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An dem Tag, an dem ich mit meiner Mutter zum Verkauf des Hauses fuhr, kam mir alles wieder ins Gedächtnis, was mich als Kind beeindruckt hatte, aber ich war mir weder sicher, was früher und was später gewesen war, noch was das alles in meinem Leben bedeutete. Mir war gerade einmal bewusst, dass, umgeben vom falschen Glanz des Bananenbooms, bereits die Eheschließung meiner Eltern in den Prozess eingebettet war, der den Niedergang Aracatacas besiegeln sollte. Seit ich mich erinnern kann, habe ich immer wieder - zunächst behutsam tastend, dann laut und beunruhigt vorgebracht - den schicksalhaften Satz gehört: »Es heißt, die Gesellschaft geht.« Nach der Version meiner Mutter war die Zahl der Toten bei dem Massaker so geringfügig und der Schauplatz so armselig für das gewaltige Drama, das ich mir vorgestellt hatte, dass mich ein Gefühl der Enttäuschung überkam. Später habe ich mit Überlebenden und Zeugen gesprochen, in Pressekonvoluten und offiziellen Dokumenten gegraben, und mir wurde klar, die Wahrheit entzog sich. Die Konformisten behaupteten tatsächlich, es habe keine Toten gegeben. Die extreme Gegenseite versicherte ohne ein Beben in der Stimme, es seien über hundert gewesen, man habe sie auf der Plaza verbluten sehen, und später seien sie mit einem Frachtzug abtransportiert worden, um sie wie faulige Bananen ins Meer zu werfen. Meine persönliche Wahrheit kam mir also an einem Ungewissen Punkt zwischen den beiden Extremen endgültig abhanden. Sie erwies sich dennoch als derart hartnäckig, dass ich das Massaker in einem Roman genauso präzise und grauenvoll, wie meine Phantasie es über die Jahre ausgestaltet hatte, dargestellt habe. So kam es, dass ich die Zahl der Toten bei dreitausend gelassen habe, um die epischen Proportionen des Dramas zu wahren. Das wirkliche Leben zögerte nicht, mir Recht zu geben: Vor kurzem, an einem Jahrestag der Tragödie, bat der turnusmäßige Redner im Senat um eine Schweigeminute zum Gedenken an die dreitausend unbekannten Märtyrer, die von der Staatsgewalt geopfert worden seien.

Das Massaker an den Bananenarbeitern war eine Steigerung vorangegangener Strafaktionen, doch diesmal wurden die Streikanführer zudem als Kommunisten angeprangert, und vielleicht waren sie das auch. Den berüchtigsten und gesuchtesten, Eduarde Mahecha, lernte ich im Mustergefängnis von Barranquilla etwa zu der Zeit zufällig kennen, als ich mit meiner Mutter das Haus verkaufen fuhr, und es ergab sich ein freundschaftlicher Kontakt, sobald ich mich als Enkel von Nicolás Márquez vorgestellt hatte. Er eröffnete mir, dass der Großvater sich beim Streik 1928 nicht neutral verhalten hatte, sondern als Vermittler aufgetreten war, und er hielt ihn für einen gerechten Mann. Mahecha verhalf mir so zu einer umfassenderen Sicht der Ereignisse und einem objektiveren Bild der sozialen Konflikte. Die einzige wirkliche Diskrepanz zwischen all den unterschiedlichen Erinnerungen bestand in der Anzahl der Toten - aber das wird nicht die einzige Unbekannte in unserer Geschichte bleiben.

Aus der Vielzahl der umgehenden Versionen erklären sich meine falschen Erinnerungen. Die beständigste davon betrifft mich selbst, ich stehe an der Haustür mit einem preußischen Helm und einer Spielzeugflinte und sehe unter den Mandelbäumen das Bataillon verschwitzter Cachacos defilieren. Einer der kommandierenden Offiziere in Paradeuniform grüßt mich im Vorbeimarschieren:

»Adios, Hauptmann Gabi.«

Die Erinnerung ist scharf, aber sie kann unmöglich stimmen. Die Uniform, den Helm und die Flinte hat es gegeben, doch erst zwei Jahre nach dem Streik, als schon keine Truppen mehr in Cataca waren. Aus vielen vergleichbaren Fällen speiste sich zu Hause mein schlechter Ruf, ein intrauterines Gedächtnis und hellsichtige Träume zu haben.

Dies war der Zustand der Welt, als ich ein Bewusstsein für das Familienleben zu entwickeln begann, und es gelingt mir nicht, dieses auf eine andere Weise zu beschwören: Kummer, Sehnsucht und Ungewissheiten in der Einsamkeit eines riesigen Hauses. Über Jahre hinweg schien sich jene Epoche für mich in einen Albtraum verwandelt zu haben, denn fast täglich wachte ich morgens mit dem gleichen Entsetzen auf wie damals im Zimmer mit den Heiligenfiguren. Noch als Jugendlicher, im eisigen Internat in den Anden, schreckte ich mitten in der Nacht weinend hoch. Ich musste dieses reuelose Alter erreichen, um zu begreifen, dass das Unglück der Großeltern im Haus in Cataca darin bestand, dass sie für immer in ihren Nostalgien befangen blieben, und das umso stärker, je eifriger sie bemüht waren, diese zu bannen.

Einfacher noch: Sie wohnten in Cataca, lebten aber weiter in der Provinz Padilla, die wir noch immer »Die Provinz« nennen, nur so, als gäbe es keine andere auf der Welt. Vielleicht unwillkürlich hatten sie das Haus in Cataca als regelrechte Replik des Hauses in Barrancas gebaut, von dessen Fenstern aus man über die Straße hinweg den traurigen Friedhof sah, auf dem Medardo Pacheco lag. In Cataca wurden sie geliebt, war man ihnen gefällig, doch ihr Leben blieb sklavisch dem Landstrich ihrer Geburt verpflichtet. Sie verbarrikadierten sich in ihren Vorlieben, ihren Überzeugungen, ihren Vorurteilen und schlössen die Reihen gegen alles, was anders war.

Ihre nächsten Freunde waren vor allem solche, die aus Der Provinz kamen. Die Alltagssprache der Großeltern hatten ihre Großeltern über Venezuela aus Spanien mitgebracht, sie wurde belebt durch karibische Lokalismen, Afrikanismen der Sklaven und Brocken der Guajira-Sprache, die nach und nach in die unsere eindrangen. Die Großmutter gebrauchte Letztere, wenn ich etwas nicht mitbekommen sollte, wusste aber nicht, dass ich die Guajira-Sprache durch meinen direkten Umgang mit dem Personal besser verstand als sie. Ich erinnere mich an viele Wendungen: atunkeshi - ich bin müde, jamusaitshi taya - ich bin hungrig, ipuwots - die schwangere Frau oder auch arijuna - der Fremdling, ein Wort, das meine Großmutter auf eine ganz bestimmte Weise benutzte, wenn sie einen Spanier, einen Weißen, und nicht zuletzt den Feind meinte. Die Guajiros haben ihrerseits immer eine Art knochenloses Spanisch mit leuchtenden Glanztupfern gesprochen, so wie Chons eigener Dialekt; er zeichnete sich durch eine übertriebene Präzision aus, die meine Großmutter ihr verbot, weil dabei unweigerlich Zweideutiges mitklang: »Die Lippen des Mundes.«

Der Tag war unvollständig ohne Nachrichten darüber, wer in Barranquilla geboren worden war, wen alles der Stier in der Arena von Fonseca getötet hatte, wer in Manaure geheiratet hatte und in Riohacha gestorben war, wie es General Socarrás ging, der in San Juan del César darniederlag. Im Kommissariat der Bananengesellschaft wurden kalifornische Äpfel, in Seidenpapier gewickelt, zu Billigpreisen verkauft, desgleichen im Eis erstarrte andalusische Seebrassen, Schinken aus Galicien und griechische Oliven. Zu Hause wurde jedoch nichts gegessen, was nicht vom Sud wehmütiger Erinnerungen gewürzt war: Das Gemüse für die Suppe musste aus Riohacha kommen, der Mais für die Frühstücksküchlein aus Fonseca, die Zicklein wurden mit Salz aus La Guajira aufgezogen und Schildkröten und Langusten lebend aus Dibuya gebracht.

So kam auch die Mehrzahl der Besucher, die täglich mit dem Zug eintrafen, aus Der Provinz oder war von jemandem dort geschickt worden. Immer dieselben Nachnamen: Riascos, Noguera, Ovalle, häufig gekreuzt mit den unvermeidlichen Sippen der Iguarans und der Cotes. Die Besucher waren auf der Durchfahrt, hatten nur einen Rucksack auf dem Rücken, und auch wenn sie ihr Kommen nicht angekündigt hatten, war vorgesehen, dass sie zum Essen blieben. Nie habe ich den fast schon rituellen Ausspruch der Großmutter, wenn sie in die Küche kam, vergessen: »Wir müssen von allem etwas machen, wer weiß schon, was denen, die kommen, schmeckt.«

Der beständige Eskapismus gründete auf einer geografischen Realität. Die Provinz, in einem fruchtbaren Tal zwischen der Sierra Nevada de Santa Marta und der Sierra del Perija an der kolumbianischen Karibik gelegen, hatte die Autonomie einer eigenen Welt und bildete von alters her eine starke kulturelle Einheit. Die Kommunikation mit der Welt war leichter als die mit dem Rest des Landes, und das Alltagsleben war durch die gute Schiffsverbindung nach Jamaica und Curafao eher mit dem der Antillen zu vergleichen und vom venezolanischen kaum zu unterscheiden, da die offene Grenze keine Unterschiede nach Rang oder Hautfarbe machte. Aus dem Inneren des Landes, das im eigenen Saft schmorte, kam gerade einmal der Rostfraß der Macht herüber: Gesetze, Steuern, Soldaten, schlechte Nachrichten, ausgebrütet auf zweitausendfünfhundert Meter Höhe und in einer Entfernung von acht Tagereisen auf einem mit Holz befeuerten Dampfschiff des Rio Magdalena.

Diese insulare Lage hatte eine stagnierende Kultur mit eigenem Charakter hervorgebracht, die von den Großeltern nach Cataca verpflanzt wurde. Das Haus war eher ein Dorf als das Heim einer Familie. Stets gab es mehrere Schichten am Mittagstisch, die beiden ersten aber waren heilig, seitdem ich drei geworden war: Der Oberst präsidierte, und ich saß an der Ecke zu seiner Rechten. Die übrigen Plätze nahmen erst die Männer ein, dann die Frauen, jedoch immer voneinander getrennt, eine Regel, die nur bei den patriotischen Feierlichkeiten zum 20. Juli durchbrochen wurde. Aber auch dann ging das Essen schichtweise weiter, bis alle satt waren. Abends wurde der Tisch nicht gedeckt, stattdessen gab es in der Küche große Tassen mit Milchkaffee, dazu die köstlichen Konditorwaren der Großmutter. Wenn die Türen geschlossen wurden, hängte jeder seine Hängematte irgendwohin, auf unterschiedlicher Höhe und sogar an die Bäume im Patio.

Eine der phantastischen Geschichten jener Jahre erlebte ich, als eines Tages eine Gruppe gleich aussehender Männer in Reitkleidung mit Gamaschen und Sporen im Haus erschien. Alle hatten ein Aschenkreuz auf der Stirn. Es waren die Söhne, die der Oberst während des Kriegs der Tausend Tage in Der Provinz gezeugt hatte und die nun aus ihren Dörfern kamen, um ihm mit einem Monat Verspätung zum Geburtstag zu gratulieren. Bevor sie im Haus erschienen, waren sie in der Fünf-Uhr-Messe gewesen, und das Aschenkreuz, das Pater Anganta ihnen auf die Stirn gezeichnet hatte, wirkte auf mich wie ein übernatürliches Emblem, ein Mysterium, das mich noch jahrelang verfolgen sollte, selbst dann noch, als mir die Liturgie der Karwoche bereits vertraut war.

Die meisten dieser Männer waren erst nach der Heirat meiner Großeltern geboren worden. Mina registrierte sie mit Namen und Nachnamen in einem Notizheft, sobald sie von einer Geburt erfuhr, und ließ diese Nachkommenschaft schließlich, mit widerstrebender Nachsicht doch von Herzen, in die Buchführung der Familie eingehen. Aber weder ihr noch sonst einem fiel es leicht, sie alle auseinander zu halten, bis zu diesem lärmenden Besuch, bei dem jeder von ihnen seine besondere Wesensart offenbarte. Sie waren ernsthaft und arbeitsam, häuslich, Männer des Friedens, die jedoch nichts dabei fanden, im Schwindel des Feierns den Kopf zu verlieren. Sie zerschlugen Geschirr, zausten die Rosenbüsche bei der Verfolgung eines Jungstiers, dem sie ans Fell wollten, erschossen die Hühner für den Eintopfund ließen ein mit Talg beschmiertes Schwein los, das die Stickerinnen auf der Veranda überrannte, doch niemand beklagte diese Zwischenfälle, denn ein Wirbelwind des Glücks begleitete die Männer.

Esteban Carrillo habe ich noch oft gesehen. Er war der Zwillingsbruder von Tante Elvira und ein geschickter Handwerker, der mit einer Werkzeugkiste reiste, um sich in den Häusern, wo er zu Gast war, durch Reparaturen gefällig zu erweisen. Mit seinem Sinn für Humor und seinem guten Gedächtnis half er mir, zahlreiche Lücken zu füllen, die unabänderlich in der Geschichte der Familie zu klaffen schienen. Als Jugendlicher habe ich auch meinen Onkel Nicolás Gómez häufiger besucht. Er war ein blondes Mannsbild mit roten Sommersprossen und hielt den ordentlichen Beruf eines Krämers in der ehemaligen Strafkolonie von Fundacíon stets hoch. Beeindruckt von meinem guten Ruf, ein aussichtsloser Fall zu sein, gab er mir zum Abschied immer einen Beutel voll Proviant für die Weiterreise mit. Rafael Arias kam stets nur kurz und in Eile vorbei, er ritt auf einem Maultier in der entsprechenden Kleidung und hatte gerade einmal genug Zeit, einen Kaffee stehend in der Küche zu trinken. Die anderen traf ich im Lande verstreut auf den nostalgischen Reisen, die ich später, als ich meine ersten Romane schrieb, durch Die Provinz machte, und immer habe ich das Aschenkreuz auf der Stirn als unverwechselbares Zeichen der Familienidentität vermisst.

Jahre nach dem Tod der Großeltern, als das Herrenhaus seinem Schicksal überlassen worden war, kam ich einmal mit dem Nachtzug nach Fundacíon und setzte mich an den einzigen Imbissstand am Bahnhof, der zu dieser Zeit noch geöffnet hatte. Es gab nicht mehr viel Essbares, aber die Inhaberin improvisierte mir zu Ehren ein gutes Gericht. Sie war gesprächig und zuvorkommend, doch hinter diesen harmlosen Tugenden glaubte ich den starken Charakter der Frauen unseres Stammes zu erkennen. Jahre später wurde ich bestätigt: Die hübsche Wirtin war Sara Noriega, eine weitere unbekannte Tante.

Der ehemalige Sklave Apolinar, klein und stämmig, an den ich mich immer wie an einen Onkel erinnerte, verschwand für Jahre aus dem Haus und erschien eines Abends überraschend wieder. Er trug Trauer, einen Anzug aus schwarzem Tuch und einen riesigen, ebenfalls schwarzen Hut, der bis auf die düsteren Augen heruntergezogen war. Als er durch die Küche ging, sagte er, er sei zur Beerdigung gekommen, doch keiner begriff, was er meinte, bis zum nächsten Tag, als die Nachricht kam, der Großvater sei soeben in Santa Marta gestorben, wohin man ihn eilends heimlich gebracht hatte.

Der einzige Onkel, der es in der Öffentlichkeit zu einer gewissen Geltung brachte, war der älteste von allen und der einzige Konservative. José Maria Valdeblänquez war während des Kriegs der Tausend Tage Senator gewesen und nahm in dieser Eigenschaft an der Unterzeichnung der Kapitulation der Liberalen auf der nahe gelegenen Finca von Neerlandia teil. Vor ihm, auf der Seite der Besiegten, stand sein Vater.

Ich glaube den Kern meines Wesens und Denkens den Frauen der Familie und den vielen weiblichen Dienstboten zu verdanken, die meine Kindheit behütet haben. Sie hatten einen starken Charakter und ein sanftes Herz und behandelten mich mit der Natürlichkeit des irdischen Paradieses. Unter den vielen, an die ich mich erinnere, war Lucia die Einzige, die mich mit ihrer naiven Arglist überraschte, als sie mich in die Froschgasse führte und ihren Kittel bis zur Taille hob, um mir ihr kupferfarbenes, wirres Fellchen zu zeigen. Was damals aber meine Aufmerksamkeit tatsächlich erregte, war der ungesunde Pinta-Flecken, der sich wie eine Weltkarte aus violetten Dünen und gelben Ozeanen über ihrem Bauch ausbreitete. Die anderen Frauen wirkten dagegen wie Erzengel der Reinheit: Sie zogen sich vor mir um, badeten mich, während sie selbst badeten, setzten mich auf meinen Nachttopf und setzten sich auf den ihren, breiteten vor mir ihre Geheimnisse aus, ihren Kummer, ihren Groll, als verstünde ich das alles nicht, und merkten dabei nicht, dass ich alles begriff, weil ich die Enden verknüpfte, die sie für mich lose gelassen hatten.

Chon gehörte zu den Dienstboten und zur Straße. Sie war als Kind mit den Großeltern aus Barrancas gekommen, war in der Küche, also im Schoß der Familie groß geworden und wurde wie eine Tante und Aufpasserin behandelt, seitdem sie mit meiner verliebten Mutter die Pilgerreise in Die Provinz gemacht hatte. In ihren letzten Jahren zog sie, ihrer königlichen Laune gehorchend, in ein eigenes Zimmer im ärmsten Teil des Dorfes und lebte davon, schon frühmorgens Knödel aus gemahlenem Mais für die Frühstücksküchlein zu verkaufen. Ihr Ausruf »Die kalten Plätzchen der alten Chon!« wurde zur vertrauten Unterbrechung in der Stille des Morgengrauens.

Sie hatte die schöne Farbe einer India, war schon immer nur Haut und Knochen, ging barfuß, trug einen weißen Turban und wickelte sich in gestärkte Laken. Sie schritt sehr langsam auf der Mitte der Straße einher, mit einer Eskorte zahmer, ruhiger Hunde, die sie im Laufen umkreisten. Am Ende gehörte Chon zur dörflichen Folklore. Im Karneval erschien einmal jemand, der genau wie sie verkleidet war, in ihren Laken und mit ihrem Ausruf, nur war es ihm nicht gelungen, wie Chon, eine Hundegarde abzurichten. Ihr Ruf mit den kalten Plätzchen wurde so populär, dass die Akkordeonspieler ein Lied darüber machten. An einem bösen Morgen griffen zwei scharfe Hunde die ihren an, woraufhin sich diese so heftig verteidigten, dass Chon dabei stürzte und sich das Rückgrat brach. Sie überlebte es nicht, trotz aller ärztlichen Maßnahmen, für die mein Großvater sorgte.

Eine weitere aufschlussreiche Erinnerung aus jener Zeit war die Entbindung von Matilde Amaranta, einer Wäscherin, die im Haus arbeitete, als ich etwa sechs war. Ich ging versehentlich in ihr Zimmer und sah sie nackt und breitbeinig auf einem Leinenbett, sie brüllte vor Schmerz inmitten einer aufgestörten Horde von Frauen, die nach Gutdünken Matilde Amarantas Körper untereinander aufgeteilt hatten, um der Schreienden beim Gebären zu helfen. Eine wischte ihr mit einem feuchten Handtuch den Schweiß von der Stirn, andere hielten mit Gewalt ihre Arme und Beine fest und massierten ihr den Bauch, um die Geburt voranzutreiben. In all dem Durcheinander murmelte unsere Hebamme Santos Villero unbeirrt mit geschlossenen Augen Gebete für eine glückliche Überfahrt, während sie zwischen den Schenkeln der Gebärenden zu graben schien. Das Zimmer war erfüllt vom Dampf des kochenden Wassers, das in Töpfen aus der Küche gebracht wurde, und die Hitze war unerträglich geworden. Ich blieb in einer Ecke stehen, hin- und hergerissen zwischen Schrecken und Neugier, bis die Hebamme ein rohes Etwas an den Knöcheln herauszog, wie ein frisch geborenes Kalb, dem eine blutige Schnur vom Nabel herabhing. Da entdeckte mich eine der Frauen in meiner Ecke und schleifte mich aus dem Zimmer.

»Du lebst in Todsünde«, sagte sie zu mir und befahl mir mit drohendem Finger: »Denk nie wieder an das, was du gesehen hast.«

Die Frau aber, die mir wirklich die Unschuld raubte, hatte es nicht vor und erfuhr auch nie davon. Sie hieß Trinidad, war die Tochter von jemandem, der im Haus arbeitete, und begann in einem tödlichen Frühling gerade erst zu erblühen. Sie war etwa dreizehn, trug aber noch die Kleider einer Neunjährigen, die so eng anlagen, dass sie nackter als unbekleidet wirkte. Eines Abends, als wir allein im Patio waren, spielte im Nachbarhaus plötzlich eine Kapelle auf, und Trinidad zog mich zum Tanzen in eine so enge Umarmung, dass mir die Luft wegblieb. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, aber noch heute wache ich verstört und aufgewühlt mitten in der Nacht auf und weiß, ich könnte sie auch im Dunkeln an jedem Zoll ihrer Haut und an ihrem animalischen Geruch erkennen. In einem einzigen Moment wurde ich mir meines Körpers mit einer Hellsichtigkeit der Instinkte bewusst, die ich niemals wieder erlebt habe und die ich als einen köstlichen Tod zu erinnern wage. Von nun an wusste ich auf eine konfuse und unwirkliche Weise, es gab da ein unauslotbares Geheimnis, das ich nicht kannte, das mich aber verstörte, als würde ich es kennen. Dagegen haben mir die Frauen der Familie immer den dürren Pfad der Keuschheit gewiesen.

Der Verlust der Unschuld lehrte mich zugleich, dass es nicht das Jesuskind war, das uns zu Weihnachten die Geschenke brachte, aber ich war so vorsichtig, dies nicht zu sagen. Als ich zehn war, offenbarte mein Vater es mir wie ein Geheimnis unter Erwachsenen, weil er davon ausging, dass ich es schon wusste, und nahm mich in die weihnachtlichen Geschäfte mit, um die Geschenke für meine Brüder auszusuchen. Ähnliches war mir mit dem Geheimnis der Geburt widerfahren, schon bevor ich die Entbindung von Matilde Amaranta erlebte: Ich verschluckte mein Lachen, wenn ich hörte, der Klapperstorch bringe die Kinder aus Paris, aber ich muss gestehen, dass ich weder damals noch heute Geburt mit Sexualität habe in Verbindung bringen können. Wie auch immer, ich denke, dass meine Vertrautheit mit dem Gesinde der Ursprung des heimlichen Drahts sein könnte, den ich zu Frauen zu haben glaube, weshalb ich mich auch mein Leben lang unter ihnen wohler und sicherer gefühlt habe als unter Männern. Von daher kommt möglicherweise auch meine Überzeugung, dass die Frauen die Welt erhalten, während wir Männer sie mit unserer historischen Brutalität in Unordnung bringen.

Ohne es zu wissen, hatte Sara Emilia Márquez etwas mit meinem Schicksal zu tun. Von jung an von Verehrern verfolgt, die sie nicht einmal eines Blickes würdigte, entschied sie sich für den Ersten, der ihr gefiel, und zwar für immer. Der Erwählte hatte etwas mit meinem Vater gemeinsam, er war ein Fremdling, war von wer weiß wo und wie gekommen, sichtlich ohne Mittel, wirkte aber viel versprechend. Er hieß José del Carmen Uribe Vergel, unterschrieb aber manchmal nur mit J. del C. Es verging einige Zeit, ohne dass man wusste, wer er wirklich war und woher er kam, bis man es durch die Reden erfuhr, die er im Auftrag für Würdenträger schrieb, und durch Liebesgedichte, die er in seiner eigenen Kulturzeitschrift veröffentlichte, deren Erscheinungsfolge von Gottes Willen abhing. Seitdem er im Haus aufgetaucht war, bewunderte ich ihn sehr wegen seines Ruhms als Schriftsteller. Er war der erste, den ich in meinem Leben kennen lernte, und unverzüglich wollte ich so sein wie er und war nicht zufrieden, bis Francisca Simodosea, Tante Mama, lernte, mich ebenso zu frisieren.

Ich war der Erste der Familie, der von seiner heimlichen Liebe erfuhr, und zwar eines Abends, als er in das Haus gegenüber kam, wo ich mit meinen Freunden spielte. Er rief mich beiseite, war sichtlich angespannt und übergab mir einen Brief an Sara Emilia. Ich wusste, dass sie an der Tür saß und eine Freundin zu Besuch hatte. Ich ging über die Straße, versteckte mich hinter einem der Mandelbäume und warf den Brief mit einer solchen Treffsicherheit, dass er ihr in den Schoß fiel. Erschreckt hob sie die Hände, der Schrei blieb ihr jedoch in der Kehle stecken, als sie die Schrift auf dem Umschlag erkannte. Von da an waren Sara Emilia und J. del C. meine Freunde.

Elvira Carrillo, die Zwillingsschwester von Onkel Esteban, wrang mit zwei Händen das Zuckerrohr und presste mit der Kraft einer Mühle den Saft heraus. Sie war bekannter für ihre brutale Offenheit als für die Zärtlichkeit, mit der sie die Kinder unterhalten konnte, vor allem meinen ein Jahr jüngeren Bruder Luis Enrique, dessen Komplizin und Herrscherin sie zugleich war und der sie für immer auf den unergründbaren Namen Tante Pa taufte. Unlösbare Probleme waren ihre Spezialität. Sie und Esteban kamen als Erste in das Haus in Cataca, während er jedoch seinen Weg mit allerlei erfolgreichen Betätigungen und Geschäften machte, blieb sie in der Familie die unentbehrliche Tante, ohne je zu merken, dass sie das war. Sie verschwand, wenn sie nicht benötigt wurde, tauchte auf, wenn man sie brauchte, aber wie und woher sie dann kam, wusste keiner. In ihren schlechten Augenblicken führte sie, während sie mit den Töpfen hantierte, Selbstgespräche und offenbarte laut, wo sich verlorene Gegenstände befanden. Nachdem sie die älteren Familienmitglieder begraben hatte, blieb sie, indes das Unkraut nach und nach den Raum eroberte und die Tiere durch die Schlafzimmer irrten, im Haus wohnen, gestört von einem mitternächtlichen Husten, das wie von jenseits des Grabes aus dem Nachbarzimmer schallte.

Francisca Simodosea - Tante Mama -, die Generalin der Sippe, starb jungfräulich im Alter von neunundsiebzig Jahren und war anders als alle anderen, da ihre Gewohnheiten und ihre Sprache nicht aus Der Provinz stammten, sondern aus dem feudalen Paradies der Savannen von Bolivar, wohin ihr Vater, José Maria Mejia Vidal, in jungen Jahren mit seiner Goldschmiedekunst von Riohacha aus emigriert war. Ihre Mähne aus tiefschwarzem Pferdehaar, das bis ins hohe Alter dem Ergrauen standhielt, hatte sie sich bis zu den Kniekehlen wachsen lassen. Sie wusch es einmal die Woche mit Duftwasser und setzte sich zum Kämmen vor ihre Schlafzimmertür, eine heilige Zeremonie von mehreren Stunden, während der sie ruhelos Stummel aus rohem Tabak paffte, die sie verkehrt herum, mit der Glut im Mund, rauchte, wie es die liberalen Truppen im Krieg der Tausend Tage getan hatten, um in der Dunkelheit der Nacht nicht vom Feind entdeckt zu werden. Sie kleidete sich auch anders, trug Unterröcke und Mieder aus makellosem Leinen, dazu Pantöffelchen aus Plüsch.

Im Gegensatz zum spanischen Purismus der Großmutter pflegte Tante Mama die lockerste volkstümliche Sprache. Das verbarg sie vor keinem und unter keinen Umständen und sagte jedem ungeschminkte Wahrheiten ins Gesicht. Sogar eine Nonne, die meine Mutter unterrichtete, wurde von der Tante wegen einer harmlosen Impertinenz in die Schranken verwiesen: »Sie sind eine von denen, die den Arsch mit den Schläfen verwechseln.« Irgendwie bekam sie es aber stets so hin, weder unflätig noch beleidigend zu wirken.

Ein halbes Leben lang war sie Verwahrerin der Friedhofsschlüssel, stellte die Totenscheine aus und buk zu Hause die Hostien für die Messe. Sie war die einzige Person in der Familie, ob es sich nun um Frauen oder Männer handelte, in deren Herz nicht der Kummer über eine verbotene Liebe bohrte. Das wurde uns eines Abends bewusst, als der Arzt ihr einen Katheter legen wollte und sie ihn mit einem Hinweis daran hinderte, den ich damals nicht begriff: »Ich möchte klarstellen, Doktor, dass ich nie einen Mann gekannt habe.«

Ich hörte diesen Satz noch öfter von ihr, aber er wirkte auf mich weder triumphal noch reumütig, sondern war Ausdruck einer vollendeten Tatsache, die keinerlei Spuren in ihrem Leben hinterlassen hatte. Dafür war sie eine ausgefuchste Ehestifterin, die unter dem Zwiespalt gelitten haben muss, meine Eltern zu unterstützen und sich gleichzeitig Mina gegenüber loyal zu verhalten.

Ich habe den Eindruck, dass sie sich besser mit den Kindern als mit den Erwachsenen verstand. Sie kümmerte sich um Sara Emilia, bis diese allein in das Zimmer mit den Calleja-Märchenheften zog. Anschließend übernahm sie dann Margot und mich, wenngleich sich die Großmutter weiterhin um meine Körperpflege kümmerte und der Großvater um meine Entwicklung zum Mann.

Die seltsamste Erinnerung aus jener Zeit ist die an Tante Petra, die ältere Schwester des Großvaters, die von Riohacha zu uns zog, als sie blind wurde. Sie wohnte in dem Zimmer neben dem Büro, der späteren Goldschmiedewerkstatt, und entwickelte eine geradezu magische Geschicklichkeit, sich ohne Stock oder irgendwelche Hilfe in der Finsternis zu bewegen. Ich erinnere mich an sie, als sei es gestern gewesen: Langsam, aber ohne Zögern geht sie wie jemand, der mit zwei Augen sehen kann, und lässt sich dabei nur von ihrer Nase leiten. Ihr Zimmer erkannte sie am Geruch der Salzsäure in der angrenzenden Schmiede, die Veranda am Jasminduft, das Schlafzimmer der Großeltern am Geruch nach Methylalkohol, mit dem sich beide vor dem Schlafengehen abrieben, das Zimmer von Tante Mama am Ölgeruch der Heiligenlämpchen, und am Ende des Gangs erwarteten sie dann die leckeren Küchengerüche. T ante Petra war schlank und leichtfüßig, hatte eine Haut wie welke Lilien, eine leuchtende Mähne perlmuttfarbenen Haars, das sie offen bis zur Taille trug und selbst pflegte. Das jungmädchenhafte Leuchten ihrer grünen, durchsichtigen Pupillen änderte sich je nach Stimmung. Es handelte sich aber allenfalls um gelegentliche Ausflüge, da sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer zu verbringen pflegte, bei halb offener Tür und fast immer allein. Manchmal sang sie sich leise etwas vor, und dann konnte man ihre Stimme mit der von Mina verwechseln, doch waren die Lieder anders und viel trauriger. Irgendjemand sagte, es handle sich um Romanzen aus Riohacha, aber erst als Erwachsener kam ich dahinter, dass sie die Lieder beim Singen selbst erfand. Zwei oder dreimal konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, heimlich in ihr Zimmer zu gehen, fand sie dort aber nicht. Später einmal, in den Ferien der Oberschule, erzählte ich meiner Mutter von diesen Erinnerungen, woraufhin sie mich eilig davon überzeugte, dass ich mich irrte. Sie hatte völlig Recht, und das konnte ich überprüfen, ohne die Asche eines Zweifels: Tante Petra war gestorben, als ich gerade zwei Jahre alt war.

Tante Wenefrida nannten wir Nana, sie war die fröhlichste und sympathischste der Sippe, ich kann sie aber nur in ihrem Krankenbett vor mir sehen. Sie war mit Rafael Quintero Ortega -Onkel Quinte - verheiratet, einem Anwalt der Armen; er war in Chía geboren, etwa fünfzehn Meilen von Bogotá entfernt und auf gleicher Höhe über dem Meer. Er passte sich aber der Karibik so gut an, dass er in der Hölle von Cataca Wärmflaschen für seine kalten Füße brauchte, um in den kühlen Dezembernächten einschlafen zu können. Die Familie hatte sich von dem Unglück mit Medardo Pacheco schon erholt, als Onkel Quinte das seine ereilte, weil er den Anwalt der Gegenseite bei einem Gerichtsstreit tötete. Er hatte den Ruf eines friedlichen und guten Menschen, doch der Gegner reizte ihn ohne Unterlass, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu bewaffnen. Er war so klein und knochig, dass er Kinderschuhe tragen musste, und seine Freunde bedachten ihn mit freundlichem Spott, weil der Revolver sich unter seinem Hemd wie eine Kanone abzeichnete. Der Großvater warnte Onkel Quinte mit seinem berühmten Satz: »Sie wissen nicht, wie schwer ein Toter wiegt.« Der Onkel hatte jedoch keine Zeit, daran zu denken, als sich der Feind ihm mit irrem Gebrüll in der Vorhalle des Gerichts in den Weg stellte und dann dieser riesige Körper auf ihn zustürzte. »Ich habe einmal gemerkt, wie ich den Revolver gezogen und mit zwei Händen und geschlossenen Augen in die Luft geschossen habe«, erzählte mir Onkel Quinte, kurz bevor er fast hundertjährig starb. »Als ich die Augen öffnete«, sagte er, »sah ich ihn noch vor mir stehen, groß und bleich, und dann sackte er langsam zusammen, bis er auf dem Boden lag.« Erst da merkte Onkel Quinte, dass er ihn mitten in die Stirn getroffen hatte. Ich fragte ihn, was er gefühlt habe, als er ihn fallen sah, und war von seiner Offenheit überrascht:

»Eine maßlose Erleichterung!«

Meine letzte Erinnerung an seine Frau Wenefrida ist die an eine Nacht mit starkem Regen, als eine Hexerin ihr die Dämonen austrieb. Es war keine gewöhnliche Hexe, sondern eine sympathische Frau, modisch gekleidet, die mit einem Strauch Brennnesseln die schlechten Säfte aus dem Körper trieb, während sie einen Bannspruch sang, als sei es ein Wiegenlied. Plötzlich wand sich Nana in einem schweren Krampf, worauf ein Vogel in der Größe eines Huhns und mit schimmernden Federn aus den Betttüchern aufflatterte. Die Frau packte ihn mit gekonntem Griff in der Luft und wickelte ihn in ein schwarzes Tuch, das sie bereitliegen hatte. Sie befahl, ein Feuer im Hinterhof anzuzünden, und warf den Vogel ohne jede Zeremonie in die Flammen. Doch Nana erholte sich nicht von ihren Leiden.

Kurz darauf wurde das Feuer im Patio erneut angezündet, weil ein Huhn ein phantastisches Ei gelegt hatte, das wie ein Pingpon-ball aussah, aber einen Zipfel wie eine phrygische Mütze hatte. Meine Großmutter identifizierte es sofort: »Das ist ein Basiliskenei.« Und sie murmelte beschwörende Gebete, als sie es ins Feuer warf.

Ich konnte mir die Großeltern nie in einem anderen Alter vorstellen als in dem meiner Erinnerungen aus jener Zeit. Für mich sahen sie immer so aus wie auf den Porträtfotos, die man an der Schwelle zum Alter von ihnen gemacht hatte und deren immer verblicheneren Abzüge wie bei einem Stammesritual über vier kinderreiche Generationen weitergegeben wurden.

Vor allem die Fotos von Großmutter Tranquilina, der leichtgläubigsten und beeindruckbarsten Frau, die ich je kennen gelernt habe, weil ihr die Mysterien des Alltags Angst und Schrecken einflößten. Sie versuchte sich ihre Arbeit angenehm zu gestalten, indem sie lauthals alte Liebeslieder sang, unterbrach diese jedoch plötzlich angesichts eines drohenden Verhängnisses.

»Heilige Maria Mutter Gottes!«

Denn sie sah, wie sich die Schaukelstühle von alleine bewegten, wie das Gespenst des Kindbettfiebers in die Zimmer der Gebärenden schlich, der Jasminduft im Garten war für sie ein unsichtbarer Geist, und ein zufällig auf den Boden geworfener Schnürsenkel zeigte womöglich die Zahl an, die den Hauptgewinn der Lotterie davontragen würde, und ein Vogel ohne Augen, der sich ins Esszimmer verirrt hatte, ließ sich nur dadurch verscheuchen, dass das Banngebet La Magnifica gesungen wurde. Sie glaubte mit einem Geheimcode die Identität der Figuren und Orte in den Liedern, die aus Der Provinz herüberkamen, aufschlüsseln zu können. Sie stellte sich Unglücksfälle vor, die früher oder später eintrafen, ahnte voraus, wer mit einem weißen Hut aus Riohacha kommen würde, oder aus Manaure mit Koliken, die sich nur mittels Galle von Hühnergeiern kurieren ließen, denn sie war von Beruf nicht nur Prophetin, sondern auch eine heimliche Heilerin.

Sie hatte eine sehr persönliche Methode, eigene und fremde Träume zu deuten, die das tägliche Verhalten von jedem Einzelnen von uns und damit das Leben im Hause bestimmten. Dennoch wäre sie ohne jede Vorahnung fast zu Tode gekommen, als sie mit Schwung die Laken von ihrem Bett riss und sich ein Schuss aus dem Revolver löste, den der Oberst im Kopfkissenbezug versteckt hatte, um ihn beim Schlafen zur Hand zu haben. Die Kugel bohrte sich in die Decke, und sie musste, nach der Schussbahn zu urteilen, sehr nah an Großmutters Gesicht vorbeigeflogen sein.

Seitdem ich mich erinnern kann, hatte ich unter der morgendlichen Folter zu leiden, dass Mina mir die Zähne putzte, während sie das magische Privileg genoss, ihre zum Säubern herauszunehmen zu können und die Zähne, während sie schlief, in einem Glas Wasser aufzubewahren. Davon überzeugt, dass es sich um ihr natürliches Gebiss handelte, das sie mittels Guajira-Hexenkünsten einsetzen und herausnehmen konnte, brachte ich sie dazu, mir ihre Mundhöhle zu zeigen. Ich wollte sehen, wie die Rückseite der Augen, des Hirns, der Nase, der Ohren aussah, und musste enttäuscht feststellen, dass nicht mehr als der Gaumen zu sehen war. Doch niemand entschlüsselte mir das Wunder, und so versteifte ich mich eine Zeit lang darauf, dass der Zahnarzt auch mir zu einem solchen Gebiss verhelfen solle, damit Großmutter Mina mir die Zähne putzen konnte, während ich auf der Straße spielte.

Wir beide hatten so etwas wie einen Geheimcode, um mit dem unsichtbaren Universum in Verbindung zu treten. Tagsüber faszinierte mich die magische Welt der Großmutter, nachts aber löste sie das nackte Grauen in mir aus: die Angst vor der Dunkelheit, eine Angst, älter als wir selbst, die mich mein Leben lang auf einsamen Wegen und selbst in den Ballsälen der Hotels überall auf der Welt verfolgt hat. Im Haus der Großeltern hatte jeder Heilige sein Zimmer und jedes Zimmer seinen Toten. Doch das einzige Haus, das offiziell als das »Haus des Toten« bekannt war, stand neben dem unseren, und dieser Tote war der einzige, der sich bei einer spiritistischen Sitzung mit seinem Namen zu erkennen gegeben hatte: Alfonso Mora. Ein naher Bekannter machte sich die Mühe, dem Toten im Tauf- und Sterberegister nachzuspüren, er fand eine Reihe gleich lautender Namen, aber es gab keine Hinweise darauf, dass es sich um unseren Toten handelte. Über Jahre diente das Nachbarhaus als Pfarrhaus, und das Gerücht verbreitete sich, dass Pater Angarita selbst das Gespenst spielte, um die Neugierigen zu verscheuchen, die ihm bei seinen nächtlichen Abenteuern nachspionierten.

Meme, die Guajira-Sklavin, die von der Familie aus Barrancas mitgebracht worden war und die eines Tages mit Alirio, ihrem halbwüchsigen Bruder, floh, habe ich nicht mehr kennen gelernt, aber es hieß immer, dass diese beiden am nachhaltigsten die Sprechweise des Hauses mit ihrer Eingeborenensprache gewürzt hätten. Memes verworrenes Spanisch setzte die Dichter in Erstaunen, seit dem denkwürdigen Tag, als sie die Streichhölzer fand, die Onkel Juan de Dios verlegt hatte, und ihm die Schachtel mit triumphalem Kauderwelsch zurückgab:

»Hier ich bin, Zündholz dein.«

Schwer zu glauben ist, dass Großmutter Mina mit ihren zerstreuten Frauen der ökonomische Halt des Hauses war, als die Mittel zu versiegen begannen. Der Oberst besaß einige verstreute Stücke Land, die Cachaco-Siedler besetzt hatten, er wollte diese jedoch nicht vertreiben. In einer misslichen Lage, als es darum ging, die Ehre von einem seiner Söhne zu retten, musste er eine Hypothek auf das Haus in Cataca aufnehmen und danach ein Vermögen aufbringen, um es nicht zu verlieren. Als nichts mehr da war, erhielt Mina die Familie aus dem Handgelenk mit ihrer Bäckerei, den Karamelltierchen, die im ganzen Dorf verkauft wurden, den gescheckten Hühnern, den Enteneiern, dem Gemüse aus dem Hinterhof. Sie kürzte radikal das Personal und behielt nur die Tüchtigsten. Bargeld entschwand schließlich sogar aus der oralen Tradition des Hauses. So errechnete Tante Pa, als meine Mutter aus dem Internat zurückkehrte und ein Klavier gekauft werden sollte, den genauen Preis in häuslicher Währung: »Ein Klavier kostet fünfhundert Eier.«

Inmitten dieser Truppe gottesfürchtiger Frauen stellte der Großvater für mich die vollkommene Sicherheit dar. Nur in seiner Gegenwart verschwand die Unruhe, und ich fühlte mich mit beiden Beinen fest im wirklichen Leben verankert. Eigenartig ist, von heute aus gesehen, dass ich zwar so sein wollte wie er, realistisch, mutig, sicher, aber nie der steten Versuchung widerstehen konnte, in die Welt der Großmutter einzudringen. In meiner Erinnerung ist der Großvater beleibt und vital, hat ein paar graue Haare auf dem glänzenden Schädel, einen bürstenartigen, sehr gepflegten Schnurrbart und runde Brillengläser, in Gold gefasst. Er sprach langsam und gemessen, war verständnisvoll und vermittelnd in Friedenszeiten, seine konservativen Freunde aber erinnerten sich an ihn als an einen fürchtenswerten Feind in den Fährnissen des Krieges.

Er hat nie eine Uniform getragen, denn er hatte seinen Rang im Aufstand und nicht auf der Militärakademie erworben, doch noch lange nach den Kriegen trug er einen liquilique, den weißen Baumwollanzug, der unter den Veteranen der Karibik üblich war. Als das Gesetz über die Kriegspensionen in Kraft getreten war, beantragte er die seine, und er wie auch seine Frau und seine nächsten Erben warteten bis zu ihrem Tod darauf. Meine Großmutter Tranquilina, die fern von diesem Haus, blind, hinfällig und halb verrückt starb, sagte mir in ihren letzten lichten Momenten: »Ich sterbe beruhigt, denn ich weiß, ihr werdet Nicolasitos Pension bekommen.«

Damals hörte ich zum ersten Mal dieses mythische Wort, das in der Familie ewige Illusionen säte: die Pension. Das Wort war vor meiner Geburt ins Haus gekommen, als die Regierung die Zahlungen an die Veteranen des Kriegs der Tausend Tage festlegte. Der Großvater setzte selbst den Antrag auf, fügte überreichlich viele eidesstattliche Erklärungen und Beweisdokumente bei und brachte ihn persönlich nach Santa Marta, um die Empfangsbestätigung zu unterschreiben. Selbst bei weniger übermütigen Berechnungen kam eine Summe heraus, die für ihn und seine Nachfahren bis in die zweite Generation genügt hätte. »Macht euch keine Sorgen«, pflegte die Großmutter zu sagen, »die Pensionszahlungen werden für alles reichen.« Die Post, die in der Familie nie wichtig gewesen war, verwandelte sich damit in eine Angelegenheit der göttlichen Vorsehung. Selbst ich konnte mich, in Anbetracht der Ungewissheiten, die mich belasteten, der Erwartung nicht ganz entziehen.

Tranquilina zeigte zuweilen ein Temperament, das ihrem Namen keineswegs entsprach. Im Krieg der Tausend Tage wurde mein Großvater in Riohacha von einem ihrer Vettern, der Offizier des konservativen Heeres war, gefangen gesetzt. Die liberale Verwandtschaft, wie auch sie, begriffen das als Kriegshandlung, gegen die selbst die Macht der Familienbande nichts vermochte. Als die Großmutter aber erfuhr, dass ihr Mann wie ein gewöhnlicher Verbrecher im Block saß, trat sie dem Vetter mit einem Hundefänger entgegen und zwang ihn, ihr den Gatten heil und gesund auszuliefern.

Die Welt des Großvaters war eine ganz andere. Bis in seine letzten Jahre hinein wirkte er sehr beweglich, wenn er überall mit seiner Werkzeugkiste herumlief, um die Schäden am Haus zu reparieren, oder wenn er stundenlang mit der Handpumpe das Wasser ins Bad hochpumpte oder die steile Leiter hochstieg, um den Wasserstand in den Tonnen zu überprüfen, andererseits aber bat er mich, ihm die Schnürsenkel der Stiefel zuzubinden, weil er außer Atem kam, wenn er es selbst versuchte. Wie durch ein Wunder starb er nicht, als er eines Morgens versuchte, den halb blinden Papagei einzufangen, der bis zu den Tonnen hochgeklettert war. Er hatte ihn gerade am Hals gepackt, als er auf dem Laufsteg ausrutschte und aus vier Metern Höhe zu Boden stürzte. Niemand konnte sich erklären, wie er das mit seinen neunzig Kilo und mehr als fünfzig Jahren hatte überleben können. Das war für mich der denkwürdige Tag, an dem der Arzt den nackten Großvater Handbreit für Handbreit untersuchte, eine alte Narbe, einen halben Zoll lang, an der Leiste entdeckte und ihn fragte, was das denn sei.

»Das war eine Kugel im Krieg«, sagte der Großvater.

Ich war so erschüttert, dass ich mich noch jetzt nicht davon erholt habe. Wie ich mich auch noch nicht von dem Tag erholt habe, als der Großvater aus dem Fenster seines Büros auf die Straße schaute, um ein berühmtes Vollblutpferd zu begutachten, das man ihm verkaufen wollte, und plötzlich spürte, dass sich sein rechtes Auge mit Wasser füllte. Er wollte es mit der Hand schützen, und es blieben nur ein paar durchsichtige Tropfen auf der Handfläche zurück. Er verlor nicht nur das rechte Auge, sondern meine Großmutter erlaubte auch nicht, dass er das vom Teufel besessene Pferd kaufte. Eine kurze Zeit lang trug er über der wolkigen Augenhöhle eine Piratenklappe, bis der Arzt ihm stattdessen eine wohlgeschliffene Brille anpasste und ihm einen Spazierstock verordnete, der schließlich zu einem Erkennungszeichen wurde, so wie die kleine Westentaschenuhr, die an einer Goldkette hing und deren Deckel mit einer Melodie aufsprang. Allseits bekannt war auch, dass die Tücken der Jahre, die den Großvater zu beunruhigen begannen, nicht die Gewandtheit des heimlichen Verführers und guten Liebhabers beeinträchtigten.

Bei dem rituellen Bad um sechs Uhr früh, das er in seinen späten Jahren stets mit mir zusammen nahm, benutzten wir einen ausgehöhlten Kürbis, um uns mit Wasser aus der Zisterne zu begießen, und bespritzten uns zum Schluss mit Agua Florida von Lanman & Kemps, das die Schmuggler aus Curafao kartonweise ins Haus lieferten, wie auch den Brandy und die Hemden aus Chinaseide. Ich habe den Großvater einmal sagen hören, es sei das einzige Parfüm, das für ihn in Frage komme, weil es nur der rieche, der es benutze, was er dann allerdings nicht mehr glaubte, nachdem jemand es an einem fremden Kopfkissen erkannt hatte. Eine andere, jahrelang wiederholte Geschichte ist die, als eines Nachts das Licht ausfiel und der Großvater sich eine Flasche Tinte, die er für sein Agua Florida hielt, über den Kopf goss.

Bei den täglichen Arbeiten im Haus trug er Drillichhosen mit elastischen Hosenträgern, weiche Schuhe und eine Kordmütze mit Schirm. Für das Hochamt am Sonntag, das er nur sehr selten und dann aus Gründen höherer Gewalt verpasste, und bei jedwedem Feier- oder Gedenktag erschien er in einem Anzug aus weißem Leinen mit Zelluloidkragen und schwarzer Krawatte. Zweifellos waren es diese seltenen Gelegenheiten, die ihm den Ruf eines Verschwenders und Dandys einbrachten. Mein heutiger Eindruck ist, dass das Haus mit allem, was darin war, nur für ihn existierte, denn seine Ehe war beispielhaft für den Machismo in einer matriarchalischen Gesellschaft: Der Mann ist der absolute König seines Hauses, über das jedoch die Frau regiert. Kurz gesagt: Er war der Macho. Das heißt: privat ein Mann von erlesener Zärtlichkeit, für die er sich in der Öffentlichkeit schämte, während seine Frau sich verzehrte, um ihn glücklich zu machen.

Meine Großeltern sind im Dezember 1930 noch einmal nach Barranquilla gereist, als der hundertste Todestag von Bolivar gefeiert wurde und sie bei der Geburt meiner Schwester Aida Rosa, des vierten Kindes der Familie, dabei sein wollten. Auf der Rückreise nach Cataca nahmen sie Margot mit, die wenig älter als ein Jahr war, und meine Eltern blieben mit Luis Enrique und der Neugeborenen zurück. Es fiel mir nicht leicht, mich an die Veränderung zu gewöhnen, denn Margot kam ins Haus wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt, rachitisch und unfertig und mit einem undurchdringlichen Innenleben. Als Abigail Garcia - die Mutter meines Freundes Luis Carmelo - sie sah, verstand sie nicht, dass meine Großeltern eine solche Verantwortung auf sich genommen hatten. »Dieses Kind ist moribund«, sagte sie. Allerdings sagte sie das auch über mich, weil ich wenig aß, weil ich zwinkerte, weil die Geschichten, die ich erzählte, ihr so übertrieben erschienen, dass sie Lügen darin witterte, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass sie meistens nur auf eine andere Weise stimmten. Jahre später erfuhr ich, dass Doktor Barboza mich als Einziger mit einem weisen Argument verteidigt hatte: »Die Lügen der Kinder sind Zeichen von einem großen Talent.«

Es verging viel Zeit, bis Margot sich dem Familienleben fügte. Sie setzte sich in irgendeinen Winkel in den kleinen Schaukelstuhl und lutschte am Daumen. Nichts erregte ihre Aufmerksamkeit, außer dem Schlagen der Uhr, die sie zu jeder vollen Stunde mit ihren weit aufgerissenen, verzückten Augen suchte. Mehrere Tage lang gelang es nicht, sie zum Essen zu bewegen. Sie wies die Mahlzeiten ohne viel Aufhebens zurück, warf sie manchmal in eine Ecke. Niemand verstand, wie sie ohne zu essen überlebte, bis man merkte, dass ihr nur die feuchte Gartenerde schmeckte und die Kalkfladen, die sie mit den Nägeln von der Wand kratzte. Als die Großmutter das entdeckte, schüttete sie Galle auf die leckersten Winkel im Garten und vergrub scharfe Pfefferschoten in den Blumentöpfen. Pater Angarita taufte Margot bei derselben Zeremonie, mit der er die Nottaufe, die ich bei der Geburt erhalten hatte, ratifizierte. Auf einem Stuhl stehend empfing ich die Taufe und ertrug mit Zivilcourage das Kochsalz, das der Pater mir auf die Zunge legte, und den Krug Wasser, den er mir über den Kopf schüttete. Margot dagegen rebellierte für uns beide, kreischte wie ein wildes Tier und wehrte sich mit allen Leibeskräften, so dass Paten und Patinnen, die sie über den Taufstein hielten, sie kaum bändigen konnten.

Heute denke ich, dass Margot in ihrer Beziehung zu mir vernünftiger war als die Erwachsenen unter sich. Wir hatten eine so eigenartige Komplizenschaft, dass wir bei mehr als einer Gelegenheit die Gedanken des anderen errieten. Eines Morgens spielten wir zusammen im Garten, als, wie jeden Tag um elf, der Zug pfiff. Dieses Mal aber hatte ich die unerklärliche Eingebung, dass in diesem Zug der Arzt der Bananengesellschaft komme; er hatte mir vor Monaten einen Rhabarbertrunk gegeben, der einen Brechanfall bei mir ausgelöst hatte. Ich rannte schreiend durchs ganze Haus, aber keiner wollte meiner Warnung glauben. Außer meiner Schwester Margot, die sich mit mir versteckte, bis der Arzt gespeist und den Zug zur Rückfahrt bestiegen hatte. »Heilige Maria Mutter Gottes!«, rief meine Großmutter aus. »Diese Kinder machen jedes Telegramm überflüssig.«

Nie konnte ich die Angst davor überwinden, allein zu sein, erst recht nicht im Dunkeln, aber ich glaube, das hatte einen konkreten Grund, denn nachts nahmen die Phantasien und Vorahnungen meiner Großmutter Gestalt an. Noch siebzigjährig habe ich in Träumen die Glut des Jasmins auf der Veranda und das Gespenst der düsteren Schlafzimmer erahnt, immer begleitet von dem Gefühl, das mir die Kindheit verdorben hat: dem Grauen vor der Nacht. Oft habe ich mich in meinen schlaflosen Stunden rund um die Welt gefragt, ob nicht auch auf mir der Fluch jenes mythischen Hauses aus einer glücklichen Welt lastet, in der wir jede Nacht starben.

Besonders seltsam ist, dass gerade die Großmutter mit ihrem Sinn für das Irreale das Haus über Wasser hielt. Wie war es nur möglich, diesen Lebensstil mit so wenigen Mitteln aufrechtzuerhalten? Die Rechnung geht nicht auf. Der Oberst hatte das Handwerk seines Vaters gelernt, der es seinerseits von seinem Vater erlernt hatte, doch obwohl die goldenen Fischlein so berühmt und überall zu sehen waren, machte er damit kein gutes Geschäft. Mehr noch: Als Kind hatte ich den Eindruck, dass er sie nur gelegentlich oder wenn es um ein Hochzeitsgeschenk ging, herstellte. Die Großmutter sagte, er arbeite bloß, um schenken zu können. Doch sein Ruf als guter Funktionär festigte sich, als die Liberale Partei an die Macht kam und er über Jahre Schatzmeister und mehrmals Finanzverwalter war.

Ich kann mir kein günstigeres familiäres Klima für meine Begabung vorstellen als dieses verrückte Haus, vor allem wegen des Charakters der zahlreichen Frauen, die mich großgezogen haben. Mein Großvater und ich waren die einzigen Männer, und er führte mich mit Berichten über blutige Schlachten in die traurige Realität der Erwachsenen ein, vermittelte mir sein Schulwissen über den Flug der Vögel und das Donnern am Abend und ermunterte mich in meiner Freude am Zeichnen. Am Anfang malte ich auf die Wände, bis die Frauen des Hauses sich lautstark über den Schmierfinken erregten: Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Mein Großvater wurde wütend, ließ eine Wand seiner Werkstatt weiß anstreichen und kaufte mir Buntstifte, später auch einen Kasten Aquarellfarben, damit ich nach Lust und Laune malen konnte, während er seine berühmten goldenen Fischlein fabrizierte. Ich hörte ihn einmal sagen, sein Enkel werde Maler, was mich nicht weiter beeindruckte, weil ich dachte, Maler streichen nur Türen an.

Wer mich als Vierjährigen gekannt hat, sagt, ich sei blass und nachdenklich gewesen und habe den Mund nur aufgemacht, um Unsinn zu erzählen. Aber ich erzählte meistens einfache Episoden aus dem Alltag, die ich mit phantastischen Details ausschmückte, damit die Erwachsenen mir zuhörten. Die beste Quelle der Inspiration waren die Gespräche, die sie in meiner Gegenwart führten, weil sie dachten, ich verstünde sie nicht, oder die sie verschlüsselten, damit ich sie nicht verstand. Aber es lief genau umgekehrt: Ich saugte das Gehörte wie ein Schwamm auf, nahm es auseinander, vertauschte die Teile, um die Herkunft zu vertuschen, und wenn ich die Geschichten dann jenen erzählte, die sie erzählt hatten, waren sie sprachlos, wie sehr das, was ich sagte, mit dem übereinstimmte, was sie dachten.

Manchmal machte mir mein Gewissen zu schaffen, und ich versuchte das durch rasches Zwinkern zu überspielen. Das ging so weit, dass ein Rationalist in der Familie entschied, ein Augenarzt solle mich untersuchen, der wiederum führte das Zwinkern auf meine angegriffenen Mandeln zurück und verordnete mir jodierten Rettichsaft, der mir sehr nützlich war, um die Erwachsenen zu beruhigen. Die Großmutter kam ihrerseits zu dem tröstlichen Schluss, ich sei Hellseher. Das machte sie zu meinem liebsten Opfer, bis sie eines Tages ein Schwindelanfall überkam, weil ich wirklich geträumt hatte, dem Großvater sei ein lebendiger Vogel aus dem Mund geflogen. Die Angst, ich könne daran schuld sein, wenn er starb, war das erste mäßigende Element meiner frühreifen Zügellosigkeit. Jetzt denke ich, dass es keine Kinderbosheiten waren, wie man meinen könnte, sondern rudimentäre Erzähltechniken eines angehenden Schriftstellers, um die Realität unterhaltsamer und verständlicher zu machen.

Mein erster Schritt ins wirkliche Leben war die Entdeckung des Fußballspiels, mitten auf der Straße oder in einigen benachbarten Gemüsegärten. Mein Lehrer war mein Freund Luis Carmelo Correa, der einen eigenen Instinkt für Sport und ein angeborenes Talent für Mathematik hatte. Ich war fünf Monate älter als er, er machte sich aber über mich lustig, weil er größer war und schneller wuchs. Wir bolzten erst mit Lumpenbällen, und ich brachte es zu einem guten Torwart, als wir dann aber mit einem dem Reglement entsprechenden Ball spielten, verpasste er mir einen solchen Schuss in den Magen, dass meine Ambitionen auf der Strecke blieben. Als Erwachsene haben wir uns ein paar Mal wiedergetroffen, und ich stellte bei diesen Gelegenheiten mit großer Freude fest, dass wir immer noch so wie als Kinder miteinander umgingen. Die eindrucksvollste Erinnerung aus jener Zeit ist jedoch der flüchtige Anblick des prächtigen offenen Automobils, in dem der Generalbeauftragte der Bananengesellschaft mit einer Frau, deren lange, goldene Haare im Winde flatterten, vorbeifuhr, während im Fond, wie ein König, ein Schäferhund saß. Das waren kurze Erscheinungen aus einer fernen und unglaublichen Welt, die uns Sterblichen verboten war.

Ich begann bei der Messe zu ministrieren, ohne große Frömmigkeit, aber mit einer Gewissenhaftigkeit, die mir vielleicht als wesentlicher Bestandteil des Glaubens gutgeschrieben wird. Wegen solcher Tugenden wurde ich wohl mit sechs Jahren zu Pater Angarita gebracht, um in die Mysterien der ersten Kommunion eingeweiht zu werden. Das änderte mein Leben. Man begann, mich wie einen Erwachsenen zu behandeln, und der Mesner führte mich ins Ministrieren ein. Mein einziges Problem war, dass ich nicht begriff, wann ich die Glocke zu läuten hatte, und das nach reiner Eingebung tat. Beim dritten Mal drehte der Pater sich nach mir um und befahl mir schroff, nicht mehr zu läuten. Der angenehme Teil des Amtes war, wenn wir, der andere Messdiener, der Mesner und ich, allein zurückblieben, um die Sakristei aufzuräumen, und dann die übrig gebliebenen Hostien zu einem Glas Wein aßen.

Am Vorabend der ersten Kommunion nahm mir der Pater ohne weitere Vorbereitung die Beichte ab; er saß wie ein richtiger Papst auf dem Thronsessel, und ich kniete auf einem Plüschkissen vor ihm. Mein Bewusstsein von Gut und Böse war reichlich schlicht, doch der Pater unterstützte mich mit einem Beichtspiegel, nach dem ich sagen sollte, welche Sünden ich begangen hatte und welche nicht. Ich glaube, ich habe gut geantwortet, bis er mich fragte, ob ich Widerwärtiges mit Tieren angestellt hätte. Es war mir auf eine konfuse Weise bekannt, dass einige Erwachsene mit den Eselinnen eine Sünde begingen, die mir unverständlich geblieben war, aber erst an jenem Abend lernte ich, dass man das auch mit Hühnern tun konnte. Auf diese Weise war meine Vorbereitung auf die erste Kommunion ein weiterer, entscheidender Schritt zum Verlust der Unschuld, und es gab keinerlei Anreiz, noch länger Messdiener zu sein.

Die Feuerprobe kam für mich, als meine Eltern mit meinen anderen Geschwistern Luis Enrique und Aida nach Cataca zogen. Margot, die sich an Papa kaum erinnern konnte, hatte große Angst vor ihm. Ich auch, aber mit mir ging er stets vorsichtiger um. Nur einmal zog er den Gürtel aus, um mich zu schlagen, und ich stellte mich in Habachtstellung vor ihn, biss mir auf die Lippen und sah ihm in die Augen, fest entschlossen, was auch immer zu ertragen und nicht zu weinen. Sein Arm senkte sich, und er zog den Gürtel langsam wieder an, während er mich zähneknirschend für das tadelte, was ich begangen hatte. In unseren langen Gesprächen als Erwachsene gestand er mir, dass es ihm sehr wehgetan habe, uns zu schlagen, wahrscheinlich habe er aus der Angst heraus gehandelt, dass wir missraten könnten. In seinen guten Momenten war er unterhaltsam. Er liebte es, bei Tisch Witze zu erzählen, darunter sehr gute, aber er wiederholte sie so oft, dass Luis Enrique eines Tages aufstand und sagte: »Gebt Bescheid, wenn ihr fertig gelacht habt.«

Die historische Tracht Prügel gab es jedoch an dem Abend, als Luis Enrique weder im Haus der Eltern noch in dem der Großeltern auftauchte und man ihn im halben Dorf suchte, bis man ihn gegen Mitternacht im Kino fand. Celso Daza, der Erfrischungen verkaufte, hatte ihm um acht Uhr abends einen Sapotesaft verkauft, und Luis Enrique war ohne zu zahlen mit dem Glas verschwunden. Die Frau, die an ihrem Stand allerlei frittierte, hatte ihm eine Teigtasche verkauft und ihn wenig später beim Kino mit dem Portier plaudern sehen, der ihn gratis in die Vorstellung ließ, weil mein Bruder gesagt hatte, sein Vater warte drinnen auf ihn. Es gab Dracula mit Carlos Villarias und Lupita Tovar unter der Regie von George Melford. Noch jahrelang hat mir Luis Enrique von seinem Entsetzen in dem Moment erzählt, da die Lichter im Saal angingen, just als Graf Dracula seine Vampirzähne in den Hals der Schönen schlagen wollte. Mein Bruder saß auf der Empore, auf dem verstecktesten Platz, der frei gewesen war, und sah von dort aus Vater und Großvater gemeinsam mit dem Kinobesitzer und zwei Polizisten die Sperrsitze Reihe für Reihe durchsuchen. Sie wollten schon aufgeben, als Papalelo ihn in der letzten Reihe auf der Empore entdeckte und mit dem Stock auf ihn zeigte:

»Da ist er!«

Papa zerrte ihn an den Haaren hinaus, und die Tracht Prügel, die er ihm daheim verabreichte, blieb als legendäre Züchtigung in die Familiengeschichte eingeschrieben. Mein Entsetzen und meine Bewunderung für diesen Akt der Unabhängigkeit meines Bruders sind mir für immer lebendig im Gedächtnis geblieben. Luis Enrique schien alles zu überleben, und wurde mit jedem Mal heroischer. Heute wundert es mich, dass seine rebellische Art nie zu Tage trat, wenn Papa, was selten der Fall war, längere Zeit nicht daheim war.

Ich suchte mehr denn je im Schatten meines Großvaters Zuflucht. Immer waren wir zusammen, vormittags in der Werkstatt oder in seinem Büro als Verwalter, wo er mir eine glückliche Aufgabe übertrug: die Brandzeichen der Kühe aufzuzeichnen, die zum Schlachten gebracht wurden, und er nahm das so ernst, dass er mir sogar den Platz am Schreibtisch abtrat. Zum Mittagessen mit allen Gästen präsidierten wir immer am Tisch, er mit seiner großen Aluminiumkanne für das Eiswasser und ich mit einem Silberlöffel, den ich für alles verwendete. Es fiel unangenehm auf, dass ich mir das Eis mit der Hand aus der Kanne fischte und auf dem Wasser Fettaugen zurückblieben. Mein Großvater verteidigte mich: »Er hat alle Rechte.«

Um elf Uhr gingen wir zur Ankunft des Zuges, da sein Sohn Juan de Dios, der weiterhin in Santa Marta wohnte, ihm täglich einen Brief durch den jeweiligen Zugführer schickte, der dafür fünf Centavos kassierte. Der Großvater antwortete darauf für weitere fünf Centavos mit dem zurückfahrenden Zug. Am späten Nachmittag, wenn die Sonne sank, nahm er mich an der Hand und machte sich auf, um seine persönlichen Angelegenheiten zu erledigen. Wir gingen zum Friseur - die längste Viertelstunde der Kindheit; sahen uns das Feuerwerk zu den Nationalfeiertagen an -das mich in Schrecken versetzte; gingen zu den Prozessionen der Karwoche - mit dem toten Christus, der für mich schon immer aus Fleisch und Blut gewesen ist. Damals trug ich, wie manchmal auch der Großvater, eine Mütze mit Schottenkaros, die mir Mina gekauft hatte, damit ich ihm ähnlicher sah. Mit dem Erfolg, dass Onkel Quinte uns als eine einzige Person in zwei verschiedenen Lebensaltern betrachtete.

Zu jeder Tageszeit nahm mich der Großvater zum Einkaufen in das reichhaltige Verkaufslager der Bananengesellschaft mit. Dort lernte ich die Seebrassen kennen und legte zum ersten Mal die Hand auf Eis, und die Entdeckung, dass es kalt war, ließ mich erschauern. Ich war glücklich, mit ihm das essen zu können, worauf ich Lust hatte, aber die Schachpartien mit dem Belgier und die politischen Gespräche langweilten mich. Jetzt aber wird mir klar, dass wir auf diesen langen Spaziergängen zwei unterschiedliche Welten sahen. Mein Großvater sah seine Welt mit seinem Horizont, und ich sah die meine in meiner Augenhöhe. Er grüßte seine Freunde auf den Baikonen, und ich sehnte mich nach dem Spielzeug der Trödler, die ihre Ware auf den Gehsteigen auslegten.

Bei Einbruch der Nacht hielten wir uns im allgemeinen Trubel des Jahrmarkts von Las Cuatro Esquinas auf, er unterhielt sich mit Don Antonio Daconte, der ihn an der Tür seines voll gestopften Ladens empfing, und ich staunte über die Neuigkeiten aus aller Welt. Ich war hingerissen von den Magiern, die Kaninchen aus ihren Hüten zogen, von den Feuerschluckern, den Bauchrednern, die Tiere zum Sprechen brachten, von den Akkordeonspielern, die laut von dem kündeten, was in Der Provinz passierte. Heute fällt mir auf, dass einer von ihnen, ein sehr alter Mann mit einem weißen Bart, der mythische Francisco el Hombre gewesen sein könnte.

Immer, wenn der Film ihm geeignet schien, lud uns Don Antonio Daconte in die Nachmittagsvorstellung seines Olympias ein, zur Beunruhigung der Großmutter, die das als unschickliche Ausschweifung für einen unschuldigen Enkel ansah. Doch Papalelo bestand darauf und ließ mich am nächsten Tag bei Tisch den Film erzählen, ergänzte, was ich vergessen hatte, korrigierte meine Irrtümer und half mir, verwickelte Episoden zu rekonstruieren. Das waren Vorgriffe auf die Kunst des Dramas, die mir zweifellos genützt haben, vor allem als ich, noch bevor ich schreiben lernte, Bildergeschichten zu zeichnen begann. Am Anfang wurde ich für die kindlichen Spaße gefeiert, aber ich genoss den willfährigen Applaus der Erwachsenen so sehr, dass diese schließlich flohen, wenn sie mich kommen hörten. Später erlebte ich dasselbe mit den Liedern, die sie mich auf Hochzeiten und Geburtstagsfeiern zu singen zwangen.

Vor dem Schlafengehen hielten wir uns eine längere Weile im Atelier des Belgiers auf, eines beängstigenden alten Mannes, der nach dem Ersten Weltkrieg in Aracataca aufgetaucht war, und ich zweifle nicht daran, dass er Belgier war, denn er hatte einen verstörten Akzent und das Fernweh eines Seemanns. Das andere lebende Wesen in seinem Haus war eine riesige dänische Dogge. Der Hund war taub und Päderast und hieß wie der Präsident der Vereinigten Staaten: Woodrow Wilson. Den Belgier lernte ich kennen, als ich vier war und mein Großvater mit ihm endlose und stumme Schachpartien spielte. Schon am ersten Abend wunderte ich mich darüber, dass es in seinem Haus nichts gab, von dem ich wusste, wofür es gut war. Er war ein Künstler in allen Bereichen und überlebte in der Unordnung seiner eigenen Werke: Seestücke in Pastellfarben, Geburtstags- und Kommunionsfotos von Kindern, Kopien asiatischen Schmucks, Figuren aus Kuhhörnern, Stilmöbel aus verschiedenen Epochen, die übereinander gestapelt waren.

Mir fiel seine an den Knochen klebende Haut auf, die genauso sonnengelb war wie sein Haar, von dem ihm eine Strähne ins Gesicht fiel und ihn beim Sprechen störte. Er rauchte eine Seemannspfeife, die er nur zum Schachspielen anzündete, und mein Großvater pflegte zu sagen, das sei eine List, um den Gegner einzunebeln. Er hatte ein weit aufgerissenes Glasauge, das stärker auf den Gesprächspartner ausgerichtet schien als das gesunde Auge. Von der Taille abwärts war er verkrüppelt, sein Oberkörper vorgekrümmt und nach links verzogen, aber er bewegte sich wie ein Fisch zwischen den Riffen seiner Werkstatt, hing dabei mehr an seinen Holzkrücken, als dass er von ihnen gestützt worden wäre. Nie hörte ich ihn von seinen Seefahrten sprechen, die anscheinend zahlreich und wagemutig gewesen sein müssen. Außer Hause war er nur für eine Leidenschaft bekannt, das Kino, und am Wochenende ließ er sich keinen wie auch immer gearteten Film entgehen.

Ich habe ihn nie gemocht, erst recht nicht während der Schachpartien, wenn er ewig für einen Zug brauchte, während ich vor Müdigkeit zusammenbrach. Eines Abends wirkte er so hinfällig, dass mich die Vorahnung überkam, er würde bald sterben, und da tat er mir Leid. Mit der Zeit dachte er jedoch immer länger über seine Schachzüge nach, so dass ich schließlich von ganzem Herzen seinen Tod wünschte.

In jener Zeit hängte mein Großvater im Esszimmer das Bild des Befreiers Simon Bolívar auf und stellte Kurzen davor. Ich begriff nicht recht, warum Bolívar auf dem Bild nicht mit einem Leichentuch bedeckt war, wie ich es bei Trauerfeiern gesehen hatte, sondern in der Uniform seiner glorreichen Tage auf einem Kanzleischreibtisch lag. Mein Großvater beseitigte meine Zweifel mit einem endgültigen Satz:

»Er war anders.«

Daraufhin las er mir mit bebender Stimme, die nicht die seine zu sein schien, ein langes Gedicht vor, das neben dem Bild hing und von dem ich nur die letzten Verse für immer in Erinnerung behielt: Du, Santa Maria, nahmst den Gast freundlich auf, und erfand einen Streifen Meeresstrand, in deinem Schoß zu sterben. Ich meinte dann viele Jahre lang, Bolívar sei tot am Strand gefunden worden. Mein Großvater lehrte mich, dieser Mann sei der Größte der Weltgeschichte, und bat mich, das nie zu vergessen. Verwirrt über den Widerspruch zwischen seinem Ausspruch und einem anderen, den die Großmutter mit gleicher Emphase vorgebracht hatte, fragte ich ihn, ob Bolívar größer sei als Jesus Christus. Er antwortete kopfschüttelnd und nicht mehr ganz so überzeugend wie zuvor:

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

Jetzt weiß ich, dass die Großmutter es war, die ihrem Mann auferlegte, mich auf seinen abendlichen Spaziergängen mitzunehmen, da sie sicher war, diese seien nur ein Vorwand, um seine realen oder eingebildeten Geliebten zu besuchen. Wahrscheinlich habe ich ihm das eine oder andere Mal als Alibi gedient, die Wahrheit ist jedoch, dass er mich nie zu einem nicht vorgesehenen Ort mitgenommen hat. Dennoch habe ich klar ein Bild vor Augen: Ich gehe abends an der Hand von jemand anderem an einem unbekannten Haus vorbei und sehe dort zufällig meinen Großvater im Salon sitzen, als sei er der Herr des Hauses. Ich habe nie begriffen, warum mich damals die Gewissheit durchschauerte, dass ich niemandem davon erzählen durfte. Bis zum heutigen Tage.

Der Großvater sorgte auch für meinen ersten Kontakt mit der geschriebenen Schrift. Ich war fünf Jahre alt, und er nahm mich eines Nachmittags zu dem Wanderzirkus mit, der in Cataca sein Zelt, groß wie eine Kirche, aufgebaut hatte. Er zeigte mir die Tiere, und ich war am meisten von einem trostlosen, geschundenen Wiederkäuer gefesselt, einem Tier mit erschreckend mütterlichem Ausdruck.

»Das ist ein Kamel«, erklärte mir mein Großvater.

Ein Mann, der in der Nähe stand, mischte sich ein:

»Verzeihung, Oberst, aber das ist ein Dromedar.«

Heute kann ich mir vorstellen, wie sich der Großvater gefühlt haben muss, weil ihn jemand in Gegenwart seines Enkels verbesserte. Ohne groß nachzudenken, ging er mit einer Frage würdevoll darüber hinweg:

»Was ist der Unterschied?«

»Das weiß ich nicht«, sagte der andere, »aber das hier ist ein Dromedar.«

Der Großvater war kein gebildeter Mann, gab das auch nicht vor, denn er hatte sich einst aus der öffentlichen Schule in Riohacha davongemacht, um in einem der zahllosen karibischen Bürgerkriege herumzuballern. Er ging dann nie wieder zur Schule, war sich aber sein Lebtag der Lücken bewusst und so unmittelbar wissbegierig, dass er die Mängel reichlich ausglich.

Am Abend des Zirkusbesuchs kam er niedergeschlagen in sein Büro zurück und schlug mit kindlichem Eifer im Lexikon nach. Danach wussten er und ich für immer den Unterschied zwischen einem Dromedar und einem Kamel. Schließlich legte er mir das ruhmreiche Enteselungswerk in den Schoß und sagte:

»Dieses Buch weiß nicht nur alles, sondern ist auch das einzige, das sich nie irrt.«

Es war ein dicker illustrierter Wälzer, und auf dem Buchrücken prangte ein kolossaler Atlant, auf dessen Schultern das Universum ruhte. Ich konnte weder lesen noch schreiben, mir aber vorstellen, wie Recht der Oberst hatte, handelte es sich doch um fast zweitausend große eng bedruckte Seiten mit wunderbaren Zeichnungen. In der Kirche hatte mich die Größe des Messbuchs in Staunen versetzt, aber das Lexikon war noch dicker. Es war, als ob ich mich zum ersten Mal der Welt als Ganzes näherte.

»Wie viele Wörter hat es wohl?«, fragte ich.

»Alle«, sagte der Großvater.

Eigentlich brauchte ich damals das geschriebene Wort nicht, weil ich mit Zeichnungen alles ausdrücken konnte, was mich beschäftigte. Als Vierjähriger hatte ich einen Magier gemalt, der seiner Frau den Kopf abschnitt und dann wieder anklebte, wie es Richardine getan hatte, als er im Olympia war. Die Bildfolge begann damit, dass er sie mit einer Säge enthauptete, ging weiter mit der triumphalen Präsentation des blutenden Kopfes und endete damit, wie die Frau mit wieder aufgesetztem Kopf für den Applaus dankte. Die Comicstrips waren bereits erfunden, ich begegnete ihnen jedoch erst später in den bunten Sonntagsbeilagen der Zeitungen. Daraufhin dachte ich mir Geschichten in Bildern ohne Dialog selbst aus. Als der Großvater mir jedoch später das Lexikon anvertraute, machte es mich so neugierig auf die Wörter, dass ich es wie einen Roman las, dem Alphabet nach, obwohl ich kaum etwas davon verstand. Das war mein erster Kontakt mit dem Buch, das für mein Schicksal als Schriftsteller entscheidend sein sollte.

Wenn Kinder die erste Geschichte erzählt bekommen haben, die sie wirklich fesselt, dann ist es meistens schwer, sie dazu zu bringen, eine andere hören zu wollen. Ich glaube, das ist nicht der Fall bei Kindern, die selbst erzählen, und es war auch bei mir nicht so. Ich wollte mehr. Die Gier, mit der ich den Geschichten zuhörte, führte immer dazu, dass ich am Tag darauf noch eine bessere erwartete, besonders bei denen, die mit den Mysterien der biblischen Geschichte zu tun hatten.

Was immer ich auf der Straße erlebte, fand zu Hause eine enorme Resonanz. Die Frauen aus der Küche erzählten es den Fremden, die mit dem Zug kamen - und ihrerseits neuen Erzählstoff mitbrachten -, und alles wurde vom Strom der mündlichen Tradition aufgenommen. Manche Ereignisse erfuhr man zuerst von den Akkordeonspielern, die davon auf den Märkten sangen, Reisende griffen dann die Geschichten auf und schmückten sie aus. Das erschütterndste Ereignis meiner Kindheit kündigte sich eines frühen Sonntagmorgens auf dem Weg zur Kirche in einer seltsamen Bemerkung meiner Großmutter an:

»Der arme Nicolasito wird die Pfingstmesse verpassen.«

Ich freute mich, weil die Sonntagsmesse für mein Alter zu lang war und die Predigten von Pater Angarita, den ich als kleines Kind so sehr geliebt hatte, einschläfernd auf mich wirkten. Aber ich hatte mich zu früh gefreut, denn der Großvater schleifte mich in meinem grünen Tuchanzug, den sie mir zur Messe angezogen hatten und der zwischen den Beinen kniff, zur Werkstatt des Belgiers. Die Wächter erkannten den Großvater schon von weitem und öffneten ihm die Tür mit der rituellen Formel:

»Treten Sie ein, Oberst.«

Da erst erfuhr ich, dass der Belgier nach dem Besuch von Im Westen nichts Neues, Lewis Milestones Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque, gemeinsam mit seinem Hund eine Lösung Goldzyanid eingeatmet hatte. Die Intuition des Volks, die immer die Wahrheit aufspürt, selbst wenn das nicht möglich ist, erkannte und erklärte, der Belgier habe die Erschütterung nicht ausgehalten, als er sah, wie er und seine aufgeriebene Patrouille sich in einem Sumpf der Normandie wälzten.

Das kleine Empfangszimmer lag wegen der geschlossenen Fenster im Halbdunkel, doch das frühe Licht vom Hof erhellte das Schlafzimmer, wo der Bürgermeister mit zwei weiteren Beamten den Großvater erwartete. Dort lag der mit einem Tuch bedeckte Leichnam auf einem Feldbett, die Krücken in Reichweite, wo ihr Besitzer sie gelassen hatte, bevor er sich zum Sterben hinlegte. Neben ihm auf einem Holzschemel war die Schale, in der er das Zyanid verdampft hatte, sowie ein Blatt, auf dem mit großen gepinselten Buchstaben stand: »Beschuldigt keinen, ich bringe mich aus Torheit um.« Die gesetzlichen Formalitäten und die Einzelheiten des Begräbnisses, von meinem Großvater rasch erledigt, dauerten nicht länger als zehn Minuten. Für mich waren es jedoch die erschütterndsten zehn Minuten, an die ich mich in meinem Leben erinnern sollte.

Schon beim Eintreten ließ mich der Geruch in dem Schlafzimmer erschauern. Erst viel später erfuhr ich, es war der Bittermandelgeruch des Zyanids, das der Belgier eingeatmet hatte, um zu sterben. Aber weder dieser noch ein anderer Eindruck sollte so intensiv und dauerhaft sein wie der Anblick des Leichnams, als der Bürgermeister das Tuch wegzog, um ihn meinem Großvater zu zeigen. Der Tote war nackt, starr und verkrümmt, die raue Haut von gelben Haaren bedeckt, und die Augen, friedliche Wasser, sahen uns an, als seien sie lebendig. Dieses Entsetzen, von jenseits des Todes angesehen zu werden, ließ mich über Jahre jedes Mal erschauern, wenn ich an den kreuzlosen Gräbern der Selbstmörder vorbeiging, die auf Anordnung der Kirche außerhalb des Friedhofs bestattet wurden. Woran ich mich im Angesicht der Leiche jedoch von Grauen erfüllt am deutlichsten erinnerte, waren die langweiligen Abende in diesem Haus. Vielleicht sagte ich deshalb, als wir das Haus verließen, zu meinem Großvater:

»Der Belgier wird nie wieder Schach spielen.«

Es war ein nahe liegender Gedanke, doch mein Großvater erzählte der Familie davon wie von einem genialen Einfall. Die Frauen verbreiteten derart begeistert meinen Ausspruch, dass ich eine Zeit lang den Besuchern auswich, da ich fürchtete, die Geschichte würde vor mir erzählt werden oder ich dazu gezwungen, sie zu wiederholen. Zudem enthüllte mir das alles eine Eigenschaft der Erwachsenen, die mir als Schriftsteller sehr nützlich sein sollte: Jeder fügte von sich aus neue Details hinzu, und das ging so weit, dass die unterschiedlichen Versionen sich schließlich von der ursprünglichen völlig lösten. Keiner kann sich vorstellen, welches Mitgefühl ich seitdem mit den armen Kindern habe, die von ihren Eltern zu Genies erklärt werden und vor Gästen singen, Vögel imitieren oder sogar zur reinen Unterhaltung lügen müssen. Allerdings ist mir heute klar, dass jener schlichte Satz mein erster literarischer Erfolg war.

So sah mein Leben 1932 aus, äs die Bekanntmachung kam, dass peruanische Truppen unter der Militärregierung von General Luis Miguel Sánchez Cerro im äußersten Süden Kolumbiens die ungesicherte Siedlung Leticia am Ufer des Amazonas besetzt harten. Die Nachricht hallte im ganzen Land wider. Die Regierung ordnete die nationale Mobilmachung an sowie eine öffentliche Kollekte, bei der von Haus zu Haus wertvoller Familienschmuck eingesammelt werden sollte. Der hinterhältige Angriff der peruanischen Truppen heizte den Patriotismus an, und das Volk reagierte auf noch nie da gewesene Weise. Die Eintreiber kamen gar nicht nach, überall die freiwilligen Spenden einzusammeln, darunter vor allem Eheringe, die sowohl wegen ihres realen wie ihres symbolischen Werts hoch geschätzt wurden.

Für mich aber war es, gerade wegen der herrschenden Unordnung, eine der glücklichsten Zeiten. Die sterile Strenge des Schulalltags wurde durchbrochen und auf der Straße und in den Häusern durch eine allgemeine Kreativität ersetzt. Ein Bürgerbataillon aus den Besten der Jugend, egal welcher Klasse oder Hautfarbe, wurde aufgestellt, weibliche Rot-Kreuz-Brigaden gegründet, schnell wurden kriegerische Hymnen gegen den niederträchtigen Aggressor erfunden, und ein einmütiger Schrei hallte durch das ganze Vaterland: »Es lebe Kolumbien, nieder mit Peru!«

Ich habe nie erfahren, wie dieses Heldenepos endete, da sich die Gemüter nach einiger Zeit beruhigten, ohne dass es ausreichende Erklärungen dafür gab. Der Frieden konsolidierte sich, als General Sánchez Cerro von einem Gegner seines blutigen Regimes ermordet wurde, und mit dem Schrei »Es lebe Kolumbien, nieder mit Peru!« feierte man nur noch routinemäßig die schulischen Fußballsiege. Doch meine Eltern, die ihre Eheringe für den Krieg gespendet hatten, erholten sich nie von ihrer Gutgläubigkeit.

Soweit ich mich erinnere, zeigte sich zu dieser Zeit meine Freude an der Musik in der Faszination für die Lieder der fahrenden Sänger und Akkordeonspieler. Einige davon konnte ich auswendig, da auch die Frauen in der Küche sie hinter dem Rücken meiner Großmutter sangen, weil diese sie für Lieder des Gesindels hielt. Das dringende Bedürfnis zu singen, um mich lebendig zu fühlen, weckten in mir jedoch die Tangos von Carlos Gardel, die fast jedermann infizierten. Ich ließ mich mit Filzhut und Seidenschal wie Gardel ausstaffieren, und man musste mich nicht lange bitten, damit ich aus voller Brust einen Tango schmetterte. Bis zu dem bösen Morgen, als Tante Mama mich mit der Nachricht weckte, Gardel sei beim Zusammenstoß zweier Flugzeuge in Medellín gestorben. Monate zuvor hatte ich auf einem Wohltätigkeitsfest Cuesta abajo gesungen, begleitet von den Schwestern Echeverri, waschechten Bogotánerinnen, die Lehrer ausbildeten und die Seele jedes Wohltätigkeitbazars und jedes patriotischen Gedenktages waren, der in Cataca begangen wurde. Und ich sang dabei so charaktervoll, dass meine Mutter nicht zu widersprechen wagte, als ich sagte, ich wolle statt Akkordeon, das die Großmutter ablehnte, Klavier spielen lernen.

Am selben Abend noch brachte sie mich zu den Fräulein Echeverri, die es mir beibringen sollten. Während sie sich unterhielten, schaute ich vom anderen Ende des Salons demütig wie ein herrenloser Hund auf das Klavier, überlegte mir, ob ich mit den Füßen an die Pedale kommen würde, fragte mich voller Zweifel, ob mein Daumen und mein kleiner Finger die weiten Intervalle überbrücken könnten und ob ich es schaffen würde, die Hieroglyphen des Pentagramms zu entziffern. Zwei Stunden lang war es ein Besuch der schönen Hoffnungen. Doch ein vergeblicher, da die Lehrerinnen uns sagten, das Klavier funktioniere nicht und sie wüssten nicht, wann es repariert würde. Der Plan wurde verschoben, bis der Klavierstimmer wieder nach Cataca kam, aber es wurde dann nicht mehr davon gesprochen, erst ein halbes Leben später, als ich meine Mutter bei einem beiläufigen Gespräch an den Schmerz erinnerte, den mir das fehlende Klavier bereitet hatte. Sie seufzte:

»Das Schlimmste daran ist«, sagte sie, »dass es gar nicht kaputt war.«

Da erfuhr ich, dass sie mit den Lehrerinnen die Ausrede abgesprochen hatte, das Klavier sei kaputt, um mir die Martern zu ersparen, die sie fünf Jahre lang bei den einfältigen Klavierübungen im Colegio de la Presentación durchlitten hatte. Trost bot damals die Eröffnung der Montessori-Schule in Cataca, deren Lehrerinnen die fünf Sinne durch praktische Übungen stimulierten und uns Singen lehrten. Dank des Talents und der Schönheit der Direktorin Rosa Elena Fergusson war das Lernen ebenso wunderbar wie das Spiel, lebendig zu sein. Ich lernte den Geruchssinn schätzen, dessen Fähigkeit zu nostalgischen Beschwörungen ungeheuerlich ist. Den Geschmackssinn, den ich auf eine Weise schärfte, dass ich bei Getränken die Nuance Fenster und bei altem Brot die Prise Koffer herausschmeckte sowie Tees schätzte, die nach Messe mundeten. Es ist schwer, solche subjektiven Genüsse von der Theorie her zu begreifen, aber wer so etwas selbst erlebt hat, wird es sofort verstehen.

Es gibt, glaube ich, keine bessere Methode als die Montessoris, um Kinder für die Schönheiten der Welt zu sensibilisieren und ihre Neugier auf die Geheimnisse des Lebens zu wecken. Man hat Montessori vorgeworfen, dass sie den Sinn für Ungebundenheit und den Individualismus fördere - und vielleicht war das bei mir der Fall. Dafür habe ich nie gelernt, zu dividieren, Wurzeln zu ziehen und mit abstrakten Ideen umzugehen. Wir waren damals noch so klein, dass ich mich nur an zwei Mitschüler erinnern kann. Eine davon war Juanita Mendoza, die siebenjährig an Typhus starb, kurz nach Einweihung der Schule, und ihr Tod hat mich so beeindruckt, dass ich nie vergessen habe, wie sie mit bräutlichem Kranz und Schleier im Sarg lag. Der andere Mitschüler war Guillermo Valencia Abdala, seit der ersten Schulpause mein Freund und ein unfehlbarer Arzt für den Kater am Montag.

Meine Schwester Margot muss sehr unglücklich an dieser Schule gewesen sein, auch wenn ich mich nicht daran erinnere, dass sie es je ausgesprochen hat. Sie setzte sich auf ihr Stühl-chen in der Grundschulklasse und schwieg die ganze Zeit - selbst während der Pausen -, blickte starr auf einen unbestimmten Punkt, bis die Glocke zum Schulschluss läutete. Ich erfuhr nicht beizeiten, dass Margot, wenn sie allein im leeren Unterrichtsraum zurückblieb, Erde aus dem heimischen Garten kaute, die sie in ihrer Schürzentasche versteckt hatte.

Es fiel mir schwer, lesen zu lernen. Ich fand es nicht logisch, dass der Buchstabe M em hieß, aber mit dem folgenden Vokal nicht ema, sondern ma ausgesprochen wurde. Es war mir nicht möglich, so zu lesen. Endlich, als ich an die Montessori-Schule kam, brachte mir die Lehrerin statt der Namen die Laute der Buchstaben bei. Nun konnte ich das erste Buch lesen, das ich in einer staubigen Truhe in der Rumpelkammer des Hauses gefunden hatte. Es war zerfleddert und unvollständig, fesselte mich aber so sehr, dass Saras Verlobter im Vorbeigehen eine erschreckende Prophezeiung von sich gab: »Donnerwetter! Dieser Junge wird mal Schriftsteller.«

Da er, der vom Schreiben lebte, es sagte, hat es mich sehr beeindruckt. Es vergingen mehrere Jahre, bevor ich erfuhr, dass das Buch Tausend und eine Nacht gewesen war. Das Märchen, das mir am besten gefiel - eines der kürzesten und das einfachste, das ich je gelesen habe -, halte ich immer noch für das beste, auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich es wirklich dort gelesen habe, und niemand hat mir helfen können, das zu klären. Das Märchen geht so: Ein Fischer verspricht seiner Nachbarin, ihr den ersten Fisch zu schenken, den er angelt, wenn sie ihm Blei für seine Angelschnur leiht, und als die Frau dann den Fisch aufschlitzt, um ihn zu braten, findet sie darin einen mandelgroßen Diamanten.

Ich habe den Krieg gegen Peru stets mit dem Niedergang von Cataca verbunden, denn kaum war der Frieden erklärt, geriet mein Vater in ein Labyrinth von Schwierigkeiten, was schließlich zum Umzug der Familie in seinen Geburtsort Sincé führte. Für Luis Enrique und mich, die den Vater auf seiner Erkundungsreise begleiteten, bedeutete Sincé eine neue Schule des Lebens, mit einer Kultur, die sich so sehr von der unseren unterschied, dass es sich um einen anderen Planeten zu handeln schien. Schon am Tag nach der Ankunft führte man uns in die angrenzenden Gemüsefelder, und dort lernten wir, auf einem Esel zu reiten, Kühe zu melken, Stierkälber zu kastrieren, Fallen für Wachteln aufzustellen, mit Angelhaken zu fischen und zu begreifen, warum die Hunde in ihren Weibchen verhakt blieben. Luis Enrique war mir immer weit voraus bei der Entdeckung der uns von Mina verbotenen Welt, über die Großmutter Argemira in Sincé ohne jeden Hintergedanken mit uns sprach. So viele Onkel und Tanten, so viele Vettern unterschiedlicher Farbe, so viele Verwandte mit seltsamen Namen und umgangssprachlichen Eigenheiten sorgten anfangs eher für Verwirrung als für neue Erkenntnis, bis wir das Ganze als eine andere Art der Zuneigung begriffen. Papas Papa, Don Gabriel Martínez, ein legendärer Schulmeister, empfing Luis Enrique und mich in seinem Patio mit riesigen Bäumen, an denen Mangos wuchsen, die im Ort für ihren Geschmack und ihre Größe berühmt waren. Er zählte jede einzelne Frucht vom ersten Tag der Jahresernte an, pflückte sie selbst eine nach der anderen, wenn sie reif waren, und verkaufte sie Stück für Stück zum fabelhaften Preis von einem Centavo. Nach freundlichem Geplauder über sein Gedächtnis als guter Lehrer pflückte er zum Abschied vom üppigsten Baum eine Mango, die sollten wir uns teilen.

Papa hatte uns diese Reise als wichtigen Schritt zur Familienzusammenführung verkauft, aber wir merkten bereits bei der Ankunft, dass sein heimlicher Vorsatz war, eine Apotheke an der großen Plaza im Zentrum aufzumachen. Mein Bruder und ich wurden an der Schule von Lehrer Luis Gabriel Mesa angemeldet, wo wir uns dann freier und besser in die neue Gemeinschaft eingebunden fühlten. Wir mieteten ein riesiges zweistöckiges Haus in bester Lage an der Plaza, es hatte einen umlaufenden Balkon, und in den leeren Schlafzimmern sang die ganze Nacht über der unsichtbare Geist einer Rohrdommel.

Alles war für eine glückliche Ankunft von Mutter und Schwestern bereit, als das Telegramm mit der Nachricht von Großvater Nicolás Márquez' Tod eintraf. Er war von einem Halsleiden überrascht worden, das sich als finaler Krebs herausstellte, und es war kaum Zeit geblieben, ihn zum Sterben nach Santa Marta zu bringen. Der Einzige von uns, den er in seiner Agonie sah, war unser sechs Monate alter Bruder Gustave, den jemand auf das Bett des Großvaters gelegt hatte, damit dieser von ihm Abschied nehmen könne. Der sterbende Großvater hatte ihn noch einmal gestreichelt. Ich brauchte viele Jahre, um mir bewusst zu werden, welche Bedeutung dieser unfassbare Tod für mich hatte.

Der Umzug nach Since fand dennoch statt, nicht nur die Kinder kamen, sondern auch Mina und die bereits kranke Tante Mama, beide gut versorgt von Tante Pa. Die Freude über den Neuanfang und das Scheitern des Projekts fielen jedoch fast zusammen, und noch bevor ein Jahr vergangen war, kehrten wir alle in das alte Haus nach Cataca zurück und stellten uns auf den Kopf, wie meine Mutter in aussichtslosen Situationen sagte. Nur mein Vater war in Barranquilla geblieben und erkundete die Möglichkeiten, seine vierte Apotheke aufzumachen.

Meine letzte Erinnerung an Cataca und das Haus in jenen schrecklichen Zeiten ist der Scheiterhaufen im Patio, auf dem die Kleider meines Großvaters verbrannt wurden. Seine liquiliques aus dem Krieg und die weißen Leinenanzüge des Obersten in Zivil sahen ihm beim Verbrennen so ähnlich, als stecke er noch lebendig darin. Vor allem die vielen Stoffmützen in verschiedenen Farben, an denen man ihn schon von fern erkennen konnte. Unter ihnen entdeckte ich meine Schottenmütze, die aus Versehen ins Feuer geraten war, und da erschütterte mich die Offenbarung, dass diese Vernichtungszeremonie mir eine eindeutige Rolle beim Tod des Großvaters zuschrieb. Heute sehe ich es deutlich: Etwas von mir war mit ihm gestorben. Aber ohne jeden Zweifel glaube ich auch, dass ich in diesem Augenblick ein Schriftsteller im Grundschulalter war, der nur noch schreiben lernen musste.

Die gleiche Gemütsverfassung machte mir Mut weiterzuleben, als ich mit meiner Mutter das Haus verließ, das wir nicht hatten verkaufen können. Da der Zug jederzeit eintreffen konnte, gingen wir gleich zum Bahnhof, ohne auch nur daran zu denken, noch irgendjemanden zu begrüßen. »Ein andermal kommen wir mit mehr Zeit zurück«, sagte sie, der einzige Euphemismus, der ihr einfiel, um auszudrücken, dass sie niemals zurückkehren würde. Ich meinerseits wusste da bereits, dass ich den Donner um drei Uhr nachmittags mein Leben lang vermissen würde.

Wir waren die einzigen Gespenster am Bahnhof, von dem Mann im Overall abgesehen, der die Fahrkarten verkaufte und außerdem all das erledigte, wofür zu unserer Zeit noch zwanzig oder dreißig eilfertige Männer gebraucht wurden.

Die Hitze war eisern. Jenseits der Bahngleise gab es nur noch Reste von der verbotenen Stadt der Bananengesellschaft: die alten Herrenhäuser ohne ihre roten Ziegeldächer, die welken Palmen inmitten von Gestrüpp und die Ruinen des Hospitals; hinter der Promenade dann das Haus der Montessori-Schule, verlassen zwischen hinfälligen Mandelbäumen, und vor dem Bahnhof die steinige kleine Plaza, der jede Spur von historischer Größe fehlte.

All das weckte beim bloßen Ansehen ein unwiderstehliches Verlangen in mir zu schreiben, um nicht zu sterben. Ich hatte so etwas schon mehrmals erlebt, aber erst jetzt erkannte ich darin das Feuer der Inspiration, ein grässliches Wort, aber doch so real, dass es alles, was sich ihm entgegenstellt, zu Asche verbrennen will.

Ich erinnere mich nicht daran, dass wir noch gesprochen hätten. Nicht einmal bei der Rückfahrt im Zug. Auf dem Schiff dann, früh am Montagmorgen, bei einer frischen Brise von der friedlichen Lagune, bemerkte meine Mutter, dass auch ich nicht schlief, und fragte:

»An was denkst du?«

»Ich schreibe«, erwiderte ich. Und beeilte mich, etwas freundlicher zu sein: »Besser gesagt, ich denke an das, was ich schreiben werden, wenn ich im Büro bin.«

»Hast du keine Angst, dass dem Vater vor Kummer stirbt?«

Ich kam mit einem Ausweichmanöver davon:

»Er hat schon so viele Gründe zum Sterben gehabt, und dieser ist weit weniger tödlich als andere.«

Es war keine besonders günstige Zeit, um sich an einen zweiten Roman zu wagen, nachdem ich mit dem ersten stecken geblieben war und mit mehr oder weniger Glück andere fiktionale Formen ausprobiert hatte, aber ich schwor in jener Nacht meinen eigenen Fahneneid, als ginge es in einen Krieg: den Roman zu schreiben oder zu sterben. Denn wie Rilke gesagt hat, dürfe man überhaupt nicht schreiben, wenn man glaubt, ohne zu schreiben leben zu können.

Vom Taxi aus, das uns zum Anlegesteg der Schiffe brachte, erschien mein altes Barranquilla im ersten Licht jenes bedeutsamen Februars wie eine fremde und traurige Stadt. Der Kapitän der Eline Mercedes lud mich ein, meine Mutter bis Sucre zu begleiten, wo meine Familie seit zehn Jahren lebte. Ich erwog es nicht einmal. Mit einem Kuss verabschiedete ich meine Mutter, und sie sah mir in die Augen, lächelte mich zum ersten Mal seit dem vergangenen Nachmittag an und fragte in ihrer schalkhaften Art:

»Also, was sage ich deinem Vater?«

Ich antwortete, das Herz in der Hand: »Sag ihm, ich liebe ihn sehr, und ich verdanke es ihm, dass ich Schriftsteller werde.« Und kam unbarmherzig jeder Alternative zuvor: »Nichts als Schriftsteller.«

Das sagte ich gerne, mal im Scherz und mal im Ernst, doch nie so überzeugt wie an jenem Tag. Ich blieb am Kai stehen, erwiderte das langsame Winken meiner Mutter, die an der Reling stand, bis das Motorboot zwischen abgewrackten Schiffen verschwand. Dann stürzte ich in das Büro von El Heraldo, erregt von dem Verlangen, das mich innerlich zerfraß, und, kaum zu Atem gekommen, begann ich den neuen Roman mit dem Satz meiner Mutter: »Ich bin gekommen, weil ich dich um den Gefallen bitten möchte, mich zum Verkauf des Hauses zu begleiten.«

Meine Schreibmethode damals unterschied sich von der, die ich mir als professioneller Schriftsteller angewöhnt habe. Ich tippte nur mit den Zeigefingern - wie ich es immer noch tue -, schliff und zerlegte aber nicht jeden einzelnen Absatz, bis ich zufrieden war -wie jetzt -, sondern schrieb alles roh herunter, was ich in mir trug. Ich denke, das System war durch die Maße des Papiers vorgegeben, Streifen, die von den Druckrollen abgeschnitten wurden und bis zu fünf Meter lang sein konnten. Das Resultat waren Originale, lang und schmal wie Papyrusrollen, die sich Kaskaden gleich aus der Schreibmaschine ergossen und auf dem Boden ausbreiteten, während man schrieb. Der Chefredakteur bestellte die Artikel nicht nach Seiten, Wörtern oder Anschlägen, sondern nach Zentimetern. »Eine Reportage von anderthalb Metern«, hieß es. Ich habe, schon in reifem Alter, wehmütig an dieses Format zurückgedacht, bis mir auffiel, dass es in der Praxis dem Bildschirm eines Computers entsprach.

Der Schwung, mit dem ich den Roman begann, war so mitreißend, dass ich das Zeitempfinden verlor. Um zehn Uhr morgens, ich hatte schon über einen Meter geschrieben, stieß Alfonso Fuenmayor plötzlich die Haupttür auf und blieb, den Schlüssel noch im Schloss, wie angewurzelt stehen, als habe er die Tür der Redaktion mit der von der Toilette verwechselt. Bis er mich erkannte.

»Was zum Teufel machen Sie denn zu dieser Uhrzeit hier?«, rief er überrascht.

»Ich schreibe den Roman meines Lebens«, sagte ich.

»Noch einen?«, fragte Alfonso mit seinem grausamen Witz. »Sie müssen mehr Leben als eine Katze haben.«

»Es ist derselbe, aber anders«, sagte ich, um mich nicht mit unnützen Erklärungen aufzuhalten.

Wir duzten uns nicht, was der seltsamen kolumbianischen Sitte entsprach, sich schon bei der ersten Begrüßung zu duzen und erst zum Sie überzugehen, wenn man eine größere Vertrautheit erreicht hat - was auch unter Ehegatten üblich ist.

Er zog Bücher und Papiere aus der abgestoßenen Aktentasche und legte sie auf den Schreibtisch. Derweil ließ er sich mit seiner nimmersatten Neugier von der seelischen Erschütterung erzählen, die ich ihm mit meinem frenetischen Reisebericht zu vermitteln suchte. Am Ende, bei der Zusammenfassung, konnte ich nicht meinen unglücklichen Hang bremsen, das, was ich nicht erklären kann, in einen endgültigen Satz zu pressen.

»Das ist das Größte, was mir in meinem Leben widerfahren ist«, sagte ich.

»Zum Glück wird es nicht das Letzte sein«, sagte Alfonso.

Das kam ohne große Überlegung, denn auch er war nicht fähig, einen Gedanken anzunehmen, bis er ihn nicht auf das rechte Maß zurechtgestutzt hatte. Dennoch, ich kannte ihn gut genug, um zu merken, dass ihn meine Erschütterung über diese Reise wohl nicht so sehr berührte, wie ich erwartet hatte, dass er aber immerhin neugierig geworden war. So war es: Vom nächsten Tag an stellte er mir allerhand beiläufige, aber kluge Fragen zu meinem Schreiben, und schon sein Mienenspiel ließ mich erwägen, ob nicht etwas korrigiert werden musste.

Während wir uns unterhielten, hatte ich meine Papiere eingesammelt, um für Alfonso den Schreibtisch freizuräumen, da er an diesem Morgen das erste Editorial für Cronica schreiben musste. Doch die Nachricht, die er mitbrachte, verschönerte mir den Tag: Die erste Nummer, die in der kommenden Woche erscheinen sollte, musste ein fünftes Mal wegen unzureichender Papierlieferung verschoben werden. Wenn wir Glück haben, meinte Alfonso, kommen wir in drei Wochen raus.

Ich hielt diese Frist für ein Geschenk des Schicksals, da sie mir erlauben würde, den Anfang des Buches unter Dach und Fach zu bringen; ich war noch zu grün, um mir darüber im Klaren zu sein, dass Romane nicht so beginnen, wie man will, sondern so, wie sie wollen. Sechs Monate später, als ich mich schon in der Zielgeraden wähnte, musste ich die ersten zehn Seiten gründlich überarbeiten, damit sie für den Leser glaubhaft wurden, und noch heute erscheinen sie mir nicht ganz stimmig. Die Frist muss auch für Alfonso eine Erleichterung gewesen sein, da er, statt zu klagen, die Jacke auszog und sich an den Schreibtisch setzte, um die neueste Auflage des Wörterbuchs der Königlichen Akademie Spaniens, das wir in diesen Tagen erhalten hatten, zu verbessern. Das war seine liebste Freizeitbeschäftigung, seitdem er in einem englischen Wörterbuch zufällig einen Fehler gefunden und die Korrektur mit Belegen an den Londoner Verlag geschickt hatte, wohl mit der einzigen Kompensation, in dem Begleitbrief einen Witz nach unserer Art unterbringen zu können: »Endlich schuldet England uns Kolumbianern einen Gefallen.« Die Herausgeber antworteten ihm mit einem freundlichen Brief, in dem sie ihren Fehler einräumten und ihn um weitere Mitarbeit baten. Das machte er dann auch mehrere Jahre lang und stieß nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Wörterbüchern unterschiedlicher Sprachen auf Irrtümer. Als die Verbindung einschlief, hatte er schon das einsame Laster angenommen, spanische, englische, französische und lateinische Wörterbücher zu korrigieren, und immer wenn er in irgendeinem Vorzimmer saß, auf den Bus wartete oder, wie so oft in seinem Leben, Schlange stehen musste, unterhielt er sich mit der kleinteiligen Jagd nach Schnitzern im Dickicht der Sprachen.

Um zwölf Uhr mittags war die Hitze unerträglich. Der Rauch unserer Zigaretten hatte das karge Licht der zwei einzigen Fenster vernebelt, aber keiner von uns machte sich die Mühe, das Büro zu lüften, vielleicht wegen der sekundären Sucht, den gleichen Rauch immer weiter zu rauchen, bis man starb. Mit der Hitze war das anders. Ich habe das angeborene Glück, sie bis zu dreißig Grad im Schatten ignorieren zu können. Alfonso aber legte, ohne die Arbeit zu unterbrechen, Stück für Stück die Kleidung ab, wenn die Hitze drückender wurde: die Krawatte, das Hemd, das Unterhemd. Mit dem weiteren Vorteil, dass die Wäsche, während er selbst sich in Schweiß auflöste, trocken blieb und er sie, wenn die Sonne sank, wieder anziehen konnte, so frisch und gebügelt wie beim Frühstück. Das muss das Geheimnis gewesen sein, weshalb er immer überall in weißem Leinen erscheinen konnte, mit seinem schiefen Krawattenknoten und seinem harten Indiohaar, das in der Mitte des Schädels von einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie geteilt wurde. So sah er auch wieder um ein Uhr mittags aus, als er wie nach einem erholsamen Schlaf aus der Toilette kam. m Vorbeigehen fragte er:

»Gehen wir essen?«

»Kein Hunger, Meister«, sagte ich.

Im Code der Gruppe war das eine eindeutige Erwiderung: Sagte ich Ja, bedeutete das, ich war, vielleicht nach zwei Tagen Brot und Wasser, in einer Notlage, und in dem Fall wäre ich ohne weiteren Kommentar mitgegangen, wobei dann klar war, dass er mich irgendwie einlud. Die Antwort - kein Hunger - konnte alles Mögliche bedeuten, aber es war meine Art, ihm mitzuteilen, dass das Mittagessen kein Problem für mich war. Wir verabredeten uns für den Abend, wie immer in der Librería Mundo.

Am frühen Nachmittag erschien ein junger Mann, der wie ein Filmschauspieler aussah. Sehr blond, wettergegerbte Haut, rätselhaft blau die Augen und eine warme Stimme wie ein Harmonium. Während wir über die bevorstehende Erscheinung der Zeitschrift sprachen, zeichnete er mit sechs meisterhaften Strichen die Silhouette eines wilden Stieres auf die Schreibtischunterlage und unterschrieb mit einer Botschaft an Fuenmayor. Sodann warf er den Bleistift auf den Tisch und verabschiedete sich türenschlagend. Ich war derart ins Schreiben versunken, dass ich mir nicht einmal den Namen auf der Zeichnung ansah. Also schrieb ich den restlichen Tag über, ohne zu trinken oder zu essen, und als das Abendlicht geschwunden war, tastete ich mich mit den ersten Entwürfen des neuen Romans hinaus, glücklich und gewiss, endlich einen neuen Ansatz für etwas gefunden zu haben, an dem ich seit fast einem Jahr hoffnungslos schrieb.

Erst abends erfuhr ich, dass der nachmittägliche Besucher Alejandro Obregon gewesen war, gerade zurück von einer seiner vielen Europareisen. Er war damals nicht nur einer der großen kolumbianischen Maler, sondern auch ein von seinen Freunden überaus geliebter Mann, und er hatte seine Rückkehr vorverlegt, um beim Erscheinen von Cronica dabei zu sein. Mitten im Barrio Abajo in der Gasse La Luz traf ich ihn mit seinen engsten Freunden in einer namenlosen Kneipe, die Alfonso Fuenmayor nach dem Titel eines neuen Buches von Graham Greene getauft hatte: El tercer hombre - Der dritte Mann. Wenn Obregon heimkehrte, war das stets ein historisches Ereignis, und der Höhepunkt jener Nacht war die Schau einer dressierten Grille, die wie ein menschliches Wesen den Befehlen ihres Herrn gehorchte. Sie stellte sich auf zwei Beine, breitete die Flügel aus, sang in rhythmischen Pfeiftönen und dankte mit förmlichen Verbeugungen für den Applaus. Am Ende fasste Obregon vor den Augen des beifalltrunkenen Dompteurs die Grille mit den Fingerspitzen an den Flügeln, steckte sie sich zu unser aller Staunen lebendig in den Mund und zerkaute sie genießerisch. Es war nicht leicht, den untröstlichen Dompteur mit Zuspruch und allerlei milden Gaben wieder aufzurichten. Später erfuhr ich, dass es nicht die erste Grille war und auch nicht die letzte sein sollte, die Obregon öffentlich verspeiste.

Nie wieder habe ich mich so sehr wie damals als Teil dieser Stadt und der Hand voll Freunde gefühlt, die in Journalistenkreisen und unter den Intellektuellen des Landes allmählich als Gruppe von Barranquilla bekannt wurde. Es waren junge Schriftsteller und Künstler, die im kulturellen Leben der Stadt so etwas wie eine Führungsrolle spielten, unter der Ägide des großen Katalanen Ramon Vinyes, eines legendären Dramaturgen und Buchhändlers, der seit 1924 in der Enciclopedia Espasa verzeichnet war.

Ich hatte sie alle im September des vorangegangenen Jahres kennen gelernt, als ich von Cartagena, wo ich damals lebte, mit der dringenden Empfehlung Clemente Manuel Zabalas herüberkam; er war der Chefredakteur der Zeitung El Universal, für die ich meine ersten Glossen schrieb. Wir verbrachten einen Abend zusammen, unterhielten uns über Gott und die Welt und blieben danach enthusiastisch verbunden, tauschten Bücher und literarische Tipps aus, bis ich schließlich richtig mit ihnen zusammenarbeitete. Drei aus der ursprünglichen Gruppe zeichneten sich durch ihre Unabhängigkeit und die Kraft ihrer Begabung aus: Germán Vargas, Alfonso Fuenmayor und Álvaro Cepeda Samudio. Wir hatten so viel gemeinsam, dass böswillig behauptet wurde, wir seien Söhne desselben Vaters, man hatte uns im Auge und mochte uns in gewissen Kreisen nicht besonders wegen unserer Unangepasstheit, dem rücksichtslosen Gefühl einer Berufung und dieser kreativen Entschlossenheit, die sich den Weg mit Ellbogen bahnte, sowie einer Schüchternheit, mit der jeder von uns auf seine Weise fertig wurde, und das nicht immer erfolgreich.

Alfonso Fuenmayor war achtundzwanzig Jahre alt und ein exzellenter Schriftsteller und Journalist, der über lange Zeit in El Heraldo die aktuelle Kolumne »Aire del Dia« - Tagesmelodie -unter dem shakespeareschen Pseudonym Puck schrieb. Je näher wir seine ungezwungene Art und seinen Sinn für Humor kennen lernten, umso unverständlicher war uns, dass er so viele Bücher in vier Sprachen über jedes nur erdenkliche Thema gelesen hatte.

Seine letzte vitale Erfahrung machte er, fast fünfzigjährig, mit einem riesigen, übel zugerichteten Automobil, das er voller Risikobereitschaft mit zwanzig Stundenkilometern fuhr. Die Taxifahrer, die seine guten Freunde und weisesten Leser waren, erkannten den Wagen schon von fern und wichen aus, um ihm die Straße freizumachen.

Germán Vargas Cantillo war Kolumnist der Abendzeitung El National, ein treffsicherer und scharfzüngiger Literaturkritiker, dessen gefällige Rosa im Leser die Überzeugung weckte, dass etwas nur deshalb geschah, weil Germán davon erzählte. Er war einer der besten Rundfunksprecher und zweifellos der gebildetste in jenen guten Zeiten der neuen Berufe, zudem ein eigenwilliges Beispiel eines geborenen Reporters, der ich auch gern gewesen wäre. Blond, hartknochig, die Augen von einem gefährlichen Blau, blieb es unbegreiflich, woher er die Zeit nahm, um stets auf dem letzten Stand alles Lesenswerten zu sein. Er gab nie seine frühe Obsession auf, in der vergessenen Provinz verborgene literarische Talente aufzuspüren und sie ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Zum Glück hat er in dieser Bruderschaft der Zerstreuten nie Autofahren gelernt, denn wir hatten die Befürchtung, er würde nicht der Versuchung widerstehen können, auch beim Fahren zu lesen.

Álvaro Cepeda Samudio hingegen war vor allem anderen ein verrückter Chauffeur - sowohl von Autos wie von Buchstaben; ein guter Erzähler, wenn er denn willens war, sich zum Schreiben hinzusetzen; ein meisterhafter - und damals zweifellos der bestinformierte - Filmkritiker und ein Anstifter gewagter Polemiken. Er sah wie ein Zigeuner von der Ciénaga Grande aus mit seiner gegerbten Haut und dem schönen Kopf, bedeckt von widerspenstigen schwarzen Locken, und seine irren Augen täuschten nicht über sein weiches Herz hinweg. Sein liebstes Schuhwerk waren Segeltuchsandalen von der billigsten Sorte, und zwischen seinen Zähnen klemmte stets eine riesige und meist erloschene Zigarre. Er hatte sich bei El National die ersten Sporen als Journalist verdient und seine ersten Erzählungen veröffentlicht. In jenem Jahr hielt er sich in New York auf, wo er einen Fortgeschrittenenkurs für Journalisten an der Columbia-University abschloss.

Ein sporadisches Mitglied der Gruppe und neben Don Ramón am angesehensten war José Fèlix Fuenmayor, Alfonsos Vater. Er war als Journalist in die Geschichte eingegangen und galt als einer der großen Autoren; er hatte 1910 einen Gedichtband, Musas del Trópico, veröffentlicht und zwei Romane, Cosime, 1927, und Una triste aventura de catorce sabios, 1928. Keines der Bücher wurde ein Verkaufserfolg, doch die Literaturkritik hat in José Fèlix stets einen der besten Erzähler gesehen, den das Buschwerk der Provinz erstickte.

Ich hatte noch nie etwas über ihn gehört, als ich ihm eines Mittags allein im Cafè Japy begegnete, mit ihm ins Gespräch kam und bald von der Weisheit und Schlichtheit seiner Worte überwältigt war. Er war Veteran des Kriegs der Tausend Tage und hatte ein schreckliches Gefängnis überlebt. Er war nicht so umfassend gebildet wie Vinyes, stand mir aber durch seine Wesensart und seinen karibischen Hintergrund näher. Am besten gefiel mir jedoch seine seltene Gabe, Lebensweisheiten so zu vermitteln, als handele es sich um Allerweltsdinge. Er war ein unschlagbarer Plauderer und ein Lebenskünstler, und seine Art zu denken war anders als alles, was ich bis dahin kennen gelernt hatte. Álvaro Cepeda und ich konnten ihm stundenlang zuhören, vor allem wegen seines Grundprinzips, dass die inhaltlichen Unterschiede zwischen Leben und Literatur auf formalen Fehlern beruhten. Später sollte Álvaro irgendwo in plötzlicher Erkenntnis schreiben: »Wir stammen alle von José Fèlix ab.«

Die Gruppe war spontan entstanden, gewissermaßen der Gravitationskraft gehorchend, durch eine unzerstörbare Anziehung, die jedoch auf den ersten Blick schwer zu verstehen war. Man hat uns oft gefragt, wie wir uns bei so großer Verschiedenheit immer einig sein könnten, und wir mussten uns dann irgendeine Antwort aus den Fingern saugen, um nicht die Wahrheit zu sagen: Wir waren uns keineswegs immer einig, verstanden aber die Gründe dafür. Es war uns bewusst, dass wir außerhalb unseres Kreises als präpotent, narzisstisch und anarchisch galten. Vor allem aufgrund unserer politischen Ausrichtung. Alfonso hielt man für einen orthodoxen Liberalen, Germán für einen Freidenker wider Willen, Álvaro für einen irrationalen Anarchisten und mich für einen ungläubigen Kommunisten und sicheren Selbstmordkandidaten. Unser größtes Kapital war jedoch, und darüber hege ich keinen Zweifel, dass wir auch in extremen Schwierigkeiten zwar zuweilen die Geduld verloren, aber niemals den Humor.

Die wenigen ernsthaften Meinungsunterschiede diskutierten wir unter uns, und in der Hitze des Gefechts stiegen die Temperaturen manchmal gefährlich an, das war jedoch vergessen, sobald wir vom Tisch aufstanden oder wenn jemand von außen dazukam. Die unvergesslichste Lektion lernte ich eines Abends und ein für alle Mal in der Bar Los Almendros, als ich noch neu in der Gruppe war und Álvaro und ich uns in eine Diskussion über Faulkner verstrickten. Einzige Zeugen waren Germán und Alfonso; sie hielten sich heraus und verharrten in einem steinernen Schweigen, das ans Unerträgliche grenzte. Ich weiß nicht, in welchem Augenblick ich, von der Wut und vom Fusel überwältigt, Álvaro aufforderte, die Diskussion mit Fäusten auszutragen. Beide machten wir Anstalten, vom Tisch aufzustehen, als die ungerührte Stimme von Germán Vargas uns stoppte und uns eine Lektion fürs Leben erteilte:

»Wer zuerst aufsteht, hat schon verloren.«

Wir waren damals noch alle unter dreißig. Mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren war ich der Jüngste in der Gruppe und von ihr adoptiert worden, als ich im Dezember zuvor gekommen war, um zu bleiben. An Ramón Vinyes' Tisch verhielten wir vier uns jedoch wie die Evangelisten, traten immer gemeinsam auf, redeten über das Gleiche, spotteten über alles und waren uns so einig darin, wider den Stachel zu locken, dass wir schließlich als ein und dieselbe Person gesehen wurden.

Die einzige Frau, die wir als zur Gruppe gehörig empfanden, war Meira Delmar, die gerade ihren poetischen Schwung in Gedichte zu fassen begann, aber zu einem Austausch mit ihr kam es nur bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir aus dem Kreislauf unserer schlechten Angewohnheiten herausfanden. Ihre Abendgesellschaften mit berühmten Schriftstellern und Künstlern auf der Durchreise waren denkwürdig. Eine weitere Freundin war die Malerin Cecilia Porras, die ab und zu und dann nur kurz aus Cartagena herüberkam und uns bei unseren nächtlichen Touren begleitete, da es ihr völlig egal war, dass Frauen in den Cafés der Trunkenbolde und den Häusern des Verderbens nicht gern gesehen waren.

Wir von der Gruppe trafen uns zweimal täglich in der Librería Mundo, die sich allmählich zu einem literarischen Zentrum entwickelte. Sie war eine Oase des Friedens im Getöse der Galle San Blas, der heiß brodelnden Hauptgeschäftsstraße, über die sich die Innenstadt um sechs Uhr abends leerte. Alfonso und ich schrieben wie artige Schüler bis zum Einbruch der Nacht in unserem Büro neben dem Redaktionssaal von El Heraldo, er seine gelehrten Kommentare und ich meine haarsträubenden Kolumnen. Oft tauschten wir von einer Maschine zur anderen Ideen aus, borgten uns Adjektive, fragten hin und her nach Daten, so dass manchmal kaum mehr zu entscheiden war, welchen Absatz wer geschrieben hatte.

Unser Tagesablauf war fast immer vorhersehbar, außer am Freitagabend, wenn wir unseren Eingebungen ausgeliefert waren und zuweilen bis zum Frühstück am Montag durchmachten. Wenn es uns packte, begaben wir uns zu fünft, ungebremst und maßlos, auf eine literarische Pilgerreise. Sie begann im Tercer Hombre mit den Handwerkern des Viertels, den Mechanikern einer nahen Autowerkstatt und mehr oder weniger aus der Bahn geratenen Beamten. Der seltsamste Gast von allen war ein Einbrecher, der kurz vor Mitternacht in Berufskleidung erschien: Balletthosen, Tennisschuhe, Basketballmütze, dazu ein Köfferchen mit leichtem Werkzeug. Einem, der ihn beim Stehlen in seinem Haus erwischte, gelang es, ein Foto zu machen, das er zur Identifikation an die Presse gab. Der einzige Erfolg dieser Aktion waren ein paar Leserbriefe, die sich darüber empörten, dass den armen Dieben so böse mitgespielt werde.

Der Dieb bekannte sich zu seiner literarischen Berufung, ließ sich bei den Diskussionen über Kunst und Literatur kein Wort entgehen, und wir wussten, dass er der verschämte Autor von Liebesgedichten war, die er vor den Gästen deklamierte, wenn wir nicht da waren. Nach Mitternacht machte er sich zum Stehlen in die besseren Viertel auf, als sei er dafür angestellt, und drei oder vier Stunden später brachte er uns als Geschenk eine Kleinigkeit mit, die er von der großen Beute abgezweigt hatte. »Für die Mädchen«, sagte er, ohne zu fragen, ob wir denn welche hätten. War ihm ein Buch aufgefallen, schenkte er es uns, und wenn es die Mühe wert war, stifteten wir es der Bezirksbibliothek, die Meira Delmar leitete.

Mit diesen Bildungsausflügen hatten wir uns einen fragwürdigen Ruf bei den Betschwestern eingehandelt, die uns nach der Frühmesse um fünf Uhr morgens begegneten und die Straßenseite wechselten, um nicht an übernächtigten Saufbrüdern vorbeigehen zu müssen. Dabei konnte es keine ergiebigeren und ehrbareren Sausen geben. Mir war das gleich klar gewesen, und ich machte mit, unterhielt mich im Bordell schreiend über das Werk von John Dos Passos oder die verschenkten Tore von Deportivo Junior. Das ging so weit, dass eine der anmutigen Hetären vom Gato Negro, die, verärgert von einer Nacht der unentgeltlichen Dispute, uns im Vorbeigehen zurief:

»Wenn ihr genauso viel rammeln wie schreien würdet, könnten wir in Gold baden!«

Oft gingen wir zum Sonnenaufgang in ein namenloses Bordell des Barrio Chino, wo jahrelang Orlando Figuera, Figurita, wohnte, während er ein epochales Wandgemälde fertig stellte. Ich kann mich an keinen erinnern, der so viel Unsinn redete wie er, mit seinem irren Blick, seinem Ziegenbart und der Güte eines Waisenkindes. Schon in der Grundschule hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Kubaner zu sein, und er wurde es schließlich, besser und echter, als wenn er wirklich einer gewesen wäre. Er sprach, aß, malte, kleidete sich, verliebte sich, tanzte und lebte sein Leben wie ein Kubaner und starb als Kubaner, ohne je in Kuba gewesen zu sein.

Er schlief nicht. Wenn wir ihn in aller Früh besuchen gingen, sprang er, bekleckster als die Wand, von dem Gerüst und fluchte im Kater des Marihuanarauschs wie ein kubanischer Kämpfer gegen die spanische Krone. Alfonso und ich brachten ihm zum Illustrieren Artikel und Kurzgeschichten, die wir ihm laut erzählen mussten, weil er nicht die Geduld hatte, sie lesend zu verstehen. Die Zeichnungen verfertigte er im Handumdrehen mit Techniken der Karikatur, den einzigen, an die er glaubte. Fast immer gelangen diese Zeichnungen, auch wenn Germán Vargas wohlwollend zu sagen pflegte, dass sie sehr viel besser waren, wenn sie misslangen.

Das war Barranquilla, eine Stadt, die keiner anderen glich, besonders von Dezember bis März, wenn die Passatwinde aus dem Norden für die höllischen Tage mit nächtlichen Sturmwinden Ausgleich schufen, in die Höfe der Häuser fuhren und die Hühner in die Luft wirbelten. Nur in den Stundenhotels und den Hafenkneipen war dann noch Leben. Ein paar nächtliche Vögelinnen warteten bis zum Morgen auf die immer Ungewisse Kundschaft von den Flussdampfern. Eine Blaskapelle spielte in der Grünanlage einen schleppenden Walzer, aber niemand hörte zu, weil die Fahrer der Taxis, die auf dem Paseo Bolívar aufgereiht waren, laut schreiend über Fußball diskutierten. Das einzige offene Lokal war das Café Roma, eine Kneipe der Spanienflüchtlinge, die nie schloss, aus dem einfachen Grund, weil es keine Türen gab. Sie hatte auch kein Dach und das in einer Stadt berüchtigter 'Wolkenbrüche, doch nie wurde bekannt, dass jemand nur wegen des Regens aufgehört hätte, seine Tortilla zu essen oder ein Geschäft auszuhandeln. Es war eine Freiluftoase mit weiß gestrichenen runden Tischchen und kleinen Eisenstühlen unter den Laubkronen blühender Akazien. Um elf, wenn die Morgenzeitungen schlossen - El Heraldo und La Prensa -, versammelten sich die Nachtredakteure zum Essen. Die Spanienflüchtlinge kamen gegen sieben, nachdem sie zu Hause im Radio die Nachrichten von Professor Juan José Domenech gehört hatten, die auch zwölf Jahre nach der Niederlage immer noch Meldungen über den spanischen Bürgerkrieg brachten. An einem glücklichen Abend hatte der Schriftsteller Eduarde Zalamea, von La Guajira zurückkehrend, hier Anker geworfen und sich ohne ernstliche Folgen mit dem Revolver in die Brust geschossen. Der Tisch wurde wie eine historische Reliquie behandelt, die Kellner zeigten ihn den Touristen, erlaubten diesen aber nicht, daran Platz zu nehmen. Jahre später veröffentlichte Zalamea als Zeugnis dieses Abenteuers Cuatro anos a bordo de mí mismo -Vier Jahre an Bord meiner selbst -, einen Roman, der unserer Generation unerwartete Horizonte eröffnete.

Ich war als Einziger in der Bruderschaft unbehaust und suchte oft im Café Roma Zuflucht, um dort in einem abgelegenen Winkel bis zum Anbruch des Tages zu schreiben, da meine beiden Arbeiten die paradoxe Eigenschaft hatten, wichtig und zugleich schlecht bezahlt zu sein. Im Roma wurde ich beim gnadenlosen Lesen vom Morgengrauen überrascht, und wenn mich der Hunger plagte, trank ich eine dicke Schokolade, aß dazu ein Sandwich mit gutem spanischem Schinken und wanderte dann bis zum Sonnenaufgang unter den blühenden Bäumen des Paseo Bolívar einher. In den ersten Wochen hatte ich bis spät in der Nacht in der Redaktion geschrieben und ein paar Stunden im leeren Konferenzsaal oder auf den Papierrollen in der Druckerei geschlafen, mit der Zeit sah ich mich jedoch gezwungen, mir ein weniger originelles Quartier zu suchen.

Den entscheidenden Tipp und noch viele weitere in der Zukunft bekam ich von den fröhlichen Taxifahrern vom Paseo Bolívar: ein Stundenhotel, wo man für anderthalb Pesos allein oder in Begleitung schlafen konnte und das nur einen Block von der Kathedrale entfernt lag. Das Gebäude war alt, aber gut erhalten, auf Kosten der feierlich aufgeputzten Hürchen, die auf der Suche nach verirrten Liebschaften ab sechs Uhr abends über den Paseo Bolívar streunten. Der Portier hieß Lácides. Er hatte ein Glasauge mit verschobener Achse und stotterte aus Schüchternheit, und seit dem ersten Abend dort denke ich mit großer Dankbarkeit an ihn. Er warf die einsfünfzig in die Thekenschublade, die bereits mit den losen, verkrumpelten Scheinen der ersten Stunden gefüllt war, und gab mir den Schlüssel für das Zimmer Nummer sechs.

Ich war noch nie an einem so ruhigen Ort gewesen. Man hörte allenfalls gedämpfte Schritte, ein unverständliches Murmeln und, sehr selten, das klagende Quietschen der rostigen Federn. Doch kein Flüstern, kein Seufzen: nichts. Das einzig Missliche war wegen des kreuzweise mit Brettern vernagelten Fensters die Backofenhitze. Dennoch las ich sehr bequem schon in der ersten Nacht fast bis zum Morgengrauen William Irish.

Es war das ehemalige Palais einer Reederfamilie, mit alabasterverkleideten Säulen und vergoldeten Friesen um einen Innenhof gebaut, der, von heidnischen Glasfenstern überdeckt, im Glanz eines Treibhauses erstrahlte. Im Erdgeschoss waren alle Notariate der Stadt untergebracht. Jedes der drei oberen Stockwerke hatte sechs große Marmorräume, mit Pappe in Kammern unterteilt, in denen die Nachtbummlerinnen des Reviers ihre Ernte einfuhren. Diese glückliche Stätte zum Kopfverlieren hatte einmal Hotel Nueva York geheißen und wurde von Alfonso Fuenmayor später El Rascacielos - der Wolkenkratzer - getauft, im Gedenken an die Selbstmörder, die sich in jenen Jahren von den Dachterrassen des Empire State Building stürzten.

Die Achse unseres Lebens war jedenfalls um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends die Librería Mundo an der lebhaftesten Ecke der Galle San Blas. Germán Vargas, mit dem Besitzer Don Jórge Rondon eng befreundet, hatte diesen dazu überredet, die Buchhandlung aufzumachen, die dann in kurzer Zeit zum Treffpunkt von Journalisten, Schriftstellern und jungen Politikern wurde. Rondon mangelte es an Erfahrung im Buchgeschäft, doch er lernte schnell und mit einer Begeisterung und einer Großherzigkeit, die ihn zum unvergesslichen Mäzen machten. Germán, Álvaro und Alfonso berieten ihn bei den Buchbestellungen, besonders bei den Neuerscheinungen aus Buenos Aires, wo die Verleger begonnen hatten, die nach dem Weltkrieg erschienene Literatur aus aller Herren Länder übersetzen zu lassen und massenhaft zu verbreiten. Den Freunden war zu verdanken, dass wir beizeiten die Bücher lesen konnten, die sonst nicht in die Stadt gelangt wären. Sie selbst begeisterten die Kunden und erreichten, dass Barranquilla wieder das Lesezentrum wurde, das es vor der Schließung der legendären Buchhandlung von Don Ramon vor Jahren gewesen war.

Recht bald nach meiner Ankunft trat ich dieser Bruderschaft bei, welche die Vertreter der argentinischen Verlage wie himmlische Sendboten erwartete. So wurden wir früh zu Bewunderern von Jorge Luis Borges, von Julio Cortázar, Felisberto Hernández sowie der englischen und nordamerikanischen Romanciers, die uns gut übersetzt von der Clique um Victoria Ocampo erreichten. Hammer oder Amboss sein von Arturo Barea war die erste hoffnungsvolle Botschaft aus einem fernen Spanien, das zwei Kriege zum Schweigen gebracht hatten. Einer jener Vertreter, der verlässliche Guillermo Dävalos, hatte die gute Angewohnheit, mit uns zu feiern und uns die Musterexemplare der Neuerscheinungen zu schenken, wenn er seine Geschäfte in der Stadt abgeschlossen hatte.

Die Gruppe, die fern vom Stadtzentrum wohnte, ging abends nicht ins Café Roma, wenn es keinen konkreten Anlass gab. Für mich dagegen war das Café das Zuhause, das ich nicht hatte. Vormittags arbeitete ich in der geruhsamen Redaktion von El Heraldo, aß zu Mittag wie, wann und wo es möglich war, meist jedoch eingeladen von den guten Freunden aus der Gruppe oder von interessierten Politikern. Nachmittags schrieb ich meine tägliche Glosse »La Jirafa« - die Giraffe - und was sonst vielleicht noch anfiel. Um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends war ich der Pünktlichste in der Librería Mundo. Der Aperitif vor dem Mittagessen, den die Gruppe jahrelang im Café Colombia zu sich nahm, wurde später ins Café Japy auf die andere Straßenseite verlegt, weil es die beste Luft und die lebendigste Atmosphäre auf der Galle San Blas hatte. Wir benutzten es zum Empfang von Besuchern, als Büro, für Geschäfte, Interviews und als lockeren Treffpunkt.

An Don Ramóns Tisch im Japy herrschten unverletzliche Gesetze, die von der Gewohnheit erlassen waren. Als Lehrer hatte er um vier Uhr Dienstschluss und kam als Erster. Es passten nicht mehr als sechs Personen an seinen Tisch. Wir hatten uns bei der Wahl des Sitzplatzes an dem seinen orientiert, und es galt als ungehörig, weitere Stühle an den Tisch zu quetschen. Weil er schon so lange und so gut mit ihm befreundet war, setzte sich

Germán vom ersten Tag an zur Rechten Don Ramóns. Er kümmerte sich um dessen materielle Angelegenheiten und erledigte sie auch dann, wenn er nicht darum gebeten wurde, weil der Weise die angeborene Gabe hatte, sich im praktischen Leben nicht zurechtzufinden. In jenen Tagen ging es hauptsächlich um den Verkauf seiner Bücher an die Bezirksbibliothek und die Versteigerung anderer Gegenstände, bevor er seine Reise nach Barcelona antrat. Germán wirkte eher wie ein guter Sohn denn wie ein Sekretär.

Die Beziehung zwischen Don Ramón und Alfonso gründete auf diffizileren literarischen und politischen Fragen. Bei Álvaro hingegen hatte ich immer den Eindruck, dass er befangen war, wenn er Don Ramón allein am Tisch vorfand, und die anderen brauchte, um in Fahrt zu kommen. Der einzige Mensch, dem die Wahl des Platzes am Tisch freistand, war José Felix. Spätabends ging Don Ramón nicht ins Japy, sondern traf sich im nahen Café Roma mit seinen Freunden unter den spanischen Exilanten.

Ich kam als Letzter an Don Ramóns Tisch und setzte mich vom ersten Tag an ohne selbst erworbenes Recht auf den Stuhl von Álvaro Cepeda, weil dieser in New York war. Don Ramón empfing mich als einen weiteren Schüler, da er meine Geschichten in El Espectador gelesen hatte. Dennoch hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich einmal so vertraut mit ihm sein würde, ihn um Geld für die Fahrt mit meiner Mutter nach Aracataca anzupumpen. Wenig später hatten wir durch einen erstaunlichen Zufall das erste und einzige Gespräch unter vier Augen, weil ich früher als die anderen ins Japy gekommen war, um ihm ohne Zeugen die sechs geliehenen Pesos zurückzugeben.

»Hallo, Genius«, begrüßte er mich wie immer. Aber etwas in meinem Gesicht beunruhigte ihn: »Sind Sie krank?«

»Das glaube ich nicht, Señor«, sagte ich nervös. »Warum?«

»Sie sehen abgezehrt aus«, sagte er »aber geben Sie nichts drauf, heutzutage sind wir alle etwas fotuts del cul.«

Er steckte die sechs Pesos mit einer widerstrebenden Gebärde in die Brieftasche, als stünde ihm das Geld nicht zu.

»Ich nehme es an«, erklärte er mir errötend, »als Erinnerung an einen sehr armen jungen Mann, der seine Schulden bezahlte, ohne dass man sie einforderte.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und versank mitten im lärmenden Café in ein bleiernes Schweigen.

Von dem Glück dieser Begegnung hatte ich nicht einmal geträumt. Mein Eindruck war, dass in den Gruppengesprächen jeder von uns sein Scherflein zum allgemeinen Durcheinander beitrug und die Gaben und die Schwächen jedes Einzelnen sich mit denen der anderen vermischten, aber ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass ich ganz allein mit einem Mann, der seit Jahren in einer Enzyklopädie lebte, über die Kunst und den Ruhm sprechen könnte. Wenn ich spätnachts in der Einsamkeit meines Zimmers las, stellte ich mir die erregenden Gespräche vor, die ich gerne mit ihm über meine literarischen Zweifel geführt hätte, doch im Tageslicht lösten sich diese Phantasien spurlos auf. Meine Schüchternheit nahm zu, wenn Alfonso mit einer seiner unerhörten Ideen herausplatzte, Germán ein eiliges Urteil des Lehrers missbilligte oder Álvaro sich über ein Projekt heiser schrie, das uns um den Verstand brachte.

An jenem Tag im Japy ergriff zum Glück Don Ramon die Initiative und fragte mich über meine Lektüre aus. Damals hatte ich bereits alles gelesen, was ich von der lost generation auf Spanisch aufgetrieben hatte, besonders aufmerksam Faulkner, dem ich mit der blutigen Behutsamkeit eines Rasiermessers nachspürte, weil ich die seltsame Angst hatte, er könne sich auf die Dauer nur als geschickter Rhetoriker erweisen. Nach dieser Äußerung durchfuhr mich die Scham, dass sie wie eine Provokation gewirkt haben könnte, und ich versuchte zu differenzieren, Don Ramón aber ließ mir keine Zeit dazu.

»Keine Sorge, Gabito«, erwiderte er gelassen. »Wäre Faulkner in Barranquilla, er säße an diesem Tisch.«

Dagegen fand er mein Interesse für Ramon Gómez de la Serna, den ich sogar neben unanfechtbaren Romanciers in »Lajirafa« zitierte, auffällig. Ich stellte klar, dass ich ihn nicht so sehr wegen seiner Romane schätzte - Das Rosenschloss hatte mir allerdings sehr gefallen -, dass mich vielmehr die Kühnheit seines Geistes und seine verbale Intelligenz interessierten, gewissermaßen als rhythmische Gymnastik, um schreiben zu lernen. Don Ramon unterbrach mich mit seinem sarkastischen Lächeln:

»Die Gefahr für Sie besteht darin, dass Sie, ohne es zu merken, auch lernen, schlecht zu schreiben.«

Bevor er das Thema beendete, erkannte er jedoch an, dass Gómez de la Serna bei aller phosphoreszierenden Regellosigkeit doch ein guter Poet sei. So waren seine Erwiderungen, unmittelbar und weise, und ich hatte kaum die Nerven, das alles aufzunehmen, verwirrt von der Furcht, jemand könne bei dieser einmaligen Gelegenheit stören. Doch er wusste damit umzugehen. Der Kellner, der ihn gewohnheitsgemäß bediente, brachte ihm um halb zwölf seine Coca-Cola, was er nicht zu bemerken schien, er trank sie dann jedoch mit dem Strohhalm, ohne seine Erklärungen zu unterbrechen. Die meisten Gäste begrüßten ihn laut von der Tür aus: »Wie geht's, Don Ramón?« Und er antwortete ohne aufzuschauen mit einem Flattern seiner Künstlerhand.

Während er sprach, richtete Don Ramón verstohlene Blicke auf die Ledermappe, die ich beim Zuhören fest in beiden Händen hielt. Als er die erste Coca-Cola ausgetrunken hatte, verdrehte er den Strohhalm wie einen Korkenzieher und bestellte die zweite. Ich orderte eine für mich, wohl wissend, dass an diesem Tisch jeder für sich zahlte. Schließlich fragte er mich, was denn das für eine geheimnisvolle Mappe sei, an die ich mich wie ein Schiffbrüchiger klammere.

Ich sagte ihm die Wahrheit: Das sei das erste Kapitel des Romans, den ich nach meiner Rückkehr aus Cataca begonnen hätte, eine Rohfassung. Mit einem Wagemut, den ich nie wieder an einem Kreuzweg von Leben und Tod aufbringen sollte, legte ich die geöffnete Mappe wie eine unschuldige Herausforderung vor ihn auf den Tisch. Er richtete seine klaren, gefährlich blauen Augen auf mich und fragte etwas verwundert:

»Sie erlauben?«

Der Text war mit der Maschine auf langen Streifen des Druckpapiers geschrieben, mit unzähligen Korrekturen versehen und wie eine Ziehharmonika gefaltet. Er setzte sich ohne Hast die Lesebrille auf, entfaltete die Papierstreifen mit professionellem Geschick und legte sie auf dem Tisch zurecht. Er las ohne jede Bewegung, ohne dass sich die Hautfarbe oder der Atem veränderte, nur auf seinem Kopf wiegte sich sacht im Rhythmus seiner Gedanken eine Strähne wie bei einem Kakadu. Don Ramón beendete zwei ganze Streifen, faltete sie wieder schweigend mit mittelalterlicher Kunstfertigkeit zusammen und schloss die Mappe. Dann verwahrte er die Brille im Etui und steckte dieses in die Brusttasche.

»Man merkt, dass es noch Rohmaterial ist, das ist ja auch logisch«, sagte er mit großer Einfachheit. »Aber die Richtung stimmt.«

Er machte ein paar Bemerkungen über die Behandlung der Zeit, mein entscheidendes Problem und sicher das schwierigste überhaupt, und fügte hinzu:

»Sie müssen sich bewusst machen, dass das Drama bereits stattgefunden hat und die Figuren nur dazu da sind, es zu beschwören, also müssen sie mit zwei Zeiten kämpfen.«

Nach einer Reihe von technischen Hinweisen, die ich auf Grund mangelnder Erfahrung nicht richtig würdigen konnte, empfahl er mir, die Stadt im Roman nicht Barranquilla zu nennen, wofür ich mich in meiner Rohfassung entschieden hatte, weil der Name so stark an die Realität gebunden sei, dass er dem Leser wenig Raum zum Träumen lasse. Und schloss in seinem spöttischen Ton:

»Oder stellen Sie sich dumm und warten Sie darauf, dass es vom Himmel fällt. Schließlich ist auch das Athen von Sophokles nie das der Antigone gewesen.«

Eisern befolgt habe ich aber stets die Empfehlung, mit der er sich an jenem Abend von mir verabschiedete:

»Ich bin Ihnen dankbar für Ihr Vertrauen und will mich mit einem Rat revanchieren: Zeigen Sie nie jemandem die Rohfassung von etwas, an dem sie gerade schreiben.«

Dieses einzige Gespräch musste für alle herhalten, denn Don Ramón brach, wie seit über einem Jahr geplant, am 15. April 1950 nach Barcelona auf. Er wirkte fremd in dem schwarzen Tuchanzug und dem Hut eines Notablen, aber es war, als schicke man ein Schulkind auf die Reise. Mit seinen achtundsechzig Jahren war er bei guter Gesundheit und geistig so rege wie eh und je, doch wir, die wir ihn zum Flughafen begleiteten, verabschiedeten ihn wie einen, der in sein Heimatland zurückkehrt, um dem eigenen Begräbnis beizuwohnen.

Erst am nächsten Tag, als wir zu unserem Tisch im Japy kamen, wurde uns die Leere bewusst, die er an seinem Platz zurückgelassen hatte, und niemand konnte sich dazu entschließen, sich auf diesen Stuhl zu setzen, bis wir uns darauf einigten, Germán solle dort sitzen. Wir brauchten ein paar Tage, um uns an den neuen Rhythmus des täglichen Gesprächs zu gewöhnen, bis Don Ramons erster Brief kam, der, mit violetter Tinte in seiner winzigen Schrift geschrieben, wie gesprochen klang. So begann eine rege, intensive Korrespondenz mit der ganzen Gruppe, vertreten durch Germán; die Briefe erzählten wenig von Don Ramons Leben, dafür sehr viel von einem Spanien, das er weiter als Feindesland betrachten wollte, solange Franco lebte und die Herrschaft Spaniens über Katalonien aufrechterhielt.

Die Idee zu unserem Wochenblatt kam von Alfonso Fuenmayor und reichte sehr viel weiter zurück, aber ich glaube, dass die Abreise des weisen Katalanen das Projekt beschleunigt hat. Drei Nächte später, wir waren zu diesem Zweck im Café Roma versammelt, teilte Alfonso uns mit, er habe alles für den Start bereit. Es sollte eine Boulevardzeitung mit journalistischen und literarischen Beiträgen auf zwanzig Seiten werden, deren Name -Crónica - keinem viel sagen würde. Nach vier Jahren, in denen uns dafür die Mittel gefehlt hatten, die es sonst reichlich gab, schien es uns der reine Wahnsinn, dass Alfonso Fuenmayor se zusammengebracht hatte, und zwar bei Handwerkern, Automechanikern, pensionierten Stadträten und sogar bei Wirten, die sich komplizenhaft darauf einließen, Anzeigen für Rum zu schalten. Es gab allerdings auch Gründe für die Annahme, dass das Blatt in einer Stadt gut ankommen würde, die bei allem industriellen Aufschwung und Bürgerdünkel die Verehrung für ihre Dichter lebendig hielt.

Außer uns würde es nur wenige ständige Mitarbeiter geben. Der Einzige mit reicher professioneller Erfahrung war Carlos Osío Noguera - Vates Osío -, ein Lyriker und Journalist mit einem riesigen Körper und einer ganz eigenen sympathischen Ausstrahlung, Staatsbeamter und als solcher Zensor bei El National, wo er mit Álvaro Cepeda und Germán Vargas zusammengearbeitet hatte. Ein anderer sollte Roberto (Bob) Prieto sein, einer der seltenen Gelehrten der besseren Gesellschaft, der auf Englisch und Französisch genauso gut denken konnte wie auf Spanisch und mehrere Werke großer Meister auswendig auf dem Klavier spielte. Nicht recht einzusehen war, weshalb Julio Mario Santodomingo, den Alfonso Fuenmayor vorgeschlagen hatte, auf der Liste stand. Seine künstlerische und literarische Begabung fiel allerdings schon bei der ersten Begrüßung auf, und Alfonso Fuenmayor setzte sich bedenkenlos für ihn ein, weil Santodomingo beweisen wollte, dass er anders als die ändern sein konnte. Wir verstanden dennoch nicht recht, dass er dem Redaktionsrat angehören sollte, schien er doch wie geschaffen, ein lateinamerikanischer Rockefeller zu werden, intelligent, gebildet und herzlich, aber dazu verurteilt, in den Nebeln der Macht zu wandeln. Nur wenige wussten, was wir vier Anstifter der Zeitung wussten, dass es der heimliche Traum des 25-Jährigen war, Schriftsteller zu werden.

Direktor des Unternehmens sollte - das Recht hatte er sich erworben - Alfonso werden. Germán Vargas würde vor allem als großer Reporter in Erscheinung treten, und dieses Amt hoffte ich mit ihm zu teilen, nicht, wenn ich Zeit hätte - die hatten wir nie -, sondern dann, wenn mein Wunsch in Erfüllung ginge, dieses Metier zu erlernen. Álvaro Cepeda sollte während seiner freien Zeit an der Columbia-Universität Beiträge aus New York schreiben. Am Ende der Schlange war keiner so frei und begierig wie ich, zum Chefredakteur eines unabhängigen und unsicheren Wochenblatts ernannt zu werden, und das wurde ich dann auch.

Alfonso hatte seit Jahren ein Archiv angelegt und in den letzten sechs Monaten viel Arbeit im Voraus geleistet, Leitartikel, literarisches Material, hervorragende Reportagen und die Anzeigenversprechen seiner reichen Freunde gesammelt. Der Chefredakteur, ohne feste Arbeitszeit und mit einem besseren Gehalt als sonst ein Journalist meines Ranges, das allerdings von zukünftigen Gewinnen abhing, war ebenfalls darauf vorbereitet, die Zeitschrift gut und rechtzeitig herauszubringen. Endlich, als ich eine Woche später am Samstag um fünf Uhr nachmittags in mein Kämmerchen von El Heraldo trat, blickte Alfonso Fuenmayor nicht einmal hoch, weil er dabei war, sein Editorial fertig zu stellen.

»Beeilen Sie sich mit Ihrem Zeug, Meister«, sagte er, »denn nächste Woche kommt Crónica heraus.«

Ich erschrak nicht, weil ich diesen Satz schon zweimal gehört hatte. Aber alle guten Dinge sind drei. Das größte journalistische Ereignis der Woche - das uns einen absoluten Vorsprung versprach - war die Ankunft des brasilianischen Fußballspielers Heleno de Freitas für den Deportivo Junior, aber wir wollten nicht mit der Fachpresse konkurrieren, sondern über ein Ereignis von allgemeinem kulturellen und gesellschaftlichen Interesse berichten. Crónica hatte nicht die Absicht, sich auf eine Sparte festlegen zu lassen, erst recht nicht, wenn es um etwas derart Populäres wie Fußball ging. Die Entscheidung war einstimmig und die Arbeit effizient.

Wir hatten so viel Material im Vorlauf, dass im letzten Moment nur die Reportage über Heleno ausstand, die dann von Germán Vargas geschrieben wurde, einem Meister der Gattung und Fußballfanatiker. Die erste Nummer war pünktlich am Samstag, dem 29. April 1950 an den Verkaufsständen, am Tag der heiligen Katharina von Siena, der Schreiberin himmelblauer Briefe an der schönsten Piazza der Welt. Crónica wurde mit einem Motto der letzten Stunde gedruckt: Ihr bestes Weekend. Wir wussten, dass wir damit den mürrischen Sprachpurismus, der damals in der kolumbianischen Presse vorherrschte, herausforderten, aber ich wollte etwas mit dem Motto ausdrücken, für das es im Spanischen kein ähnlich getöntes Äquivalent gab. Auf dem Titelblatt prangte Heleno de Freitas in einer Tuschzeichnung von Orlando Melo, dem einzigen Porträtisten unter unseren drei Zeichnern.

Trotz der Hast in letzter Minute und der fehlenden Werbung war die erste Ausgabe bereits vollständig verkauft, als die Redaktion am nächsten Tag - es war Sonntag, der 30. April -geschlossen im städtischen Stadion auftauchte, wo das berühmte Lokalderby zwischen Deportivo Junior und dem Sporting Club ausgetragen wurde. Schon allein der Name von Heleno und die hervorragende Reportage von Germán Vargas nährten das Missverständnis, dass Crónica die in Kolumbien lang erwartete große Spottzeitschrift war.

Das Stadion war völlig ausverkauft. In der sechsten Minute der ersten Halbzeit schoss Heleno de Freitas aus dem Mittelfeld mit links sein erstes Tor in Kolumbien. Obwohl am Ende Sporting drei zu zwei siegte, gehörte der Abend Heleno, und damit uns und unserem hellsichtigen Titelblatt. Dennoch war keine menschliche oder himmlische Macht dazu im Stande, dem Publikum begreiflich zu machen, dass Crónica keine Sportzeitschrift, sondern ein wöchentliches Kulturmagazin war, das dennoch Heleno de Freitas als großes Ereignis des Jahres würdigte.

Es war keine Zufallsarbeit von Anfängern. Drei von uns, darunter natürlich Germán Vargas, pflegten in ihren allgemeinen Kolumnen Fußballthemen zu behandeln. Alfonso Fuenmayor war als Aficionado stets verlässlich informiert, und Álvaro Cepeda hatte jahrelang als Kolumbien-Korrespondent der Sporting News von Saint Louis, Missouri, gearbeitet. Doch die Leser, die wir uns wünschten, warteten nicht mit offenen Armen auf die nächsten Nummern, und die Fanatiker der Fußballstadien ließen uns unbarmherzig fallen.

Wir versuchten, das Leck zu stopfen, und der Redaktionsrat beschloss, ich solle die zentrale Reportage über Sebastian Berascochea, einen anderen uruguayischen Star des Deportivo Junior, schreiben, in der Hoffnung, Fußball und Literatur miteinander zu versöhnen, wie ich es schon so oft in meiner täglichen Kolumne mit anderen okkulten Wissenschaften versucht hatte. Das Ballfieber, mit dem mich Luis Carmelo Correa auf den Äckern von Cataca angesteckt hatte, war fast auf null gesunken. Außerdem gehörte ich zu den vorzeitigen Fanatikern des karibischen Baseballs - des Pelotaspiels, wie wir es in der einheimischen Sprache nannten. Dennoch nahm ich die Herausforderung an.

Mein Modell war natürlich die Reportage von Germán Vargas. Ich rüstete mich noch mit anderen Beispielen auf und fühlte mich nach einem langen Gespräch mit Berascochea erleichtert, der ein intelligenter, freundlicher Mann war und eine genaue Vorstellung davon hatte, was für ein Bild er vor seinem Publikum abgeben wollte. Ich habe ihn als vorbildlichen Basken identifiziert und beschrieben, ging dabei von seinem Nachnamen aus, ohne mich mit der Kleinigkeit aufzuhalten, dass er tiefschwarz und von bester afrikanischer Herkunft war. Das war der größte Fehlstoß meines Lebens, und er kam für die Zeitschrift im ungünstigsten Moment. Ein Leserbrief, der mich als einen Sportjournalisten beschrieb, der einen Ball nicht von einer Trambahn unterscheiden könne, sprach mir aus dem Herzen. Selbst Germán Vargas, immer sehr sorgfältig mit seinen Urteilen, bestätigte Jahre später in einem Erinnerungsband, dass die Reportage über Berascochea das Schlechteste war, was ich je geschrieben hatte. Ich glaube, er übertrieb, aber nicht allzu sehr, denn keiner beherrschte das Handwerk wie er; seine Chroniken und Reportagen waren in einem so flüssigen Ton geschrieben, dass er sie dem Setzer laut erzählend diktiert zu haben schien.

Wir gaben weder Fußball noch Baseball auf, da beide an der Karibikküste populär waren, brachten aber verstärkt aktuelle Themen und literarische Neuigkeiten. Alles war nutzlos: Es gelang uns nicht, das Missverständnis auszuräumen, dass Crónica ein Sportblatt sei, während die Fanatiker der Stadien ihren Irrtum eingesehen und uns unserem Schicksal überlassen hatten. Wir machten die Zeitschrift jedenfalls weiter so, wie wir es uns vorgenommen hatten, obwohl sie von der dritten Woche an im Fegefeuer ihrer Unentschiedenheit schmorte.

Das hat mich nicht zurückgeworfen. Die Reise mit meiner Mutter nach Cataca, das historische Gespräch mit Don Ramón Vinyes und meine innige Verbundenheit mit der Gruppe von Barranquilla hatten mir neuen Mut gegegeben, der für immer anhalten sollte. Von da an habe ich jeden Centavo mit der Schreibmaschine verdient, und das halte ich für verdienstvoller, als es erscheinen mag, da ich die ersten Autorenhonorare, die mir erlaubten, von meinen Erzählungen und Romanen auch zu leben, mit über vierzig kassiert habe, zu einem Zeitpunkt, als ich bereits vier Bücher für ein verschwindend kleines Entgelt veröffentlicht hatte. Davor war mein Leben ständig von einem Gewirr aus Listen, Ausweichmanövern und Illusionen bestimmt gewesen, mit denen ich mich vor den unzähligen Verlockungen schützte, etwas anderes zu werden als Schriftsteller.