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Meine Mutter bat mich, sie zum Verkauf des Hauses zu begleiten. Sie war morgens in Barranquilla eingetroffen, kam aus dem fernen Städtchen, in dem die Familie wohnte, und hatte keine Ahnung, wie sie mich finden sollte. Sie fragte hier und dort bei Bekannten nach, und man gab ihr den Hinweis, in der Buchhandlung Mundo oder in den Cafés der Umgebung zu suchen, wo ich mich zweimal täglich mit meinen Schriftstellerfreunden zu treffen pflegte. Der das sagte, warnte sie: »Nehmen Sie sich in Acht, die sind völlig durchgedreht.« Punkt zwölf war sie da. Mit ihrem leichtfüßigen Schritt bahnte sie sich den Weg durch die Büchertische, stand vor mir, schaute mir mit dem schalkhaften Lächeln ihrer besten Tage in die Augen und sagte, noch bevor ich reagieren konnte:

»Ich bin deine Mutter.«

Etwas an ihr hatte sich verändert, was mir nicht erlaubte, sie auf den ersten Blick zu erkennen. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Zählt man die elf Geburten zusammen, war sie fast zehn Jahre lang schwanger gewesen und hatte mindestens noch einmal so lang ihre Kinder gestillt. Sie war vor der Zeit vollständig ergraut, die Augen wirkten größer und erstaunt hinter ihrer ersten Bifokalbrille, und sie trug strenge Trauer wegen des Todes ihrer Mutter, hatte jedoch die römische Schönheit ihres Hochzeitsfotos bewahrt, die eine herbstliche Aura nun mit Würde umgab. Zuallererst, noch bevor sie mich umarmte, sagte sie in ihrer gewohnt zeremoniösen Art:

»Ich bin gekommen, weil ich dich um den Gefallen bitten möchte, mich zum Verkauf des Hauses zu begleiten.«

Sie musste nicht sagen, wohin, noch um welches Haus es sich handelte, denn für uns gab es nur eins auf der Welt: das alte Haus der Großeltern in Aracataca, in dem geboren zu werden ich das Glück hatte und in dem ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr gewohnt habe. Ich hatte gerade die juristische Fakultät nach sechs Semestern verlassen, die ich vor allem dazu genutzt hatte,

alles, was mir in die Hände kam, zu lesen und die unvergleichliche Poesie des spanischen Siglo de Oro auswendig zu rezitieren. Ich hatte damals bereits alle Bücher in Übersetzung ausgeliehen und gelesen, die genügt hätten, um die Technik des Romanschreibens zu erlernen, und hatte in Zeitungsbeilagen sechs Erzählungen veröffentlicht, die meine Freunde begeisterten und ein paar Kritiker aufmerken ließen. Im nächsten Monat sollte ich dreiundzwanzig werden, hatte gegen die Wehrpflicht verstoßen, war bereits Veteran zweier Gonorrhöen und rauchte ohne böse Vorahnungen täglich sechzig Zigaretten üblen Tabaks. Meine Freizeit teilte ich zwischen Barranquilla und Cartagena de Indias an der kolumbianischen Karibikküste auf, schlug mich mit dem durch, was man mir bei El Heraldo für meine täglichen Beiträge zahlte, also mit so gut wie nichts, und schlief, möglichst in angenehmer Begleitung, dort, wo mich die Nacht überraschte. Als sei es mit meinen Ungewissen Bestrebungen und dem chaotischen Lebenswandel noch nicht genug, wollten wir, eine Gruppe unzertrennlicher Freunde, gerade ohne Geld eine waghalsige Zeitschrift herausbringen, die Alfonso Fuenmayor schon seit drei Jahren plante. Was mehr konnte ich wünschen?

Eher aus Not denn aus Überzeugung eilte ich der Mode um zwanzig Jahre voraus: wild wuchernder Schnurrbart, aufgewühlte Mähne, fragwürdig geblümte Hemden zu Jeans und Jesuslatschen. In der Dunkelheit eines Kinos sagte eine damalige Freundin, nicht wissend, dass ich in der Nähe saß, zu jemandem: »Der arme Gabito ist ein aussichtsloser Fall.« Als meine Mutter mich also fragte, ob ich sie begleitete, um das Haus zu verkaufen, stand einem Ja nichts im Wege. Sie gab zu bedenken, dass sie nicht genug Geld habe, und aus Stolz sagte ich, dass ich für meine Kosten selbst aufkäme.

Doch bei der Zeitung, für die ich arbeitete, war das Geldproblem nicht zu lösen. Sie zahlten mir drei Pesos für die tägliche Glosse und vier für einen Meinungsbeitrag, wenn einer der zuständigen Redakteure fehlte, doch das reichte kaum. Ich versuchte es mit einem Vorschuss, aber der Geschäftsführer erinnerte mich daran, dass ich bereits mit über fünfzig Pesos in der Kreide stand. An jenem Abend wagte ich einen Vorstoß, zu dem keiner meiner Freunde fähig gewesen wäre. Aus dem Café Colombia kommend, gleich neben dem Buchladen, holte ich den alten katalanischen Lehrer und Buchhändler Don Ramon Vinyes ein und bat ihn, mir zehn Pesos zu leihen. Er hatte nur sechs.

Natürlich konnten weder meine Mutter noch ich damals ahnen, wie bestimmend dieser harmlose zweitägige Ausflug für mich sein sollte, so dass auch das längste und arbeitsamste Leben nicht ausreichen würde, erschöpfend davon zu erzählen. Jetzt, mit mehr als fünfundsiebzig wohlbemessenen Jahren, weiß ich, dass die Entscheidung zu dieser Reise die wichtigste war, die ich in meiner Laufbahn als Schriftsteller zu treffen hatte. Das heißt: in meinem ganzen Leben.

Bis in die Adoleszenz hinein interessiert sich das Gedächtnis mehr für die Zukunft als für die Vergangenheit, daher waren meine Erinnerungen an Aracataca noch nicht durch Nostalgie verklärt. Ich erinnerte mich so daran, wie es gewesen war: ein Ort, in dem es sich gut leben ließ, wo jeder jeden kannte, am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahinschoss durch ein Bett mit polierten Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Gegen Abend, besonders im Dezember, wenn der Regen vorüber war und die Luft sich in Diamant verwandelte, schien die Sierra Nevada de Santa Marta mit ihren weißen Bergspitzen bis an die Bananenplantagen am anderen Ufer heranzurücken. Von hier aus konnte man die Arhuaco-Indios wie Ameisen in Reihen über die Bergpfade der Sierra eilen sehen, sie hatten Ingwersäcke auf dem Buckel und kauten Cocakugeln, um das Leben abzulenken. Wir Kinder träumten damals davon, aus dem ewigen Weiß Schneebälle zu formen und damit in den glutheißen Straßen Schlachten auszutragen. Die Hitze war so unglaublich, vor allem in der Siestazeit, dass die Erwachsenen darüber Wagten, als handele es sich um eine täglich neue Überraschung. Ich habe von meiner Geburt an ständig wiederholen gehört, dass die Eisenbahnstrecke und die Lager der United Fruit Company nachts gebaut werden mußten , weil es unmöglich gewesen sei, tagsüber das sonnenheiße Werkzeug anzufassen.

Die einzige Möglichkeit, von Barranquilla nach Aracataca zu gelangen, war ein klappriges Motorschiff, das auf einem in der Kolonialzeit von Sklavenhand ausgehobenen Kanal fuhr, dann durch ein weites, sumpfiges Gewässer, trüb und trostlos, bis zur rätselhaften Ortschaft Ciénaga. Dort bestieg man einen Bummelzug, der ursprünglich der beste des Landes gewesen war, und fuhr, mit vielen müßigen Unterbrechungen in staubglühenden Dörfern und an einsamen Bahnhöfen, die letzte Strecke durch unermessliche Bananenplantagen. Auf diesen Weg machten meine Mutter und ich uns am Samstag, dem 18. Februar 1950 um sieben Uhr abends - es war der Vorabend des Karnevals -, unter einem sintflutartigen Platzregen außerhalb der Zeit und mit einer Barschaft von zweiunddreißig Pesos, die knapp für die Rückfahrt reichen würden, falls das Haus sich nicht zu den erwarteten Konditionen verkaufen ließ.

Die Passatwinde wehten an jenem Abend so heftig, dass es schwierig war, meine Mutter am Flusshafen dazu zu überreden, an Bord zu gehen. Sie hatte gute Gründe. Die Schiffe waren verkleinerte Versionen der Flussdampfer von New Orleans, hatten aber Benzinmotore, die alles an Bord in ein böses, fiebriges Zittern versetzten. Es gab einen kleinen Salon mit Pfosten, an denen man auf verschiedenen Ebenen Hängematten befestigen konnte, und mit Holzbänken, auf denen jeder unter Einsatz der Ellenbogen einen Platz zu ergattern suchte, für sich und das übermäßige Gepäck, Säcke mit Waren oder Körbe mit Hühnern oder sogar mit lebenden Schweinen. Es gab ein paar stickige Kabinen mit jeweils zwei Feldbetten, fast immer von armseligen Hürchen belegt, die während der Fahrt Notdienste erwiesen. Da wir spät dran waren und keine Kabine mehr frei fanden, auch keine Hängematten dabeihatten, besetzten meine Mutter und ich überfallartig zwei Eisenstühle im Mittelgang und richteten uns dort für die Nacht ein.

So wie meine Mutter es befürchtet hatte, beutelte der Sturm das wagemutige Schiff, als wir den Magdalena überquerten, der, so kurz vor der Mündung, das Temperament eines Ozeans hat. Ich hatte mich am Hafen reichlich mit den billigsten Zigaretten eingedeckt, schwarzer Tabak und ein Papier, das schon fast an Lumpen erinnerte, und begann nach meiner damaligen Art zu rauchen, ich zündete eine Zigarette am Stummel der letzten an, während ich wieder einmal Licht im August von William Faulkner las, der damals der treueste meiner Schutzdämonen war. Meine Mutter klammerte sich an ihren Rosenkranz wie an eine Handwinde, die einen festgefahrenen Traktor aus dem Schlamm hätte ziehen oder ein Flugzeug in der Luft halten können, und, wie gewöhnlich, erflehte sie nichts für sich selbst, sondern Glück und ein langes Leben für ihre elf Waisenkinder. Ihr Gebet muss erhört worden sein, denn der Regen wurde sanfter, als wir in den Kanal einfuhren, und die Brise wehte so leicht, dass sie gerade einmal die Moskitos aufscheuchte. Daraufhin steckte meine Mutter den Rosenkranz ein und beobachtete eine ganze Weile lang schweigend das tosende Leben um uns herum.

Sie war in einem bescheidenen Haus geboren worden, wuchs aber in der flüchtigen Herrlichkeit des Bananenbooms auf, wodurch ihr immerhin die gute Erziehung einer höheren Tochter am Colegio de la Presentacion de la Santísima Virgen in Santa Marta blieb. In den Weihnachtsferien stichelte sie damals mit ihren Freundinnen am Stickrahmen, spielte Klavichord auf Wohltätigkeitsbasaren und besuchte mit einer Tante als Anstandsdame die höchst sittsamen Tanzfeste der gottesfürchtigen lokalen Aristokratie, doch von irgendeinem Verehrer hatte noch niemand gehört, als sie gegen den Willen der Eltern den Telegrafisten des Ortes heiratete. Ihre offenkundigsten Tugenden waren seit jener Zeit ihr Sinn für Humor und ihre eiserne Gesundheit, denen auch die Ränke des Schicksals in ihrem langen Leben nichts anhaben konnten. Ihre erstaunlichste, gleichwohl am wenigsten auffällige Eigenschaft war aber die besondere Gabe, über ihre ungeheuerliche Willensstärke hinwegzutäuschen: ein perfekter Löwe. Das hatte ihr erlaubt, eine matriarchalische Herrschaft zu errichten, die sich bis auf weit entfernte Verwandte an ungeahnten Orten erstreckte, so etwas wie ein Planetensystem, über das sie von ihrer Küche aus regierte, mit leiser Stimme und ruhigem Blick, indes sie den Bohneneintopf kochte.

Ich sah, wie sie ungerührt diese brutale Reise über sich ergehen ließ, und fragte mich, wie es ihr möglich gewesen war, derart schnell und mit so viel Haltung die Prüfungen der Armut zu bestehen. Nichts war so geeignet wie diese böse Nacht, um sie auf die Probe zu stellen. Die blutgierigen Moskitos, die Hitze, schwer und übel riechend vom Schlamm der Kanäle, den das Boot auf seiner Fahrt aufwirbelte, das Gewühl der schlaflosen Passagiere, denen es in ihrer Haut nicht wohl war, alles schien aufgeboten, um auch das abgehärtetste Gemüt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Meine Mutter ertrug es unbewegt auf ihrem Stuhl, während die mietbaren Mädchen, als Männer oder Spanierinnen verkleidet, in den nahen Kabinen die Ernte des Karnevals einfuhren. Eine von ihnen war mehrmals aus der Tür gleich neben dem Sitzplatz meiner Mutter herausgekommen und wieder dahinter verschwunden, immer mit einem anderen Kunden. Ich dachte, meine Mutter hätte sie nicht bemerkt. Doch beim vierten oder fünften Mal innerhalb einer knappen Stunde folgte ihr mitleidiger Blick dem Mädchen bis zum Ende des Ganges.

»Arme Mädels«, seufzte sie. »Was die zum Überleben machen müssen, ist schlimmer als arbeiten.«

So hielt sie sich bis Mitternacht, als ich, zu müde, um bei dem unerträglichen Beben des Schiffes und den geizigen Lichtern im Gang weiterzulesen, mich neben sie setzte und rauchend aus dem Treibsand von Yoknapatawpha County aufzutauchen versuchte. Ich war im vergangenen Jahr von der Universität mit der waghalsigen Hoffnung desertiert, vom Journalismus und der Literatur leben zu können, ohne beides erst erlernen zu müssen, und ermutigt von einem Satz, den ich bei Bernard Shaw gelesen zu haben glaube: »Schon als kleiner Junge musste ich meine Erziehung unterbrechen, um zur Schule zu gehen.« Ich fühlte mich nicht im Stande, darüber mit irgend jemandem zu diskutieren, weil ich, ohne es erklären zu können, spürte, dass meine Gründe nur für mich selbst gültig waren.

Der Versuch, meine Eltern, die so viele Hoffnungen in mich gesetzt und so viel Geld, das sie nicht besaßen, dafür ausgegeben hatten, von einem solchen Irrsinn zu überzeugen, war Zeitverschwendung. Besonders bei meinem Vater, der mir alles verziehen hätte, nur nicht, dass ich kein wie immer geartetes akademisches Diplom, das ihm versagt geblieben war, an die Wand hängen konnte. Der Kontakt brach ab. Fast ein Jahr war vergangen, und ich hatte noch immer vor, ihn zu besuchen, um ihm meine Gründe darzulegen, als meine Mutter auftauchte und mich bat, sie zum Hausverkauf zu begleiten. Sie erwähnte die Angelegenheit jedoch nicht, erst nach Mitternacht muss sie auf dem Schiff so etwas wie eine übernatürliche Offenbarung verspürt haben, dass nun endlich die günstige Gelegenheit gekommen war, mir das zu sagen, was zweifellos der tatsächliche Grund ihrer Reise war, und sie begann in der Art und dem Ton und mit den genau bemessenen Worten, die sicher in der Einsamkeit ihrer schlaflosen Nächte gereift waren, lange vor Antritt der Reise.

»Dein Papa ist sehr traurig«, sagte sie.

Da war sie also, die ach so gefürchtete Hölle. Meine Mutter begann wie immer dann, wenn man es überhaupt nicht erwartete, und in einem sedierenden Tonfall, den nichts aus der Ruhe bringen würde. Allein des Rituals wegen, denn die Antwort kannte ich nur zu gut, fragte ich:

»Und warum?«

»Weil du das Studium aufgegeben hast.«

»Ich habe es nicht aufgegeben, ich habe nur eine andere Laufbahn eingeschlagen«, sagte ich.

Der Gedanke an eine grundsätzliche Diskussion machte sie munter.

»Dein Papa sagt, das ist dasselbe«, sagte sie.

Ich wusste, dass der Vergleich hinkte, sagte aber:

»Auch er hat aufgehört zu studieren, um Geige zu spielen.«

»Das ist nicht das Gleiche«, erwiderte sie lebhaft. »Die Geige spielte er nur auf Festen oder bei Ständchen. Das Studium hat er abgebrochen, weil er nicht einmal genug Geld zum Essen hatte. Aber in einem knappen Monat hat er die Telegrafie erlernt, das war damals ein guter Beruf, besonders in Aracataca.«

»Ich lebe auch vom Schreiben für Zeitungen«, sagte ich.

»Das sagst du, damit ich mich nicht gräme«, sagte sie. »Aber in welch schlechter Lage du bist, sieht man dir schon von weitem an. In der Buchhandlung habe ich dich nicht einmal erkannt.«

»Ich habe dich auch nicht erkannt«, sagte ich.

»Aber aus einem anderen Grund. Ich dachte, du wärst ein Bettler.« Sie schaute auf meine ausgetretenen Sandalen und fügte hinzu: »Und keine Strümpfe.«

»Das ist bequemer«, sagte ich. »Zwei Hemden und zwei Unterhosen, eine auf dem Leib, die andere auf der Leine. Was braucht man mehr?«

»Ein kleines bisschen Würde«, sagte sie, milderte das aber sogleich durch einen anderen Ton ab: »Ich sag es nur, weil wir dich so lieben.«

»Das weiß ich«, sagte ich. »Aber sag doch mal, würdest du an meiner Stelle nicht das Gleiche tun?«

»Das würde ich nicht«, sagte sie, »nicht, wenn ich damit meine Eltern verärgern würde.«

Ich dachte daran, mit welcher Zähigkeit sie den Widerstand der Familie gegen ihre Heirat gebrochen hatte, und lachte:

»Wag es, mir in die Augen zu sehen.«

Sie blieb ernst und wich mir aus, weil sie nur zu gut wusste, was ich dachte.

»Ich habe nicht geheiratet, solange ich nicht den Segen meiner Eltern hatte«, sagte sie. »Ich habe ihn erzwungen, das stimmt, aber ich hatte ihn.«

Sie unterbrach das Gespräch, nicht weil meine Argumente sie geschlagen hätten, sondern weil sie auf die Toilette wollte und deren hygienischem Zustand misstraute. Ich fragte den Bootsmann, ob es nicht vielleicht einen gesünderen Ort gäbe, er erklärte jedoch, dass auch er den allgemeinen Abort benutze, und schloss, als habe er gerade Conrad gelesen: »Auf dem Meer sind wir alle gleich.« Also unterwarf sich meine Mutter dem allgemeinen Gesetz. Als sie wieder herauskam, konnte sie, anders als ich befürchtet hatte, das Lachen kaum unterdrücken:

»Stell dir nur vor, was sich dein Papa denkt, wenn ich mit einer Geschlechtskrankheit zurückkomme.«

Nach Mitternacht lagen wir drei Stunden fest, weil die im Kanal klumpenden Seeanemonen sich in der Schiffsschraube verfangen hatten und wir in einem Mangrovengestrüpp aufgelaufen waren, so dass viele Passagiere das Schiff vom Ufer aus an Hängematteleinen freizerren mussten. Hitze und Stechmücken wurden unerträglich, aber meine Mutter rettete sich mit kleinen Schläfchen darüber hinweg, in die sie ebenso plötzlich versank, wie sie daraus wieder erwachte, und die in der Familie berühmt waren, da sie meiner Mutter erlaubten auszuruhen, ohne den Faden des Gesprächs zu verlieren. Als das Schiff Fahrt aufnahm und eine frische Brise hereinwehte, war sie wieder hellwach.

»Wie auch immer«, seufzte sie, »irgendeine Antwort muss ich deinem Papa bringen.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte auch ich voller Unschuld. »Ich komme im Dezember und werde ihm dann alles erklären.«

»Bis dahin sind es noch zehn Monate«, sagte sie.

»An der Universität kann man in diesem Jahr sowieso nichts mehr regeln«, meinte ich.

»Versprichst du, wirklich zu kommen?«

»Ich verspreche es«, sagte ich. Und nahm zum ersten Mal eine gewisse Unruhe in ihrer Stimme wahr:

»Kann ich deinem Papa sagen, dass du dich in seinem Sinne entscheiden wirst?«

»Nein«, erwiderte ich schroff. »Das nicht.«

Offensichtlich suchte sie einen anderen Ausweg. Aber ich ermöglichte ihr keinen.

»Dann ist es besser, dass ich ihm gleich die ganze Wahrheit sage. Damit es nicht nach Täuschung aussieht.«

»Gut«, sagte ich erleichtert. »Sag ihm die Wahrheit.«

So verblieben wir, und wer meine Mutter nicht gut kannte, hätte meinen können, damit sei nun alles beendet, ich aber wusste, dass es sich nur um eine Pause handelte, um wieder Atem zu schöpfen. Kurz darauf schlief sie fest. Eine leichte Brise verscheuchte die Stechmücken und erfüllte die neue Luft mit Blumenduft. Das Schiff fuhr anmutig wie unter Segeln dahin.

Wir waren auf der Ciénaga Grande, einem weiteren Mythos meiner Kindheit. Ich hatte sie mehrmals befahren, wenn mein Großvater, Oberst Nicolás Ricardo Márquez Mejía, den nur wir Enkel Papalelo nannten, mich von Aracataca nach Barranquilla brachte, um meine Eltern zu besuchen. »Vor der Ciénaga muss man keine Angst haben, wohl aber Respekt«, hatte er mir gesagt, als er von den unvorhersehbaren Launen des Gewässers sprach, das sich wie ein Teich, aber auch wie ein nicht bezähmbarer Ozean gebärden konnte. In der Regenzeit war die Lagune den Stürmen von der Sierra ausgesetzt. Von Dezember bis April, wenn das Wetter eigentlich zahm sein sollte, fielen die Passatwinde aus dem Norden so heftig über die Ciénaga her, dass jede Nacht zum Abenteuer wurde. Meine Großmutter mütterlicherseits, Tranquilina Iguarán, genannt Mina, wagte die Überfahrt nur in Notfällen, nachdem sie eine Fahrt des Grauens erlebt hatte, bei der man bis Tagesanbruch in der Mündung des Riofrío hatte Schutz suchen müssen.

In dieser Nacht war die Ciénaga Grande zum Glück ein ruhiges Gewässer. Von den Bugfenstern aus, wo ich vor Morgengrauen ein wenig Luft schnappte, sah man die Lichter der Fischerboote wie Sterne im Wasser schweben. Es waren unzählige, und die unsichtbaren Fischer unterhielten sich wie bei einem Treffen, da ihre Stimmen auf der Ciénaga gespenstisch weit trugen. Auf das Geländer gestützt, versuchte ich die Konturen der Sierra zu erspähen, und plötzlich überraschte mich der erste Prankenschlag der Nostalgie.

An einem anderen frühen Morgen wie diesem hatte mich Papalelo, als wir die Ciénaga überquerten, schlafend in der Kabine zurückgelassen und war in die Bar gegangen. Ich weiß nicht, wie spät es gewesen sein mag, als aufgeregter Lärm von vielen Menschen das Surren des rostigen Ventilators und das Klappern der Bleche in der Kabine übertönte und mich weckte. Ich war kaum älter als fünf und sehr erschrocken, da aber schnell wieder Ruhe eintrat, dachte ich, es sei vielleicht nur ein Traum gewesen. Gegen Morgen, schon am Anlegeplatz in Ciénaga, rasierte sich mein Großvater mit dem Messer bei offener Tür vor dem Spiegel, der am Türrahmen hing. Eine genaue Erinnerung: Er hatte das Hemd noch nicht angezogen, aber seine ewigen Hosenträger, breit und grün gestreift, spannten sich über dem Unterhemd. Während er sich rasierte, unterhielt er sich mit einem Mann, den ich noch heute auf den ersten Blick wiedererkennen würde. Er hatte das unverwechselbare Profil eines Raben, eine Seemannstätowierung auf der rechten Hand und trug um den Hals mehrere schwere Goldketten, dazu, ebenfalls aus Gold, Armbänder und Reifen an beiden Handgelenken. Ich hatte mich gerade angekleidet und zog mir auf dem Bett sitzend die Schnürstiefel an, als der Mann zu meinem Großvater sagte:

»Kein Zweifel, Oberst, die wollten Sie ins Wasser werfen.«

Mein Großvater lächelte, ohne mit dem Rasieren aufzuhören, und erwiderte auf seine hochfahrende Art:

»Sie waren gut beraten, das nicht zu wagen.«

Erst da begriff ich den Tumult der vergangenen Nacht und war sehr beunruhigt bei dem Gedanken, dass jemand den Großvater in die Lagune hätte werfen können.

Die Erinnerung an diesen nie aufgeklärten Vorfall überfiel mich an jenem Morgen, als ich mit meiner Mutter unterwegs war, das Haus zu verkaufen, und den Schnee der Sierra betrachtete, der sich im ersten Sonnenlicht blau abzeichnete. Die Verzögerung in den Kanälen erlaubte uns, bei Tageslicht die leuchtende Sandbarriere zu sehen, die notdürftig das Meer von der Lagune trennte; dort gab es Fischerdörfer und Netze, die zum Trocknen am Strand ausgelegt waren, und verwahrloste, magere Kinder, die mit Lumpenbällen Fußball spielten. Es war beklemmend, auf den Straßen viele Männer mit versehrten Armen zu sehen, Fischer, die nicht rechtzeitig die Dynamitstäbe geworfen hatten. Als das Schiff vorüberfuhr, sprangen die Kinder ins Wasser und tauchten nach den Münzen, die ihnen die Passagiere zuwarfen.

Es war kurz vor sieben, als wir in einem übel riechenden Sumpf nah der Ortschaft Ciénaga ankerten. Trupps von Lastenträgern, bis zu den Knien im Schlamm, nahmen uns in die Arme und trugen uns inmitten eines Wirbels von Hühnergeiern, die sich die Abfälle im Morast streitig machten, platschend an Land. Wir frühstückten gemächlich am Hafen, aßen die köstlichen Ciénaga-Fische mit gebratenen Bananenscheiben, als meine Mutter in ihrem Privatkrieg wieder in die Offensive ging.

»Dann sag mir ein für alle Mal«, sagte sie, ohne den Blick zu heben, »was soll ich deinem Papa sagen?«

Ich versuchte, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Über was?«

»Über das Einzige, was ihn interessiert«, sagte sie etwas irritiert, »über dein Studium.«

Ich hatte das Glück, dass ein aufdringlicher Gast, der sich über die Heftigkeit des Gesprächs wunderte, meine Gründe wissen wollte. Die sofortige Antwort meiner Mutter schüchterte mich nicht nur ein wenig ein, sondern überraschte mich auch bei ihr, die so eifersüchtig über ihr Privatleben wachte.

»Er will Schriftsteller werden«, sagte sie.

»Ein guter Schriftsteller kann gutes Geld verdienen«, erwiderte der Mann ernsthaft. »Besonders wenn er für die Regierung arbeitet.«

Ich weiß nicht, ob meine Mutter aus Diskretion oder aus Angst vor den Argumenten des unverhofften Gesprächspartners das Thema fallen ließ, jedenfalls beklagten schließlich beide einmütig die Unsicherheiten bei meiner Generation und teilten Erinnerungen an bessere Zeiten. Als sie am Ende nach gemeinsamen Bekannten suchten, entdeckten sie, dass wir sowohl von Seiten der Cotes als auch der Iguaráns miteinander verwandt waren. In jener Zeit widerfuhr uns das fast bei jedem Zweiten, den wir an der Karibikküste trafen, doch meine Mutter feierte es stets als unerhörtes Ereignis.

Zur Bahnstation fuhren wir in einer einspännigen Viktoria, vielleicht dem letzten Exemplar einer legendären Spezies, die im Rest der Welt schon ausgestorben war. Meine Mutter blickte gedankenversunken auf die unfruchtbare, vom Salpeter verbrannte Ebene, die hinter dem morastigen Hafen begann und in den Horizont überging. Für mich war das ein historischer Ort: Eines Tages, ich war wohl drei oder vier Jahre alt, hatte mich mein Großvater an der Hand durch diese glühende Ödnis geführt; er lief schnell und sagte mir nicht warum, und plötzlich standen wir vor einer weiten Fläche grünen Wassers mit Schaumrülpsern, auf der eine ganze Gesellschaft von ertrunkenen Hühnern trieb.

»Das ist das Meer«, sagte er.

Enttäuscht fragte ich ihn, was es am anderen Ufer gebe, worauf er ohne jeden Zweifel antwortete:

»Auf der anderen Seite gibt es kein Ufer.«

Heute, nachdem ich so viele Meere vorwärts und rückwärts gesehen habe, denke ich immer noch, dass dies eine seiner großen Antworten war. Jedenfalls entsprach keines der Bilder, die ich mir zuvor gemacht hatte, diesem schäbigen Ozean, an dessen steinigem Strand man wegen all der verfaulten Mangrovenzweige und Muschelsplitter nicht laufen konnte. Es war grauenvoll.

Meine Mutter musste über das Meer von Ciénaga ähnlich denken, denn sobald sie es links von der Kutsche auftauchen sah, seufzte sie:

»Kein Meer ist wie das von Riohacha!«

Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihr von meiner Erinnerung an die ertrunkenen Hühner, und, wie allen Erwachsenen, schien auch ihr das eine Kindheitsphantasie. Sie betrachtete jeden Platz, an dem wir vorbeikamen, und an ihrem unterschiedlichen Schweigen erkannte ich, was sie über jeden einzelnen dachte. Wir fuhren am Rotlichtviertel vorbei, das jenseits der Bahnstrecke liegt, bunte Häuschen mit verrosteten Dächern und den alten Papageien von Paramaribo, die von ihren an den Vordächern hängenden Reifen aus die Kunden auf Portugiesisch ankrächzten. Wir fuhren an der Tränke der Lokomotiven vorbei, dem riesigen Eisengewölbe, in dem Zugvögel und verirrte Möwen zum Schlafen Schutz suchten. Wir fuhren am Rand der Stadt entlang, ohne uns hineinzubegeben, sahen aber die breiten, verlassenen Straßen und die Häuser aus der alten Glanzzeit, sie waren einstöckig, mit bis zum Boden reichenden Fenstern, aus denen von frühmorgens an pausenlos die immer gleichen Klavierübungen ertönten. Plötzlich zeigte meine Mutter mit dem Finger auf etwas.

»Schau«, sagte sie, »dort ist die Welt untergegangen.«

Ich folgte ihrem Zeigefinger und sah den Bahnhof: ein Gebäude aus schartigem Holz, mit Satteldächern aus Zink und umlaufenden Baikonen, und davor eine leere, kleine Plaza, auf der allenfalls zweihundert Personen Platz gefunden hätten. Dort hatte, wie meine Mutter an jenem Tag präzisierte, das Heer 1928 eine nie geklärte Zahl von Tagelöhnern der Bananengesellschaft erschossen.

Ich kannte diese Episode, als hätte ich sie selbst erlebt, da ich sie, seitdem ich mich erinnern konnte, tausendmal von meinem Großvater erzählt bekommen hatte: Der Offizier liest das Dekret vor, in dem die streikenden Landarbeiter zu einer Horde von Übeltätern erklärt werden; dreitausend Männer, Frauen und Kinder regungslos unter der barbarischen Sonne, nachdem der Offizier ihnen eine Frist von fünf Minuten gegeben hat, um den Platz zu räumen; der Feuerbefehl, das Geknatter der Salven, weißglühendes Spucken, die Menschenmenge in Panik zusammengepfercht, während man sie Zug um Zug mit der methodischen und unersättlichen Sense der Maschinengewehre niedermäht.

Die Bahn erreichte Ciénaga um neun Uhr morgens, sammelte die Passagiere der Schiffe ein und jene, die aus der Sierra kamen, und fuhr eine viertel Stunde später in das Innere der Bananenregion weiter. Meine Mutter und ich kamen nach acht am Bahnhof an, der Zug hatte jedoch Verspätung. Dennoch waren wir die einzigen Passagiere. Sie bemerkte es, als sie in den leeren Waggon stieg, und rief fröhlich aus:

»Was für ein Luxus! Wir haben den ganzen Zug für uns!«

Ich habe mir immer gedacht, der Jubel sei vorgetäuscht gewesen und habe ihre Ernüchterung überspielen sollen, denn schon am Zustand der Waggons ließen sich die Verheerungen der Zeit auf den ersten Blick erkennen. Es waren die alten Wagen der zweiten Klasse, doch nun ohne Sitze aus Strohgeflecht, ohne die Fenster, die man hoch- und hinunterschieben konnte, jetzt gab es nur Holzbänke, die von den warmen, flachen Gesäßen der Armen gegerbt waren. Verglichen mit früheren Zeiten, war nicht nur der Waggon, sondern der ganze Zug ein Gespenst seiner selbst. Einst hatte er drei Klassen gehabt. Die dritte Klasse, in der die Ärmsten reisten, bestand aus den gleichen Bretterwagen, in denen die Bananen oder das Schlachtvieh transportiert wurde, und war für die Passagiere mit langen Längsbänken aus rohem Holz ausgestattet. In der zweiten Klasse gab es strohgeflochtene Sitze mit Messingrahmen. Die erste Klasse, in der die Regierungsbeamten und hohe Angestellte der Bananengesellschaft reisten, hatte Läufer in den Gängen und mit rotem Samt bezogene Sessel, bei denen man die Position der Rücklehnen verstellen konnte. Wenn der Beauftragte der Gesellschaft oder seine Familie oder vornehme Gäste auf die Reise gingen, hängte man ans Ende des Zuges einen Luxuswaggon mit getönten Scheiben und vergoldeten Gesimsen und einer offenen Plattform mit Tischchen, auf der man während der Fahrt Tee trinken konnte. Ich kenne keinen Sterblichen, der diese phantastische Karosse je von innen gesehen hat. Mein Großvater war zweimal Bürgermeister, hatte im Übrigen ein lockeres Verhältnis zum Geld, zweiter Klasse reiste er aber nur, wenn eine Frau der Familie dabei war. Und wenn er gefragt wurde, warum er selbst dritter Klasse fahre, antwortete er: »Weil es keine vierte gibt.« Am erinnerungswürdigsten war jedoch die Pünktlichkeit. Die Uhren der Ortschaften wurden nach der Einfahrt des Zuges gestellt.

An jenem Tag fuhr er aus diesem oder jenem Grund mit anderthalb Stunden Verspätung ab. Als er sich sehr langsam und mit einem kläglichen Quietschen in Gang setzte, bekreuzigte sich meine Mutter, kehrte aber sogleich in die Wirklichkeit zurück.

»Dieser Zug braucht Öl für die Federung«, sagte sie.

Wir waren die einzigen Passagiere, womöglich im ganzen Zug, und bis zu diesem Zeitpunkt hatte nichts wirklich mein Interesse geweckt. Unablässig rauchend tauchte ich in die Schwüle von Licht im August ein, schaute nur gelegentlich kurz auf, um zu sehen, welche Orte wir hinter uns ließen.

Mit anhaltendem Pfeifen durchquerte der Zug das Sumpfgebiet und raste mit voller Geschwindigkeit in eine erbebende Schlucht aus roten Felsen, in der das Donnern der Waggons unerträglich wurde. Doch nach etwa fünfzehn Minuten drosselte er das Tempo und fuhr mit vorsichtigem Schnauben in das frische Dämmerlicht der Plantagen, die Zeit verdichtete sich, und die Meeresbrise war nicht mehr zu spüren. Ich musste die Lektüre nicht unterbrechen, um zu wissen, dass wir in das hermetische Reich der Bananenregion gelangt waren.

Die Welt veränderte sich. Rechts und links von den Gleisen gingen die endlosen symmetrischen Plantagenwege ab, auf denen Ochsenkarren, beladen mit grünen Bündeln, unterwegs waren. Plötzlich, auf überraschend unbepflanzten Flächen, tauchten Siedlungen aus rotem Ziegel auf, Büros mit Segeltuchmarkisen an den Fenstern und Ventilatoren an den Decken und ein einsames Hospital in einem Mohnfeld. Jeder Fluss hatte sein Dorf und seine Eisenbrücke, über die der Zug aufheulend fuhr, und die Mädchen, die im eiskalten Wasser badeten, sprangen wie die Maifische hoch, um mit flüchtig aufscheinenden Brüsten den Reisenden aus der Ruhe zu bringen.

In Riofrio stiegen mehrere schwer beladene Arhuaco-Familien zu, die Rucksäcke bis zum Rand gefüllt mit Avocados aus der Sierra, den schmackhaftesten des Landes. Sie hüpften durch den Waggon hin und her, auf der Suche nach Sitzplätzen, doch als der Zug wieder anfuhr, waren nur noch zwei weiße Frauen mit einem Neugeborenen und ein junger Priester übrig geblieben. Das Kind hörte die ganze Fahrt über nicht auf zu weinen. Der Priester trug Stiefel, einen Tropenhelm, eine Sutane aus grobem Leinen mit quadratischen Flicken, wie ein Schiffssegel, und redete, während das Kind schrie, und irnmrner so, als stehe er auf der Kanzel. Gegenstand seiner Predigt war die mögliche Rückkehr der Bananengesellschaft. Seitdem diese abgezogen war, sprach man in der Region von nichts anderem, und die Meinung war geteilt zwischen denen, die eine Rückkehr wünschten, und jenen, die sie nicht wünschten. Ale aber glaubten daran. Der Priester war dagegen und drückte es mit einem Urteil aus, das so persönlich war, dass es den Frauen unsinnig erschien:

»Die Gesellschaft hinterlässt überall den Ruin.«

Es war das einzig Originelle, was er sagte, aber er konnte es nicht erklären, und die Frau mit dem Kind verwirrte ihn mit dem Argument, dass Gott nicht mit ihm einverstanden sein könne.

Wie immer hatte die Nostalgie die schlechten Erinnerungen gelöscht und die guten verherrlicht. Niemand bleibt davon verschont. Vom Zugfenster aus sah man die Männer in ihren Haustüren sitzen, und es genügte, ihnen ins Gesicht zu blicken, um zu wissen, auf was sie warteten. Die Waschfrauen an den steinigen Stranden sahen dem Zug mit der gleichen Hoffnung nach. Jeder Fremde, der mit einem Aktenkoffer erschien, war für sie der Mann von der United Fruit Company, der kam, um die Vergangenheit wieder herzustellen. Bei jedem Treffen, jedem Besuch, jedem Brief tauchte früher oder später der unvermeidliche Satz auf: »Man sagt, die Gesellschaft kommt zurück.« Niemand wusste, wer das wann oder weshalb gesagt hatte, aber niemand zog es in Zweifel.

Meine Mutter glaubte, von alldem geheilt zu sein, da sie nach dem Tod ihrer Eltern jede Verbindung zu Aracataca abgebrochen hatte. Doch ihre Träume verrieten sie. Zumindest wenn sie etwas geträumt hatte, das ihr interessant genug erschien, um es beim Frühstück zu erzählen, hatte das immer etwas mit ihren wehmütigen Erinnerungen an die Bananenregion zu tun. Sie überstand die härtesten Zeiten, ohne das Haus zu verkaufen, weil sie hoffte, das Vierfache dafür zu bekommen, wenn die Gesellschaft zurückkehrte. Doch schließlich hatte der unerträgliche Druck der Realität meine Mutter besiegt. Als sie aber den Priester sagen hörte, die Rückkehr der Gesellschaft stehe unmittelbar bevor, machte sie eine trostlose Gebärde und flüsterte mir ins Ohr:

»Jammerschade, dass wir nicht noch ein bisschen warten können, um mehr Geld für das Haus zu bekommen.«

Während der Priester redete, fuhren wir an einem Ort vorbei, in dem sich unter drückender Sonne eine Menschenmenge auf der Plaza versammelt hatte und eine Kapelle muntere Militärmusik spielte. Für mich war immer ein Städtchen wie das andere gewesen. Wenn Papalelo mich in das gerade eröffnete Kino Olympia von Don Antonio Daconte mitnahm, fiel mir auf, dass die Bahnstationen in den Westernfilmen denen unseres Zuges ähnelten. Später, als ich Faulkner zu lesen begann, schienen mir auch die Städtchen seiner Romane genau wie die unseren zu sein. Und das war nicht weiter überraschend, denn auch diese waren in dem heilbringenden Geist der United Fruit Company erbaut worden und hatten den gleichen provisorischen Charakter von Feldlagern. Ich erinnerte mich an all diese Orte mit der Kirche an der Plaza und den kleinen Häuschen wie aus dem Märchenbuch, in den Grundfarben gestrichen. Ich erinnerte mich an die Trupps schwarzer Tagelöhner, die in der Abenddämmerung sangen, an die Schuppen der Fincas, vor die sich die Landarbeiter setzten, um die Frachtzüge vorbeifahren zu sehen, an die Wege zwischen den Anpflanzungen, auf denen nach dem Samstagstrubel morgens enthauptete Macheteros lagen. Ich erinnerte mich an die Privatstädte der Gringos in Aracataca und Sevilla; jenseits der Bahngleise gelegen, waren sie wie riesige elektrifizierte Hühnerställe mit Maschendraht umzäunt, der an den kühlen Sommertagen morgens schwarz von verbrutzelten Schwalben war. Ich erinnere mich an Pfaue und Wachteln auf bedächtigen blauen Wiesen, an die Residenzen mit roten Dächern und vergitterten Fenstern, auf den Terrassen runde Tischchen und Klappstühle, wo man umgeben von Palmen und staubigen Rosenbüschen essen konnte. Manchmal waren durch den Drahtzaun schöne, schmachtende Frauen zu sehen, sie trugen Musselinkleider und große Gazehüte und schnitten mit goldenen Scheren die Blumen in ihren Gärten.

Schon in meiner Kindheit war es nicht leicht gewesen, die Ortschaften voneinander zu unterscheiden. Zwanzig Jahre später war es noch schwieriger, weil vom Portikus der Bahnhöfe die Schilder mit den idyllischen Namen abgefallen waren - Tucurinca, Guamachito, Neerlandia, Guacamayal -, zudem alles trostloser wirkte als in der Erinnerung. Der Zug hielt gegen halb zwölf Uhr vormittags fünfzehn endlose Minuten lang in Sevilla, wo man die Lokomotive auswechselte und Wasser tankte. Don begann die Hitze. Als die Fahrt wieder aufgenommen wurde, bescherte uns die neue Lokomotive bei jeder Kurve einen Schwall von Kohlenstaub, der in die scheibenlosen Fenster drang und uns mit schwarzem Schnee bedeckte. Der Priester und die Frauen waren, ohne dass wir es bemerkt hatten, an irgendeinem Ort ausgestiegen, und das verstärkte meinen Eindruck, dass wir allein in einem Niemandszug reisten. Meine Mutter saß vor mir, blickte aus dem Fenster, war zwei- oder dreimal eingenickt, wurde aber auf einmal munter und stellte mir ein weiteres Mal die gefürchtete Frage:

»Also, was sag ich nun deinem Papa?«

Ich dachte, sie würde auf der Suche nach einer Flanke, an der sie meine Entschlossenheit durchbrechen konnte, nie aufgeben. Kurz zuvor hatte sie Formeln für einen Kompromiss vorgeschlagen, die ich ohne Begründung ablehnte, wohl wissend, dass ihr Rückzug nicht von langer Dauer sein würde. Dennoch überraschte mich dieser neue Vorstoß. Auf eine weitere fruchtlose Schlacht vorbereitet, erwiderte ich ruhiger als die anderen Male:

»Sag ihm, ich will im Leben nur eins, ich will Schriftsteller sein, und ich werde es.«

»Er hat nichts dagegen, dass du das wirst, was du möchtest«, sagte sie, »vorausgesetzt, du schließt irgendein Studium ab.«

Sie sprach, ohne mich anzusehen, tat, als interessiere sie unser Gespräch weniger als das Leben, das am Wagenfenster vorbeizog.

»Ich weiß nicht, warum du derart insistierst, du weißt doch, dass ich nicht nachgeben werde«, sagte ich.

Sofort sah sie mir in die Augen und fragte verwundert:

»Warum glaubst du, dass ich das weiß?«

»Weil du und ich uns gleichen«, sagte ich.

Der Zug hielt an einer Bahnstation ohne Dorf und fuhr kurz darauf an der einzigen Bananenplantage vorbei, an deren Portal ein Name stand: Macondo. Das Wort war mir schon bei meinen ersten Reisen mit dem Großvater aufgefallen, doch erst als Erwachsener entdeckte ich, dass mir sein poetischer Klang gefiel. Ich hatte es nie wieder gehört, mich nicht einmal gefragt, was es bedeutete, es jedoch bereits in drei Büchern als Name für ein imaginäres Dorf verwendet, als ich zufällig in einer Enzyklopädie entdeckte, dass es sich um einen tropischen, der Ceiba ähnlichen Baum handelt, der weder Blüten noch Früchte entwickelt und dessen schwammiges Holz zum Bau von Kanus und zum Schnitzen von Küchengerät verwendet wird. Später entdeckte ich in der Encyclopaedia Britannica, dass es in Tanganjika den Nomadenstamm der Makondos gibt, und dachte, das könnte der Ursprung des Wortes sein. Dem bin ich aber nie nachgegangen, habe auch den Baum nie gesehen, weil mir keiner Auskunft geben konnte, obwohl ich in der Bananenregion oft danach gefragt habe. Vielleicht hat es den Baum nie gegeben.

Der Zug passierte um elf Uhr die Finca Macondo und hielt zehn Minuten später in Aracataca. An dem Tag, als ich mit meiner Mutter zum Hausverkauf fuhr, hatte er anderthalb Stunden Verspätung. Ich war auf der Toilette, als er beschleunigte, und durch das Fenster drang ein glutheißer, trockener Wind, verwirbelt mit dem Getöse der uralten Waggons und dem entsetzten Pfeifen der Lokomotive. Mein Herz schlug an die Rippen, und eisige Übelkeit ließ meine Eingeweide erstarren. Ich stürzte hinaus, getrieben von Panik, als hätte die Erde gebebt, und sah meine Mutter, die unbeirrbar auf ihrem Platz saß. Laut zählte sie die Örtlichkeiten auf, die sie durchs Fenster vorbeiziehen sah, wie flüchtige Fetzen eines Lebens, das gewesen war und nie wieder sein würde.

»Das sind die Grundstücke, die sie deinem Vater mit dem Märchen, dort gebe es Gold, angedreht haben.«

Wie ein Hauch glitt das Haus der Adventistenschule vorbei, ein blühender Garten und am Portal ein Schild: The sun shines for all.

»Das war das Erste, was du auf Englisch gelernt hast«, sagte meine Mutter.

»Nicht das Erste«, sagte ich. »Das Letzte.«

Die Zementbrücke glitt vorbei und der Graben mit seinem tRuben Wasser, der aus der Zeit stammte, als die Gringos sich des Flusses bemächtigt hatten, um ihn auf ihre Plantagen zu leiten.

»Das Viertel der Dirnen, wo die Männer noch frühmorgens mit brennenden Geldbündeln statt Kerzen Cumbiamba tanzten«, sagte sie.

Die Bänke an der Promenade, die von der Sonne rostigen Mandelbäume, der Garten der kleinen Montessori-Schule, in der ich lesen lernte. Einen Augenblick lang erglänzte im Fenster die Gesamtansicht des Dorfes, das im strahlenden Licht des Februarsonntags dalag.

»Der Bahnhof!«, rief meine Mutter. »Wie muss sich die Welt verändert haben, dass niemand mehr auf den Zug wartet.«

Dann hörte die Lokomotive auf zu pfeifen, verlangsamte die Fahrt und blieb mit einem langgezogenen Klagelaut stehen. Zuerst fiel mir die Stille auf. Eine körperhafte Stille, die ich mit verbundenen Augen von jeder anderen Stille der Welt hätte unterscheiden können. Die Rückstrahlung der Hitze war so stark, dass man alles wie durch gewelltes Glas sah. Die kleine gepflasterte Plaza hatte nicht einmal eine barmherzige Erinnerung an die dreitausend von der Staatsgewalt niedergemetzelten Arbeiter bewahrt. Denn so weit der Blick reichte, gab es keine Spur von menschlichem Leben und nichts, auf dem nicht wie Tau der glutheiße Staub lag. Meine Mutter blieb noch ein paar Minuten auf ihrem Platz sitzen, schaute auf das tote, zwischen verlassenen Straßen hingestreckte Dorf und rief schließlich voller Grauen:

»Oh mein Gott!«

Das war alles, was sie sagte, bevor sie ausstieg.

Solange der Zug noch dort stand, hatte ich den Eindruck, dass wir nicht völlig allein waren. Als er aber mit einem kurzen und herzzerreißenden Pfeifen anfuhr, blieben meine Mutter und ich schutzlos unter der infernalischen Sonne zurück, und die ganze Schwermut des Ortes lastete auf uns. Aber wir sagten nichts. Der alte Bahnhof aus Holz, mit seinem Zinkdach und dem umlaufenden Balkon, war so etwas wie die tropische Version der Bahnhöfe, die wir aus den Cowboyfilmen kannten. Wir durchquerten den verlassenen Bahnhof, dessen Fliesen bereits unter dem Druck des Unkrauts zu springen begannen, und tauchten, immer den Schutz der Mandelbäume suchend, in die Mattigkeit der Siesta-Zeit ein. Wir beeilten uns, denn die Zeit war knapp, um das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen. Früher hätte sie nicht ausgereicht, da der Zug um zwei Uhr mittags zurückkehrte, aber seit ein paar Jahren fuhr er dank der Unordnung der neuen Zeiten erst gegen Abend zurück, allerdings nicht zu einer festen Uhrzeit.

Schon als Kind hatte ich diese trägen Siestas verabscheut, weil wir nicht wussten, was wir solange tun sollten. »Seid still, wir schlafen«, flüsterten die Schläfer, ohne aufzuwachen. Die Kaufläden, die Behörden, die Schule, sie alle schlossen um zwölf Uhr und wurden erst kurz vor drei wieder geöffnet. Die Wohnräume schwebten dann in einem Limbus der Benommenheit. In einigen Häusern war die Luft so unerträglich, dass man die Hängematten in den Patio hängte oder Hocker an die Mandelbäume lehnte, auf denen man dann, mitten auf der Straße, im Schatten schlief. Nur das Hotel am Bahnhof, die dazugehörige Bar und der Billardsalon sowie das Telegrafenamt hinter der Kirche blieben geöffnet. Alles war genau wie in der Erinnerung, nur kleiner und ärmlicher und vom Sturmwind des Schicksals gestreift: die gleichen verfallenen Häuser, die rostdurchlöcherten Zinkdächer, die kleine Promenade mit den bröckelnden Granitbänken und die traurigen Mandelbäume, alles entrückt durch diesen unsichtbaren, glutheißen Staub, der die Augen täuschte und die Haut sengte. Das Privatparadies der Bananengesellschaft jenseits der Bahngleise war, nun ohne Elektrozaun, ein weites, zugewuchertes Areal ohne Palmen, mit zerstörten Häusern zwischen blühendem Mohn und dem Schutt des niedergebrannten Hospitals. Keine Tür, kein Mauerriss, keine menschliche Spur, die nicht einen übernatürlichen Widerhall in mir ausgelöst hätte.

Meine Mutter ging sehr aufrecht mit schnellem Schritt, schwitzte kaum in ihrem Trauerkleid und schwieg, aber ihre tödliche Blässe und ihr scharfes Profil verrieten, was in ihr vorging. Am Ende der Promenade sahen wir das erste menschliche Wesen: Eine kleine, verarmt aussehende Frau tauchte an der Ecke Jacobo Beracaza auf und ging mit einem Zinntöpfchen an uns vorbei, dessen falsch aufgelegter Deckel zu ihren Schritten den Takt schlug. Meine Mutter flüsterte mir, ohne sie anzusehen, zu:

»Das ist Vita.«

Ich hatte sie erkannt. Sie hatte von Kindesbeinen an in der Küche meiner Großeltern gearbeitet, und so sehr wir uns auch verändert haben mochten, sie hätte uns erkannt, wenn sie uns eines Blickes gewürdigt hätte. Aber nein: Sie ging in einer anderen Welt vorbei. Noch heute frage ich mich, ob Vita nicht lange vor jenem Tag gestorben war.

Als wir um die Ecke bogen, brannten meine Füße vom Staub, der durch das Geflecht der Sandalen drang. Ich konnte das Gefühl der Verlassenheit kaum noch ertragen. Mich selbst und meine Mutter sah ich auf einmal so, wie ich als Kind die Mutter und die Schwester des Diebes gesehen hatte, den Maria Consuegra eine Woche zuvor mit einem Schuss getötet hatte, als er versuchte, die Tür ihres Hauses aufzubrechen.

Um drei Uhr morgens hatte sie ein Geräusch geweckt, jemand versuchte von außen die Eingangstür aufzustemmen. Sie stand auf, ohne Licht zu machen, tastete im Kleiderschrank nach einem archaischen Revolver, den seit dem Krieg der Tausend Tage keiner mehr abgefeuert hatte, ortete im Dunkeln nicht nur die Tür, sondern auch die genaue Höhe des Schlosses. Dann nahm sie den Revolver mit beiden Händen, zielte, schloss die Augen und drückte ab. Sie hatte noch nie geschossen, doch die Kugel traf durch die Tür ihr Ziel.

Es war der erste Tote, den ich sah. Als ich um sieben Uhr morgens auf dem Schulweg vorbeikam, lag der Körper noch in einer getrockneten Blutlache ausgestreckt auf dem Gehsteig, das Gesicht von der Bleikugel zerstört, die seine Nase zerfetzt hatte und aus einem Ohr wieder ausgetreten war. Er trug ein bunt gestreiftes Matrosenhemd und eine einfache Hose, statt Gürtel eine Schnur, und er war barfuß. Neben ihm auf dem Boden fand man den zünftigen Dietrich, mit dem er das Schloss hatte öffnen wollen.

Die Notabeln des Städtchens eilten in Maria Consuegras Haus, um ihr Beileid auszusprechen, weil sie den Dieb getötet hatte. Ich bin am Abend mit Papalelo hingegangen, und da saß sie in einem Manilasessel, der aussah wie ein riesiger Pfau aus Strohgeflecht, und war umgeben von der Inbrunst ihrer Freunde, die sich die tausendmal wiederholte Geschichte anhörten. Alle waren mit ihr der Meinung, dass sie aus bloßer Angst abgedrückt hatte. Da fragte mein Großvater, ob sie denn nach dem Schuss noch etwas gehört habe, und sie antwortete, dass da zunächst eine große Stille gewesen sei, dann das metallische Geräusch des Dietrichs, der auf den Zementboden fiel, und gleich darauf eine kleine, schmerzvolle Stimme: »Ach, Mutter!« Offensichtlich war Maria Consuegra diese erschütternde Klage nicht ins Bewusstsein gedrungen, bis mein Großvater ihr die Frage stellte. Erst jetzt begann sie zu weinen.

Das war an einem Montag geschehen. Am Dienstag der folgenden Woche zur Siestazeit spielte ich gerade mit meinem allerersten Freund Luis Carmelo Correa Kreisel, als wir davon überrascht wurden, dass die Schläfer vorzeitig erwacht waren und aus den Fenstern schauten. Da sahen wir auf der leeren Straße eine Frau in strenger Trauerkleidung und ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit einem Strauß welker Blumen, der in eine Zeitung gewickelt war. Vor der sengenden Sonne schützten die beiden sich mit einem schwarzen Regenschirm und schienen völlig unberührt von den aufdringlichen Blicken der Leute, die ihnen nachschauten. Die Mutter und die Schwester des toten Diebes waren gekommen, um Blumen für das Grab zu bringen.

Dieses Bild verfolgte mich noch jahrelang, als ein einhelliger Traum, den das ganze Dorf an den Fenstern hatte vorbeiziehen sehen, bis es mir gelang, ihn durch eine Erzählung auszutreiben. Doch das Drama der Frau und des Kindes und deren unbeirrbare Würde waren mir erst an dem Tag wirklich bewusst geworden, an dem ich mit meiner Mutter das Haus verkaufen wollte und überrascht feststellte, dass ich durch dieselbe einsame Straße ging, zur gleichen tödlichen Stunde.

»Man fühlt sich, als wäre man der Dieb«, sagte ich.

Meine Mutter verstand mich nicht. Und als wir an dem Haus von Maria Consuegra vorbeigingen, schaute sie nicht einmal auf die Tür, an der man noch im Holz sah, wo das Loch ausgebessert worden war, das der Schuss gerissen hatte. Jahre später, als wir gemeinsam dieser Reise gedachten, stellte ich fest, dass meine Mutter sich sehr wohl an die Tragödie erinnerte, aber alles dafür gegeben hätte, sie zu vergessen. Eine Regung, die offensichtlich wurde, als wir an dem Haus vorbeikamen, in dem Don Emilio, besser bekannt als der Belgier, gewohnt hatte, ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, dessen beide Beine in einem Minenfeld der Normandie versehrt worden waren und der sich an einem Pfingstsonntag mittels Goldzyaniddämpfen vor den Martern der Erinnerung in Sicherheit gebracht hatte. Ich war damals höchstens sechs Jahre alt, erinnere mich aber, als sei es gestern gewesen, an den Wirbel, den diese Nachricht um sieben Uhr morgens auslöste. Das Ereignis war so denkwürdig, dass meine Mutter, als wir in den Ort zurückkehrten, um das Haus zu verkaufen, nach fast zwanzig Jahren endlich ihr Schweigen brach.

»Der arme Belgier«, seufzte sie. »Wie du gesagt hast, er hat nie wieder Schach gespielt.«

Wir hatten vorgehabt, direkt zum Haus zu gehen. Als aber nur noch ein Block fehlte, blieb meine Mutter plötzlich stehen und bog eine Ecke vorher ab.

»Wir gehen besser hier lang«, sagte sie. Und als ich wissen wollte warum, antwortete sie: »Weil ich Angst habe.«

So wurde mir auch der Grund für meine Übelkeit klar: Es war Angst, nicht nur die Angst, meinen Gespenstern zu begegnen, sondern Angst vor allem. Also gingen wir eine Parallelstraße entlang, ein Umweg, der sich nur damit erklären ließ, dass wir nicht an unserem Haus vorbeiwollten. »Ich hätte nicht den Mut gehabt, es zu sehen, bevor ich nicht mit jemandem gesprochen hatte«, sollte sie mir später sagen. So war es. Ohne irgendeine Vorwarnung schleifte sie mich in die Apotheke von Doktor Alfredo Barboza, ein Eckhaus, keine hundert Meter von dem unseren entfernt.

Adriana Berdugo, die Frau des Arztes, nähte so gedankenversunken an ihrer einfachen mit einer Handkurbel betriebenen Domestic-Maschine, dass sie nicht hörte, wie meine Mutter auf sie zuging und dann, flüsternd fast, sagte:

»Gevatterin.«

Adriana hob die Augen, die von dicken Gläsern für die Alterssichtigkeit entstellt waren, nahm die Brille ab, zögerte einen Augenblick und sprang dann auf, mit offenen Armen und einem Klagelaut:

»Ach, Gevatterin!«

Meine Mutter war schon hinter der Theke und ohne noch etwas zu sagen, umarmten sich beide, um gemeinsam zu weinen. Ich sah sie von der anderen Seite der Theke aus, wußte nicht, was tun, erschüttert von der Gewissheit, dass diese lange Umarmung stiller Tränen etwas Endgültiges war, das mein Leben für immer prägen würde.

Die Apotheke war zu Zeiten der Bananengesellschaft die erste am Platz gewesen, aber nun standen in den schmalen Schränken nur noch ein paar golden beschriftete Keramiktiegel. Die Nähmaschine, der Mörser, der Äskulapstab, die noch tüchtige Pendeluhr, der Druck mit dem Eid des Hippokrates, die altersschwachen Schaukelstühle, es waren noch all die Dinge, die ich als Kind gesehen hatte, und sie standen an ihrem alten Platz, der Rost der Zeit hatte sie jedoch verwandelt.

Adriana selbst war ein Opfer. Obwohl sie wie früher ein Kleid mit großen tropischen Blumen trug, war ihr nichts von der Lebhaftigkeit und dem Schalk anzumerken, für die sie bis weit in ihre reifen Jahre berühmt gewesen war. Unverändert war nur der Baldriangeruch, der sie umgab, er machte die Katzen verrückt und blieb für mich lebenslang mit einem Gefühl von Schiffbruch verbunden.

Als Adriana und meine Mutter keine Tränen mehr hatten, war ein zähes, kurzes Husten hinter der Holzwand zu hören, die uns von dem Hinterzimmer trennte. Adriana gewann etwas von ihrem Charme aus früheren Zeiten zurück und rief, um hinter der Trennwand gehört zu werden:

»Rat mal, wer da ist, Doktor.«

Die narbige Stimme eines harten Mannes fragte von der anderen Seite her gleichgültig:

»Wer?«

Adriana antwortete nicht, sondern gab uns ein Zeichen, ins Hinterzimmer zu gehen. Ein Grauen aus der Kindheit lähmte mich augenblicklich, mein Mund füllte sich mit galligem Speichel, doch ich trat mit meiner Mutter in den voll gestopften Raum, der, früher das Labor der Apotheke, jetzt zu einem Notschlafzimmer hergerichtet war. Dort lag Doktor Alfredo Barboza, älter als alle alten Menschen und alten Tiere zu Lande oder zu Wasser in seiner ewigen geknüpften Hängematte, ohne Schuhe und mit seinem legendären Schlafanzug aus grober Baumwolle, der eher an den Kittel eines Büßers erinnerte. Er blickte starr zur Decke, als er uns aber eintreten hörte, drehte erden Kopf und heftete seine durchsichtigen gelben Augen auf uns, bis er schließlich meine Mutter erkannt hatte.

»Luisa Santiaga!«, rief er. Mit der Erschöpftheit eines alten Möbelstücks setzte er sich in der Hängematte auf, wurde wieder ganz Mensch und begrüßte uns mit einem kurzen, heißen Händedruck. Er nahm mein Erschrecken wahr und sagte:

»Seit einem Jahr habe ich chronisch Fieber.« Dann verließ er die Hängematte, setzte sich aufs Bett und sagte in einem Atemzug:

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir hier durchgemacht haben.«

Dieser einzelne Satz, der ein ganzes Leben zusammenfasste, genügte, damit ich ihn als das sah, was er vielleicht immer gewesen war: ein einsamer, trauriger Mann. Er war groß, hager, hatte eine wunderbare metallische Mähne, die achtlos geschnitten war, und gelbe, intensiv blickende Augen, die der größte Schrecken meiner Kindheit gewesen waren. Nachmittags, wenn wir aus der Schule kamen, kletterten wir, vom Kitzel der Angst getrieben, zum Fenster seines Schlafzimmers hinauf. Dort lag er in der Hängematte und schaukelte sich mit kräftigen Stößen, um die Hitze zu lindern. Das Spiel bestand darin, ihn anzustarren, bis er es merkte, sich plötzlich umwandte und uns mit seinen glühenden Augen anblickte.

Mit fünf oder sechs Jahren hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen, als ich mich eines Morgens mit anderen Schulkameraden in seinen Garten geschlichen hatte, um die riesigen Mangos von seinen Bäumen zu klauen. Plötzlich öffnete sich die Tür des Aborts, der aus Brettern gebaut in einer Ecke des Hofs stand, und heraus kam der Doktor, die Leinenunterhosen festzurrend. Ich sah ihn wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, bleich und knochig in einem weißen Krankenhausnachthemd, sah diese gelben Augen eines Höllenhundes, die mich für immer anblickten. Die anderen machten sich durch die Hinterpforte davon, aber ich war wie versteinert von seinem starren Blick. Er sah auf die Mangos, die ich gerade vom Baum gepflückt hatte, und streckte die Hand aus.

»Gib sie her!«, befahl er, sah mich von oben bis unten mit großer Verachtung an und fügte hinzu: »Böser kleiner Patio-Dieb.«

Ich warf ihm die Mangos vor die Füße und flüchtete in Panik.

Er war mein persönliches Gespenst. Wenn ich allein unterwegs war, machte ich einen großen Bogen um sein Haus. Wenn ich mit Erwachsenen zusammen war, wagte ich kaum einen flüchtigen Blick auf die Apotheke. Ich sah Adriana, die lebenslänglich an die Nähmaschine hinter der Theke gefesselt war, und ich sah ihn durch das Schlafzimmerfenster, wie er sich heftig in der Hängematte schaukelte, und bekam schon beim bloßen Anblick eine Gänsehaut.

Er war zu Anfang des Jahrhunderts in den Ort gekommen, einer der zahllosen Venezolaner, denen es gelang, vor dem grausamen Regime von Juan Vicente Gomez über die Grenze nach La Guajira zu fliehen. Der Doktor war einer der Ersten gewesen, die von zwei unterschiedlichen Kräften getrieben wurden: von der Grausamkeit des Regimes in seinem Land und der Hoffnung auf den Bananen-Wohlstand in unserem. Seit seiner Ankunft empfahl er sich durch seinen klinischen Blick - wie man damals sagte - und sein höfliches Wesen. Er war einer der Freunde, die besonders häufig zu Gast bei meinen Großeltern waren, wo immer der Tisch gedeckt war, auch wenn man nicht wusste, wer mit dem Zug kam. Meine Mutter war die Patin seines ältesten Sohnes, und mein Großvater lehrte diesen, flügge zu werden. Ich bin unter ihnen aufgewachsen, so wie ich später unter den Exilierten des spanischen Bürgerkriegs erwachsen wurde.

Die letzten Spuren der Angst, die mir jener vergessene Paria als Kind einjagte, verflüchtigten sich, während meine Mutter und ich, neben seinem Bett sitzend, die Einzelheiten der Tragödie hörten, von der die Ortschaft heimgesucht worden war. Er hatte eine solche Gabe, die Dinge zu vergegenwärtigen, dass alles, was er erzählte, in dem von der Hitze durchdrungenen Raum sichtbar zu werden schien. Der Ursprung allen Unglücks war natürlich das Massaker an den Arbeitern durch die Staatsgewalt gewesen, wenngleich Zweifel über die historische Wahrheit blieben: drei Tote oder dreitausend? Vielleicht seien es nicht so viele gewesen, sagte der Doktor, aber jeder habe die Zahl dem eigenen Schmerz gemäß hochgesetzt. Jetzt sei die Gesellschaft für immer und ewig fortgezogen.

»Die Gringos kommen nie zurück«, schloss er.

Sicher war nur, dass sie alles mitgenommen hatten: das Geld, die Dezemberwinde, das Brotmesser, den Drei-Uhr-nachmittags-Donner, den Duft des Jasmins, die Liebe. Geblieben waren allein die staubigen Mandelbäume, die flirrende Hitze in den Straßen, die Holzhäuser mit ihren verrosteten Zinkdächern und wortkargen Bewohnern, verwüstet von Erinnerungen.

Das erste Mal an jenem Nachmittag wurde der Doktor auf mich aufmerksam, als er mein Staunen über das Knistern bemerkte, das sich wie ein Regen aus einzelnen, über das ganze Zinkdach verteilten Tropfen anhörte. »Das sind die Hühnergeier«, sagte er zu mir, »die laufen den ganzen Tag über die Dächer.« Dann zeigte er mit einem matten Zeigefinger auf die geschlossene Tür:

»Schlimmer ist es nachts, dann hört man die Toten, die auf den Straßen frei herumlaufen.«

Er lud uns zum Mittagessen ein, wogegen nichts sprach, da der Hausverkauf nur noch eine Formalität war. Die Mieter waren die Käufer, und die Einzelheiten waren telegrafisch abgesprochen worden. Würden wir genug Zeit haben?

»Reichlich«, sagte Adriana. »Man weiß heute ja nicht einmal, wann der Zug zurückkommt.«

Also teilten wir mit ihnen ein kreolisches Gericht, dessen Einfachheit nichts mit Armut zu tun hatte, sondern eine Diät der Mäßigung war, die der Arzt nicht nur bei Tisch befolgte und predigte, sondern für alle Lebensbereiche empfahl. Als ich die Suppe kostete, schien eine schlafende Welt in meinem Gedächtnis zu erwachen. Geschmäcker der Kindheit, verloren, seitdem ich das Dorf verlassen hatte, stellten sich unbeschädigt mit jedem Löffel wieder ein und machten mir das Herz schwer.

Seit Beginn des Gesprächs fühlte ich mich dem Arzt gegenüber genauso alt wie damals, als ich ihn durch das Fenster geärgert hatte, daher war ich eingeschüchtert, als er sich an mich mit eben der Ernsthaftigkeit und Zuneigung wandte, mit denen er zu meiner Mutter sprach. In meiner Kindheit hatte ich die Angewohnheit, in schwierigen Situationen meine Verwirrung durch schnelles und anhaltendes Zwinkern zu überspielen. Dieser unbeherrschbare Reflex meldete sich plötzlich wieder, als der Doktor mich ansah. Die Hitze war unerträglich geworden. Ich hielt mich eine Weile aus dem Gespräch heraus und fragte mich, wie dieser freundliche, wehmütige Greis einmal der Schrecken meiner Kindheit gewesen sein konnte. Plötzlich, nach einer langen Pause und aufgrund irgendeines banalen Hinweises, sah er mich mit einem großväterlichen Lächeln an.

»Du bist also der große Gabito«, sagte er. »Was studierst du?«

Ich überspielte meine Verwirrung mit einer spektralen Übersicht über meine Studien: gutes Abitur an einem Staatsinternat, zwei Jahre und ein paar Monate chaotischer Juristerei, empirischer Journalismus. Meine Mutter hörte mir zu und suchte sogleich die Unterstützung des Arztes.

»Stellen Sie sich vor, Gevatter, er will Schriftsteller werden.«

Die Augen des Doktors begannen zu glänzen.

»Wie wunderbar, Gevatterin!«, sagte er. »Das ist ein Geschenk des Himmels.« Und wandte sich an mich: »Poesie?«

»Romane und Erzählungen«, sagte ich, das Herz voller Furcht.

Er begeisterte sich:

»Hast du Dona Barbara gelesen?«

»Natürlich«, antwortete ich, »und auch sonst fast alles von Rómulo Gallegos.«

Gleichsam wieder auferstanden in seinem plötzlichen Enthusiasmus erzählte er uns, dass er Gallegos bei einem Vortrag in Maracaibo kennen gelernt habe, als einen Autor, der seiner Bücher würdig gewesen sei. In Wahrheit entdeckte ich damals in meinem 40-Grad-Fieber für die Sagas des Mississipi langsam die Schwachstellen im einheimischen Roman. Aber die leichte und herzliche Kommunikation mit dem Mann, der ein Schrecken meiner Kindheit gewesen war, schien mir so wundersam, dass ich es vorzog, mich seiner Begeisterung anzuschließen. Ich erzählte ihm von »La Jirafa«, meiner täglichen Kolumne in El Heraldo, und teilte ihm als Erstem mit, dass wir sehr bald eine Zeitschrift herausbringen würden, in die wir große Hoffnungen setzten. Sicherer geworden, erzählte ich ihm Näheres über das Projekt und nahm sogar den Namen vorweg: Crónica.

Er musterte mich von oben bis unten.

»Ich weiß nicht, wie du schreibst«, sagte er, »aber du sprichst schon wie ein Schriftsteller.«

Meine Mutter beeilte sich, den Sachverhalt klarzustellen: Niemand habe etwas dagegen, dass ich Schriftsteller würde, vorausgesetzt ich schlüge eine akademische Laufbahn ein, die mir festen Boden unter den Füßen verschaffe. Der Doktor spielte das alles herunter und sprach von der Laufbahn eines Schriftstellers. Auch er habe das gerne werden wollen, aber mit eben den Argumenten hätten seine Eltern ihn gezwungen, Medizin zu studieren, nachdem ihr Versuch, ihn zum Militär zu bringen, fehlgeschlagen war.

»Sehen Sie mich doch an, Gevatterin«, schloss er, »hier stehe ich, bin Arzt und weiß nicht, wie viele meiner Patienten durch Gottes Willen gestorben sind und wie viele durch meine Arzneien.«

Meine Mutter wusste nicht weiter.

»Das Schlimmste ist, dass er das Jurastudium aufgegeben hat, nachdem wir so viele Opfer gebracht haben, um ihn zu unterstützen.«

Dem Doktor hingegen schien gerade das ein glänzender Beweis für eine brennende Berufung zu sein: die einzige Kraft, die der Liebe ihre Rechte streitig macht. Insbesondere die künstlerische Berufung, die rätselhafteste überhaupt, der man das ganze Leben hingibt, ohne etwas davon zu erwarten.

»Das trägt man von Geburt an in sich, und dagegen anzukämpfen ist höchst ungesund«, sagte er.

Und mit dem bezaubernden Lächeln eines unverbesserlichen Freimaurers setzte er noch einen drauf:

»Selbst wenn es sich um die Berufung zum Priester handelt.«

Ich war baff über die Art und Weise, wie er das erklärt hatte, was mir nie zu erklären gelungen war. Meiner Mutter schien es ebenso zu gehen, denn sie betrachtete mich in einem anhaltenden Schweigen und ergab sich dann ihrem Schicksal.

»Wie kann man das alles bloß am besten deinem Vater sagen?«, fragte sie mich.

»So, wie wir es eben gehört haben«, sagte ich.

»Nein, so wird es nichts fruchten«, sagte sie. Und nach einer weiteren Denkpause schloss sie: »Aber mach dir keine Sorgen, ich werde schon die richtige Form finden, es ihm zu sagen.«

Ich weiß nicht, ob sie es so oder anders gemacht hat, jedenfalls war die Debatte damit beendet. Die Uhr schlug mit zwei klingenden Glockenschlägen, zwei Glastropfen gleich, die Stunde. Meine Mutter fuhr zusammen: »Mein Gott, ich hatte ganz vergessen, weshalb wir hier sind.« Und stand auf:

»Wir müssen gehen.«

Der erste Anblick des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite entsprach kaum meinen Erinnerungen und ganz und gar nicht meiner Sehnsucht. Die beiden schützenden Mandelbäume, die über die Jahre ein eindeutiges Erkennungszeichen gewesen waren, hatte man mit Stumpf und Stiel entfernt, und das Haus lag preisgegeben da. Was sich da unter der brennenden Sonne darbot, hatte eine höchstens dreißig Meter lange Fassade: die eine Hälfte gemauert und mit einem Ziegeldach, das an ein Puppenhaus erinnerte, die andere Hälfte ein Holzbau aus rohen Brettern. Meine Mutter klopfte erst leise an die geschlossene Tür, dann lauter und fragte am Fenster:

»Ist keiner da?«

Die Tür öffnete sich leicht, und eine Frau fragte aus dem Halbdunkel:

»Womit kann ich dienen?«

Meine Mutter antwortete mit einer vielleicht unbewussten Autorität: »Ich bin Luisa Marquez.«

Daraufhin öffnete sich die Tür ganz, und eine Frau in Trauerkleidung, knochig und bleich, sah uns aus einem anderen Leben an. Hinten in der Halle schaukelte ein Mann in einem Invalidensessel. Das waren die Mieter, die nach vielen Jahren angeboten hatten, das Haus zu kaufen, doch weder sahen die beiden wie Käufer aus, noch war das Haus in einem Zustand, der für irgendjemand interessant sein konnte. Dem Telegramm zufolge, das meine Mutter bekommen hatte, waren die Mieter bereit, die Hälfte des Kaufpreises gegen eine von ihr unterschriebene Quittung bar zu zahlen, der Rest würde im Laufe des Jahres bei Unterzeichung der notariellen Verträge fällig werden, aber keiner erinnerte sich daran, dass ein Besuch vorgesehen war. Nach einem langen Gespräch zwischen Harthörigen wurde nur klar, dass es kein Einvernehmen gab. Erschöpft von dem Wahnwitz und der infamen Hitze, ließ meine Mutter, schweißgebadet, den Blick schweifen, und seufzend entfuhr ihr:

»Dieses arme Haus ist am Ende.«

»Schlimmer«, sagte der Mann. »Es ist nur deshalb nicht über uns zusammengebrochen, weil wir so viel für die Erhaltung ausgegeben haben.«

Sie hatten eine Liste mit fälligen Reparaturen, zusätzlich zu anderen, die schon von der Miete abgezogen worden waren, und das führte so weit, dass eigentlich wir ihnen Geld schuldeten. Meine Mutter, die immer nah am Wasser gebaut hatte, konnte auch von einer beängstigenden Standhaftigkeit sein, wenn es darum ging, sich in den Fallen des Lebens zu behaupten. Sie argumentierte gut, und ich mischte mich nicht ein, weil ich schon beim ersten Zusammenstoß begriffen hatte, dass die Mieter im Recht waren. In dem Telegramm hatte nichts Klares über den Zeitpunkt und die Modalitäten des Verkaufs gestanden, vielmehr sollten diese erst vereinbart werden. Die Situation war typisch für den Hang der Familie zu verwegenen Schlussfolgerungen. Ich konnte mir genau vorstellen, wie es zu der Entscheidung gekommen war, am Esstisch, sofort nach Ankunft des Telegramms. Außer mir gab es noch zehn Geschwister mit gleichen Rechten. Am Ende hatte meine Mutter ein paar Pesos hier, ein paar dort zusammengekratzt, ihren Schulmädchenkoffer gepackt, und so war sie aufgebrochen, mittellos, abgesehen von der Rückfahrkarte.

Meine Mutter und die Mieterin gingen alles noch einmal von vorne durch, und nach einer knappen halben Stunde war klar, dass es kein Geschäft geben würde. Neben anderen unüberwindlichen Hindernissen gab es noch eine vergessene Hypothek, de auf dem Haus lastete und erst sieben Jahre später aufgelöst wurde, bevor es endlich rechtskräftig verkauft wurde. Als die Mieterin dann noch einmal das immer gleiche Argument vorbringen wollte, machte meine Mutter in ihrer unanfechtbaren Art einen sauberen Schnitt.

»Das Haus wird nicht verkauft«, sagte sie. »Gehen wir einfach davon aus, dass wir hier geboren sind und auch alle hier sterben werden.«

Den restlichen Nachmittag über, bis zur Abfahrt des Zuges, sammelten wir wehmütig in dem leer stehenden Haus Erinnerungen. Es gehörte uns ganz, bewohnt war aber nur der vermietete Teil zur Straße hinaus, wo der Großvater seine Büros gehabt hatte. Der Rest, ein Gehäuse mit angefressenen Zwischenwänden und rostigen Zinkdächern, war den großen Eidechsen überlassen worden. Meine Mutter, die wie versteinert an der Schwelle stand, stieß einen endgültigen Ausruf aus:

»Das ist nicht das Haus!«

Aber sie sagte nicht, welches Haus, denn meine ganze Kindheit hindurch wurde es auf so unterschiedliche Weise beschrieben, dass es sich mindestens um drei Häuser handeln musste, deren Form und Bestimmung je nach Erzähler divergierten. Das ursprüngliche Haus war, wie ich meine Großmutter auf ihre abschätzige Art sagen hörte, eine Indiohütte. Das zweite von den Großeltern erbaute Haus war aus Lehm und Bambusgeflecht und hatte Palmenstrohdächer, eine großzügige, helle kleine Halle als Esszimmer, eine Terrasse mit Blumen in fröhlichen Farben, zwei Schlafräume, einen Patio mit einer gigantischen Kastanie, einen wohlbestellten Obst- und Gemüsegarten und ein Gehege, in dem Ziegen, Schweine und Hühner in friedlicher Gemeinschaft lebten. Nach der geläufigsten Version verbrannte dieses Haus zu Asche, weil ein Feuerwerkskörper bei den Feiern zum Unabhängigkeitstag an wer weiß welchem 20. Juli der vielen Kriegsjahre auf das Palmenstrohdach gefallen war. Übrig blieben nur die Zementböden und der Teil mit den zwei Räumen und einer Tür zur Straße, wo sich Papalelos Büros befanden, wenn er, wie so oft, im Dienst des Staates stand.

Auf die noch heißen Trümmer baute die Familie ihr endgültiges Heim. Ein lang gestrecktes Haus aus acht nebeneinander liegenden Räumen an einem überdachten Korridor, der, von einem Geländer mit Begonien begrenzt, den Frauen der Familie als Veranda diente, wo sie mit ihren Stickrahmen saßen und in der Abendkühle plauderten. Die Zimmer waren einfach und unterschieden sich kaum voneinander, aber ich erkannte mit einem Blick, dass jedes der zahllosen Details einen entscheidenden Augenblick meines Lebens barg. Der erste Raum diente als Besuchszimmer und Privatbüro des Großvaters. Dort stand ein Schreibtisch mit Rollschuhen, ein gefederter Drehsessel, ein elektrischer Ventilator und ein leerer Bücherschrank, in dem nur ein einziges riesiges und zerfleddertes Buch stand: das Lexikon. Anschließend kam die Schmiedewerkstatt, in der Großvater seine berühmten goldenen Fischchen mit beweglichen Körpern und winzigen Smaragdaugen herstellte. Das bereitete ihm mehr Freude, als es Geld einbrachte. Hier wurden einige bedeutende Persönlichkeiten empfangen, vor allem Politiker, ausgemusterte Staatsbeamte, Kriegsveteranen. Darunter, bei unterschiedlichen Gelegenheiten, zwei Besucher von historischem Rang: die Generäle Rafael Uribe Uribe und Benjamin Herrera. Beide aßen im Familienkreis zu Mittag. Von Uribe Uribe blieb meiner Großmutter jedoch für den Rest ihres Lebens nur seine Zurückhaltung bei Tisch in Erinnerung: »Er aß wie ein Vögelchen.«

Der Doppelraum mit dem Büro und der Goldschmiede war den Frauen kraft unserer karibischen Kultur verboten, so wie es die Kneipen im Ort kraft Gesetzes waren. Im Laufe der Zeit wurde der Raum jedoch zum Krankenpflegezimmer, in dem Tante Petra starb und Wenefrida Márquez, Papalelos Schwester, die letzten Monate einer langen Krankheit ertrug. An den Bereich des Großvaters schloss das hermetische Paradies der vielen Frauen an, die in der Zeit meiner Kindheit ständig oder nur gelegentlich im Haus wohnten. Ich war das einzige männliche Wesen, das in den Genuss der Privilegien beider Welten kam.

Das Esszimmer war nicht viel mehr als ein verbreiteter Teil des Korridors mit dem Geländer, wo die Frauen des Hauses zu nähen pflegten. Dort stand ein Tisch für sechzehn Personen, für die erwarteten oder unverhofften Gäste, die täglich mit dem Mittagszug kamen. Meine Mutter betrachtete von dort aus die zerbrochenen Begonientöpfe, die verfaulten Strünke und den von den Ameisen zerfressenen Stamm des Jasmins und holte tief Luft.

»Manchmal konnten wir im heißen Jasmingeruch kaum atmen«, sagte sie zum blendenden Himmel schauend und seufzte aus tiefster Seele auf. »Am meisten hat mir seitdem aber immer der Donner um drei Uhr mittags gefehlt.«

Das bewegte mich, denn auch ich erinnerte mich an dieses einmalige Krachen, das uns wie ein Geprassel von Steinen aus der Siesta weckte, aber ich war mir nie dessen bewusst gewesen, dass es nur um drei Uhr stattfand.

Am Ende des Korridors lag ein Empfangszimmer für besondere Gelegenheiten, denn die täglichen Besucher wurden mit kaltem Bier im Büro bewirtet, wenn es Männer waren, oder im Begoniengang, wenn es sich um Frauen handelte. Dort begann auch die mythische Welt der Schlafzimmer. Erst das der Großeltern, mit einer großen Tür zum Garten, darüber ein Holzfries mit geschnitzten Blumen und dem Baujahr: 1925. Da bereitete mir meine Mutter unverhofft eine Überraschung, als sie mit triumphaler Emphase ausrief:

»Und hier wurdest du geboren!«

Ich hatte das nicht gewusst oder wieder vergessen, im anschließenden Zimmer fanden wir aber die Wiege, in der ich bis zum vierten Lebensjahr schlief und die meine Großmutter für immer aufgehoben hatte. Ich hatte die Wiege vergessen, aber sobald ich sie sah, erinnerte ich mich an mich selbst, wie ich in einem nagelneuen Strampelanzug mit blauen Blümchen weinte und schrie, damit jemand käme und die voll gekackten Windeln entfernte. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, hing an den Gitterstäben der Wiege, die nun klein und zerbrechlich wie der Korb von Moses wirkte. In der Verwandtschaft und im Freundeskreis hat dieser Vorfall oft zu Diskussionen und Spott Anlass gegeben, da mein Kummer an jenem Tag zu rational motiviert für mein zartes Alter schien.

Und erst recht, weil ich darauf bestand, dass der Grund für meine Unruhe nicht der Ekel vor meiner eigenen Notdurft war, sondern die Angst, den neuen Strampelanzug zu beschmutzen. Das heißt, es ging nicht um ein hygienisches Vorurteil, sondern um ein ästhetisches Ärgernis, und so wie es mir der Form nach im Gedächtnis geblieben ist, glaube ich, dass dies mein erstes Erlebnis als Schriftsteller war.

In diesem Schlafzimmer gab es auch einen Altar mit lebensgroßen Heiligen, die realistischer und düsterer waren als die in der Kirche. Hier schlief immer Tante Francisca Simodosea Mejia, eine Kusine meines Großvaters, die wir Tante Mama nannten und die nach dem Tod ihrer Eltern als Herrin im Haus lebte. Ich schlief in der Hängematte neben ihr, verängstigt von dem Gezwinker der Heiligen im ewigen Licht, das erst gelöscht wurde, als alle Bewohner des Hauses gestorben waren. Dort hatte auch meine Mutter vor ihrer Heirat geschlafen, ebenfalls von der Furcht vor den Heiligen gepeinigt.

Am Ende des Korridors lagen zwei Zimmer, die mir verboten waren. Im ersten wohnte meine Kusine Sara Emilia, eine voreheliche Tochter meines Onkels Juan de Dios, die von den Großeltern aufgezogen wurde. Schon als Kind war sie von auffallender natürlicher Schönheit und hatte zudem einen eigenwilligen Charakter, und sie weckte meinen ersten literarischen Appetit mit der wunderbaren, bunt kolorierten Märchensammlung von Calleja, an die sie mich nicht heranließ, weil sie Angst hatte, ich könnte das Konvolut aus einzelnen Heften durcheinander bringen. Das war meine erste bittere Enttäuschung als Schriftsteller.

Das letzte Zimmer diente als Rumpelkammer für Trödel und ausgediente Koffer, die über Jahre meine Neugier wach hielten, die ich aber nie erkunden durfte. Später erfuhr ich, dass dort auch die siebzig Nachttöpfe lagerten, die meine Großeltern gekauft hatten, als meine Mutter ihre Klassenkameradinnen über die Ferien ins Haus eingeladen hatte.

Diesen beiden Räumen gegenüber, am selben Gang, lag die große Küche mit primitiven Kohlenbecken aus gebrannten Steinen und dem großen Backofen der Großmutter, die von Beruf Bäckerin und Konditorin war und deren Karamelltierchen den frühen Morgen mit ihrem köstlichen Aroma erfüllten. Dies war das Reich der Frauen, die im Haus wohnten oder dienten und im Chor mit der Großmutter sangen, während sie ihr bei ihren vielfältigen Arbeiten zur Hand gingen. Eine weitere Stimme war die von Lorenzo el Magnifico, dem hundertjährigen Papageien, den man von den Großeltern geerbt hatte und der Parolen gegen Spanien rief und Lieder aus dem Unabhängigkeitskrieg sang. Er sah so schlecht, dass er eines Tages in den Eintopf fiel und nur deshalb heil davonkam, weil das Wasser gerade erst warm wurde. An einem 20. Juli, um drei Uhr nachmittags, versetzte er das Haus mit seinem panischen Kreischen in Aufruhr: »Der Stier, der Stier! Da kommt der Stier!« Nur die Frauen waren im Haus, da die Männer zum Stierkampf anlässlich des Nationalfeiertags gegangen waren, und wir dachten, die Schreie des Papageien seien auf eine Wahnvorstellung seiner Altersdemenz zurückzuführen. Die Frauen des Hauses, die mit ihm sprechen konnten, begriffen erst, was er schrie, als ein endlaufener Stier, der aus den Ställen der Stierkampfarena ausgebrochen war, mit dem Gebrüll eines Dampfers in die Küche stürmte und blindlings gegen die Möbel der Backstube und die Töpfe auf den Feuerstellen rannte. Ich lief gerade Richtung Küche, dem Sturmwind entsetzter Frauen entgegen, die mich packten, hochhoben und sich mit mir in der Speisekammer einschlössen. Das Brüllen des in der Küche herumirrenden Stieres und das Klappern seiner Hufe auf dem Zementboden des Korridors erschütterten das Haus. Plötzlich streckte er den Kopf durch eine Lüftungsluke, und sein feuriges Schnauben und seine großen, rot geäderten Augen ließen mein Blut gefrieren. Als es den Picadores gelang, ihn zurück zu den Ställen zu bringen, hatte im Haus bereits die Feier des Dramas begonnen, die sich über eine Woche hinzog, und viele Töpfe Kaffee und etliche Hochzeitskuchen begleiteten den tausendfach wiederholten und mit jedem Mal heroischeren Bericht der Frauen.

Der Hof wirkte nicht sehr groß, aber es standen viele verschiedene Bäume darin, und es gab ein Bad für alle, das nicht überdacht war, mit einer Zisterne für das Regenwasser und einer erhöhten Plattform, zu der man auf einer gebrechlichen, drei Meter langen Leiter steigen konnte. Dort oben standen die beiden großen Wassertonnen, die der Großvater frühmorgens mit einer Handpumpe füllte. Hinter dem Bad lag der Pferdestall aus rohen Holzbrettern, an den die Zimmer für das Personal anschlössen, und am Ende dann der riesige Hinterhof mit Obstbäumen und der einzigen Latrine, in welche die angestellten Indiofrauen von früh bis spät die Nachttöpfe des Hauses leerten. Der schattigste und gastfreundlichste Baum war eine Kastanie, die jenseits der Zeit und der Welt aufragte und unter deren uralter Krone mehr als zwei pensionierte Oberste der zahlreichen Bürgerkriege des vorigen Jahrhunderts pinkelnd gestorben sein müssen.

Die Familie war siebzehn Jahre vor meiner Geburt nach Aracataca gezogen, als die Machenschaften der United Früh Company, die das Bananenmonopol anstrebte, begannen. Die Großeltern kamen mit ihrem einundzwanzigjährigen Sohn Juan de Dios und ihren beiden Töchtern, der neunzehnjährigen Margarita Maria Miniata de Alacoque und Luisa Santiaga, meiner Mutter, die damals fünf war. Vor deren Geburt hatten sie durch einen unglücklichen Abgang im vierten Schwangerschaftsmonat ein Zwillingspärchen verloren. Als sie meine Mutter bekam, erklärte die Großmutter, sie sei nun zweiundvierzig und das sei für sie die letzte Geburt. Fast ein halbes Jahrhundert später, im gleichen Alter und unter ebensolchen Umständen, sagte meine Mutter nach der Geburt von Eligio Gabriel, ihrem elften Kind, das Gleiche.

Der Umzug nach Aracataca war von den Großeltern als Reise ins Vergessen geplant. Ihre Bediensteten waren zwei Guajiro-Indios - Alirio und Apolinar - und eine India - Meine; alle drei hatten sie in ihrer Heimat zu je hundert Pesos gekauft, zu einer Zeit, als die Sklaverei längst abgeschafft war. Der Oberst, verfolgt von seinem schlechten Gewissen, einen Mann in einem Ehrenhandel getötet zu haben, führte alles mit sich, um die Vergangenheit fern der bösen Erinnerungen bewältigen zu können. Er kannte die Region schon lange, hatte er sie doch auf einem Feldzug Richtung Ciénaga durchquert und dann in seiner Eigenschaft als Militärbeauftragter an der Unterzeichung des Abkommens von Neerlandia teilgenommen.

Das neue Haus gab ihnen jedoch nicht die Ruhe wieder, denn die Gewissensbisse waren so bösartig, dass sogar noch irgendein verlorener Ururenkel davon infiziert wurde. Großmutter Mina, die schon blind und leicht wunderlich war, gedachte am häufigsten und intensivsten des Vorfalls, und wir hatten ihre Bemerkungen zu einer stimmigen Version geordnet. Inmitten des unerbittlichen Rumors, der die Tragödie ankündigte, war sie allerdings die Einzige gewesen, die von dem Duell erst erfuhr, nachdem es stattgefunden hatte.

Das Drama ereignete sich in Barrancas, einem friedlichen und wohlhabenden Städtchen in den Ausläufern der Sierra Nevada, wo der Oberst von seinem Vater und Großvater das Goldschmiedehandwerk gelernt hatte und wohin er endgültig zurückgekehrt war, nachdem die Friedensverträge unterzeichnet waren. Sein Gegner war ein Riese, sechzehn Jahre jünger, liberal bis in die Knochen, wie der Oberst selbst, militanter Katholik, armer Landwirt, seit kurzem verheiratet und Vater zweier Kinder, und er hatte sich als anständiger Mensch einen Namen gemacht: Medardo Pacheco. Besonders traurig für den Oberst war wohl, dass er nicht einen der unzähligen gesichtslosen Feinde, die ihm auf dem Schlachtfeld begegnet waren, sondern einen alten Freund und Parteigenossen, der als Soldat im Krieg der Tausend Tage unter ihm gedient hatte, auf Leben oder Tod herausfordern musste, als sie beide schon meinten den Frieden gewonnen zu haben.

Es war der erste Fall aus dem wirklichen Leben, der meine schriftstellerischen Instinkte aufwühlte, und ich habe ihn noch nicht bannen können. Sobald ich ein vernünftiges Alter erreicht hatte, war mir klar, welche Bedeutung und welches Gewicht dieses Drama für unser Haus hatte, die Einzelheiten aber blieben von Nebel umfangen. Meine Mutter, die damals gerade drei war, hat sich daran stets wie an einen unwahrscheinlichen Traum erinnert. Die Erwachsenen redeten drum herum, um mich zu verwirren, und ich konnte das Puzzle auch später nie ganz zusammensetzen, weil bei beiden Parteien jeder die Stücke nach seiner Art legte. Die glaubwürdigste Version war, dass Medardo Pachecos Mutter diesen aufgefordert hatte, ihre Ehre zu rächen, da sie sich von einer infamen Bemerkung verletzt fühlte, die meinem Großvater zugeschrieben wurde. Dieser stritt das als Verleumdung ab und rückte die Dinge öffentlich zurecht, Medardo Pacheco beharrte jedoch auf seinem Groll, kritisierte sein Verhalten als Liberaler und beschimpfte ihn aufs Gröblichste, so dass aus dem Beleidigten ein Beleidiger wurde. Ich habe nie genau erfahren, um was es ging. In seiner Ehre gekränkt, forderte mein Großvater ihn zum Duell heraus, legte aber kein bestimmtes Datum fest.

Beispielhaft für die Haltung des Obersten war, wie viel Zeit er zwischen Herausforderung und Duell verstreichen ließ. Heimlich regelte er seine Angelegenheiten, um für die Sicherheit seiner Familie zu sorgen, denn das Schicksal bot ihm nur zwei Möglichkeiten: Tod oder Gefängnis. Er begann damit, ohne jede Hast alles zu verkaufen, was ihm nach dem letzten Krieg geblieben war, um sich sein Brot zu verdienen: die Goldschmiedewerkstatt und eine kleine vom Vater ererbte Finca, auf der er Ziegen zum Schlachten zog und auf einer Parzelle Zucker anbaute. Nach sechs Monaten verwahrte er in der Tiefe eines Schranks das zusammengekommene Geld und wartete schweigend den Tag ab, den er sich selbst gesetzt hatte: den 12. Oktober 1908, Jahrestag der Entdeckung Amerikas.

Medardo Pacheco lebte außerhalb des Städtchens, der Großvater wusste jedoch, dass er an jenem Nachmittag nicht bei der Prozession der Jungfrau von Pilar fehlen würde. Bevor der Oberst sich auf den Weg machte, schrieb er seiner Frau einen kurzen, zärtlichen Brief, in dem er ihr mitteilte, wo das Geld versteckt war, und ihr einige letzte Anweisungen für die Zukunft seiner Kinder gab. Er legte den Brief unter das gemeinsame Kopfkissen, wo seine Frau, wenn sie sich schlafen legte, ihn zweifellos finden würde, und ging ohne jeden Abschied seiner bösen Stunde entgegen.

Auch die unwahrscheinlicheren Versionen stimmen darin überein, dass es ein für den Oktober in der Karibik typischer Montag war, ein trister Regen fiel aus niedrigen Wolken, dazu wehte ein Grabeswind. Medardo Pacheco, sonntäglich gekleidet, war gerade in eine dunkle Gasse eingebogen, als Oberst Márquez sich ihm in den Weg stellte. Beide waren bewaffnet. Jahre später sagte die Großmutter in ihren verwirrten Reden immer wieder: »Gott hat Nicolasito die Gelegenheit gegeben, diesem armen Mann das Leben zu schenken, aber er hat sie nicht zu nutzen gewusst.« Vielleicht meinte sie das, weil der Oberst ihr erzählt hatte, dass er in den Augen des überraschten Gegners Wehmut habe aufblitzen sehen. Er hatte ihr auch gesagt, dass der riesige Körper, als er wie ein Ceibastamm ins Gestrüpp stürzte, einen wortlosen Klagelaut von sich gab, »wie ein nass gewordenes Kätzchen«. Die orale Tradition schreibt Papalelo eine rhetorische Phrase zu, die er im Augenblick, als er sich dem Bürgermeister stellte, gesagt haben soll: »Die Kugel der Ehre hat über die Kugel der Macht gesiegt.« Das ist eine Sentenz, die dem Stil der Liberalen jener Zeit entspricht, aber ich habe sie nicht mit der Haltung des Großvaters vereinbaren können. Die Wahrheit ist, es gab keine Zeugen. Das Gerichtsprotokoll der Aussagen des Großvaters und der Geladenen von beiden Parteien wäre eine autorisierte Version gewesen, doch von der Akte, wenn es sie denn gegeben hat, ist nichts erhalten. Und von den vielen mündlichen Versionen, die ich bis zum heutigen Tage gehört habe, stimmten keine zwei überein.

Das Ereignis entzweite die Familien im Ort, sogar die Familie des Toten. Ein Teil von ihr wollte ihn rächen, während andere Verwandte Tranquilina Iguarán und ihre Kinder bei sich aufnahmen, bis die Gefahr einer Vergeltung geringer geworden war. Diese Details haben mich als Kind so beschäftigt, dass ich nicht nur die Bürde der großväterlichen Schuld auf mich nahm, als sei es meine eigene, sondern noch heute, da ich dies schreibe, mehr Mitgefühl für die Familie des Toten als für meine eigene empfinde.

Papalelo wurde aus Sicherheitsgründen nach Riohacha und später nach Santa Marta gebracht, wo sie ihn zu einem Jahr verurteilten: die Hälfte davon im Gefängnis und die andere im offenen Vollzug. Sobald er wieder frei war, reiste er mit der1 Familie für kurze Zeit nach Ciénaga, dann nach Panama, wo er mit einer Zufallsliebe eine Tochter zeugte, und bekam schließlich in der ungesunden und unbotmäßigen Gemeinde Aracataca eine Stellung als Bezirkssteuereinnehmer. Nie wieder ging er bewaffnet auf die Straße, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten der Gewalt während des Bananenbooms, und hatte den Revolver nur unter dem Kopfkissen liegen, um das Haus verteidigen zu können.

Aracataca war keineswegs die Oase der Ruhe, von der die Großeltern nach dem Albtraum mit Medardo Pacheco geträumt hatten. Der Ort war als Dorf der Chimila-Indios entstanden und stieg mit dem falschen Fuß in die Geschichte ein, eine abgelegene Gemeinde des Bezirks Ciénaga, ohne Gott und Gesetz, vom Bananenfieber eher verdorben als begünstigt. Aracataca ist nicht der Name eines Dorfes, sondern der eines Flusses, der in der Sprache der Chimilas Ära heißt; Cataca wiederum bezeichnet denjenigen, der in der Gemeinschaft das Sagen hatte. Deshalb nennen wir Einheimischen den Ort nicht Aracataca, sondern, wie es sich gehört, Cataca.

Als der Großvater versuchte, die Familie mit dem Märchen zu begeistern, dass dort das Geld auf der Straße liege, sagte Mina: »Das Geld ist der Scheißhaufen des Teufels.« Für meine Mutter war Cataca das Reich aller Schrecken. Der früheste Schrecken, an den sie sich erinnerte, war die Heuschreckenplage, von der die Felder verheert wurden, als sie noch ein kleines Kind war. »Es hörte sich an wie ein Wind aus Steinen«, sagte sie zu mir, als wir zum Verkauf des Hauses fuhren. Die entsetzten Einwohner hatten sich in ihren Zimmern verbarrikadieren müssen, und nur durch Hexenkünste war man der Geißel Herr geworden.

Zu jeder Jahreszeit wurden wir von trockenen Hurrikanen überrascht, sie trugen die Dächer der Hütten fort, fielen die frischen Bananenstauden an und hinterließen einen Sternen-staub, der das ganze Dorf bedeckte. Im Sommer suchten furchtbare Dürreperioden das Vieh heim, im Winter fielen kosmische Platzregen und verwandelten die Straßen in reißende Flüsse, auf denen die Ingenieure der Gringos in Gummibooten zwischen ertrunkenen Matratzen und toten Kühen fuhren. Die United Früh Company, deren künstliches Bewässerungssystem für das Wasserchaos verantwortlich war, leitete den Fluss um, als die übelste dieser Sintfluten die Leichen auf dem Friedhof an die Oberfläche schwemmte.

Die unheilvollste Plage waren jedoch die Menschen. Eine Eisenbahn, die wie ein Spielzeug aussah, spuckte auf den sengenden Sand des Ortes einen Laubsturm von Abenteurern aus aller Welt, die mit der Waffe in der Hand die Herrschaft über die Straßen übernahmen. Durch die ungestüme Prosperität stieg die Einwohnerzahl rapide, was zu einem unkontrollierbaren sozialen Durcheinander führte. Aracataca lag nur fünf Kilometer von der am Rio Fundacion gelegenen Strafkolonie Buenos Aires entfernt, deren Gefangene am Wochenende auszureißen pflegten, um in Aracataca den wilden Mann zu spielen. Am meisten ähnelte unser Ort den aufstrebenden Städtchen aus den Wildwestfilmen, besonders seitdem die Chimila-Hütten aus Palmstroh und Bambus allmählich durch die Holzhäuser der United Fruit Company ersetzt worden waren, Häuser mit Satteldächern aus Zinkblech, Fenstern mit Markisen und überdachten Gängen, die traurig blühende Kletterpflanzen zierten. Inmitten dieses Wirbels von unbekannten Gesichtern, von Zelten auf den öffentlichen Verkehrswegen, von Männern, die sich auf der Straße umzogen, Frauen, die mit geöffneten Regenschirmen auf ihren Koffern saßen, von vielen, vielen Maultieren, die in den Pferchen des Hotels verhungerten, waren die zuerst Gekommenen die Letzten. Wir blieben die Fremdlinge, die Zugereisten.

Gemetzel fanden nicht nur bei den samstäglichen Schlägereien statt. An einem ganz gewöhnlichen Nachmittag hörten wir Schreie auf der Straße und sahen einen Mann ohne Kopf auf einem Esel vorbeireiten. Auf einer Plantage waren alte Rechnungen beglichen worden, dabei hatte man ihn mit der Machete enthauptet, und sein Kopf war vom eisigen Strom des Bewässerungsgrabens mitgerissen worden. In jener Nacht hörte ich von meiner Großmutter die übliche Erklärung: »So etwas Grauenvolles kann nur ein Cachaco gemacht haben.«

Cachacos waren aus der anderen Hochebene Gebürtige, und vom Rest der Menschheit unterschieden sie sich für uns nicht nur, weil sie geziert taten und gestelzt sprachen, sondern auch, weil sie sich wie Boten der göttlichen Vorsehung aufführten. Dieses Auftreten erregte zunehmend Abscheu, so dass wir nach der grausamen Repression der Bananenstreiks durch Truppen aus dem Landesinneren die Soldaten nur noch Cachacos nannten. Wir sahen in ihnen die einzigen Nutznießer der politischen Macht, und viele von ihnen verhielten sich auch entsprechend. Nur so lässt sich der Horror der » Schwarzen Nacht von Aracataca« erklären, ein legendäres Blutbad, das eine so Ungewisse Spur im Gedächtnis des Volkes hinterlassen hat, dass es keinen sicheren Beweis dafür gibt, ob es tatsächlich stattgefunden hat.

Es begann an einem besonders schlimmen Sonnabend, als ein rechtschaffener Ortsansässiger, dessen Name nicht überliefert ist, mit einem Kind an der Hand in eine Bar trat und um ein Glas Wasser für den Kleinen bat. Ein Fremder, der allein am Tresen stand, wollte den Jungen zwingen, statt des Wassers einen Schluck Rum zu trinken. Der Vater versuchte das zu verhindern, der Fremde bestand jedoch darauf, bis der verängstigte Junge aus Versehen mit einem Handschlag den Rum verschüttete. Woraufhin der Fremde ihn ohne viel Federlesens mit einem Schuss niederstreckte.

Das war ein weiteres Gespenst meiner Kindheit. Papalelo erwähnte die Geschichte des Öfteren, wenn wir zusammen in einer Bar eine Erfrischung trinken wollten, aber es klang so unwirklich, dass nicht einmal er daran zu glauben schien. Der Vorfall muss sich kurz nach seiner Ankunft in Aracataca abgespielt haben, denn meine Mutter konnte sich nur noch an das Entsetzen erinnern, das die Ereignisse bei den Erwachsenen ausgelöst hatten.

Vom Täter war nur bekannt, dass er im gezierten Tonfall der Andenbevölkerung sprach, also richteten sich die Repressalien gegen jeden der vielen verhassten Fremden, der genauso sprach. Trupps von Einheimischen, bewaffnet mit Zuckerrohr-Macheten, fielen in die finsteren Straßen ein, packten sich jede unkenntliche Gestalt, auf die sie in der Dunkelheit stießen, und befahlen:

»Sprechen!«

Nur aufgrund der Aussprache hieben sie mit der Machete auf ihr Opfer ein, ohne zu bedenken, dass es bei so vielen verschiedenen Akzenten unmöglich war, gerecht zu verfahren. Don Rafael Quintero Ortega, der Mann meiner Tante Wenefrida Márquez, ein unverfälschter Cachaco und von allen sehr geliebt, konnte nur deshalb fast seinen hundertsten Geburtstag feiern, weil mein Großvater ihn damals in eine Speisekammer sperrte, bis sich die Gemüter beruhigt hatten.

Das Unglück der Familie gipfelte zwei Jahre nach dem Umzug nach Aracataca im Tod von Margarita Maria Miniata, die das Licht des Hauses war. Eine Daguerreotypie von ihr stand noch jahrelang im Salon, und ihr Name wurde von Generation zu Generation als eine der vielen Bezugsgrößen der Familienidentität beschworen.

Erst die jetzige Generation zeigt sich von jener Infantin in Rüschenröcken, weißen Stiefelchen und einem Zopf bis zur Taille weniger gerührt, da sie dieses Bild mit der klassischen Vorstellung von einer Urgroßmutter nicht vereinbaren kann. Trotz allem habe ich den Eindruck, dass für meine Großeltern, belastet vom schlechten Gewissen und enttäuscht in ihren Hoffnungen auf eine bessere Welt, der damalige Zustand ständiger Alarmbereitschaft dem Frieden am nächsten kam. Bis zu ihrem Tod fühlten sie sich stets und überall als Fremde.

Streng genommen waren sie das auch, doch bei den Menschenmengen, die uns die Eisenbahn aus aller Welt brachte, war es schwierig, eindeutige Unterscheidungen zu treffen. Zusammen mit meinem Großvater und den Seinen waren die Fergussons gekommen, die Durans, die Barcazas, die Dacontes, die Correas, und sie alle waren auf der Suche nach einem besseren Leben. Mit den durchwirbelten Fluten wurden noch weiterhin Italiener, Kanaren und Syrer, die wir Türken nannten, angeschwemmt; sie sickerten über die Grenzen der Provinz ein und suchten die Freiheit und ein anderes Leben, das ihnen die Heimat nicht mehr gewährte. Jegliche Herkunft und soziale Schicht war vertreten. Es gab auch Flüchtlinge von der Teufelsinsel, der französischen Strafkolonie in Guayana, Männer, die eher wegen ihrer Gedanken als wegen gemeiner Verbrechen verfolgt wurden. Einer von ihnen, der französische Journalist Rene Belvenoit, war aus politischen Gründen verurteilt worden, kam als Flüchtling in die Bananenregion und enthüllte in einem meisterhaften Buch das Grauen seiner Gefangenschaft. Dank all dieser Menschen - der guten wie der bösen - war Aracataca von Anfang an ein Land ohne Grenzen.

Unvergesslich war für uns jedoch die venezolanische Kolonie. In einem jener Häuser pflegten sich in den Ferien zwei junge Studenten in den eisigen Zisternen des Morgengrauens eimerweise mit Wasser zu bewerfen: Es waren Romulo Betancourt und Raul Leoni, die ein halbes Jahrhundert später einander in der Präsidentschaft ihres Landes ablösen sollten. Von den Venezolanern stand uns Misia Juana de Freytes am nächsten, eine stattliche Matrone mit einer alttestamentarischen Erzählgabe. Die erste richtige Erzählung, Genoveva von Brabant, hörte ich von ihr. Es folgten andere Meisterwerke der Weltliteratur, die sie zu Kindergeschichten zusammenschnurren lassen konnte: die Odyssee, Der rasende Roland, der Quijote, Der Graf von Monte Christo und viele Episoden aus der Bibel.

Die Kaste des Großvaters war besonders angesehen, aber ihr Einfluss war gering. Sie zeichnete sich jedoch durch eine Respektabilität aus, die sogar von den einheimischen Chefs der Bananengesellschaft anerkannt wurde. Es war die Kaste der liberalen Bürgerkriegsveteranen, die sich nach den letzten zwei Friedensverträgen in der Gegend angesiedelt hatten. Ihr gutes Vorbild war General Benjamin Herrera, auf dessen Finca in Neerlandia gegen Abend die Klagen seiner Friedensklarinette zu hören waren.

Meine Mutter wuchs in diesem verlorenen Nest zur Frau heran, und alle Liebe konzentrierte sich auf sie, nachdem der Typhus Margarita Maria Miniata dahingerafft hatte. Auch sie war kränklich. Das Wechselfieber hatte ihr eine Ungewisse Kindheit beschert, als sie aber vom letzten Anfall genas, tat sie dies gründlich und ein für alle Mal und war fortan so gesund, dass sie ihren siebenundneunzigsten Geburtstag mit ihren elf Kindern und vier weiteren ihres Ehemannes, mit fünfundsechzig Enkeln, achtundachtzig Urenkeln und vierzehn Ur-urenkeln feiern konnte. Nicht gezählt die, von denen man nie erfahren hat. Als wir uns schon darauf vorbereiteten, ihr erstes Jahrhundert zu feiern, starb sie am 9. Juni 2002 um halb neun Uhr abends eines natürlichen Todes, an eben dem Tag und fast zur selben Stunde, als ich den Schlusspunkt hinter diese Memoiren setzte.

Sie war am 25. Juli 1905 in Barrancas geboren worden, als die Familie sich gerade von der Katastrophe der Bürgerkriege erholte. Den ersten Namen bekam sie zum Andenken an Luisa Mejia Vidal, die Mutter des Obersts, die genau einen Monat zuvor verstorben war. Der zweite Name fiel ihr zu, weil es der Tag des in Jerusalem geköpften Apostels Santiago el Mayor, Jakobus des Älteren, war. Ein halbes Leben lang hat sie diesen zweiten Taufnamen, den sie zu männlich und zu prätentiös fand, geheim gehalten, bis ein treuloser Sohn sie in einem Roman verriet.

Sie war eine erfolgreiche Schülerin, nur nicht in der Klavierstunde, die ihr von der Mutter auferlegt worden war, weil diese sich keine anständige junge Dame vorstellen konnte, die nicht zugleich eine virtuose Klavierspielerin war. Gehorsam mühte sich Luisa Santiaga drei Jahre lang und gab dann eines Tages auf, weil sie der täglichen Fingerübungen in der drückenden Siestazeit überdrüssig war. Ihre Charakterstärke war die einzige Tugend, die ihr in der Blüte ihrer zwanzig Jahre wirklich nützte, als die Familie entdeckte, dass sie zu dem jungen und stolzen Telegrafisten von Aracataca in Liebe entbrannt war.

In meiner Jugend war die Geschichte dieser angefeindeten Liebe für mich eine Quelle des Staunens. Meine Eltern hatten sie mir -einzeln oder gemeinsam - so oft erzählt, dass ich, als ich mit siebenundzwanzig meinen ersten Roman Laubsturm schrieb, fast vollständig darüber verfügte, allerdings war mir auch bewusst, dass ich beim Romanschreiben noch viel zu lernen hatte. Meine Eltern waren beide vorzügliche Erzähler, hatten das glückliche Gedächtnis der Liebe, steigerten sich aber derart in ihre Erzählungen hinein, dass ich, als ich, gut fünfzigjährig, schließlich beschloss, ihre Geschichte in Die Liebe in den Zeiten der Cholera zu verwenden, nicht mehr in der Lage war, die Grenze zwischen Leben und Poesie auszumachen.

Nach der Version meiner Mutter waren sie sich zum ersten Mal bei der Trauerfeier für einen kleinen Jungen begegnet, über den weder er noch sie mir Genaueres sagen konnte. Sie sang gerade im Patio zusammen mit ihren Freundinnen, denn es war der Brauch, die neun Nächte der Unschuldigen mit Liebesliedern zu überbrücken. Plötzlich fiel eine Männerstimme in den Chor ein. Alle Mädchen drehten sich um und staunten über den gut aussehenden Neuankömmling. »Wir heiraten ihn«, sangen sie den Refrain des Liedes und schlugen mit den Händen den Takt. Meine Mutter war weniger beeindruckt, erzählte sie mir: »Ein Fremder mehr, dachte ich.« Und das war er. Er kam gerade aus Cartagena de Indias, hatte das Studium der Medizin und Pharmazie aus Geldmangel abgebrochen und seitdem in mehreren Städtchen der Region ein eher bescheidenes Leben als Telegrafist geführt -damals ein neuer Beruf. Ein Foto aus jenen Tagen zeigt ihn in der zweifelhaften Aufmachung eines mittellosen jungen Herrn. Er trägt einen dunklen Taftanzug, die Jacke, nach der Mode des Tages sehr eng geschnitten, hat vier Knöpfe, dazu ein Hemd mit steifem Kragen, eine breite Krawatte und einen flachen Strohhut. Außerdem trägt er eine modische Brille mit runden, ungeschlif-fenen Gläsern, die dünn gefasst sind. Wer ihn zu jener Zeit kennen lernte, hielt ihn für einen Bohemien, einen Nachtschwärmer und Weiberhelden, dabei hat er in seinem langen Leben keinen Schluck Alkohol getrunken und keine Zigarette geraucht.

Das war das erste Mal, dass meine Mutter ihn sah. Er aber hatte sie bereits am Sonntag zuvor bei der Acht-Uhr-Messe gesehen, bewacht von Tante Francisca Simodosea Mejía, die als Luisa Santiagas Anstandsdame auftrat, seitdem diese vom Internat heimgekehrt war. Am Dienstag darauf hatte er die beiden noch einmal gesehen, als sie unter den Mandelbäumen vor dem Hauseingang nähten, also wusste er am Abend der Totenfeier bereits, dass sie die Tochter von Oberst Nicolás Márquez war, für den man ihm mehrere Empfehlungsschreiben mitgegeben hatte. Auch sie wusste von da an, dass er Junggeselle und leicht entflammbar war und dass der Erfolg ihm unmittelbar zuwuchs dank seiner unerschöpflichen Beredsamkeit, seiner Leichtigkeit beim Verseschmieden, der Anmut, mit der er die Modetänze beherrschte, und der absichtsvollen Sentimentalität seines Geigenspiels. Meine Mutter erzählte mir, dass man unweigerlich die Lust zu weinen verspürte, wenn man ihn spät in der Nacht spielen hörte. Er empfahl sich der Gesellschaft mit Cuando el baile se acabo, einem Walzer von verzehrender Gefühligkeit, der in sein Repertoire gehörte und bald unverzichtbar für jede Serenade wurde. Diese Passierscheine des Herzens sowie sein persönlicher Charme öffneten ihm die Tür des Hauses und verschafften ihm häufig einen Platz am Familientisch. Tante Francisca, die aus Carmen de Bolívar stammte, adoptierte ihn vorbehaltlos, als sie erfuhr, dass er in Sincé, einem Nachbarstädtchen, geboren war. Luisa Santiaga hatte bei Geselligkeiten ihren Spaß an seinen Verführungskünsten, aber es kam ihr nie in den Sinn, dass er etwas mehr von ihr wollte. Im Gegenteil: Ihre gute Beziehung beruhte vor allem darauf, dass sie ihm als Alibi bei seiner heimlichen Liebe zu einer Schulkameradin diente und ihm versprochen hatte, Trauzeugin zu werden. Seitdem nannte er sie Patin und sie ihn Patensohn. Bei diesem Umgangston kann man sich leicht Luisa Santiagas Überraschung vorstellen, als in einer Ballnacht der kühne Telegrafist die Blume aus dem Knopfloch seines Revers zog und sagte: »Mit dieser Rose überantworte ich Ihnen mein Leben.« Das sei keine plötzliche Eingebung gewesen, hat er mir gegenüber oft beteuert, er sei vielmehr, nachdem er alle Mädchen kennen gelernt hatte, zu dem Schluss gekommen, dass Luisa Santiaga wie geschaffen für ihn war. Sie deutete das Ganze als einen weiteren der galanten Scherze, die er auch mit ihren Freundinnen machte, so dass sie, als sie heimging, die Rose sogar irgendwo vergaß, was er bemerkte. Sie hatte bislang erst einen heimlichen Verehrer gehabt, einen glücklosen Dichter und guten Freund, dem es mit seinen glühenden Versen nie gelungen war, ihr Herz zu erreichen. Die Rose von Gabriel Eligio störte jedoch mit unerklärlicher Macht ihren Schlaf. Bei unserem ersten richtigen Gespräch über die Geschichte ihrer Liebe gestand sie, die damals bereits so viele Kinder hatte: »Ich konnte nicht schlafen vor Wut, weil ich an ihn denken musste, aber noch wütender machte mich, dass ich in meiner Wut immer mehr an ihn dachte.« Die restliche Woche über konnte sie kaum die Angst ertragen, ihn womöglich zu sehen, noch die Qual, ihn nicht sehen zu können. Nichts mehr von Patin und Patensohn, jetzt verhielten sie sich wie Unbekannte. An einem jener Nachmittage, als sie wieder unter den Mandelbäumen nähten, stichelte Tante Francisca mit indianischem Hintersinn:

»Ich habe gehört, dass du eine Rose geschenkt bekommen hast.«

Wie es so üblich ist, sollte Luisa Santiaga als Letzte erfahren, dass die Stürme ihres Herzens schon allgemein bekannt waren. In den zahlreichen einzeln oder gemeinsam geführten Gesprächen mit ihr und meinem Vater stimmten sie darin überein, dass es für diese überwältigende Liebe drei Schlüsselsituationen gegeben hatte. Die erste war an einem Palmsonntag beim Hochamt. Luisa Santiaga saß mit Tante Francisca in einer Bank auf der Seite der Kanzel, als sie die Schritte seiner Flamencoabsätze auf dem Ziegelboden erkannte und er so nah vorbeikam, dass sie den lauen Hauch seines Duftwassers wahrnahm. Tante Francisca schien ihn nicht gesehen zu haben, und auch er schien die beiden Frauen nicht gesehen zu haben. In Wahrheit aber war alles von ihm genau eingefädelt, denn er war ihnen gefolgt, als er sie beim Telegrafenamt hatte vorbeigehen sehen. Er blieb nun an der Säule stehen, die dem Eingang am nächsten war, so dass er sie von hinten sehen konnte, sie ihn aber nicht. Nach einigen angespannten Minuten konnte Luisa Santiaga nicht mehr widerstehen und blickte über die Schulter zur Tür. Und meinte dann vor Wut sterben zu müssen, denn da stand er, schaute sie an, und ihre Blicke begegneten sich. »Genau das hatte ich geplant«, behauptete mein Vater glücklich, wenn er mir im Alter die Geschichte wieder einmal erzählte. Meine Mutter hingegen wurde nicht müde zu wiederholen, dass sie drei Tage lang ihren Zorn darüber, in die Falle getappt zu sein, nicht habe beherrschen können.

Das zweite Schlüsselerlebnis war ein Brief von ihm. Es war nicht der Brief, den sie von einem Dichter, von dem Geiger heimlicher Morgenstunden, erwartet hätte, sondern ein herrisches Billett, in dem er eine Antwort forderte, bevor er in der folgenden Woche nach Santa Marta reiste. Sie antwortete nicht. Sie sperrte sich in ihr Zimmer ein, fest entschlossen, die Gefühle abzutöten, die ihr keine Luft zum Leben ließen, bis Tante Francisca versuchte, sie zum Nachgeben zu bewegen, bevor es zu spät war. Um ihren Widerstand zu überwinden, erzählte sie ihr die beispielhafte Geschichte von Juventino Trillo, dem Verehrer, der unter dem Balkon seiner unerreichbaren Geliebten Wache hielt, jeden Abend von sieben bis zehn Uhr. Sie wies ihn harsch und auf jede mögliche Weise ab, entleerte schließlich sogar ihren Nachttopf über ihm, Abend für Abend. Es gelang ihr jedoch nicht, ihn zu vertreiben. Nach all den aggressiven Taufritualen war sie schließlich so gerührt von der Selbstlosigkeit dieser unbezwingbaren Liebe, dass sie ihn heiratete. Die Geschichte meiner Eltern erreichte solche Extreme nicht.

Die dritte Schlüsselsituation ergab sich bei einer vornehmen Hochzeit, zu der sie beide als Ehrengäste geladen waren. Luisa Santiaga fand keinen Vorwand, sich dieser familiären Verpflichtung zu entziehen. Das hatte sich Gabriel Eligio gedacht und erschien auf dem Fest, zu allem bereit. Sie konnte ihr Herz kaum im Zaum halten, als sie ihn mit allzu offensichtlicher Entschiedenheit quer durch den Saal kommen sah und er sie dann zum ersten Tanz aufforderte. »Das Blut pochte so heftig in meinem Körper, dass ich nicht mehr wusste, ob es aus Zorn oder aus Angst war«, erzählte sie mir. Er bemerkte es und setzte zum Prankenschlag an: »Sie müssen mir nicht mehr ihr Jawort geben, denn ihr Herz hat es mir bereits gesagt.«

Sie ließ ihn ohne weiteres mitten im Tanz im Saal stehen. Aber mein Vater verstand das auf seine Weise.

»Ich war glücklich«, sagte er zu mir.

Luisa Santiaga konnte kaum den Ärger über sich selbst ertragen, als sie im Morgengrauen von den Schmeicheltönen des vergifteten Walzers geweckt wurde: Cuando el baile se acaba - Als der Tanz endete. Am nächsten Tag gab sie frühmorgens Gabriel Eligio sämtliche Geschenke zurück. Diese unverdiente Kränkung, das Gerede über die Abfuhr auf dem Hochzeitsfest, der aufgeplusterte Zorn, all das schien kein Zurück mehr zu erlauben. Alle Welt hielt es für das rühmlose Ende eines Sommergewitters. Dieser Eindruck verstärkte sich, als Luisa Santiaga einen Rückfall ms Wechselfieber der Kindheit erlitt und ihre Mutter sie zur Erholung nach Manaure brachte, einem paradiesischen Winkel in den Ausläufern der Sierra Nevada. Meine Eltern haben stets bestritten, dass sie während dieser Monate miteinander in Verbindung standen, aber das ist nicht sehr glaubhaft, denn als Luisa Santiaga, erholt von ihrem Leiden, zurückkehrte, schienen beide auch von ihrer Verbitterung geheilt. Mein Vater erzählte, er sei zum Bahnhof gegangen, weil er das Telegramm gelesen hatte, in dem Mina ihre Heimkunft ankündigte, und dass ihm die Art und Weise, wie Luisa Santiaga seine Hand drückte, wie das Freimaurerzeichen für eine Liebesbotschaft erschienen sei. Sie hat das, mit der Diskretion und der Schamröte, mit der sie stets jener Jahre gedachte, bestritten. Tatsache aber ist, dass man sie von da an weniger zurückhaltend miteinander sah. Es fehlte nur das Ende, das Tante Francisca in der Woche darauf, während sie im Begoniengang nähten, ankündigte:

»Mina hat es erfahren.«

Luisa Santiaga hat immer gesagt, es sei der Widerstand der Familie gewesen, der die Deiche vor der Sturmflut brechen ließ, die sich in ihrem Herzen seit jener Nacht aufstaute, in der sie den Verehrer mitten im Tanz hatte stehen lassen. Es war ein erbitterter Krieg. Der Oberst versuchte, sich herauszuhalten, sah sich aber Minas Vorwürfen ausgesetzt, als sie merkte, dass auch er nicht so unschuldig war, wie er tat. Für alle Welt schien klar, dass nicht er, sondern sie für die Intoleranz verantwortlich war, dabei gehörte diese tatsächlich zum Gesetz des Stammes, für den jeder Bewerber ein Eindringling ist. Dieses atavistische Vorurteil, dessen Nachwirkungen noch heute zu spüren sind, hat aus uns eine große Gemeinde aus ledigen Frauen und lockeren Männern mit zahllosen Straßenkindern gemacht.

Die Freunde ergriffen je nach Alter Partei für oder gegen die Verliebten, und wer keinen entschiedenen Standpunkt hatte, dem wurde er durch die Geschehnisse aufgezwungen. Die jungen Leute wurden zu begeisterten Komplizen. Vor allem von Gabriel Eligio, der seine Rolle als Opfer sozialen Dünkels genüsslich ausleben konnte. Die Mehrzahl der Erwachsenen aber sahen in Luisa Santiaga das wertvollste Unterpfand einer reichen und mächtigen Familie, um das sich ein hergelaufener Telegrafist nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung bemühte. Luisa Santiaga selbst, die doch so gehorsam und willfährig gewesen war, stellte sich ihren Gegnern mit der Wildheit einer Löwenmutter. In der schärfsten ihrer vielen häuslichen Auseinandersetzungen verlor Mina die Beherrschung und erhob das Brotmesser gegen die Tochter. Luisa Santiaga hielt ihr regungslos stand. Als sich Mina dann plötzlich der kriminellen Energie ihres Zorns bewusst wurde, ließ sie das Messer fallen und schrie entsetzt: »Oh mein Gott!« Und legte die Hand auf die glühenden Kohlen im Herd, eine grausame Buße.

Zu den starken Argumenten gegen Gabriel Eligio gehörte seine uneheliche Geburt; seine Mutter hatte ihn im zarten Alter von vierzehn Jahren nach einer eher zufälligen Begegnung mit einem Schulmeister bekommen. Sie hieß Argemira García Paternina, eine schlanke weiße Frau von freiem Geist, die weitere Kinder, fünf Söhne und zwei Töchter, von drei verschiedenen Vätern hatte. Keinen von ihnen heiratete sie, und mit keinem lebte sie je unter einem Dach. Sie wohnte in ihrem Geburtsort Sincé und brachte ihre Kinderschar mit Zähnen und Krallen und einer unbändigen Zuversicht und Heiterkeit durch, die wir Enkel uns gern für einen Palmsonntag gewünscht hätten.

Gabriel Eligio war ein besonderes Exemplar dieser bettelarmen Sippe. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr hatte er fünf jungfräuliche Geliebte gehabt, wie er meiner Mutter in der Hochzeitsnacht an Bord des sturmgeschüttelten Schoners von Riohacha beichtete. Er gestand ihr, dass er als achtzehnjähriger Telegrafist im Dorf Achí mit einer von ihnen einen Sohn gezeugt hatte, Abelardo, der jetzt drei wurde. Zwanzigjährig, als er am Telegrafenamt in Ayapel beschäftigt war, hatte er mit einer anderen eine Tochter gezeugt, die Carmen Rosa hieß und nun einige Monate alt war. Er kannte sie nicht, ihrer Mutter hatte er jedoch Rückkehr und Ehe versprochen und hatte dieses Versprechen aufrechterhalten, bis sein Lebensweg durch die Liebe zu Luisa Santiaga eine andere Richtung genommen hatte. Den Ältesten hatte er vor einem Notar anerkannt, was er später auch mit seiner Tochter tun sollte, aber das waren bedeutungslose Formalitäten, die keinerlei Folgen vor dem Gesetz hatten. Es ist erstaunlich, dass dieses irreguläre Verhalten dem Oberst Márquez moralische Bauchschmerzen bereiten konnte, da er selbst außer seinen drei legitimen Kindern weitere neun mit unterschiedlichen Müttern gehabt hatte, sowohl vor als auch nach seiner Eheschließung, und alle Kinder waren von seiner Frau aufgenommen worden, als wären es die eigenen.

Ich kann nicht mehr rekonstruieren, wann ich zum ersten Mal von diesen Dingen erfuhr, jedenfalls haben mich die Entgleisungen der Vorfahren kaum berührt. Die Namen in der Familie dagegen weckten meine ganze Aufmerksamkeit, sie erschienen mir einzigartig. Zunächst die aus der mütterlichen Linie: Tranquilina, Wenefrida, Francisca Simodosea. Später der Name meiner Großmutter väterlicherseits, Argemira, und die Namen ihrer Eltern: Lozana und Aminadab. Vielleicht kommt daher meine feste Überzeugung, dass die Figuren in meinen Romanen erst auf eigenen Füßen stehen, wenn sie einen Namen haben, der ihrem Wesen entspricht.

Gegen Gabriel Eligio sprach neben allem anderen auch noch, dass er aktives Mitglied der konservativen Partei war, gegen die Oberst Nicolás Márquez seine Kriege gerührt hatte. Der Frieden war nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Neerlandia und Wisconsin nur notdürftig gesichert, denn es herrschte weiterhin ein ungelenker Zentralismus, und es sollte noch lange dauern, bis Konservative und Liberale einander nicht mehr die Zähne zeigten. Vielleicht war der Konservativismus des Werbenden eher auf das familiäre Umfeld als auf eine doktrinäre Überzeugung zurückzuführen, bei seinen Kritikern wog er aber schwerer als die guten Eigenschaften des jungen Mannes, etwa seine immer wache Intelligenz und seine über jeden Zweifel erhabene Rechtschaffenheit.

Papa war schwer durchschaubar und nicht leicht zufrieden zu stellen. Sein ganzes Leben lang war er sehr viel ärmer, als es den Anschein hatte, und die Armut war ihm stets ein verabscheuungswürdiger Feind, den er nie besiegen konnte, dem er sich aber auch nicht geschlagen gab. Mit eben dem Mut und der gleichen Würde überstand er damals in Aracataca die Anfeindung seiner Liebe zu Luisa Santiaga, in einem Hinterzimmer des Telegrafenamts, wo er immer eine Hängematte hatte, in der er allein schlafen konnte. Daneben stand aber auch noch ein Junggesellenbett mit gut geölten Federn, für das, was die Nacht ihm bescheren mochte. In einer bestimmten Lebensphase verlockten auch mich seine Angewohnheiten eines heimlichen Jägers, doch das Leben lehrte mich, dass dies die dürrste Form der Einsamkeit ist, und ich empfand großes Mitleid mit ihm.

Bis kurz vor seinem Tod noch hörte ich ihn erzählen, dass er in jenen schweren Tagen einmal mit Freunden in das Haus des Obersts musste und alle außer ihm aufgefordert wurden, Platz zu nehmen. Die Familie hat das immer abgestritten und Überreste des Grolls für solche Äußerungen verantwortlich gemacht oder sie zumindest als falsche Erinnerungen eingestuft, doch meiner Großmutter ist in den wirren Abschweifungen ihrer fast hundert Jahre, die sie nicht zu erinnern, sondern wieder zu leben schien, einmal etwas herausgerutscht:

»Da steht dieser arme Mann an der Tür zum Salon, und Nicolasito hat ihn nicht einmal aufgefordert, Platz zu nehmen«, sagte sie mit echtem Bedauern.

Ich reagierte immer neugierig auf ihre erstaunlichen Enthüllungen und fragte sie, wer dieser Mann denn sei, worauf sie, ohne nachzudenken, antwortete:

»García, der mit der Geige.«

Bei so vielen Abstrusitäten tat mein Vater etwas, was seiner Wesensart überhaupt nicht entsprach, er kaufte sich einen Revolver, um für das gewappnet zu sein, was ihm mit einem Krieger im Ruhestand wie dem Oberst Márquez widerfahren könnte. Es war ein ehrwürdiger 38er Smith & Wessen, der wer weiß wie viele Vorbesitzer und wie viele Tote auf dem Buckel hatte. Gewiss ist einzig und allein, dass mein Vater nie damit geschossen hat, auch nicht vorsichtshalber oder aus Neugier. Wir, seine älteren Söhne, haben den Revolver viele Jahre später mit den fünf ursprünglichen Kugeln in einem Schrank mit unnützem Trödel gefunden, gleich neben der Geige für die Ständchen.

Weder Gabriel Eligio noch Luisa Santiaga ließen sich von der Unerbittlichkeit der Familie einschüchtern. Am Anfang konnten sie sich noch heimlich bei Freunden treffen, als aber die Überwachung immer strenger wurde, ließ sich der Kontakt nur über Briefe aufrechterhalten, die sie sich auf einfallsreichen Wegen zukommen ließen. Sie sahen sich aus der Ferne, wenn man Luisa Samiaga nicht erlaubte, auf Feste zu gehen, zu denen auch er geladen war. Doch die Repressionen wurden schließlich so hart, dass niemand mehr wagte, den Zorn von Tranquilina Iguaran herauszufordern, und die Verliebten aus der Öffentlichkeit verschwanden. Als es keinen einzigen Weg mehr für die heimlichen Briefe gab, wurden sie wie Schiffbrüchige erfinderisch. Ihr gelang es, eine Glückwunschkarte in einem Napfkuchen zu verstecken, den jemand für Gabriel Eligios Geburtstag bestellt hatte, und er ließ keine Gelegenheit aus, ihr falsche, harmlose Telegramme zu schicken, in denen die richtige Botschaft verschlüsselt oder in Geheimtinte geschrieben war. Tante Franciscas Komplizenschaft wurde in diesem Zusammenhang so deutlich, dass auch striktes Leugnen ihr nichts nützte und ihre Autorität im Hause zum ersten Mal Schaden nahm; man erlaubte ihr nur noch, der Nichte beim Nähen unter den Mandelbäumen Gesellschaft zu leisten. Daraufhin schickte Gabriel Eligio von Doktor Barbozas Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Liebesbotschaften in der Gebärdensprache der Taubstummen. Luisa Santiaga lernte diese so gut, dass sie, war die Tante unaufmerksam, innige Gespräche mit ihrem Verlobten führen konnte. Das war einer der vielen Tricks, die sich Adnana Berdugo ausgedacht hatte; sie war nicht nur mit Luisa Santiaga zur ersten Kommunion gegangen, sondern auch ihre einfallsreichste und kühnste Komplizin.

Solche Trostpflästerchen hätten ihnen erlaubt, auf kleiner Flamme zu überleben, doch dann bekam Gabriel Eligio einen alarmierenden Brief von Luisa Santiaga, der ihn zu einer endgültigen Entscheidung zwang. Sie hatte ihm die schlechte Nachricht hastig auf Toilettenpapier geschrieben: Die Eltern hatten beschlossen, sie auf eine Reise von Dorf zu Dorf bis nach Barrancas mitzunehmen, eine Art Pferdekur für ihr Liebesleid. Es sollte nicht die übliche Reise mit der unangenehmen nächtlichen Überfahrt auf dem Schoner von Riohacha werden, vorgesehen war vielmehr die barbarische Landroute - mit Maultieren und Planwagen über die Ausläufer der Sierra Nevada durch die weite Provinz Padilla.

»Ich wäre lieber gestorben«, erzählte mir meine Mutter an dem Tag, als wir das Haus verkaufen wollten. Und sie hatte es auch wirklich versucht, sperrte sich drei Tage lang bei Wasser und Brot in ihrem Zimmer ein, bis sich die ehrerbietige Angst, die ihr der Vater einflößte, durchsetzte. Gabriel Eligio war bewusst, dass die Anspannung ihre Grenze erreicht hatte, und traf eine ebenfalls extreme, aber praktikable Entscheidung. Mit großen Schritten überquerte er die Straße, kam von Doktor Barbozas Haus in den Schatten der Mandelbäume und pflanzte sich vor den Frauen auf, die ihn erschrocken erwarteten, die Näharbeit auf dem Schoß.

»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich einen Augenblick mit der Senorita allein«, sagte er zu Tante Francisca. »Ich muss ihr etwas Wichtiges mitteilen.«

»Das ist dreist!«, erwiderte die Tante. »Es gibt nichts, was ich nicht hören dürfte.«

»Dann sage ich es nicht«, sagte er, »aber ich mache Sie darauf aufmerksam, die Verantwortung für das, was dann geschieht, tragen Sie.«

Luisa Santiaga flehte die Tante an, sie allem zu lassen, und übernahm die Verantwortung. Daraufhin teilte Gabriel Eligio Luisa mit, er sei damit einverstanden, dass sie die Reise mit den Eltern unternehme, wohin und wie lang auch immer, aber unter der Bedingung, dass sie ihm unter Eid verspreche, ihn zu heiraten. Das tat sie gerne und fügte auf eigene Gefahr hinzu, nur der Tod könne sie daran hindern.

Die beiden hatten fast ein Jahr, um die Ernsthaftigkeit ihres Gelöbnisses unter Beweis zu stellen, aber weder der eine noch die andere hatten sich vorstellen können, wie schwer es ihnen fallen würde. Der erste Teil der Reise mit einer Viehtreiber-Karawane über die Bergpfade der Sierra Nevada dauerte zwei Wochen auf Maultierrücken. Sie wurden von Chon - ein zärtlicher Diminutiv für Encarnación - begleitet, Wenefridas Dienstmädchen, das zur Familie gehörte, seit sie Barrancas verlassen hatten. Der Oberst kannte diese steile Route zu Genüge, hatte er doch dort in den verstreuten Nächten seiner Kriege eine Spur von Kindern hinterlassen, seine Frau aber hatte den Landweg, den sie nicht kannte, nur wegen der schlechten Erinnerungen an die Überfahrt mit dem Schoner vorgezogen. Für meine Mutter, die übrigens zum ersten Mal auf einem Maultier saß, war die Reise ein Albtraum aus nackten Sonnen und wilden Platzregen, und ihre Seele hing an einem Faden, so sehr fürchtete sie den einschläfernden Dunst der Abgründe. Die Gedanken an den Ungewissen Verlobten mit seinen Mitternachtsanzügen und seiner Geige des Morgengrauens waren wie ein Hohn der Phantasie. Am vierten Tag, ohne weitere Kraft zum Überleben, drohte sie der Mutter an, sich in den Abgrund zu stürzen, wenn sie nicht nach Hause zurückkehrten. Mina, die noch verängstigter war, beschloss die Heimkehr. Doch der Führer der Karawane bewies ihr anhand der Landkarte, dass es keinen Unterschied machte, ob sie vor- oder zurückgingen. Erleichterung stellte sich erst am elften Tag ein, als sie vom letzten Pass aus die leuchtende Ebene von Valledupar sahen.

Vor Ende dieser ersten Etappe hatte Gabriel Eligio dank der Komplizenschaft der Telegrafisten in den sieben Dörfern, in denen Luisa Santiaga und ihre Mutter sich vor der Ankunft in Barrancas aufhalten würden, bereits für eine ständige Verbindung zu der umherirrenden Verlobten gesorgt. Auch sie hatte das Ihre getan. Überall in der Provinz gab es Iguaranes und Cotes, ein undurchdringliches Gewebe, getränkt mit der Macht des Sippenbewusstseins, und es gelang Luisa Santiaga, sie alle auf ihre Seite zu ziehen. Das erlaubte ihr, von Valledupar aus, wo sie drei Monate blieb, bis zum Ende der Reise, fast ein Jahr später, eine fiebrige Korrespondenz mit Gabriel Eligio zu führen. Es genügte, unterstützt von der enthusiastischen jugendlichen Verwandtschaft, im jeweiligen Dorf zur Telegrafenstation zu gehen, um die Botschaften zu empfangen und zu beantworten. Eine unschätzbar wichtige Rolle übernahm dabei die verschwiegene Chon, denn sie trug die Botschaften in ihren Kleidern versteckt, wobei Luisa Santiaga sich keine Sorgen um ihre intimen Geheimnisse zu machen brauchte, da Chon weder lesen noch schreiben konnte und sich eher hätte töten lassen, bevor sie ihre Herrin verriet.

Fast sechzig Jahre später, als ich mich bemühte, diese Episoden in Die Liebe in den Zeiten der Cholera zu rekonstruieren, fragte ich meinen Vater, ob es in der Sprache der Telegrafisten einen Fachbegriff für das Verbinden eines Amtes mit dem anderen gäbe. Er musste nicht lange nachdenken: enclavijar, zuschalten. Der Begriff steht in den Wörterbüchern, allerdings nicht mit der Fachbedeutung, die ich brauchte, aber ich fand ihn perfekt für meine Zwecke, da die Verbindung unter den verschiedenen Stationen mittels eines Kontaktstöpsels auf der Schalttafel der telegrafischen Leitungen hergestellt wurde. Ich habe dann nie mehr mit meinem Vater darüber gesprochen. Kurz vor seinem Tod wurde er jedoch in einem Interview gefragt, ob er nicht einmal den Wunsch gehabt habe, einen Roman zu schreiben, und seine Antwort war: Ja, er habe aber davon Abstand genommen, als ich ihn über das Verb enclavijar ausfragte, weil ihm da klar geworden sei, dass ich genau den Roman schrieb, den er hätte schreiben wollen.

Bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich auch an einen mir unbekannten Umstand, der unser Schicksal in andere Bahnen hätte lenken können: Als meine Mutter sich nach sechsmonatiger Reise in San Juan del César aufhielt, bekam Gabriel Eligio den vertraulichen Hinweis, dass Mina den Auftrag habe, die endgültige Rückkehr der Familie nach Barrancas vorzubereiten, nachdem die durch den Tod von Medardo Pacheco geschlagenen Wunden wohl vernarbt waren. Das erschien ihm absurd, nun da die schlechten Zeiten hinter ihnen lagen und die absolute Herrschaft der Bananengesellschaft den Traum vom Gelobten Land näher zu rücken schien. Aber es wäre durchaus auch denkbar gewesen, dass die Márquez Iguarán in ihrem Starrsinn das eigene Glück opferten, nur um die Tochter aus den Krallen des Sperbers zu befreien. Woraufhin Gabriel Eligio sogleich beschloss, seine Versetzung ins Telegrafenamt von Riohacha zu beantragen, das etwa zwanzig Meilen von Barrancas entfernt liegt. Die Stelle war nicht frei, aber man versprach, seine Bewerbung zu berücksichtigen.

Es gelang Luisa Santiaga nicht, die geheimen Absichten ihrer Mutter zu ergründen, sie wagte es aber auch nicht, diese Möglichkeit auszuschließen, da ihr aufgefallen war, dass die Mutter immer sehnsuchtsvoller, aber auch immer friedlicher wirkte, je näher sie Barrancas kamen. Chon, die das Vertrauen aller genoss, lieferte auch keinen Hinweis. Um ihrer Mutter die Wahrheit zu entlocken, sagte Luisa Santiaga, sie fände es wundervoll, auf Dauer in Barrancas zu wohnen. Die Mutter stutzte und zögerte einen Augenblick, entschloss sich aber nicht, etwas dazu zu sagen, und der Tochter blieb der Eindruck, einem Geheimnis auf der Spur zu sein. In ihrer Unruhe vertraute sie sich einer Zigeunerin auf der Straße an, aber deren Karten wussten nichts über eine Zukunft in Barrancas. Stattdessen verkündeten sie ihr, nichts stünde einem langen und glücklichen Leben mit einem fernen Mann entgegen, den sie kaum kenne, der sie aber bis zum Tode lieben würde. Die Beschreibung dieses Mannes ließ ihre Seele in den Körper zurückkehren, da sie vor allem in der Wesensart Gemeinsamkeiten mit ihrem Verlobten entdeckte. Zum Schluss sagte die Zigeunerin ihr ohne Zögern voraus, dass sie sechs Kinder mit ihm haben werde. »Ich bekam einen Todesschreck«, sagte meine Mutter, als sie mir zum ersten Mal davon erzählte, denn sie hätte sich damals nicht im Entferntesten vorstellen können, dass sie sogar noch fünf Kinder mehr bekommen würde. Die beiden fühlten sich durch die Vorhersage derart ermuntert, dass ihre telegrafische Korrespondenz nun nicht länger ein Konzert illusorischer Absichtserklärungen war; sie wurde methodisch, praktisch und intensiver als je zuvor. Sie legten Daten fest, entwickelten Vorgehensweisen und verpfändeten ihr Leben auf den gemeinsamen Entschluss zu heiraten, ohne jemanden zu fragen, wo und wie auch immer, sobald sie sich wiedersähen.

Luisa Santiaga nahm dieses Versprechen so ernst, dass es ihr ungehörig erschien, ohne die Einwilligung des Verlobten im Städtchen Fonseca auf einen Ball zu gehen. Gabriel Eligio lag in seiner Hängematte und schwitzte vierzig Grad Fieber aus, als er das Signal für ein dringendes Telegramm träumte. Es war sein Kollege aus Fonseca. Um wirklich sicherzugehen, dass der Verlobte am anderen Ende die Tastatur betätigte, ließ sie nachfragen. Eher sprachlos als geschmeichelt übermittelte Gabriel Eligio einen Erkennungssatz: »Sagen Sie ihr, ich bin ihr Patensohn.« Meine Mutter erfasste die Parole und blieb bis sieben Uhr früh auf dem Ball, dann musste sie sich im Fluge umziehen, um nicht zu spät zur Messe zu kommen.

In Barrancas stießen sie auf keinerlei feindselige Stimmung gegenüber der Familie. Im Gegenteil, unter den Angehörigen von

Medardo Pacheco herrschte siebzehn Jahre nach dem Unglück die Bereitschaft zu christlichem Vergeben und Vergessen vor. Von der eigenen Verwandtschaft wurden sie so herzlich aufgenommen, dass nun Luisa Santiaga ihrerseits die Möglichkeit erwog, die Familie könnte in diesen ruhigen Winkel zurückkehren, der so gar nicht an die Hitze und den Staub, die blutigen Sonnabende und die enthaupteten Gespenster von Aracataca erinnerte. Sie ließ es Gabriel Eligio gegenüber durchblicken, Voraussetzung sei natürlich seine Versetzung nach Riohacha, und er war einverstanden. In jenen Tagen stellte sich dann jedoch heraus, dass das Gerücht von dem Umzug jeder Grundlage entbehrte und gerade Mina am wenigsten an einer Rückkehr interessiert war. So stand es in einem Antwortbrief an ihren Sohn Juan de Dios, der ihr voller Sorge angesichts der Aussicht geschrieben hatte, nach ßarrancas zurückzukehren, bevor der Tod von Medardo Pacheco sich zum zwanzigsten Mal jährte. Juan de Dios war so überzeugt von der Unerbittlichkeit des Rachegesetzes von Guajira, dass er nicht zuließ, dass sein Sohn Eduarde den medizinischen Sozialdienst in Barrancas ableistete.

Entgegen jeder Befürchtung lösten sich dort innerhalb von drei Tagen alle Knoten. An eben dem Dienstag, an dem Luisa Santiaga Gabriel Eligio melden konnte, Mina denke nicht daran, nach Barrancas zu ziehen, bekam er den Bescheid, dass er das Telegrafenamt von Riohacha übernehmen könne, da der Inhaber plötzlich verstorben sei. Am Tag darauf war Mina auf der Suche nach einer Geflügelschere, leerte dabei die Schubfächer in der Speisekammer und öffnete ohne Not die englische Keksdose, in der die Tochter ihre Liebestelegramme versteckt hatte. Minas Zorn war so groß, dass sie nur eine ihrer berühmten Schmähungen hervorbrachte, die sie in ihren schlechten Stunden aus dem Stegreif erfand: »Gott vergibt alles, nur nicht den Ungehorsam.« Am Wochenende fuhren sie nach Riohacha, um am Sonntag den Schoner nach Santa Marta zu besteigen. Keine der beiden nahm die fürchterliche Nacht im Februarsturm richtig wahr: Die Mutter war zermalmt von der Niederlage, die Tochter ängstlich, aber glücklich.

Auf dem Festland gewann Mina die Haltung zurück, die der Fund der Briefe ihr geraubt hatte. Am nächsten Morgen fuhr sie allein um sieben Uhr mit dem Bummelzug nach Aracataca weiter und ließ Luisa Santiaga unter der Obhut ihres Sohnes Juan de Dios in Santa Marta zurück, in der Gewissheit, sie vor den Teufeln der Liebe schützen zu können. Das Gegenteil war der Fall: Wann immer er konnte, fuhr Gabriel Eligio nun nach Santa Marta. Onkel Juanito, der die Unerbittlichkeit seiner Eltern in Liebesdingen selbst bei seiner Verlobung mit Dilia Caballero erlitten hatte, war entschlossen, bei der Liebe seiner Schwester für keinen Partei zu ergreifen, in der Stunde der Wahrheit jedoch sah er, der seine Schwester anbetete und seine Eltern verehrte, sich in der Zwickmühle, und er flüchtete sich in einen Kompromiss, der für seine sprichwörtliche Güte spricht: Er ließ zu, dass die Verlobten, sich außerhalb seines Hauses trafen, aber nie allein, und er wollte es auch nicht wissen. Seine Frau Dilia Caballero, die zwar verzeihen, aber nicht vergessen konnte, ersann für ihre Schwägerin die gleichen unfehlbaren Zufälle und meisterhaften Listen, mit denen sie selbst die Überwachung durch ihre Schwiegereltern durchkreuzt hatte. Gabriel und Luisa trafen sich zunächst bei Freunden, doch nach und nach trauten sie sich auch in die Öffentlichkeit, an Orte, wo nicht zu viele Menschen waren. Am Ende wagten sie es sogar, sich durchs Fenster zu unterhalten, wenn Onkel Juanito nicht zu Hause war, sie stand im Salon, er auf der Straße, getreu der eingegangenen Verpflichtung, sich nicht im Haus zu sehen. Das hohe Fenster schien wie geschaffen für verbotene Liebschaften, es hatte ein durchgehendes andalu-sisches Gitter, war eingerahmt von Kletterpflanzen, und in der Hitze der Nacht fehlte nie ein Hauch von Jasmin. Dilia hatte alles vorausbedacht, hatte sogar ein paar Nachbarn eingeweiht, die mit Pfeifsignalen das Pärchen vor drohender Gefahr warnen sollten. Eines Nachts versagten jedoch alle Sicherheitsvorkehrungen, und Juan de Dios kapitulierte angesichts der Wahrheit. Dilia nützte die Gelegenheit, um die Verlobten beide in den Salon zu bitten, damit sie bei offenem Fenster ihre Liebe mit dem Rest der Welt teilen konnten. Meine Mutter hat nie den Stoßseufzer ihres Bruders vergessen: »Was für eine Erleichterung!«

In jenen Tagen erhielt Gabriel Eligio die offizielle Ernennung für das Telegrafenamt von Riohacha. Beunruhigt über eine neuerliche Trennung wandte sich meine Mutter an Monseñor Pedro Espejo, den damaligen Vikar der Diözese, in der Hoffnung, er würde sie auch ohne die Erlaubnis der Eltern trauen. Dieser Priester hatte inzwischen ein so großes Ansehen, dass viele Pfarrkinder ihn für heilig hielten, und manche kamen nur deshalb zur Messe, weil sie sehen wollten, ob er sich im Augenblick der Wandlung nicht tatsächlich ein paar Zentimeter über den Boden erhob. Als Luisa Santiaga ihn um Hilfe bat, bewies er einmal mehr, dass Intelligenz ein Privileg der Heiligkeit ist. Er weigerte sich, in den inneren Bereich einer Familie einzudringen, die so eifersüchtig über ihre Intimsphäre wachte, und entschied sich für die Alternative, über die Diozesankurie heimliche Informationen über die Familie meines Vaters einzuholen. Der Gemeindepfarrer von Sincé ließ Argemira Garcías Freizügigkeiten außer Acht und antwortete mit einer wohlwollenden Formel: »Es handelt sich um eine anständige, aber nicht sehr fromme Familie.« Monseñor unterhielt sich sodann mit den Verlobten, mit jedem einzeln und mit beiden zusammen, und schrieb einen Brief an Nicolás und Tranquilina, in denen er ihnen voller Rührung seine Gewissheit kundtat, keine menschliche Macht könne diese leidenschaftliche Liebe besiegen. Meine Großeltern gaben sich Gottes Allmacht geschlagen, beschlossen, das schmerzliche Blatt zu wenden, und verliehen Juan de Dios alle Vollmachten, die Hochzeit in Santa Marta auszurichten. Sie selbst kamen nicht, schickten aber Francisca Simodosea als Trauzeugin.

Die beiden heirateten am 11. Juni 1926 in der Kathedrale von Santa Marta mit vierzig Minuten Verspätung, weil die Braut das Datum vergessen hatte und man sie nach acht Uhr morgens wecken musste. In derselben Nacht noch gingen sie wieder einmal an Bord des Furcht erregenden Schoners, weil Gabriel Eligio in Riohacha sein Amt antreten musste, und verbrachten, seekrank und geschwächt, in Keuschheit ihre erste gemeinsame Nacht.

Meine Mutter gedachte immer mit solcher Sehnsucht des Hauses, in dem sie ihre Flitterwochen verlebt hatte, dass ihre größeren Kinder es Zimmer für Zimmer hätten beschreiben können, so als hätten auch wir darin gewohnt, und bis heute gehört es zu meinen falschen Erinnerungen. Als ich dann das erste Mal wirklich auf die Halbinsel La Guajira kam, kurz vor meinem sechzigsten Geburtstag, war ich überrascht, weil das Telegrafenamt nichts mit meinen Erinnerungen zu tun hatte. Und das idyllische Riohacha, das ich seit meiner Kindheit im Herzen trug, mit seinen Salpeterstraßen, die zu einem morastigen Meer hinunterführen, war nicht mehr als ein von den Großeltern geborgtes Traumbild. Mehr noch: Auch jetzt, da ich Riohacha kenne, gelingt es mir nicht, mir die Stadt so vorzustellen, wie sie ist, sondern nur so, wie ich sie Stein für Stein aus meiner Phantasie erbaut hatte.

Zwei Monate nach der Hochzeit erreichte Juan de Dios ein Telegramm meines Vaters mit der Nachricht, dass Luisa Santiaga schwanger sei. Die Neuigkeit erschütterte das Haus in Aracataca bis in die Grundfesten, denn Mina hatte sich noch nicht von ihrer Verbitterung erholt. Sie und auch der Oberst streckten jedoch die Waffen, damit die Frischvermählten zu ihnen zurückkehrten. Das war nicht leicht. Nach mehrmonatigem würdigen und begründeten Widerstand ließ sich Gabriel Eligio darauf ein, dass seine Frau das Kind in ihrem Elternhaus zur Welt brachte.

Kurz nach dieser Entscheidung empfing ihn mein Großvater an der Bahnstation mit einem Satz, der goldgerahmt in die Familienchronik eingegangen ist: »Ich bin bereit, Ihnen jede notwendige Genugtuung widerfahren zu lassen.« Die Großmutter renovierte das Zimmer, das bis dahin ihr eigenes gewesen war, und brachte dort meine Eltern unter. Im Laufe des Jahres verzichtete Gabriel Eligio dann auf seinen guten Posten als Telegrafist und widmete sich mit autodidaktischem Talent einer fast vergessenen Wissenschaft: der Homöopathie. Indes bemühte sich der Großvater - aus Dankbarkeit oder aus Reue - bei den Behörden darum, dass die Straße, in der wir in Aracataca wohnten, in Avenida Monseñor Espejo umbenannt wurde; den Namen trägt sie noch heute.

So wurde also in Aracataca der erste von sieben Söhnen und vier Töchtern geboren, am 6. März 1927 um neun Uhr morgens, bei einem für die Jahreszeit höchst ungewöhnlichen Platzregen, während am Horizont das Sternbild des Stieres aufzog. Der Knabe wäre fast von der Nabelschnur stranguliert worden, da die Hebamme der Familie, Santos Villero, im ungünstigsten Augenblick die Übersicht verlor. So auch Tante Francisca, die zur Eingangstür rannte und wie bei einer Feuersbrunst schrie:

»Ein Junge! Ein Junge!« Und gleich darauf, wie beim Sturmläuten: »Rum her, er erstickt.«

Die Familie vermutet, dass der Rum nicht zum Feiern gedacht war, sondern um den Neugeborenen mit Einreibungen wiederzubeleben. Misia Juana de Freytes, eine große venezolanische Dame, die gerade zum rechten Augenblick das Zimmer betrat, hat mir oft erzählt, die größte Gefahr sei nicht die Nabelschnur gewesen, sondern vielmehr die ungünstige Lage meiner Mutter. Sie rückte sie noch rechtzeitig in eine andere Position, aber es war nicht leicht, mich wiederzubeleben, so dass Tante Francisca das Taufwasser für Notfälle über mich schüttete. Ich hätte eigentlich Olegario heißen sollen, das war der Heilige des Tages, doch niemand hatte einen Heiligenkalender zur Hand, also gaben sie mir in der Eile den Namen meines Vaters, und dazu noch den des Zimmermanns, José, weil er der Patron von Aracataca und März sein Monat war. Misia Juana de Freytes schlug noch einen dritten Namen vor, um der allgemeinen Versöhnung zu gedenken, die innerhalb der Familie und des Freundeskreises mit meiner Geburt stattgefunden hatte, aber auf dem offiziellen Taufschein, der drei Jahre später ausgestellt wurde, vergaß man ihn: Gabriel José de la Concordia.