnäckigkeit und dem erbitterten Anspruch, ein anderer Schriftsteller zu werden, bemüht. Zuweilen kam ich mit dem jeweiligen Thema nicht zurecht und suchte mir ein anderes, da ich merkte, dass ich überfordert war. Auf alle Fälle war »La Jirafa« in meiner Entwicklung zum Schriftsteller ein wichtiges Training, begleitet von dem beruhigenden Wissen, dass es sich um eine schlichte Brotarbeit ohne jede historische Verpflichtung handelte.

Allein die tägliche Themensuche hatte mir die ersten Monate zur Qual gemacht. Ich hatte keine Zeit mehr für anderes, da ich Stunden damit verbrachte, die übrigen Zeitungen zu durchforschen, selbst bei privaten Gesprächen machte ich mir Notizen, und ich verstieg mich in Phantasien, die mir den Schlaf raubten, bis mir dann das wirkliche Leben zu Hilfe kam. Meine glücklichste Erfahrung in dieser Hinsicht machte ich eines Nachmittags, als ich vom Bus aus an einer Haustür ein einfaches Schild sah: »Trauerpalmen zu verkaufen«.

Mein erster Impuls war, dort zu klingeln, um mich näher zu informieren, doch die Schüchternheit siegte. So lehne mich das Leben selbst, dass es fürs Schreiben sehr nützlich ist, die Hieroglyphen der Realität entziffern zu lernen. Das ist mir erst richtig klar geworden, als ich in den letzten Jahren die über vierhundert veröffentlichten Jirafas wieder gelesen und sie mit einigen der literarischen Texte verglichen habe, die aus ihnen hervorgegangen sind.

Um Weihnachten machte der Führungsstab von El Espectador Ferien an der Küste: Don Gabriel Cano, der Generaldirektor, mit seinen Söhnen: Luis Gabriel, dem Geschäftsführer, Guillermo, zu der Zeit zweiter Direktor, Alfonso, zweiter Geschäftsführer, und Fidel, der Jüngste, der noch alles lernen sollte. Begleitet wurden sie von Eduarde Zalamea, Ulises, der für mich von besonderer Bedeutung war, da er meine Erzählungen veröffentlicht und den einführenden Text dazu geschrieben hatte. Sie alle pflegten die erste Woche des neuen Jahres gemeinsam im Badeort Pradomar, fünfzig Kilometer von Barranquilla entfernt, zu verbringen und abends die Bar dort zu überfallen. Es war ein großes Durcheinander, und genau erinnere ich mich nur daran, dass der leibhaftige Ulises für mich eine der großen Überraschungen meines Lebens war. Ich hatte ihn öfter in Bogotá gesehen, erst im El Molino und Jahre später im El Automático und manchmal auch in der literarischen Runde von León de Greiff. Ich hatte sein abweisendes Gesicht und seine Stimme, die nach rostigem Metall klang, noch im Gedächtnis und hatte angenommen, dass mit ihm schlecht Kirschen zu essen war, und den Ruf hatte er auch bei den Lesebegeisterten der Ciudad Universitaria. Deshalb war ich ihm bei verschiedenen Gelegenheiten aus dem Weg gegangen, da ich mir nicht das gute Bild, das ich mir von ihm für den Privatgebrauch geschaffen hatte, beschädigen lassen wollte. Ich hatte mich geirrt. Er war ein überaus freundlicher und zuvorkommender Mensch, allerdings, so verstehe ich es, brauchte er dafür einen besonderen Anlass, den ihm Herz oder Kopf lieferte. Er war aus einem anderen Holz geschnitzt als Don Ramon Vinyes, Álvaro Mutis oder León de Greiff, erwies sich aber wie diese stets als der geborene Lehrer und hatte das seltene Glück, alle Bücher gelesen zu haben, die man gelesen haben musste.

Mit den jungen Canos - Luis Gabriel, Guillermo, Alfonso und Fidel - sollte mich später, als ich Redakteur bei El Espectador war, mehr als nur eine gute Freundschaft verbinden. Es wäre ein allzu kühnes Unterfangen, wollte ich versuchen, mich genauer an eines jener vielstimmigen Gespräche in den Nächten von Pradomar zu erinnern, unmöglich aber auch zu vergessen, mit welcher krankhaften Verfallenheit sie um Journalismus und Literatur kreisten. Die Canos nahmen mich als ihren Erzähler auf, von ihnen und für sie persönlich entdeckt und adoptiert. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass einer von ihnen auch nur angedeutet hätte, ich könne bei El Espectador arbeiten, wie es später geheißen hat. Ich bedauerte es damals nicht, da ich in jener schlechten Phase keine Ahnung hatte, wie sich meine Zukunft entwickeln und ob ich überhaupt die Möglichkeit einer Wahl haben würde.

Álvaro Mutis, den die Begeisterung der Canos begeisterte, kam, als man ihn gerade zum Chef der Öffentlichkeitsarbeit bei der kolumbianischen ESSO ernannt hatte, nach Barranquilla zurück und versuchte mich zu überreden, mit ihm in Bogotá zu arbeiten. Seine eigentliche Mission an der Küste war allerdings sehr viel dramatischer: Durch den entsetzlichen Fehler eines lokalen ESSO-Vertreters waren die Tanklager des Flughafens mit Autobenzin statt mit Flugbenzin gefüllt worden, und es war undenkbar, dass eine solcherart aufgetankte Maschine irgendwohin gelangen konnte. Mutis' Aufgabe war, den Fehler noch vor Tagesanbruch mit absoluter Diskretion zu beheben, ohne dass die Flughafenverwaltung - und erst recht nicht die Presse - davon erfuhr. So geschah es. Der Kraftstoff wurde binnen vier Stunden während eines guten Whiskygesprächs auf dem lokalen Flughafen ausgetauscht. Wir hatten reichlich Zeit, um über alles Mögliche zu reden, worauf ich jedoch nie gekommen wäre, war die Möglichkeit, dass mein fast vollendeter Roman vom Losada Verlag in Buenos Aires veröffentlicht werden könnte. Álvaro Mutis hatte das direkt von Julio César Villegas erfahren, dem neuen Direktor der Verlagsfiliale in Bogotá, einem ehemaligen peruanischen Minister, der erst seit kurzem im kolumbianischen Exil war.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je tiefer aufgewühlt gewesen wäre. Losada war einer der besten Verlage in Buenos Aires, die nach dem spanischen Bürgerkrieg das enorme verlegerische Vakuum gefüllt hatten. Täglich versorgten uns diese Verleger mit interessanten und besonderen Neuerscheinungen, so dass wir kaum mit der Lektüre nachkamen. Die Vertreter erschienen pünktlich mit den bestellten Büchern, und wir empfingen sie wie Glücksboten. Allein der Gedanke, dass einer dieser Verlage Laubsturm herausbringen könnte, machte mich fast verrückt. Kaum hatte ich Mutis an einem mit dem richtigen Treibstoff aufgetankten Flugzeug verabschiedet, rannte ich in die Redaktion, um das Manuskript noch einmal gründlich durchzusehen.

In den folgenden Tagen widmete ich mich mit Leib und Seele der fiebrigen Überarbeitung eines Textes, der mir schon zu entgleiten gedroht hatte. Es waren nicht mehr als 120 mit doppeltem Zeilenabstand getippte Seiten, doch ich schliff, korrigierte, tauschte aus, bis ich schließlich nicht mehr wusste, ob der Roman dadurch besser oder schlechter geworden war. German und Alfonso lasen die problematischen Stellen noch einmal und waren so gutherzig, keine grundsätzlichen Einwände vorzubringen. In diesem Zustand innerer Unruhe sah ich, mit klopfendem Herzen, die Endfassung noch einmal durch und fasste dann ganz ruhig den Entschluss, das Buch nicht zu veröffentlichen. In der Zukunft sollte das zu einer Manie werden. Jedes Mal, wenn ich mit einem fertigen Buch zufrieden war, hatte ich das deprimierende Gefühl, dass ich nie mehr ein besseres würde schreiben können.

Zum Glück argwöhnte Álvaro Mutis den Grund für die Verzögerung, er kam nach Barranquilla geflogen und nahm das einzige saubere Original, ohne es mich noch ein letztes Mal lesen zu lassen, an sich, um es selbst nach Buenos Aires zu schicken. Es gab noch nicht die Möglichkeit, in einem Geschäft Fotokopien zu machen, und so blieb mir nur dieerste Rohfassung, die an den Rändern und zwischen den Zeilen mit verschiedenfarbigen Tinten korrigiert war, um Unklarheiten zu vermeiden. Ich warf das Manuskript in den Müll und fand in den zwei langen Monaten, die es dauerte, bis ich eine Antwort erhielt, keine Ruhe mehr.

Irgendwann einmal gaben sie mir bei El Heraldo einen Brief, der auf dem Schreibtisch des Chefredakteurs verkramt worden war. Der Briefkopf des Losada Verlags in Buenos Aires ließ mir das Herz gefrieren, aber ich war schamvoll genug, den Brief nicht gleich dort, sondern erst in meiner Kammer aufzureißen. Dank dieser Vorsicht wurde ich ohne Zeugen mit der knappen Nachricht konfrontiert, dass Laubsturm abgelehnt worden war. Ich musste den Urteilsspruch nicht ganz lesen, um von der brutalen Erkenntnis getroffen zu werden, dass dies der Augenblick meines Todes war.

Der Brief enthielt das Verdikt des obersten Richters Guillermo de Torre, der dem Lektorat vorstand, und stützte sich auf eine Reihe schlichter Argumente, aus denen die Sprache, die Emphase und die Selbstzufriedenheit eines Weißen, der aus Kastilien stammt, herauszuhören waren. Einziger Trost war eine überraschende Konzession am Ende: »Bemerkenswert sind die hervorragende Beobachtungsgabe des Autors und sein poetisches Gespür.« Noch heute überrascht mich jedoch, dass mir jenseits meiner Betroffenheit und Schmach sogar die schärfsten Einwände zutreffend erschienen.

Ich habe nie eine Abschrift von dem Brief gemacht und weiß auch nicht, wo er geblieben ist, nachdem er mehrere Monate unter meinen Freunden in Barranquilla weitergereicht wurde, die beim Versuch, mich zu trösten, alle möglichen balsamischen Gründe geltend machten. Jedenfalls war fünfzig Jahre später, als ich eine Kopie des Briefes als Dokument für diese Memoiren suchte, im Verlagshaus in Buenos Aires keine Spur davon zu finden. Ich weiß nicht mehr, ob das als Meldung veröffentlicht wurde, was ich nie beabsichtigt hatte. Ich weiß aber noch, dass ich damals ziemlich viel Zeit brauchte, um wieder Mut zu fassen, nachdem ich meinem Herzen Luft gemacht und einen wütenden Brief geschrieben hatte, der ohne meine Erlaubnis publiziert wurde. Diese Indiskretion schmerzte mich um so mehr, da ich letztendlich den Entschluss gefasst hatte, das, was mir an dem Urteil von Nutzen sein konnte, aufzugreifen, nach eigenem Dafürhalten alles Verbesserbare zu verbessern und weiter voranzuschreiten.

Am meisten Mut machten mir die Stellungnahmen von Germán Vargas, Alfonso Fuenmayor und Álvaro Cepeda. Alfonso traf ich in einem Gasthaus am Markt, einer Oase, die er gefunden hatte, um mitten im Menschengewühl zu lesen. Ich fragte ihn, ob ich meinen Roman so lassen sollte, wie er war, oder ob ich versuchen sollte, ihm eine neue Struktur zu geben, da ich den Eindruck hätte, dass er in der zweiten Hälfte an Spannung verlöre. Alfonso hörte mir mit einer gewissen Ungeduld zu und gab dann sein Urteil ab.

»Schauen Sie mal, Maestro«, sagte er schließlich wie ein echter Maestro,» Guillermo de Torre mag sich für so Achtung gebietend halten, wie er will, aber was den zeitgenössischen Roman angeht, scheint er mir nicht auf dem letzten Stand zu sein.«

Bei anderen müßigen Gesprächen in jenen Tagen tröstete er mich mit dem Präzedenzfall, dass Guillermo de Torre 1927 das Manuskript von Pablo Nerudas Aufenthalt auf Erden abgelehnt hatte. Fuenmayor meinte, dass es meinem Roman vielleicht besser ergangen wäre, wenn Jorge Luis Borges ihn gelesen hätte, allerdings wären auch die Verheerungen schlimmer gewesen, wenn er ihn ebenfalls abgelehnt hätte.

»Also geben Sie endlich Ruhe«, schloss Alfonso. »Ihr Roman ist so gut, wie wir ihn gefunden haben, und Sie müssen jetzt nur eins tun: weiterschreiben.«

Germán blieb seiner bedachtsamen An treu und tat mir den Gefallen, nicht zu übertreiben. Er meinte, der Roman sei wahrlich nicht so schlecht, um ihn auf einem Kontinent, wo diese Gattung in der Krise sei, nicht zu veröffentlichen. Er sei aber auch nicht so gut, um wegen der Ablehnung einen internationalen Skandal auszulösen, bei dem ein unbekannter Erstlingsautor nur verlieren könne. Álvaro Cepeda fasste das Urteil von Guillermo de Torre mit einer seiner blumigen Grabinschriften zusammen: »Die Spanier sind eben sehr ungeschliffen.« Als mir klar wurde, dass ich keine Reinschrift meines Romans hatte, ließ mich der Losada Verlag durch eine dritte oder vierte Person wissen, dass es bei ihnen nicht üblich sei, die Manuskripte zurückzusenden. Zum Glück hatte Julio César Villegas, bevor er das Manuskript nach Buenos Aires geschickt hatte, eine Kopie angefertigt und ließ mir die zukommen. Daraufhin überarbeitete ich den Text noch einmal und berücksichtigte dabei die letzten Anmerkungen meiner Freunde.

Ich strich eine lange Passage, in der die Heldin vom Begoniengang aus einen dreitägigen Regenfall beobachtet, eine Episode, die ich später in lsabels Monolog beim Betrachten des Regens in Macondo umgewandelt habe. Ich strich einen überflüssigen Dialog des Großvaters mit Oberst Aureliano Buendía kurz vor dem Massaker beim Bananenstreik und noch weitere dreißig Seiten, die in Form und Inhalt die einheitliche Struktur des kurzen Romans durchbrachen. Fast zwanzig Jahre später halfen mir Teile dieser Fragmente, die ich schon verloren geglaubt hatte, im Laufe von Hundert Jahre Einsamkeit meine sehnsüchtigen Erinnerungen zu untermauern.

Ich hatte den Schlag schon fast verwunden, als die Meldung veröffentlicht wurde, dass der Losada Verlag als kolumbianischen Roman El Cristo de espaldas von Eduarde Caballero Calderón an Stelle von Laubsturm angenommen hatte. Das war eine Fehlinformation beziehungsweise eine böswillig verdrehte Wahrheit, da es sich nicht um einen Wettbewerb gehandelt hatte, sondern um ein Programm des Losada Verlags, um mit kolumbianischen Autoren den kolumbianischen Markt zu erobern, und mein Roman nicht in Konkurrenz zu einem anderen gestanden hatte, sondern deshalb abgelehnt worden war, weil Guillermo de Torre ihn für nicht publizierbar hielt.

Ich war stärker getroffen, als ich zugab, und nicht tapfer genug, das einfach zu ertragen, ohne mich nicht noch einmal selbst zu vergewissern. Also überfiel ich unangekündigt meinen ältesten Freund Luis Carmelo Correa auf der Bananenplantage in Sevilla, wenige Meilen von Cataca entfernt, wo er damals die Arbeitszeiten kontrollierte und als Steuerrevisor arbeitete. Zwei Tage lang rekapitulierten wir noch einmal - wie immer - unsere gemeinsame Kindheit. Sein Gedächtnis, seine Intuition und seine Offenheit offenbarten mir so Erstaunliches, dass ich es etwas mit der Angst bekam. Während wir redeten, reparierte er mit seinem Werkzeugkasten kleine Schäden im Haus, und ich lag in einer Hängematte, die der leichte Wind aus den Plantagen wiegte. Nena Sánchez, seine Frau, verbesserte uns von der Küche aus, wenn wir Unsinn redeten oder etwas vergaßen, und lachte sich schlapp über uns. Am Ende wurde mir bei einem Versöhnungsspaziergang durch die leeren Straßen von Aracataca klar, wie weit mein Gemüt schon gesundet war, und ich hatte keinen Zweifel mehr daran, dass Laubsturm - abgelehnt oder nicht - genau das Buch war, das zu schreiben ich mir nach der Reise mit meiner Mutter vorgenommen hatte.

Durch diese Erfahrung ermutigt suchte ich Rafael Escalona in seinem Paradies in Valledupar auf, da ich noch nach den Wurzeln meiner Welt forschen wollte. Es war keine Überraschung für mich, denn was ich dort vorfand, was dort geschah, die Leute, die mir vorgestellt wurden, all das war so, als hätte ich es schon einmal erlebt, und zwar nicht in einem anderen Leben, sondern in eben diesem, das ich lebte. Später, auf einer meiner vielen Reisen, lernte ich auch Rafaels Vater, Oberst Clemente Escalona, kennen, der mich vom ersten Tag an durch seine würdevolle Haltung eines Patriarchen alter Schule beeindruckte. Er war schlank und gerade wie ein Schilfrohr, seine Haut war wettergegerbt und seine Knochen fest und seine Würde durch nichts zu erschüttern. Seit meinen jungen Jahren hatte mich das Thema beschäftigt, mit wie viel Sorge und Anstand meine Großeltern bis zum Ende ihres langen Lebens auf die Veteranenpension gewartet hatten. Als ich jedoch vier Jahre später in einem alten Hotel in Paris an dem Buch schrieb, schwebte mir dabei nicht mein Großvater vor, sondern Don Clemente Escalona, das physische Ebenbild des Obersts, der niemand hat, der ihm schreibt.

Von Rafael Escalona hörte ich, dass Manuel Zapata Olivella sich als Armenarzt in der Ortschaft La Paz, wenige Kilometer von Valledupar entfernt, niedergelassen hatte. Wir fuhren dorthin, kamen gegen Abend an, und etwas lag in der Luft, das einem das Atmen schwer machte. Zapata und Escalona klärten mich darüber auf, dass der Ort vor etwa zwanzig Tagen von der Polizei überfallen worden war, die in der Region Terror verbreitete, um die Menschen gefügig zu machen. Es war eine Nacht des Grauens gewesen. Man hatte willkürlich gemordet und fünfzehn Häuser in Brand gesteckt.

Wegen der eisernen Zensur hatten wir nichts davon erfahren. Doch ich hätte es mir auch so nicht vorstellen können. Juan López, der beste Musiker aus der Gegend, war nach der schwarzen Nacht auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wir baten Pablo, seinen jüngeren Bruder, für uns in seinem Haus zu singen, doch er erwiderte einfach und unbeirrbar:

»Ich werde nie wieder in meinem Leben singen.«

Und dann erfuhren wir, dass nicht nur er, sondern alle Musiker des Orts Akkordeons, Trommeln, Guacharacas weggepackt und aus Schmerz um die Toten nicht wieder gesungen hatten. Das war verständlich, und selbst Escalona, der vielen als Lehrer galt, und Zapata Olivella, der nun ihrer aller Arzt war, gelang es nicht, sie zum Singen zu bringen.

Da wir hartnäckig blieben, kamen auch die Nachbarn, um uns ihre Gründe darzulegen, doch tief im Herzen spürten sie, dass die Trauerzeit nicht noch länger dauern durfte. »Es ist, als wäre man mit den Toten gestorben«, sagte eine Frau, die eine rote Rose hinter dem Ohr trug. Die Leute stimmten ihr zu. Pablo López muss sich daraufhin berechtigt gefühlt haben, seinem Leid ein Ende zu machen, denn er ging ohne ein Wort ins Haus und kam mit dem Akkordeon wieder. Er sang wie noch nie zuvor, und während er sang, kamen nach und nach die anderen Musiker dazu. Jemand öffnete den Laden gegenüber und bot von sich aus etwas zu trinken an. Dann gingen, nach fast einem Monat Trauer, auch die anderen Türen weit auf, Lichter wurden angezündet, und wir alle sangen. Eine halbe Stunde später sang der ganze Ort. Auf der leeren Plaza tauchte der erste Betrunkene nach einem Monat auf und schmetterte aus voller Brust ein Lied von Escalona, das er auch Escalona widmete, weil dieser das Wunder bewirkt hatte, das Dorf wieder zum Leben zu erwecken.

In der übrigen Welt ging das Leben zum Glück weiter. Zwei Monate nach der Ablehnung des Manuskripts lernte ich Julio César Villegas kennen. Er hatte sich im Streit vom Losada Verlag getrennt, und der Verlag González Porto hatte ihn zum Repräsentanten für Kolumbien ernannt, wo er Lexika und wissenschaftliche sowie technische Bücher vertreiben und auf Raten verkaufen sollte. Villegas war ein überaus großer und starker Mann, besonders findig im Umgang mit den übelsten Widrigkeiten des wirklichen Lebens, ein unmäßiger Trinker teurer Whiskys, ein Salonfabulierer und Causeur, dem man nicht entkam. In der Nacht unseres ersten Treffens verließ ich vom Alkohol wankend die Präsidentensuite des Hotel del Prado, in der Hand einen Vertreterkoffer, der mit Prospekten und Musterexemplaren von Lexika sowie von medizinischen, juristischen und technischen Fachbüchern des Verlags González Porto voll gestopft war. Nach dem zweiten Whisky hatte ich das Angebot angenommen, als Handlungsreisender in der Provinz Padilla von Valledupar bis nach La Guajira Bücher auf Raten zu verkaufen. Mein Gewinn war die Baranzahlung von zwanzig Prozent, von der ich nach Abzug meiner Unkosten inklusive Hotel sorgenfrei leben konnte.

Das ist die Reise, aus der ich durch meine unverbesserliche Schwäche, nicht beizeiten meine Adjektive zu zügeln, selbst eine Legende gemacht habe. Die Legende besagt, dass die Reise als mythische Expedition geplant war, als Suche nach den eigenen Wurzeln im Land meiner Vorfahren, und zwar auf der romantischen Route, die meine Mutter mit der ihren zurückgelegt hatte, als diese sie vor dem Telegrafisten von Aracataca in Sicherheit bringen wollte. Die Wahrheit ist, dass ich gar keine richtige Reise gemacht habe, nur zwei kurze, unbesonnene Ausflüge.

Bei der zweiten Fahrt besuchte ich lediglich erneut Orte in der Umgebung von Valledupar. Ich hatte natürlich vor, von dort aus weiter auf der Route meiner verliebten Mutter bis zum Cabo de la Vela zu fahren, kam aber bloß bis Manaure de la Sierra, La Paz und Villanueva, wenige Meilen von Valledupar entfernt. Ich lernte damals weder San Juan del César noch Barrancas am Rio Ranchería kennen, wo meine Großeltern geheiratet hatten, meine Mutter geboren worden war und Oberst Nicolás Márquez später Medardo Pacheco getötet hatte. Und ich kam auch nicht nach Riohacha, zu den Ursprüngen meiner Sippe. Dort war ich zum ersten Mal 1984, als Präsident Belisario Betancourt eine Gruppe von Freunden zur Einweihung der Steinkohleminen von Cerrejon einlud. Das war die erste Reise in die Guajira meiner Phantasie, und diese Region erschien mir so mythenbeladen wie ich sie, ohne sie zu kennen, oft beschrieben hatte, das hing aber, glaube ich, nicht mit meinen falschen Erinnerungen zusammen, sondern mit dem Gedächtnis der Indios, die mein Großvater für je hundert Pesos für das Haus in Aracataca gekauft hatte. Meine größte Überraschung war daher der erste Blick auf Riohacha, jene Stadt aus Sand und Salz, wo unser Geschlecht mit den Ururgroßeltern seinen Anfang genommen hatte, wo meine Großmutter sah, wie die Heilige Jungfrau von der immer währenden Hilfe mit einem eisigen Hauch das Herdfeuer löschte, als das Brot fast verbrannt wäre, wo mein Großvater seine Kriege führte und wegen eines Ehrendelikts ins Gefängnis kam und wo ich in den Flitterwochen meiner Eltern gezeugt wurde.

In Valledupar brauchte ich nicht viel Zeit, um die Bücher zu verkaufen. Ich wohnte im Hotel Wellcome, einem prachtvoll erhaltenen Kolonialgebäude an der großen Plaza, das im Patio eine lange Palmenlaube mit rustikalen Bartischen und Hängematten an den Pfosten hatte. Victor Cohen, der Besitzer, wachte wie ein Zerberus über die Ordnung und den moralischen Ruf des Hauses, der von den zügellosen Fremdlingen bedroht wurde. Cohen war auch ein Sprachpurist, der Cervantes mit kastilischem Lispeln auswendig deklamierte und den unmoralischen Lebenswandel von García Lorca anprangerte. Ich kam gut mit Cohen aus, weil er Andres Bello beherrschte und die kolumbianischen Romantiker fehlerlos deklamierte, und kam schlecht mit ihm aus, weil er so obsessiv darauf achtete, dass die Regeln der Moral in seinem anständigen Hotel nicht übertreten wurden. Zunächst war jedoch alles einfach gewesen, weil er ein alter Freund meines Onkels Juan de Dios war und sich gerne an ihn erinnerte.

Für mich war diese Überdachung im Patio wie ein Lotteriegewinn, weil ich die vielen heißen Mittagsstunden lesend in der Hängematte verbrachte. In Zeiten der Dürre las ich von chirurgischen Fachbüchern bis zu den Handbüchern für Buchführung alles, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass mir dies einmal bei meinen schriftstellerischen Abenteuern von Nutzen sein würde. Die Arbeit ging fast spontan vonstatten, weil die Mehrzahl der Kunden in den Netzen der Iguarän und der Cotes hängen blieben, und mir reichte für den Verkauf ein morgendlicher Besuch bei diesen aus, der sich bis zum Mittagessen hinzog, dieweil man Episoden aus der Familiengeschichte heraufbeschwor. Einige Käufer unterschrieben den Vertrag, ohne ihn gelesen zu haben, um rechtzeitig zu der Sippe zu stoßen, die uns unter Akkordeonklängen zum Essen erwartete. Zwischen Valledupar und La Paz fuhr ich in knapp einer Woche eine reiche Ernte ein und kehrte mit dem bewegenden Gefühl nach Barranquilla zurück, am einzigen Ort der Welt gewesen zu sein, den ich wirklich verstand.

Am 13. Juni saß ich frühmorgens in einem Autobus und fuhr wer weiß wohin, als ich hörte, dass die Streitkräfte angesichts des Chaos, das in der Regierung und im ganzen Land herrschte, die Macht übernommen hatten. Am 6. September des vergangenen Jahres hatte eine Meute aus konservativen Schlägertrupps und uniformierten Polizisten in Bogotá die Gebäude von El Tiempo und El Espectador, den beiden wichtigsten Zeitungen des Landes, in Brand gesteckt und die Residenzen von Expräsident Alfonso López Pumarejo und von Carlos Lleras Restrepo, dem Parteivorsitzenden der Liberalen, beschossen. Letzterer, der als hart durchgreifender Politiker bekannt war, hatte sich noch einem Schusswechsel mit den Aggressoren gestellt, musste aber schließlich über die Hecke eines Nachbarhauses fliehen. Die Lage, von der staatlichen violencia geprägt, unter der das Land seit dem 9. April litt, war untragbar geworden.

Bis zum Morgengrauen jenes 13. Juni, als Divisionsgeneral Gustavo Rojas Pinilla den kommissarischen Präsidenten, Roberto Urdaneta Arbeláez, aus dem Palast jagte. Laureano Gómez, der Amtsinhaber, der sich aufgrund des Rats seiner Ärzte in den vorläufigen Ruhestand hatte versetzen lassen, gab sich einen Ruck und nahm im Rollstuhl die Regierungsgeschäfte wieder auf, gewillt, die fünfzehn Monate bis zum Ende seiner Amtsperiode in der Regierung durchzustehen. Aber Rojas Pinilla und sein Regimentsstab waren gekommen, um zu bleiben.

Als die Verfassunggebende Versammlung den Militärputsch legitimierte, wurde sie im Lande unmittelbar und einstimmig unterstützt. Rojas Pinilla wurde bis zum Ende der Amtsperiode im August des darauf folgenden Jahres mit Regierungsvollmachten ausgestattet, und Laureano Gómez reiste mit seiner Familie nach Benidorm an der spanischen Ostküste und hinterließ den illusorischen Eindruck, dass die Zeiten der Raserei vorbei waren. Die Patriarchen der Liberalen erklärten ihre Unterstützung für ein Programm der nationalen Versöhnung und riefen ihre Parteifreunde im ganzen Land dazu auf, es ihnen gleichzutun. Das bezeichnendste Foto, das die Zeitungen in den folgenden Tagen veröffentlichten, zeigte fortschrittliche Liberale, die dem Präsidenten unter dem Balkon seines Zimmers ein Ständchen brachten. Sie wurden bei dieser Ehrung von Don Roberto García Pena angeführt, der als Direktor von El Tiempo ein erbitterter Gegner des abgesetzten Regimes war.

Das bewegendste Bild jener Tage zeigte jedoch eine endlose Schlange von liberalen Guerrilleros, die in den Llanos im Osten unter dem Kommando von Guadalupe Salcedo ihre Waffen abgaben. Salcedos Bild eines romantischen Räuberhauptmanns war tief ins Herz der von der staatlichen violencia heimgesuchten Kolumbianer gedrungen. Es handelte sich um eine neue Generation von Kämpfern gegen das konservative Regime, die irgendwie als die letzten Versprengten des Kriegs der Tausend Tage verstanden wurden und die mit den legalen Führern der liberalen Partei keineswegs heimliche Beziehungen pflegten.

Mit Guadalupe Salcedo, der die Guerrilla anführte, hatte sich überall und auf allen Ebenen, positiv oder negativ, ein neuer Mythos etabliert. Vielleicht wurde Salcedo deshalb -vier Jahre nachdem er sich ergeben hatte - irgendwo in Bogotá von der Polizei niedergeschossen, der genaue Ort und die Umstände seines Todes sind nicht mit letzter Sicherheit bekannt.

Das offizielle Todesdatum ist der 6. Juni 1957, und der Leichnam wurde in einer feierlichen Zeremonie in einer nummerierten Gruft des Zentralfriedhofs in Bogotá in Anwesenheit bekannter Politiker bestattet. Schließlich hatte Guadalupe Salcedo von seinen Kriegsquartieren aus nicht nur politische, sondern auch persönliche Beziehungen zu den liberalen Führern im Unglück unterhalten. Es gibt jedoch mindestens acht unterschiedliche Versionen über seinen Tod und immer noch Ungläubige, aus jener und dieser Zeit, die sich fragen, ob es wirklich Salcedos Leiche war und wer tatsächlich in der Gruft liegt, in der Salcedo bestattet wurde.

In einer solchen Stimmung machte ich meine zweite Geschäftsreise in die Provinz, nachdem mir Villegas bestätigt hatte, dass alles in Ordnung war. Wie beim vorherigen Besuch schloss ich meine Verkäufe in Valledupar mit einer schon im Voraus überzeugten Kundschaft sehr schnell ab. Danach fuhr ich mit Rafael Escalona und Poncho Cotes nach Villanueva, La Paz, Patillal und Manaure de la Sierra, um dort Veterinäre und Landwirte aufzusuchen. Einige hatten schon mit Käufern meiner letzten Reise gesprochen und erwarteten mich mit speziellen Bestellungen. Es war dann immer eine gute Zeit, um mit den Kunden und ihren fröhlichen Kumpanen zu feiern, und alle sangen wir bis in den Morgen mit den großen Akkordeonkünstlern, ließen uns weder von irgendwelchen Verpflichtungen noch von fälligen Ratenzahlungen ablenken, weil das alltägliche Leben im Tosen des Festes einem natürlichen Rhythmus zu folgen schien. In Villanueva begegneten wir einem Akkordeonspieler und zwei Trommlern, die offensichtlich Enkel eines Musikers waren, den wir als Kinder in Aracataca gehört hatten. So kam es, dass etwas, das mich als Kind in seinen Bann gezogen hatte, sich mir als inspirierter Beruf offenbarte, der mich auf immer begeistern sollte.

Diesmal lernte ich Manaure kennen, das, im Herzen der Sierra gelegen, ein schöner und ruhiger Ort ist und für die Familie eine historische Bedeutung hat, weil man meine Mutter dort zur Erholung von dem Wechselfieber hinschickte, das allen möglichen Arzneitränken widerstanden hatte. Ich hatte so viel von Manaure gehört, von Maiabenden und heilkräftigen Frühstücken, dass ich mich, als ich zum ersten Mal dort war, daran erinnerte, als würde ich es aus einem anderen Leben kennen.

Wir tranken gerade in der einzigen Kneipe ein kaltes Bier, als ein Mann wie ein Baum mit Reitgamaschen und einem Kriegsrevolver im Gürtel an unseren Tisch kam. Rafael Escalona stellte uns vor, und der Mann behielt meine Hand in seiner und schaute mir lange in die Augen.

»Haben Sie irgendetwas mit Oberst Nicolás Márquez zu tun?«, fragte er.

»Ich bin sein Enkel«, sagte ich.

»Dann hat ihr Großvater meinen Großvater getötet«, sagte er.

Das heißt, der Mann war ein Enkel von jenem Medardo Pacheco, den mein Großvater im ehrlichen Kampf getötet hatte. Der Mann gab mir keine Zeit zu erschrecken, weil er es auf eine so herzliche Weise sagte, als sei auch dies eine Form der verwandtschaftlichen Verbindung. Wir feierten drei Tage und drei Nächte mit ihm in seinem Laster mit doppeltem Boden, tranken heißen Brandy und aßen Ziegenfleisch-Sancochos im Gedenken an die toten Großväter. Es vergingen einige Tage, bis er mir die Wahrheit gestand: Er hatte sich mit Escalona abgesprochen, um mir einen Schrecken einzujagen. In Wirklichkeit hieß er José Prudencio Aguilar und war von Beruf Schmuggler, ein gerader und gutherziger Mann. Um ihm nicht nachzustehen, habe ich ihm zu Ehren in Hundert Jahre Einsamkeit den von José Arcadio Buendía beim Hahnenkampf mit einer Lanze getöteten Rivalen auf seinen Namen getauft.

Schlimm war, dass am Ende dieser nostalgischen Reise die von mir verkauften Bücher noch nicht eingetroffen waren und ich deshalb die Anzahlung nicht kassieren konnte. Ich saß schließlich ohne einen Centavo da, während das Metronom des Hotels immer schneller tickte und mich bei meinen nächtlichen Vergnügungen störte. Victor Cohen verlor das bisschen Geduld, das ihm noch geblieben war, weil man mich bei ihm angeschwärzt hatte, dass ich das ihm geschuldete Geld mit kleinen Freundinnen fragwürdiger Art und hergelaufenen Indiomädchen durchbringe. Das Einzige, was mir meine Ruhe wiedergab, waren die tragischen Liebesgeschichten in Felix B. Caignets Radioroman El derecho de nacer - Das Recht, geboren zu werden -, dessen Popularität meine alten Illusionen über Rührstücke wieder aufleben ließ. Bei der unverhofften Lektüre von Hemingways Roman Der alte Mann und das Meer, der als Überraschung in der spanischen Ausgabe von Life abgedruckt war, erholte ich mich vollends von meinem Kummer.

Mit derselben Post kam die Ladung Bücher, die ich ihren Besitzern ausliefern musste, um die Anzahlung zu kassieren. Alle zahlten pünktlich, doch ich schuldete dem Hotel schon doppelt so viel, wie ich verdient hatte, und Villegas ließ mich wissen, dass ich vor Ablauf von drei Wochen keinen müden Peso mehr bekommen würde. Daraufhin hatte ich ein ernstes Gespräch mit Victor Cohen, und er nahm einen Schuldschein an, ich musste nur einen Bürgen präsentieren. Da Escalona und seine Clique nicht greifbar waren, sprang ein zufälliger Freund ein, nur weil ihm eine meiner Geschichten in Crvnica gefallen hatte und ohne jede Verpflichtung meinerseits. In der Stunde der Wahrheit konnte ich jedoch nicht zahlen.

Der Schuldschein bekam Jahre später eine historische Bedeutung, als Victor Cohen ihn seinen Freunden zeigte, nicht als Dokument der Anklage, sondern als Trophäe. Das letzte Mal sah ich Cohen, als er fast hundert war und dabei schlank, groß und hellwach und noch immer voller Humor. Bei der Taufe eines Sohnes meiner Gevatterin Consuelo Araujonoguera, dessen Pate ich wurde, sah ich fast fünfzig Jahre später den unausgelösten Schuldschein wieder. Victor Cohen zeigte ihn jedem, der ihn sehen wollte, und tat das mit dem alten taktvollen Charme. Ich staunte darüber, wie sauber das von ihm aufgesetzte Dokument war und welch enormen Willen zu zahlen meine großspurige Unterschrift verriet. An jenem Abend feierte Victor das Ganze, indem er mit kolonialer Eleganz einen Paseo vallenato tanzte, wie er seit den Jahren von Francisco el Hombre nicht mehr getanzt worden war. Am Ende dankten mir viele Freunde dafür, dass ich den Schuldschein, der jene unbezahlbare Nacht möglich gemacht hatte, nicht rechtzeitig gezahlt hatte.

Die magische Verführungskraft des Doktor Villegas hätte noch mehr möglich gemacht, nur nicht bei Büchern. Unmöglich zu vergessen, mit welch herrschaftlicher Kunst er die Gläubiger ins Leere laufen ließ und wie glücklich sie seine Gründe, warum er nicht rechtzeitig zahlte, hinnahmen. Besonders verlockend konnte er damals über den Roman Se han cerrado los caminos - Die Wege sind versperrt - von Olga Salcedo de Medina, einer Schriftstellerin aus Barranquilla, sprechen, die mit ihrem Buch für eine noch nie da gewesene Aufregung in der Region gesorgt hatte, allerdings eher aus gesellschaftlichen denn aus literarischen Gründen. Angeregt von dem Erfolg von El derecho de nacer, dessen Ausstrahlung ich den ganzen Monat über mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt hatte, war ich zu der Ansicht gelangt, dass es sich hier um ein populäres Phänomen handelte, das wir Schriftsteller nicht einfach ignorieren konnten. Ohne meine Schulden auch nur zu erwähnen, erzählte ich Villegas nach meiner Rückkehr aus Valledupar davon, und ohne lang nachzudenken, schlug er mir vor, ich solle eine Adaption von Olga Salcedos Roman schreiben, und zwar mit genug Raffinesse, um die breite Zuhörerschaft, die bereits von Felix B. Caignets Hördrama gefesselt war, zu verdreifachen.

Ich schloss mich zwei Wochen ein und arbeitete eine Hörspielfassung aus, und das war für mich sehr viel lehrreicher als vorausgesehen, da es um die Länge von Dialogen, um verschiedene Intensitätsgrade und flüchtige Strukturen und Zeiten ging, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich bisher geschrieben hatte. Bei meiner mangelnden Erfahrung mit dem Dialog - der noch immer nicht meine Stärke ist - war es eine wertvolle Übung, und ich war für das, was ich dabei lernte, noch dankbarer als für das, was ich damit verdiente. Doch auch darüber konnte ich nicht klagen, da Villegas mir die Hälfte im Voraus auszahlte und sich verpflichtete, mit den ersten Einkünften aus dem Radioroman meine noch anstehenden Schulden zu begleichen.

Die Hörfassung wurde beim Sender Atlántico in der bestmöglichen regionalen Besetzung aufgenommen. Regie führte Villegas selbst, dem es sowohl an Erfahrung als auch an Inspiration fehlte. Als Erzähler war ihm Germán Vargas empfohlen worden, ein Sprecher, dessen Nüchternheit einen Kontrast zu den schrillen Tönen im lokalen Rundfunk darstellte. Die erste große Überraschung war, dass Germán sich darauf einließ, die zweite, dass er nach der ersten Probe von sich aus zu dem Schluss kam, dass er ungeeignet war. Daraufhin übernahm Villegas selbst mit andinem Singsang und Zischeln den schweren Part des Erzählers, was jenes wagemutige Abenteuer vollends ungenießbar machte.

Der Radioroman wurde komplett gesendet, es gab dabei mehr Tiefen als Höhen, und für mich war es ein Lehrstück, was meine unersättlichen Ansprüche als Erzähler jeglicher Gattung anbelangte. Ich war bei der Inszenierung dabei. Sie wurde live auf die jungfräuliche Platte mittels einer Nadel übertragen, die beim Pflügen Flocken schwarz leuchtender Flusen hinterließ, kaum zu ertasten, wie Engelshaar. Jeden Abend nahm ich mir eine gute Hand voll mit, die ich dann unter meinen Freunden wie eine unerhörte Trophäe verteilte. Trotz unzähliger Schwierigkeiten und Stümpereien konnte der Radioroman rechtzeitig gesendet werden, was mit einem maßlosen Fest, ganz im Stil des Veranstalters, gefeiert wurde.

Keinem fiel ein höfliches und für mich glaubhaftes Argument dafür ein, dass ihm das Werk gefiele, doch ich hatte eine gute Zuhörerquote und genügend Pressereaktionen, um das Gesicht wahren zu können. Zu meinem Glück bekam ich dadurch neuen Schwung für eine Gattung, von der ich schon dachte, sie habe sich hinter undenkbare Horizonte davongemacht. Meine Bewunderung für Don Felix B. Caignet und meine Dankbarkeit gingen so weit, dass ich ihn zehn Jahre später, als ich einige Monate als Redakteur der kubanischen Presseagentur Prensa Latina in Havanna lebte, um ein privates Gespräch bat. Trotz all der Gründe und Vorwände, die ich ins Spiel brachte, ließ er sich jedoch nie sehen, und so ist mir von ihm nur eine meisterhafte Lektion geblieben, die ich in einem seiner Interviews gelesen habe: »Die Leute wollen immer weinen: Ich biete ihnen nichts anderes als eine Ausrede dafür.« Die magischen Fähigkeiten von Villegas wiederum gaben nichts mehr her. Er geriet mit allen in Schwierigkeiten, auch mit dem Verlag González Porto - wie schon zuvor mit Losada -, und es kam nicht mehr zu einer Schlussabrechnung mit mir, weil er seine ungeheuren Träume begraben hatte, um in sein Land zurückzukehren.

Aus dem Fegefeuer erlöste mich dann Álvaro Cepeda Samudio mit seinem alten Plan, aus El Nacional eine moderne Zeitung zu machen, ganz so, wie er es in den Vereinigten Staaten gelernt hatte. Bis dahin hatte er, der nur sporadisch und dann immer Literarisches für Crónica geschrieben hatte, kaum Gelegenheit gehabt, die an der Columbia- Universität erworbenen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen, sah man von seinen vorbildlichen Resümees des Sportgeschehens ab, die er für die Sporting News in Saint Louis, Missouri, verfasste. Endlich berief ihn unser Freund Julian Davis Echandía, der Álvaros erster Chef gewesen war, 1953 an seine Abendzeitung El Nacional, bei der Álvaro die Gesamtleitung übernehmen sollte. Álvaro selbst hatte Echandía mit dem astronomischen Projekt, das er ihm nach seiner Rückkehr aus New York vorgestellt hatte, heiß gemacht; als das Mammut nun aber in die Falle getappt war, rief er mich zu Hilfe, um es abzuschleppen. Ich bekam weder einen Titel noch klar definierte Aufgaben, aber das erste Gehalt im Voraus, das mir zum Leben reichte, obwohl ich es gar nicht ganz kassiert hatte.

Es war ein tödliches Abenteuer. Álvaro hatte seinen Plan ganz nach dem Muster von US-Zeitungen aufgestellt. Hoch oben thronte wie ein Gott Davis Echandía, ein Vorreiter der heroischen Zeiten des lokalen Sensationsjournalismus und der unergründlichste Mensch, den ich je kennen gelernt habe, im Übrigen von Geburt her gutmütig und eher sentimental als mitfühlend. Der Rest der Redaktion bestand aus hart gesottenen Journalisten, die alle untereinander befreundet und seit langem Kollegen waren. In der Theorie hatte jeder einen genau definierten Bereich, aber in der Praxis erfuhr man nie, wer was getan hatte, damit dieses mit einem enormen technischen Aufwand konzipierte Mammut nicht dazu kam, einen ersten Schritt vorwärts zu machen. Die wenigen Ausgaben, die erschienen, waren wohl einem heroischen Akt zu verdanken, doch wer ihn vollbracht hatte, erfuhr man auch nie.

Denn wenn die Platten in Druck gehen sollten, waren sie verfischt. Dringendes Material verschwand einfach, und wir Braven gerieten in Raserei. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Zeitung auch nur einmal pünktlich und ohne Nachbesserungen herauskommen konnte, denn in den Werkstätten hatten sich heimlich böse Geister eingenistet. Es kam nie heraus, was sich abgespielt hatte. Die vorherrschende Erklärung war vielleicht noch am wenigsten pervers: Einige verknöcherte Veteranen wollten die Erneuerung nicht dulden und hatten sich mit ihresgleichen verschworen, bis sie das ganze Projekt zu Fall gebracht hatten.

Alvaro verschwand Türen schlagend. Ich hatte einen Vertrag, der normalerweise eine Absicherung für mich bedeutet hätte, unter so schlechten Bedingungen aber eine Zwangsjacke war. Bemüht, irgendeinen Nutzen aus der verlorenen Zeit zu ziehen, versuchte ich an der Schreibmaschine etwas Gültiges aus losen Enden zusammenzufügen: aus La casa, aus den Schauergeschichten von Faulkners Licht im August, aus dem Regen toter Vögel bei Nathaniel Hawthorne, aus den Kriminalgeschichten, deren Wiederholungen mich langweilten, und aus ein paar blauen Flecken, die mir noch von der Reise mit meiner Mutter nach Aracataca geblieben waren. Ich ließ diese Motive nach ihrem eigenen Gutdünken in meinem kahlen Büro zusammenfließen, in dem nur noch der zerkratzte Schreibtisch und die klapprige Maschine standen, und schrieb alles bis zum endgültigen Titel -Ein Tag nach dem Samstag - in einem Schwung nieder. Das ist eine der wenigen Erzählungen, bei denen mich schon die erste Fassung zufrieden stellte.

Bei El Nacional machte sich einmal ein fliegender Händler an mich heran und wollte mir eine Armbanduhr verkaufen. Ich hatte noch nie eine besessen, wofür es in jenen Jahren nahe liegende Gründe gab, und die Uhr, die er mir anbot, war teuer und luxuriös. Der Verkäufer gestand mir dann aber, dass er Mitglied der Kommunistischen Partei und darauf abgestellt sei, Uhren zu verkaufen, gleichsam als Köder, um Beitragszahler zu angeln.

»Das ist so, als ob man die Revolution auf Raten kauft«, sagte er.

Ich antwortete ihm launig:

»Der Unterschied ist nur, dass ich die Uhr gleich bekomme, die Revolution aber nicht.«

Der Händler nahm den schlechten Witz nicht besonders gut auf, und nur um ihm einen Gefallen zu tun, kaufte ich schließlich eine ziemlich billige Uhr über ein Ratensystem, bei dem er selbst monatlich zum Kassieren kam. Es war meine erste Uhr, und sie war so pünktlich und haltbar, dass ich sie noch heute als Reliquie aus jenen Jahren aufbewahre.

Zu der Zeit kam auch Álvaro Mutis mit der Nachricht zurück, seine Firma habe einen großzügigen Kulturetat bereitgestellt und demnächst werde als literarisches Organ die Zeitschrift Lámpara erscheinen. Er lud mich zur Mitarbeit ein, und ich schlug ihm spontan ein Projekt vor: Die Legende von La Sierpe. Sollte ich eines Tages darüber schreiben, so hatte ich mir gedacht, durfte das nicht von einer rhetorischen Warte aus geschehen, ich musste die Legende vielmehr aus dem kollektiven Bewusstsein herausschälen und zeigen, was sie war: eine historische und geografische Tatsache. Das hieß: endlich eine große Reportage.

»Machen Sie, was auch immer Ihnen einfällt«, sagte Mutis zu mir. »Aber machen Sie es, denn vom Ton und der Atmosphäre her ist es genau das, was wir für die Zeitschrift suchen.«

Ich versprach, die Reportage in zwei Wochen zu schreiben. Bevor Mutis zum Flughafen fuhr, telefonierte er mit seinem Büro in Bogotá und forderte einen Vorschuss an. Der Scheck, der eine Woche später mit der Post kam, verschlug mir den Atem. Erst recht, als ich ihn einlösen wollte und der Kassierer der Bank sich über meinen Aufzug beunruhigt zeigte. Man ließ mich in ein Chefbüro kommen, wo mich ein überhöflicher Geschäftsführer fragte, wo ich arbeitete. Ich antwortete wie gewohnt, dass ich für El Heraldo schriebe, obwohl das schon nicht mehr stimmte. Nichts weiter. Der Geschäftsführer untersuchte den Scheck auf seinem Schreibtisch, betrachtete ihn mit so etwas wie professionellem Argwohn und entschied am Ende:

»Das Dokument ist völlig in Ordnung.«

Am selben Nachmittag, ich hatte eben begonnen La Sierpe zu schreiben, wurde mir ein Anruf von der Bank gemeldet. Ich dachte schon, der Scheck sei aus irgendeinem der in Kolumbien möglichen Gründe nicht vertrauenswürdig. Nur mit Mühe schluckte ich den Kloß hinunter, der mir im Hals steckte, als der Bankbeamte sich in der gezierten Sprechweise des Hochlands dafür entschuldigte, nicht gleich gemerkt zu haben, dass der Bettler, der den Scheck einlösen wollte, der Autor von »La Jirafa« war.

Mutis kam gegen Ende des Jahres noch einmal. Er konnte kaum das Mittagessen genießen, weil er sich mit mir gemeinsam Gedanken darüber machte, wie ich dauerhaft und endgültig mehr Geld verdienen könne. Beim Nachtisch schien ihm dann das Beste, die Canos wissen zu lassen, dass ich für El Espectador zur Verfügung stünde, obwohl mich schon allein der Gedanke, nach Bogotá zurückzukehren, nach wie vor nervös machte. Álvaro ließ jedoch nicht locker, wenn es darum ging, einem Freund zu helfen.

»Machen wir es doch so«, sagte er, »ich schicke Ihnen das Flugticket, und Sie kommen, wann und wie Sie wollen, und dann sehen wir, was uns einfällt.«

Das war zu viel, um Nein zu sagen, doch ich war sicher, dass das Flugzeug, das mich nach dem 9. April aus Bogotá herausgebracht hatte, das letzte meines Lebens gewesen war. Im Übrigen hatten mir die wenigen Nebeneinnahmen aus dem Radioroman und die aufwendige Veröffentlichung der ersten Folge von La Sierpe in Ldmpara ein paar Werbetexte eingebracht, die es mir möglich machten, der Familie in Cartagena ein Rettungsboot zu schicken. Also widerstand ich wieder einmal der Versuchung, nach Bogotá zu ziehen.

Álvaro Cepeda, Germán und Alfonso und die meisten Gefährten im Japy und im Café Roma reagierten positiv, als das erste Kapitel von La Sierpe in Lámpara erschien. Sie waren sich darüber einig, dass die Unmittelbarkeit der Reportage der geeignete Ansatz für ein Thema war, das gefährlich nah an der Grenze zum Unglaubwürdigen lag. Auf seine halb scherzhafte, halb ernste Art sagte mir Alfonso etwas, das ich nie vergessen habe: »Die Glaubwürdigkeit einer Sache, mein lieber Maestro, hängt eben sehr davon ab, was für ein Gesicht man beim Erzählen aufsetzt.« Fast hätte ich ihnen von Álvaro Mutis' Arbeitsangebot erzählt, traute mich aber dann doch nicht, und heute weiß ich, ich hatte einfach Angst davor, dass sie es gebilligt hätten. Mutis drängte mich noch mehrmals, auch dann noch, nachdem ich einen gebuchten Flug in letzter Minute abgesagt hatte. Er gab mir sein Wort, dass er nicht hinter meinem Rücken irgendeine Abmachung mit El Espectador oder sonst einer Zeitung oder Radiostation anstrebe. Ihn bewege nur der Wunsch - insistierte er bis zum Schluss -, mit mir über eine Reihe von festen Aufträgen für die Zeitschrift zu reden und einige technische Details über die vollständige La-Sierpe-Serie zu besprechen, deren zweite Folge in der nächsten Nummer von Lámpara erscheinen sollte. Álvaro Mutis war überzeugt, dass eine Reportage dieser Art dem flachen costumbrismo einen empfindlichen Stoß auf eigenem Terrain versetzen würde. Von allen Gründen, die er bis dahin vorgebracht hatte, war dies der einzige, über den ich ins Grübeln geriet.

An einem düsteren, regnerischen Dienstag fiel mir auf, dass ich, selbst wenn ich es gewollt hätte, nicht fahren konnte, weil ich nichts anderes zum Anziehen hatte als meine Variete-Hemden. Um sechs Uhr abends war keiner in der Librería Mundo, und ich hatte schon einen Kloß im Hals, wenn ich mir nur den tristen Abend vorstellte, der mich erwartete. Auf der anderen Straßenseite gab es ein Schaufenster mit eleganter Kleidung, das ich noch nie gesehen hatte, obwohl es schon immer da gewesen war, und ohne weiter darüber nachzudenken, überquerte ich im aschigen Nieselregen die Galle San Blas und betrat mit festem Schritt das teuerste Geschäft der Stadt. Ich kaufte einen klerikalen Anzug aus mitternachtsblauem Tuch, der ganz dem damaligen Geist Bogotás entsprach, zwei weiße Hemden mit steifem Kragen, eine diagonal gestreifte Krawatte und ein Paar Schuhe, wie sie der Schauspieler José Mojica in Mode gebracht hatte, bevor er sich in einen Heiligen verwandelte. Ich erzählte nur Germán, Álvaro und Alfonso von der Reise, und sie meinten, es sei eine vernünftige Entscheidung, vorausgesetzt, ich käme nicht als Cachaco zurück.

Wir feierten diesen Entschluss mit der ganzen Gruppe bis zum Morgengrauen im Tercer Hombre, es war eine Art vorgezogene Geburtstagsfeier, da, wie Germán Vargas, der Wächter des Heiligenkalenders, kundtat, ich am 6. März 1954 siebenundzwanzig Jahre alt werden würde. Inmitten der guten Wünsche meiner großartigen Freunde fühlte ich mich imstande, die noch fehlenden dreiundsiebzig Jahre bis zu meinem hundertsten Geburtstag roh zu verspeisen.