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Als der Niedergang von Aracataca besiegelt war, der Großvater gestorben und das, was noch von seinem unbestimmten Einfluss überdauert haben mochte, erloschen, waren wir, die wir davon gelebt hatten, den wehmütigen Erinnerungen ausgeliefert. Das Haus hatte seine Seele verloren, seitdem niemand mehr mit dem Zug kam. Mina und Francisca Simodosea blieben in der Obhut von Elvira Carrillo zurück, die sich sklavisch ergeben um beide kümmerte. Nachdem die Großmutter das Augenlicht und die Geistesklarheit verloren hatte, nahmen meine Eltern sie zu sich, damit sie wenigstens zum Sterben ein besseres Leben hätte. Tante Francisca, Jungfrau und Märtyrerin, nahm wie immer kein Blatt vor den Mund, verblüffte mit ihren harschen Sprüchen und weigerte sich auch, die Schlüssel des Friedhofs und die Hostienherstellung abzugeben, mit dem Argument, Gott hätte sie zu sich gerufen, wenn es sein Wille gewesen wäre. An irgendeinem beliebigen Tag setzte sie sich mit mehreren ihrer makellos weißen Leinentücher in die Tür ihres Zimmers und begann, nach Maß das eigene Totenhemd zu nähen, und sie machte das so sorgfältig, dass der Tod gut zwei Wochen warten musste, bis sie es fertig hatte. An diesem Abend ging sie, ohne sich von jemandem zu verabschieden, zu Bett, sie war nicht krank, noch litt sie an Schmerzen, legte sich also bei bester Gesundheit zum Sterben nieder. Erst später stellte man fest, dass sie die Nacht zuvor ihren eigenen Totenschein ausgefüllt und die Vorkehrungen für ihr Begräbnis getroffen hatte. So blieb Elvira Carrillo, die ebenfalls aus eigenem Willen nie einen Mann erkannt hatte, in der maßlosen Einsamkeit des Hauses allein zurück. Gegen Mitternacht schreckte sie von dem ewigen Husten in den Nachbarzimmern auf, aber das machte ihr nichts aus, weil sie daran gewöhnt war, auch das Leid des übernatürlichen Lebens zu teilen.

Ihr Zwillingsbruder Esteban Carrillo blieb bis ins hohe Alter geistig klar und dynamisch. Einmal, als ich mit ihm frühstückte, erinnerte ich mich mit allen optischen Einzelheiten daran, wie sie seinen Vater, meinen Großvater, auf dem Schiff in der Ciénaga über Bord hatten werfen wollen, wie er von der Menge hochgehoben worden war, die ihn - wie die Fuhrleute den Sancho Panza - vertrimmen wollte. Papalelo war inzwischen verstorben, und ich erzählte Onkel Esteban von dem Vorfall, weil ich ihn komisch fand. Der Onkel aber sprang auf, wütend, weil ich keinem gleich davon erzählt hatte, und zugleich erpicht darauf, dass ich den Mann aus der Erinnerung identifizierte, der sich damals mit dem Großvater unterhalten hatte, damit dieser ihm sagen könne, wer seinen Vater zu ertränken versucht hatte. Er verstand auch nicht, warum dieser sich nicht gewehrt hatte, war er doch ein guter Schütze, der in zwei Bürgerkriegen oft in der Feuerlinie gestanden hatte, der mit dem Revolver unter dem Kopfkissen schlief und auch in Friedenszeiten einen Herausforderer im Duell getötet hatte. Wie auch immer, sagte Esteban zu mir, es sei nie zu spät für ihn und seine Brüder, den Affront zu rächen. Das war das Guajira-Gesetz: Für die Beleidigung, die einem Familienmitglied zugefügt wurde, mussten alle Männer aus der Familie des Aggressors büßen. Mein Onkel Esteban war derart entschlossen, dass er den Revolver zog und auf den Tisch legte, um keine Zeit zu verlieren, während er mich befragte. Von da an keimte jedes Mal, wenn wir uns auf unseren Fahnen an der karibischen Küste trafen, erneut die Hoffnung in ihm, ich könnte mich erinnert haben. Eines Abends, zu der Zeit, als ich die Geschichte der Familie für einen ersten Roman durchforschte, den ich nie beendete, tauchte Onkel Esteban in meinem kleinen Büro bei der Zeitung auf und schlug mir vor, wir sollten gemeinsam eine Untersuchung des Attentats betreiben. Er gab nie auf. Als ich ihn zum letzten Mal in Cartagena de Indias sah, er war schon alt und hatte ein schrundiges Herz, verabschiedete er sich mit einem traurigen Lächeln von mir:

»Ich weiß nicht, wie du mit einem so schlechten Gedächtnis hast Schriftsteller werden können.«

Als es in Aracataca nichts mehr zu tun gab, brachte mein Vater uns wieder einmal nach Barranquilla, um ohne einen Centavo Kapital eine neue Apotheke aufzumachen, allerdings mit einem guten Kredit von den Großhändlern, die bei vorherigen Geschäften seine Partner gewesen waren. Es war nicht die fünfte Apotheke, wie wir unter uns sagten, sondern immer ein und dieselbe, die wir -dem jeweiligen geschäftlichen Riecher meines Vaters folgend -von einer Stadt in die andere verlegten: Zweimal war Barranquilla dran, zweimal Aracataca und einmal Sincé. Mit keiner hat er viel verdient und mit allen geringfügige Schulden gemacht. Ohne Großeltern, Tanten, Onkel oder Personal bestand die Familie nur noch aus den Eltern und den Kindern, die nach neun Ehejahren nun schon sechs waren - drei Jungen und drei Mädchen.

Mich machte diese Veränderung in meinem Leben höchst unruhig. Als kleines Kind hatte ich meine Eltern mehrmals in Barranquilla besucht, aber immer nur kurz, und meine Erinnerungen aus jener Zeit sind sehr bruchstückhaft. Beim ersten Besuch, anlässlich der Geburt meiner Schwester Margot, war ich drei. Ich erinnere mich an den moorig riechenden Hafen im Morgengrauen, den einspännigen Wagen, dessen Kutscher mit der Peitsche die Gepäckträger verscheuchte, die in den leeren, staubigen Straßen aufspringen wollten. Ich erinnere mich an die ockerfarbenen Mauern und die grün gestrichenen Fenster und Türen der Geburtsklinik, wo das Mädchen zur Welt gekommen war, und an das stark nach Medizin riechende Zimmer. Das Neugeborene lag in einem einfachen Eisenbett am Ende eines kahlen Raums neben einer Frau, die zweifellos meine Mutter war, aber ich kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern, nur an ihre Anwesenheit und daran, dass sie eine schwache Hand nach mir ausstreckte und seufzte:

»Du kennst mich nicht mehr.«

Weiter nichts. Das erste deutliche Bild, das ich von ihr habe, ist aus späteren Jahren, es ist scharf und unanzweifelbar, ich kann es jedoch zeitlich nicht genau einordnen. Wahrscheinlich war es bei einem ihrer Besuche in Aracataca nach der Geburt meiner zweiten Schwester, Aida Rosa. Ich spielte gerade im Hof mit einem frisch geborenen Lämmchen, das die Hebamme Santos Villero mir aus Fonseca mitgebracht hatte, als Tante Mama angerannt kam und mir entsetzt - wie mir schien - zurief:

»Deine Mutter ist gekommen!«

Tante Mama schleifte mich förmlich zum Salon, wo alle Frauen des Hauses und ein paar Nachbarinnen wie bei einer Trauerfeier auf den an den Wänden aufgereihten Stühlen saßen. Das Gespräch wurde von meinem plötzlichen Erscheinen unterbrochen. Ich stand versteinert in der Tür, wusste nicht, wer meine Mutter war, bis sie mit der zärtlichsten Stimme, die ich je gehört habe, die Arme ausbreitete:

»Du bist ja schon ein kleiner Mann!«

Sie hatte eine feine römische Nase, war würdevoll und blass und wirkte in der Mode dieses Jahres vornehmer denn je: Sie trug ein elfenbeinfarbenes Seidenkleid mit verlängerter Taille, eine mehrreihige Perlenkette, silbrige Riemchenschuhe mit hohem Absatz, dazu einen glockenförmigen Strohhut wie aus einem Stummfilm. Ihre Umarmung hüllte mich in ihren Duft ein, den ich dann immer an ihr gerochen habe, und ein jähes Schuldgefühl durchfuhr Körper und Seele, denn ich wusste, es war meine Pflicht, sie zu lieben, fühlte aber nichts dergleichen.

Die älteste Erinnerung an meinen Vater stammt dagegen nachweisbar und eindeutig vom 1.Dezember 1934, seinem dreiunddreißigsten Geburtstag. Ich sehe ihn mit schnellem, fröhlichem Schritt ins Haus der Großeltern in Cataca kommen, er trägt einen weißen Leinenanzug und eine Kreissäge auf dem Kopf. Jemand beglückwünscht ihn mit einer Umarmung und fragt, wie alt er geworden sei. Seine Antwort habe ich nie vergessen, weil ich sie in jenem Moment nicht verstand:

»So alt wie Christus.«

Ich habe mich immer gefragt, warum mir diese Erinnerung so weit zurückzu liegen scheint, war ich doch zu der Zeit zweifellos schon oft mit meinem Vater zusammen gewesen.

Wir hatten noch nie im selben Haus gelebt, nach Margots Geburt machten es sich die Großeltern jedoch zur Gewohnheit, mit mir nach Barranquilla zu fahren, so dass ich dann bei Aida Rosas Geburt nicht mehr so fremd dort war. Ich glaube, es war ein glückliches Haus. Sie hatten ihre Apotheke darin und eröffneten später eine zweite im Geschäftszentrum. Wir sahen Großmutter Argemira - Mama Gime - wieder, auch zwei ihrer Kinder, Julio und Ena. Letztere war sehr schön, aber in der Familie für ihr Unglück berühmt. Sie starb mit fünfundzwanzig Jahren, man weiß nicht woran, und es heißt immer noch, dass der böse Zauber eines abgewiesenen Verehrers schuld daran war. Mama Gime erschien mir, je größer wir wurden, immer sympathischer und ihr Mundwerk immer lockerer.

In eben der Zeit kam es zu einem Zwischenfall, mit dem meine Eltern meine Gefühle dermaßen erschütterten, dass davon eine nur schwer zu vergessende Narbe zurückblieb. Es war an einem Tag, an dem sich meine Mutter, von plötzlicher Sehnsucht erfasst, ans Klavier setzte und Cuando el baile se acabó zu klimpern begann, den historischen Walzer ihrer heimlichen Liebe, und mein Vater in romantischer Verspieltheit seine Geige entstaubte, um meine Mutter darauf zu begleiten, obwohl eine Saite fehlte. Sie fiel mühelos in seinen Stil der romantischen Nächte ein, spielte besser denn je und sah ihn schließlich beglückt über die Schulter an, wobei sie merkte, dass seine Augen feucht von Tränen waren. »An wen denkst du?«, fragte meine Mutter in wilder Einfalt. »An das erste Mal, als wir ihn zusammen gespielt haben«, erwiderte er, vom Walzer inspiriert. Woraufhin meine Mutter wütend mit beiden Fäusten auf die Tasten schlug.

»Das war nicht ich, du Jesuit!«, schrie sie laut. »Du weißt sehr wohl, mit wem du den Walzer gespielt hast, und du weinst um sie.«

Sie nannte keinen Namen, damals nicht und auch später nie, doch der Schrei ließ uns Kinder an verschiedenen Stellen des Hauses vor Entsetzen erstarren. Luis Enrique und ich, die wir immer geheime Gründe hatten, etwas zu fürchten, versteckten uns unter den Betten. Aida floh ins Nachbarhaus, und Margot verfiel in ein plötzliches Fieberdelirium, das drei Tage dauerte. Dabei waren selbst die kleineren Geschwister an die Eifersuchtsexplosionen meiner Mutter gewohnt, ihre Augen standen dann in Flammen, und ihre römische Nase wurde scharf wie ein Messer. Wir hatten erlebt, wie sie mit seltener Ruhe die Bilder im Salon abhängte und eins nach dem anderen im klirrenden Glashagel auf den Boden schmetterte. Wir hatten sie dabei ertappt, wie sie Stück für Stück die Kleidung meines Vaters beschnüffelte, bevor sie in den Wäschekorb kam. Nach der Nacht des tragischen Duetts geschah erst einmal nichts, doch dann transportierte der florentinische Klavierstimmer das Klavier ab, um es zu verkaufen, und die Geige vermoderte endgültig neben dem Revolver im Schrank.

Barranquilla war damals ein Vorbild für zivilen Fortschritt, für einen gemäßigten Liberalismus und eine friedliche politische Koexistenz. Entscheidende Faktoren für das Wachstum und die Prosperität der Stadt waren das Ende der Bürgerkriege, die nach der Unabhängigkeit von Spanien über ein Jahrhundert lang das Land heimgesucht hatten, und später der Niedergang der Bananenzone, die unter der heftigen Repression, von der sie nach dem großen Streik betroffen war, schwer gelitten hatte.

Der unternehmerische Geist der Einwohner von Barranquilla war nicht kleinzukriegen. Im Jahre 1919 hatte der junge Industrielle Don Mario Santodomingo - der Vater von Julio Mario - zivilen Ruhm errungen: Von einem primitiven Flugzeug aus, das der Nordamerikaner William Knox Martin steuerte, warf er einen Sack mit siebenundfünfzig Briefen auf den Strand von Puerto Colombia und weihte damit den nationalen Luftpostdienst ein. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kam eine Gruppe von deutschen Fliegern -darunter Helmuth von Krohn - nach Kolumbien und eröffnete die Fluglinien mit Junkers F-I5, den ersten Wasserflugzeugen, die mit sechs tollkühnen Passagieren und den Postsäcken wie Grashüpfer die Route des Rio Magdalena hinter sich brachten. Das war der Keim der kolumbianisch-deutschen Gesellschaft für Lufttransporte - SCADTA -, einer der ältesten Fluglinien der Welt. Der Umzug nach Barranquilla bedeutete für mich nicht einfach einen Wechsel von Stadt und Haus, sondern im Alter von elf Jahren einen Wechsel des Vaters. Der neue war ein großartiger Mann, hatte aber eine Auffassung von väterlicher Autorität, die sich entscheidend von der unterschied, die Margot und mich im Haus der Großeltern glücklich gemacht hatte. Gewohnt daran, unsere eigenen Herren zu sein, fiel es uns schwer, uns einem fremden Regiment anzupassen. Was ich bei Papa so bewunderungswürdig und anrührend fand, war, dass er sich alles selbst beigebracht hatte, und er war der gierigste, wenn auch unsystematischste Leser, den ich kennen gelernt habe. Nachdem er die Medizin aufgegeben hatte, widmete er sich im Selbststudium der Homöopathie, die damals keine akademische Ausbildung erforderte, und bekam seine Lizenz mit Auszeichnung. Er hatte jedoch nicht die Kraft meiner Mutter, Krisen durchzustehen. Die schlimmsten verbrachte er in seinem Zimmer in der Hängematte, las dabei alles Gedruckte, was ihm in die Hände kam, oder löste Kreuzworträtsel. Unlösbar war jedoch sein Problem mit der Realität. Er verehrte auf fast mythische Weise die Reichen, aber nicht die, deren Reichtum unerklärlich war, sondern jene, die kraft ihres Talents und ihrer Rechtschaffenheit zu Geld gekommen waren. Schlaflos in seiner Hängematte liegend, häufte er auch am helllichten Tage in der Einbildung kolossale Reichtümer an, und zwar mit Unternehmungen, die so einleuchtend waren, dass er gar nicht verstand, warum er nicht schon eher darauf gekommen war. Als Beispiel führte er gerne das merkwürdigste Vermögen an, das im Darien bekannt wurde: zweihundert Meilen trächtiger Säue. Doch solche unerhörten Möglichkeiten, Geschäfte zu machen, fanden sich nicht an den Orten, wo wir lebten, sondern in abgelegenen Paradiesen, von denen er während seiner Wanderzeit als Telegrafist gehört hatte. Mit seinem fatalen Irrealismus hielt er uns, Reinfälle und Wiederholungstaten inbegriffen, gerade über Wasser, bescherte uns aber auch lange Phasen, in denen nicht einmal die Krümel des täglichen Brots vom Himmel fielen. Auf alle Fälle haben unsere Eltern uns in guten wie in schlechten Zeiten gelehrt, Erstere zu feiern und Letztere zu ertragen, beides mit der Demut und der Würde von Katholiken alten Schlags.

Die einzige Prüfung, die mir noch bevorstand, war, allein mit meinem Vater zu reisen, aber ich holte das voll und ganz nach, als er mich nach Barranquilla mitnahm, wo ich ihm helfen sollte, die Apotheke einzurichten und die Ankunft der Familie vorzubereiten. Es überraschte mich, dass er mich, als er mit mir allein war, wie einen Erwachsenen behandelte, mit Zuneigung und Respekt, mir sogar Aufgaben überantwortete, die für ein Kind meines Alters nicht gerade leicht erschienen, die ich aber gut und begeistert erledigte, wenngleich nicht immer zu seiner Zufriedenheit. Er hatte die Gewohnheit, uns Geschichten aus seiner Kindheit in Since zu erzählen, er wiederholte sie jedoch Jahr für Jahr für die neu hinzugekommenen Kinder, so dass sie für uns, die wir sie schon kannten, an Reiz verloren und wir Älteren sogar aufstanden, wenn er sie nach Tisch erzählte. In einem seiner vielen Anfälle von Ehrlichkeit beleidigte Luis Enrique den Vater, als er beim Aufstehen sagte:

» Gebt Bescheid, wenn der Großvater mal wieder gestorben ist.«

Solche spontanen Anwandlungen trieben meinen Vater zur Verzweiflung und vermehrten die schon angehäuften Gründe, Luis Enrique in die Erziehungsanstalt nach Medellin zu schicken. Als Papa mit mir nach Barranquilla fuhr, wurde er jedoch ein anderer. Das Repertoire beliebter Anekdoten wurde ins Archiv verbannt, und er erzählte mir stattdessen interessante Episoden aus dem komplizierten Leben mit seiner Mutter, redete über den legendären Geiz seines Vaters und die eigenen Schwierigkeiten beim Studium. Diese Rückblicke erlaubten mir, einige seiner Launen besser zu ertragen und seine Uneinsichtigkeit in gewissen Situationen zu verstehen.

In jener Zeit sprachen wir über gelesene Bücher und solche, die noch zu lesen waren, und auf dem Markt fuhren wir bei den Ständen mit zerfledderten Büchern eine gute Ernte an Tarzanheften, Krimis und Geschichten über Weltraumkriege ein. Fast wäre ich aber auch Opfer seines Sinns für das Praktische geworden, insbesondere als er beschloss, dass es nur eine Mahlzeit am Tag geben sollte. Die erste Missstimmung stellte sich ein, als er mich dabei überraschte, wie ich sieben Stunden nach dem Mittagessen die abendliche Leere des Magens mit Limonade und Rosinenbrot auffüllte und ihm nicht sagen konnte, woher ich das Geld dafür hatte. Ich wagte nicht, ihm zu gestehen, dass meine Mutter, das Trappistenregime vorausahnend, das er auf Reisen führte, mir heimlich ein paar Pesos zugesteckt hatte. Ein solch komplizenhaftes Verhalten meiner Mutter dauerte an, solange sie über Mittel verfügte. Als ich während der Oberschulzeit im Internat war, steckte sie mir einmal diverse Toilettenartikel in den Koffer und in die Schachtel Reuterseife ein Vermögen von zehn Pesos, weil sie hoffte, ich würde die Schachtel in einem Augenblick der Not öffnen. So war es auch, denn als wir fern von daheim zur Schule gingen, war jeder Augenblick wie geschaffen, zehn Pesos zu finden.

Papa richtete es so ein, dass ich abends in Barranquilla nicht allein in der Apotheke zurückblieb, aber für einen Zwölfjährigen waren seine diesbezüglichen Arrangements nicht immer spaßig. Die abendlichen Besuche bei befreundeten Familien ermüdeten mich, denn dort, wo es Kinder in meinem Alter gab, wurden sie um acht Uhr ins Bett geschickt, und ich blieb zurück, gepeinigt von Langeweile und Müdigkeit inmitten der Ödnis des geselligen Geplauders. Eines Nachts muss ich bei einer Arztfamilie eingeschlafen sein. Als ich auf einer unbekannten Straße wach wurde, wusste ich nicht, wodurch ich geweckt worden war oder wie spät es war. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, noch wie ich dahin gekommen war, und das Ganze war nur als Schlafwandeln zu erklären. Es gab keinen Präzedenzfall in der Familie, und es hat sich auch bis heute nicht bei mir wiederholt, dennoch bleibt es die einzig mögliche Erklärung. Als Erstes überraschte mich beim Aufwachen das Schaufenster eines Friseurladens; ich sah leuchtende Spiegel, vor denen drei oder vier Kunden unter einer Wanduhr bedient wurden, die zehn nach acht anzeigte, eine Uhrzeit, zu der ein Kind meines Alters auf keinen Fall allein auf der Straße sein durfte. Verstört vor Schreck verwechselte ich den Namen der Familie, bei der wir eingeladen waren, erinnerte mich auch nicht richtig an die Adresse, aber einige Passanten reimten sich daraus etwas zusammen und brachten mich zurück. Don hatte die in Panik geratene Nachbarschaft schon alle möglichen Mutmaßungen über mein Verschwinden angestellt. Klar war nur, dass ich mitten im Gespräch aufgestanden war und man gedacht hatte, ich wäre zur Toilette gegangen. Die Erklärung, es habe sich um Schlafwandeln gehandelt, überzeugte keinen, schon gar nicht meinen Vater, der das Ganze schlicht für einen misslungenen Streich hielt.

Zum Glück konnte ich mich ein paar Tage später rehabilitieren, als mein Vater zu einem Geschäftsessen musste und mich bei einer anderen Familie zurückließ, die vollzählig versammelt war, um eine Quizsendung von Radio Atlántico zu hören. Das Rätsel schien diesmal jedoch unlösbar: »In welchem Getränk verbirgt sich ein Tier?« Dank eines seltenen Wunders hatte ich am selben Nachmittag in der letzten Ausgabe des Bristol Almanach die Antwort gelesen, ein schlechter Witz, wie mir schien: Im Kaffee -der Affe. Ich flüsterte die Antwort einer der Töchter des Hauses zu, worauf die Älteste zum Telefon stürzte und sie an Radio Atlántico durchgab. Sie gewann den ersten Preis, mit dem wir drei Monate lang die Miete hätten bezahlen können: hundert Pesos. Lärmend strömten die Nachbarn in den Salon, sie hatten die Sendung gehört und wollten den Siegern gratulieren, aber die Familie interessierte sich weniger für das Geld als für die Ehre, in einem Wettbewerb, der im Rundfunk der Karibikküste Furore machte, gesiegt zu haben. Niemand erinnerte sich an mich. Als Papa zurückkam, um mich abzuholen, stimmte er in den familiären Jubel ein, stieß auf den Sieg an, doch keiner erzählte ihm, wer der wahre Gewinner war.

Eine der Errungenschaften jener Zeit war, dass mein Vater mich allein in die Sonntagsmatineen des Teatro Colombia gehen ließ.

Zum ersten Mal wurden Filmszenen gespielt, jeden Sonntag gab es eine neue Fortsetzung, und das erzeugte eine Spannung, die einem die ganze Woche lang keine Ruhe ließ. Flash Gordon war das erste interplanetare Epos, das in meinem Herzen erst sehr viele Jahre später von Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum verdrängt wurde. Das argentinische Kino mit den Filmen von Carlos Gardel und Libertad Lamarque übertraf jedoch alles.

In knapp zwei Monaten hatten wir die Apotheke fertig eingerichtet und ein Haus für die Familie gefunden und möbliert. Die Apotheke lag an einer belebten Ecke im Geschäftszentrum, nur zwei Blocks vom Paseo Bolívar entfernt. Das Wohnhaus befand sich dagegen an einer abgelegenen Straße im heruntergekommenen und fröhlichen Barrio Abajo, wobei der Mietpreis nicht wirklich dem Haus entsprach, sondern dem, was es zu sein vorgab: eine gelb und rot bemalte gotische Zuckerbäckervilla mit zwei trutzigen Wehrtürmen.

Noch am Tag der Schlüsselübergabe befestigten wir unsere Hängematten an den Balken im Hinterraum der Apotheke und schliefen wie auf kleinem Feuer in einer Schweißsuppe köchelnd. Als wir in das Wohnhaus zogen, mussten wir feststellen, dass es keine Ringe für die Hängematten gab, also legten wir Matratzen auf den Boden und schliefen dort leidlich, nachdem wir uns eine Katze hatten ausleihen können, die sich der Mäuse annahm. Als meine Mutter mit dem Rest der Truppe anrückte, gab es noch keine Küchenutensilien, und es fehlte auch sonst noch Lebensnotwendiges.

Trotz seines künstlerischen Anstrichs war das Haus gewöhnlich und bot mit Salon, Esszimmer, zwei Schlafzimmern und einem kleinen gepflasterten Patio kaum Platz für uns alle. Es war wohl höchstens ein Drittel der Miete wert, die wir zahlten. Meine Mutter war entsetzt, als sie das Haus sah. Aber der Gatte beruhigte sie, köderte sie mit einer goldenen Zukunft. So war es immer bei ihnen. Kaum vorstellbar, dass zwei so unterschiedliche Menschen sich so gut verstanden und so sehr liebten.

Der Anblick meiner Mutter erschütterte mich. Sie war zum siebten Mal schwanger, und mir schien, dass ihre Augenlider und ihre Knöchel ebenso geschwollen waren wie ihr Bauch. Sie war damals dreiunddreißig Jahre alt und richtete gerade das fünfte Haus ein. Mich erschütterte ihre schlechte Gemütsverfassung, die sich in der ersten Nacht noch verschlimmerte, als meine Mutter das Grauen packte, weil sie sich ohne jeden Grund einbildete, dass hier Frau X gelebt hatte, bevor man sie erstach. Das Verbrechen lag sieben Jahre zurück, hatte sich während des vorherigen Aufenthalts meiner Eltern in Barranquilla ereignet und war so grauenhaft gewesen, dass meine Mutter sich vorgenommen hatte, nie wieder in Barranquilla zu wohnen. Vielleicht hatte sie es vergessen, als sie nun zurückkam, aber schon in der ersten Nacht in diesem seltsamen Haus, in dem sie sogleich den Hauch eines Drakula-Schlosses verspürt hatte, war ihr das Verbrechen jäh wieder präsent.

Die erste Nachricht über die Frau X war der Fund einer nackten Leiche gewesen, die, ins Stadium der Verwesung übergegangen, nicht identifizierbar war. Es konnte gerade einmal festgestellt werden, dass es sich um eine Frau unter dreißig handelte, attraktiv und schwarzhaarig. Man glaubte, sie sei lebendig begraben worden, weil sie in einer Gebärde des Entsetzens die linke Hand auf die Augen gelegt und den rechten Arm über dem Kopf hochgestreckt hatte. Die einzigen Hinweise auf ihre Identität waren zwei blaue Bänder und ein Schmuckkamm, der möglicherweise eine geflochtene Frisur geziert hatte. Es gab viele Vermutungen, die wahrscheinlichste davon war, dass es sich um eine französische Tänzerin handelte, die ein lockeres Leben geführt hatte und etwa zur Zeit des mutmaßlichen Todesdatums verschwunden war.

Barranquilla hatte zu Recht den Ruf der gastfreundlichsten und friedlichsten Stadt im Lande, aber auch das Pech, dass dort einmal im Jahr ein grauenhaftes Verbrechen geschah. Keines der vorangegangenen hatte die Öffentlichkeit jedoch so unmittelbar und stark erschüttert wie das dieser abgestochenen namenlosen Frau. La Prensa, zu jener Zeit eine der wichtigsten Zeitungen des Landes, galt als Wegbereiterin der sonntäglichen Comics - Buck Rogers, Tarzan unter den Affen -, setzte sich aber schon in den ersten Jahren auch als Vorreiterin der Kriminalchronik durch. Mehrere Monate lang hielt La Prensa die Stadt mit großen Schlagzeilen und überraschenden Enthüllungen in Atem, die, zu Recht oder zu Unrecht, den heute vergessenen Chronisten im ganzen Land berühmt machten.

Die Behörden versuchten, diese Berichte zu unterdrücken, da sie angeblich die Ermittlungen behinderten, die Leser aber glaubten den offiziellen Verlautbarungen am Ende weniger als den Enthüllungen in La Prensa. Die Konfrontation hielt die Leser mehrere Tage lang seelisch in Anspannung, und die Ermittler wurden mindestens einmal zu einer Kursänderung gezwungen. Das Bild der Frau X war schon so fest in der allgemeinen Phantasie verankert, dass in vielen Häusern die Türen mit Ketten gesichert waren und nachts Wache gehalten wurde, für den Fall dass der frei herumlaufende Mörder sein Programm grauenhafter Verbrechen fortführen wollte, und es wurde angeordnet, dass junge Mädchen nach sechs Uhr abends nicht allein aus dem Haus gehen durften.

Die Wahrheit jedoch wurde von niemandem aufgedeckt, sondern nach einiger Zeit von dem Urheber des Verbrechens, Efrain Duncan, offenbart, als er gestand, seine Frau Angela Hoyos an dem von der Gerichtsmedizin geschätzten Datum getötet und an dem Fundort der Leiche verscharrt zu haben. Ihre Verwandten erkannten die blauen Bänder und den Schmuckkamm, die Angela getragen hatte, als sie am 5. April mit ihrem Mann das Haus verlassen hatte, angeblich für eine Reise nach Calamar. Der Fall konnte zweifelsfrei abgeschlossen werden dank eines fast schon unglaubwürdigen Zufalls, der wie von einem Autor phantastischer Geschichten aus dem Ärmel geschüttelt schien: Angela Hoyos hatte eine Zwillingsschwester, genau ihr Ebenbild, über die sie eindeutig identifiziert werden konnte.

Der Mythos der Frau X büßte seine Kraft ein, weil dahinter bloß ein gewöhnlicher Eifersuchtsmord stand, doch das Geheimnis um die identische Schwester trieb in den Häusern weiter sein Unwesen, da man sich dachte, es könne sich dabei um die durch Hexenkünste wieder ins Leben gerufene Frau X handeln. So wurden die Türen verriegelt und mit Möbeln verbarrikadiert, damit der womöglich durch Magie dem Gefängnis entkommene Mörder nachts nicht hereinkäme. In den Vierteln der Reichen wurde es Mode, Jagdhunde zu halten, darauf abgerichtet, Mörder zu fassen, die durch Wände zu dringen vermochten. Meine Mutter überwand ihre Angst eigentlich erst, nachdem die Nachbarn sie davon überzeugt hatten, dass unser Haus im Barrio Abajo zu Zeiten der Frau X noch nicht erbaut gewesen war.

Am 10. Juli 1939 gebar meine Mutter ein kleines Mädchen mit einem schönen Indioprofil. Das Kind wurde auf den Namen Rita getauft, da meine Mutter Santa Rita de Casia unendlich verehrte. Diese Verehrung galt unter anderem der Geduld, mit der die Heilige den unangenehmen Charakter ihres heruntergekommenen Mannes ertragen hatte. Meine Mutter erzählte uns, dieser sei eines Nachts reizbar und betrunken heimgekommen, gerade als ein Huhn auf den Esstisch gekackt hatte. Da die Ehefrau keine Zeit mehr gehabt habe, das sonst makellose Tischtuch auszuwechseln, habe sie den Haufen schnell mit einem Teller abgedeckt, damit ihr Mann ihn nicht sähe, und diesen mit der üblichen Frage abgelenkt:

»Was möchtest du essen?«

Der Mann knurrte nur:

»Scheiße.«

Woraufhin seine Frau den Teller hob und mit ihrer heiligen Sanftmut sprach:

»Hier hast du sie.«

In der Geschichte heißt es, dass sogar der Mann daraufhin von der Heiligkeit seiner Frau überzeugt gewesen sei und sich zum christlichen Glauben bekehrt habe.

Die neue Apotheke in Barranquilla war ein spektakulärer Reinfall, der nur dadurch etwas abgemildert wurde, dass mein Vater dies schnell und schon im Voraus erkannte. Nachdem er mehrere Monate lang auf niedrigstem Niveau die Stellung gehalten hatte, ein Loch stopfte, indem er zwei andere riss, offenbarte er dann einen Abenteurergeist, den man ihm bisher nicht zugetraut hatte. Er packte eines Tages seine Sachen und machte sich auf, die Schätze zu heben, die in den unwahrscheinlichsten Dörfern am Rio Magdalena verborgen lagen. Bevor er verschwand, nahm er mich zu seinen Geschäftspartnern und Freunden mit und ließ diese mit einer gewissen Feierlichkeit wissen, ich werde ihn vertreten, solange er nicht da sei. Ich habe nie erfahren, ob er gescherzt hatte, wie er es auch bei ernsten Gelegenheiten gern tat, oder ob er es im Ernst gesagt hatte, was ihm auch bei banalen Anlässen Spaß machte. Ich nehme an, jeder verstand es so, wie er wollte, denn mit zwölf war ich rachitisch und blass und gerade einmal gut im Singen und Malen. Die Frau, bei der wir die Milch anschreiben ließen, sagte vor mir und allen anderen zu meiner Mutter, und zwar keineswegs böswillig:

»Verzeihen Sie, Señora, aber ich glaube, diesen Jungen werden Sie nicht großbekommen.«

Lange Zeit lebte ich voller Schrecken in Erwartung eines plötzlichen Todes und träumte häufig, im Spiegel statt meiner ein frisch geborenes Kalb zu sehen. Der Schularzt diagnostizierte Malaria, Mandelvereiterung und schwarze Galle als Folge von zu viel unverdaulicher Lektüre. Ich gab mir keine Mühe, die Sorgen der anderen zu lindern. Im Gegenteil, ich übertrieb meinen kränklichen Zustand, um mich vor Pflichten zu drücken. Mein Vater aber setzte sich tollkühn über die wissenschaftlichen Prognosen hinweg und erklärte mich vor seiner Abfahrt zum Verantwortlichen für Haus und Familie in seiner Abwesenheit.

»Als wärst du ich.«

Am Tag der Abreise rief er uns im Salon zusammen, gab uns Anweisungen und teilte vorbeugend Tadel aus für das, was wir in seiner Abwesenheit falsch machen könnten, doch wir merkten, das waren nur seine Finten, um nicht weinen zu müssen. Er gab jedem von uns fünf Centavos, damals ein kleines Vermögen für ein Kind, und versprach uns, den einen Fünfer in zwei umzutauschen, falls wir ihn bei seiner Rückkehr noch nicht angebrochen hätten. Am Ende wandte er sich mit dem Ton eines Evangelisten an mich:

»Ich lasse sie in deinen Händen, möge ich sie in deinen Händen wiederfinden.«

Es brach mir das Herz, ihn mit den Reitgamaschen und dem Rucksack über der Schulter das Haus verlassen zu sehen, und ich war der Erste, der sich den Tränen ergab, als Papa uns, bevor er um die Ecke bog, mit einem letzten Blick bedachte und zum Abschied winkte. Erst da wurde mir bewusst, und das ein für alle Mal, wie sehr ich ihn liebte.

Es war nicht schwierig, seinen Auftrag zu erfüllen. Meine Mutter hatte sich an solch plötzliches Alleinsein voller Ungewissheiten langsam gewöhnt und ging damit widerwillig, jedoch mit leichter Hand um. Küche und Haushalt machten es erforderlich, dass auch die Kleinen halfen, und sie machten das gut. Und ich fühlte mich damals zum ersten Mal als Erwachsener, da ich bemerkte, dass meine Geschwister mich wie einen Onkel zu behandeln begannen.

Es ist mir nie gelungen, meine Schüchternheit in den Griff zu bekommen. Als ich mich leibhaftig dem Auftrag stellen musste, den mir der herumwandernde Vater hinterlassen hatte, lernte ich, dass die Schüchternheit ein unbesiegbares Gespenst ist. Jedes Mal, wenn ich um Kredit bitten musste, selbst wenn der schon im Voraus in den Läden von Freunden vereinbart worden war, schlich ich stundenlang ums Haus, unterdrückte das Bedürfnis zu weinen und das Rumoren im Bauch, und wenn ich mich dann endlich vorwagte, hatte ich die Kiefer so zusammengepresst, dass ich kaum einen Ton herausbekam. Es gab bei solchen Gelegenheiten durchaus auch herzlose Krämer, die mich endgültig verstören: »Mit geschlossenem Mund kann man nicht sprechen, Kindskopf.« Mehr als einmal kehrte ich mit leeren Händen und einer erfundenen Ausrede zurück. Doch so schrecklich unbeholfen wie das erste Mal, als ich im Laden an der Ecke telefonieren sollte, war ich nur einmal. Der Besitzer hatte mir mit dem Fräulein vom Amt geholfen, weil man damals noch nicht durchwählen konnte. Als er mir den Hörer gab, spürte ich den Hauch des Todes. Statt der zuvorkommenden Stimme, die ich erwartete, hörte ich eine Art Gebell, jemand schien zur gleichen Zeit wie ich in der Dunkelheit zu reden. Ich dachte, mein Gesprächspartner könne mich ebenfalls nicht verstehen, und sprach, so laut ich nur konnte. Der andere wurde wütend und seinerseits lauter:

»Was zum Teufel schreist du mich so an!«

Ich legte entsetzt auf. Ich muss zugeben, dass ich trotz meines Drangs, mich auszutauschen, immer noch meine Angst vor dem Telefonieren und dem Fliegen überwinden muss, und vielleicht stammt das ja aus jener Zeit. Wie sollte ich es je zu etwas bringen? Zum Glück hatte meine Mutter darauf eine Antwort, die sie häufig wiederholte: »Ohne Schweiß kein Preis.«

Die erste Nachricht von Papa erreichte uns nach zwei Wochen, ein Brief, der uns eher unterhalten denn informieren sollte. So fasste es meine Mutter auf und sang an jenem Tag beim Geschirrspülen, um unsere Moral zu heben. Ohne meinen Vater war sie anders: Sie schloss sich den Mädchen wie eine ältere Schwester an und fügte sich so gut ein, dass sie bei den Kinderspielen, selbst mit Puppen, die Eifrigste war, und sie konnte dabei die Beherrschung verlieren und sich mit ihnen wie von gleich zu gleich zanken. Es kamen zwei weitere, ähnliche Briefe von Papa, jedoch mit so vielversprechenden Plänen, dass wir danach besser schliefen.

Ein ernstes Problem war, wie schnell wir aus unseren Kleidern wuchsen. Von Luis Enrique konnte keiner etwas erben, das war schon deshalb nicht möglich, weil er immer verdreckt und mit zerrissener Kleidung von der Straße kam, was wir nie begriffen. Meine Mutter meinte, es sei, als ob er durch Stacheldraht liefe. Die Schwestern - zwischen sieben und neun Jahren alt - halfen sich mit wundersamem Einfallsreichtum untereinander aus, und ich habe stets geglaubt, dass sie durch die Schwierigkeiten damals vor der Zeit erwachsen wurden. Aida war findig, und Margot hatte ihre Schüchternheit weitgehend überwunden und zeigte sich zärtlich und hilfreich mit der Nachgeborenen. Der Schwierigste war ich, nicht nur weil ich für besondere Erledigungen zuständig war, sondern weil meine Mutter, getragen von der Begeisterung aller, gewagt hatte, das Haushaltsgeld anzugreifen, um mich an der Schule Cartagena de Indias anzumelden, die zehn Straßen zu Fuß von unserem Haus entfernt lag.

Der Ausschreibung entsprechend erschienen um acht Uhr morgens etwa zwanzig Bewerber zur Aufnahmeprüfung. Zum Glück handelte es sich nicht um ein schriftliches Examen, sondern drei Lehrer riefen uns in der Reihenfolge der Anmeldungen der vergangenen Woche auf und prüften uns summarisch aufgrund der vorgelegten Schulbescheinigungen. Ich hatte als Einziger keine, weil die Zeit zu knapp gewesen war, sie von der Montessori-Schule und der Grundschule in Aracataca anzufordern, und meine Mutter meinte, ohne Papiere würde ich nicht angenommen. Aber ich beschloss, mich dumm zu stellen. Einer der Lehrer holte mich aus der Reihe, als ich gestand, dass ich keine Zeugnisse hätte, aber ein anderer nahm dann mein Schicksal in die Hand und ging mit mir ins Büro, wo er mich ohne weitere Voraussetzungen prüfte. Er fragte mich, wie viel ein Gros sei, wie viele Jahre ein Lustrum und ein Millennium hätten, ich musste die Bezirksstädte aufsagen, die wichtigsten Flüsse Kolumbiens und die angrenzenden Länder aufzählen. Das alles schien Routine, bis er mich fragte, welche Bücher ich gelesen hätte. Es erschien ihm bemerkenswert, dass ich so viele und so unterschiedliche nannte und Tausend und eine Nacht in einer Ausgabe für Erwachsene gelesen hatte, in der die schlüpfrigen Episoden, die Pater Angarita empört hatten, nicht ausgemerzt waren. Ich war überrascht zu erfahren, es sei ein wichtiges Buch, denn ich hatte immer gemeint, ernsthafte Erwachsene könnten nicht glauben, dass Geister aus Flaschen fuhren oder Türen sich mittels eines Zauberspruchs öffnen ließen. Die Bewerber vor mir - die angenommenen wie die abgewiesenen -waren alle nicht länger als eine Viertelstunde in dem Zimmer geblieben, und ich unterhielt mich mit dem Lehrer nun schon eine gute halbe Stunde über alle möglichen Themen. Gemeinsam durchsuchten wir ein mit Büchern voll gestopftes Regal hinter seinem Schreibtisch, in dem durch Umfang und Glanz Der Schatz der Jugend hervorstach, von dem ich schon gehört hatte, der Lehrer überzeugte mich jedoch davon, dass für mein Alter der Quijote nützlicher sei. Er fand ihn nicht in der Bibliothek, versprach aber, ihn mir später einmal zu leihen. Nach einer halben Stunde des raschen Austauschs über Sindbad, der Seefahrer und Robinson Crusoe begleitete er mich zum Ausgang, ohne mir zu sagen, ob ich angenommen sei. Ich dachte natürlich, nicht, doch auf der Terrasse verabschiedete er mich mit einem festen Händedruck bis zum Montagmorgen um acht Uhr, dann sollte ich in die zweite Stufe der Primarschule aufgenommen werden: ms vierte Schuljahr.

Er war der Direktor der Schule, hieß Juan Ventura Casalins, und ich erinnere mich an ihn wie an einen Kindheitsfreund, da er nichts von dem Angst einflößenden Bild der Lehrer jener Zeit hatte. Seine unvergessliche Tugend war, uns alle wie ebenbürtige Erwachsene zu behandeln, auch wenn ich immer noch glaube, dass er sich mir mit besonderer Aufmerksamkeit widmete. Im Unterricht pflegte er mir mehr Fragen als den anderen zu stellen und gab mir Hilfestellung für zutreffende und geläufige Antworten. Er erlaubte mir, Bücher aus der Schulbibliothek mit nach Hause zu nehmen. Zwei davon waren in diesen steinigen Jahren meine Glücksdroge: Die Schatzinsel und Der Graf von Monte Christo. Ich verschlang sie Buchstabe für Buchstabe, um zu erfahren, was auf der nächsten Zeile geschah, und wollte es zugleich nicht erfahren, um den Zauber nicht zu brechen. Bei diesen beiden Büchern, wie bei Tausend und einer Nacht, lernte ich ein für alle Mal, dass man eigentlich nur solche Bücher lesen sollte, die einen dazu zwingen, sie wieder zu lesen.

Dagegen war die Lektüre des Quijote stets ein besonderes Kapitel für mich, denn er löste nicht die von Lehrer Casalins erwartete Erschütterung bei mir aus. Mich langweilten die weisen Ergüsse des fahrenden Ritters, und die Eseleien seines Schildknappen fand ich keineswegs witzig, so dass ich schließlich tatsächlich meinte, es könne sich nicht um das Buch handeln, das in aller Munde war. Ich sagte mir jedoch, dass ein so kluger Lehrer wie der unsere nicht irren könne, und bemühte mich, den Quijote löffelweise wie ein Abführmittel zu schlucken. Weitere Anläufe machte ich später in der Oberschule, wo der Quijote zum Pflichtpensum gehörte, doch meine Abscheu war unüberwindlich, bis ein Freund mir den Rat gab, das Buch auf das Bord im Klosett zu legen und dort bei meinen täglichen Erledigungen zu lesen. Erst auf diese Weise habe ich das Werk entdeckt, ich fing buchstäblich Feuer und genoss es vorwärts und rückwärts, bis ich ganze Episoden auswendig aufsagen konnte.

Diese von der Vorsehung auserwählte Schule hat mir auch historische Erinnerungen an die Stadt von einst und eine unwiederbringliche Epoche hinterlassen. Das Schulhaus stand allein auf dem Gipfel eines grünen Hügels, und von der Terrasse aus konnte man zwei gegensätzliche Welten erblicken. Links lag der Barrio del Prado, das vornehmste und teuerste Viertel, das mir schon beim ersten Anblick als getreue Kopie des elektrifizierten Hühnerstalls der United Fruit Company erschien. Nicht zufällig: Das Viertel war von einer nordamerikanischen Urbanisierungsfirma gebaut worden, die ihren Geschmack, ihre Normen und ihre Preise importierte, und war für den Rest des Landes eine unschlagbare Touristenattraktion. Rechts dagegen lag ein staubiger Vorort, unser Barrio Abajo, mit seinen glühenden Erdstraßen und den palmenstrohgedeckten Lehmhäusern, die uns jederzeit daran gemahnten, dass wir nur aus Fleisch und Blut und sterblich waren. Zum Glück hatten wir von der Schulterrasse aus auch einen Panoramablick auf die Zukunft: das historische Delta des Magdalena, eines der großen der Welt, und das graue Meer bei den Bocas de Ceniza.

Am 28. Mai 1935 hatten wir den Öltanker Taralite gesehen, der unter kanadischer Flagge und dem Kommando von Kapitän D.F. MC Donald mit triumphalem Tuten zwischen den Wellenbrechern aus nacktem Fels in den Hafen der Stadt einfuhr, wo er mit lauter Musik und Feuerwerk begrüßt wurde. Das war der krönende Abschluss einer Bürgerbewegung, die viele Jahre und viel Geld dareingesetzt hatte, aus Barranquilla den ersten Fluss- und Seehafen des Landes zu machen.

Wenig später streifte eine Maschine unter dem Kommando von Flugkapitän Nicolás Reyes Manotas fast die Dachterrassen, weil der Pilot einen freien Platz für eine Notlandung suchte, nicht nur um die eigene Haut zu retten, sondern auch die der Christenmenschen, auf die das Flugzeug sonst gestürzt wäre. Er war einer der Pioniere der kolumbianischen Luftfahrt. Er hatte das primitive Flugzeug in Mexiko geschenkt bekommen und brachte es allein vom einen zum anderen Ende Mittelamerikas. Am Flughafen von Barranquilla hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die ihm eine rauschende Willkommensfeier mit Taschentüchern, Fahnen und einer Musikkapelle bereitet hatte, doch Reyes Manota wollte noch zwei Begrüßungsrunden über der Stadt drehen, wobei dann der Motor aussetzte. Mit einer an Wunder grenzenden Geschicklichkeit gelang es dem Piloten, das Flugzeug aufzufangen, um auf der Dachterrasse eines Gebäudes im Geschäftszentrum zu landen, doch die Maschine verhedderte sich in den Stromkabeln und blieb schließlich an einem Pfosten hängen. Mein Bruder Luis Enrique und ich waren mit einer aufgeregten Menge so weit hinterhergelaufen, wie unsere Kräfte reichten, den Piloten sahen wir jedoch erst, als er bereits unter großen Schwierigkeiten, aber heil und gesund ausgestiegen war und mit Ovationen empfangen wurde.

Die Stadt hatte auch den ersten Rundfunksender, ein modernes Wasserleitungssystem, das mit seinem neuen Klärverfahren zur touristischen und pädagogischen Attraktion wurde, und eine Feuerwehr, deren Sirenen und Glocken immer ein Fest für Groß und Klein waren. Auch die ersten Cabriolets tauchten dort auf, fielen mit irrer Geschwindigkeit in die Stadt ein und fuhren sich auf den neuen asphaltierten Straßen zu Schrott. Das Bestattungsunternehmen La Equitativa stellte, inspiriert vom Humor des Todes, ein riesiges Schild an den Ortsausgang: »Rasen Sie nicht, wir warten auf Sie.«

Nachts, wenn wir nirgendwo anders als im Haus sein konnten, versammelte meine Mutter uns um sich und las uns Papas Briefe vor. Die meisten davon waren Meisterwerke der Ablenkung, doch einer sprach deutlich von der Begeisterung der älteren Leute am Unterlauf des Magdalena für die Homöopathie. »Da gibt es Fälle, die hier als Wunder angesehen würden«, schrieb mein Vater. Manchmal hinterließ so ein Brief den Eindruck, dass Papa uns bald etwas Großes offenbaren würde, aber dann folgte ein weiterer Monat Schweigen. In der Karwoche bekamen die beiden jüngsten Geschwister schwer Windpocken, und wir konnten uns nicht mit ihm in Verbindung setzen, weil nicht einmal die kundigsten Viehtreiber etwas über seinen Verbleib wussten.

In jenen Monaten begriff ich, was eines der von meinen Großeltern am häufigsten gebrauchten Wörter - Armut - im wirklichen Leben bedeutet. Ich hatte es auf die Situation bezogen, in der wir in Aracataca lebten, als die Bananengesellschaft aufgelöst wurde. Die Großeltern klagten ständig darüber. Es gab nicht mehr zwei oder gar drei Schichten am Mittagstisch, sondern nur noch eine. Um auf das heilige Ritual der geselligen Mahlzeiten auch dann nicht verzichten zu müssen, als man es sich nicht mehr wirklich leisten konnte, kauften sie das Essen schließlich in Garküchen am Markt; es war gut und sehr viel billiger und schmeckte den Kindern überraschenderweise sogar besser. Doch die Mittagsmahle hörten endgültig auf, als Mina erfuhr, dass einige der besonders häufigen Gäste beschlossen hatten, nicht wiederzukommen, weil bei uns nicht mehr so gut wie früher gegessen wurde.

Im Vergleich dazu war die Armut meiner Eltern in Barranquilla erdrückend, bescherte mir jedoch den Reichtum einer außerordentlichen Beziehung zu meiner Mutter. Neben der verständlichen Sohnesliebe empfand ich Staunen und Bewunderung für sie, die mit dem Charakter einer stillen, aber wilden Löwin gegen das Missgeschick anging und sich Gott nicht unterwarf, sondern mit ihm zu ringen schien - eine doppelt vorbildliche Haltung, aus der ihr ein Lebensvertrauen erwuchs, das sie nie im Stich ließ. Noch in den schlimmsten Situationen konnte sie über ihre Art, sich vorläufig zu behelfen, lachen. Wie damals, als sie ein Ochsenknie kaufte und es Tag um Tag für eine immer wässriger werdende Brühe auskochte, bis es nichts mehr hergab. In einer schrecklichen Sturmnacht brauchte sie das Schweineschmalz eines ganzen Monats auf, um aus Lumpen Dochte herzustellen, da das Licht bis zum Morgen ausgefallen war und die Kleinen Angst vor der Dunkelheit hatten - eine Angst, die sie selbst geweckt hatte, damit sie in den Betten blieben.

Am Anfang trafen sich meine Eltern noch mit befreundeten Familien, die wegen der Krise im Bananengeschäft und des Verfalls der öffentlichen Ordnung aus Aracataca emigriert waren. Man besuchte sich reihum, und alle Gespräche kreisten um das Unglück, das den Ort heimgesucht hatte. Als uns aber die Armut in Barranquilla zusetzte, gingen wir nicht mehr in fremde Häuser, um zu klagen. Meine Mutter fasste ihre Zurückhaltung in einen einzigen Satz: »Die Armut zeigt sich in den Augen.«

Bis zu meinem fünften Geburtstag war der Tod für mich ein natürliches Ende gewesen, das andere ereilte. Für mich waren die Wonnen des Himmels und die Martern der Hölle nur Lektionen, die man für die Katechismusstunde bei Pater Astete auswendig lernen musste. Mit mir hatte das nichts zu tun, bis ich zufällig bei einer Trauerfeier bemerkte, wie die Läuse sich aus dem Haar des Toten davonmachten und ziellos über die Kissen liefen. Nicht Furcht vor dem Tod beunruhigte mich seitdem, sondern die Angst vor der Peinlichkeit, dass, für alle Hinterbliebenen sichtbar, womöglich auch mich bei meiner Trauerfeier die Läuse fliehen könnten. Dennoch bemerkte ich auf der Primarschule in Barranquilla nicht, dass ich völlig verlaust war, bis ich die ganze Familie angesteckt hatte. Daraufhin lieferte meine Mutter einen weiteren Beweis ihres Charakters. Sie desinfizierte ihre Kinder eins nach dem anderen mit einem Kakerlakengift und taufte diese gründliche Säuberungsaktion auf einen traditionsreichen Namen: die Polizei. Das Schlimme war, dass wir, kaum sauber, wieder verlaust waren, weil ich mir erneut Läuse in der Schule eingefangen hatte. Daraufhin beschloss meine Mutter ein drastisches Mittel und zwang mich dazu, mir den Kopf zu rasieren. Es war ein heroischer Akt, am Montag mit einer Stoffmütze auf dem Kopf in der Schule zu erscheinen, aber ich überlebte den Spott der Mitschüler ehrenhaft und krönte das Jahr mit den besten Noten. Den Lehrer Casalins habe ich nie wieder gesehen, doch ich bin ihm ewig dankbar geblieben.

Ein uns unbekannter Freund von Papa verschaffte mir eine Ferienarbeit in einer nahen Druckerei. Der Lohn betrug so gut wie nichts, und die einzige Motivation für mich war, dass ich etwas vom Druckhandwerk lernte. Es blieb jedoch keine Minute Zeit, mich in der Druckerei umzusehen, weil meine Arbeit darin bestand, dass ich lithografierte Blätter ordnete, bevor sie in einer anderen Abteilung gebunden wurden. Ein Trost war, dass meine Mutter mir erlaubte, von meinem Lohn die Sonntagsbeilage von La Prensa zu kaufen, in der Comics abgedruckt waren - Tarzan, Buck Rogers, bei uns Rogelio, der Eroberer, und Mutt and Jeff, die Benitín und Eneas hießen. In den müßigen Stunden des Sonntags lernte ich, die Figuren freihändig zu zeichnen, und entwarf selbständig Fortsetzungen der jeweiligen Wochenepisode. Es gelang mir, ein paar Erwachsene aus unserer Straße dafür zu begeistern, und ich verkaufte diese Comics dann sogar für zwei Centavos das Stück.

Die Arbeit in der Druckerei war öde und ermüdend, und so sehr ich mich auch bemühte, die Berichte meines Vorgesetzten bescheinigten mir stets fehlenden Arbeitseifer. Nur meiner Familie zuliebe wurde ich wohl von der Routine der Werkstatt erlöst und zum Verteiler von Reklamezetteln für einen Hustensaft ernannt, den berühmte Schauspieler empfahlen. Das gefiel mir, denn die Flugblätter mit all den bunten Schauspielerfotos auf Glanzpapier waren wirklich schön. Bald aber merkte ich, dass das Verteilen nicht so leicht war, wie ich gedacht hatte. Da es die Blätter kostenlos gab, betrachteten die Leute sie voller Argwohn und zuckten davor zurück, als stünden die Zettel unter Strom. Am Anfang brachte ich abends die restlichen in die Werkstatt zurück, damit sie wieder ergänzt würden. Doch dann traf ich eines Tages ehemalige Mitschüler aus Aracataca, deren Mutter entsetzt war, mich bei dieser Arbeit zu sehen, die ihrer Meinung nach nur etwas für Bettler war. Sie beschimpfte mich laut, weil ich auf der Straße mit billigen Stoffsandalen herumlief, dabei hatte meine Mutter mir die gekauft, damit ich nicht die Schnürstiefel für die Messe abnutzte.

»Richte Luisa Márquez aus«, sagte sie, »sie soll sich mal überlegen, was ihre Eltern dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass der Lieblingsenkel auf dem Markt Reklame für Schwindsüchtige verteilt.«

Ich übermittelte die Botschaft nicht, um meiner Mutter den Ärger zu ersparen, aber ich heulte mehrere Nächte vor Wut und Scham in mein Kopfkissen. Das Ende des Dramas war dann, dass ich die Flugzettel nicht mehr verteilte, sondern in die Abflussgräben am Markt warf, ohne zu bedenken, dass es sich um nur langsam fließendes Wasser handelte, das Glanzpapier folglich wie eine wunderbar gefärbte Decke an der Oberfläche trieb und von der Brücke aus ein ungewöhnliches Schauspiel bot.

Irgendeine Botschaft musste meiner Mutter in einem Traum von ihren Toten offenbart worden sein, denn sie erlöste mich von der Druckerei schon nach knapp zwei Monaten ohne weitere Erklärungen. Ich war dagegen, weil ich nicht die Sonntagsbeilage von La Prensa verlieren wollte, die wir zu Hause wie einen himmlischen Segen empfingen, doch meine Mutter kaufte sie weiter, auch wenn sie dadurch eine Kartoffel weniger in die Suppe geben konnte. Als rettender Zuschuss erwies sich auch die kleine Summe, die uns Onkel Juanito in den härtesten Monaten zukommen ließ. Er lebte immer noch mit dem schmalen Einkommen eines vereidigten Buchprüfers in Santa Marta und machte es sich zur Pflicht, uns jede Woche einen Brief mit zwei Pesoscheinen zu schicken. Der Kapitän der Barkasse Aurora, ein alter Freund der Familie, übergab mir mittwochs um sieben Uhr früh den Brief, und ich kam mit dem Grundbudget für ein paar Tage heim.

Eines Mittwochs konnte ich nicht, und meine Mutter beauftragte Luis Enrique damit, der nicht der Verlockung widerstehen konnte, die zwei Pesos im Spielautomaten einer chinesischen Kneipe zu vervielfachen. Als er die ersten beiden Einsätze verloren hatte, konnte er sich nicht bremsen und versuchte sie nun bis zur vorletzten Münze zurückzugewinnen. »Die Panik war so groß«, erzählte er mir später als Erwachsener, »dass ich beschloss, nie wieder nach Hause zurückzukehren.« Er wusste nur zu gut, dass die zwei Pesos das Haushaltsgeld für die Woche waren. Zum Glück ereignete sich beim letzten Geldstück etwas in der Maschine, ein eisernes Beben erschütterte ihr Innerstes, und sie spuckte in einem unaufhaltbaren Strahl alle verlorenen Münzen aus. »Daraufhin hat mich der Teufel erleuchtet«, erzählte Luis Enrique, »und ich wagte noch eine Münze.« Er gewann. Er wagte noch eine und gewann, und noch eine und noch eine und gewann. »Der Schrecken über den Gewinn war noch größer als der über den Verlust, und mein Gedärm revoltierte, aber ich spielte weiter.« Am Ende hatte er die ursprünglichen zwei Pesos zweimal verdoppelt, allerdings in 5-Centavo-Münzen, und er traute sich nicht, sie an der Kasse in Papiergeld umzuwechseln, da er befürchtete, der Chinese würde ihn chinesisch einwickeln. Seine Taschen waren von dem Geld derart ausgebeult, dass er, bevor er Mama Onkel Juanitos zwei Pesos in 5-Centavo-Münzen gab, die vier von ihm gewonnenen Pesos hinten im Hof vergrub, wo er jeden Centavo zu verstecken pflegte, den er irgendwo fand. Er brauchte das Geld nach und nach auf, hielt den Mund und verriet erst viele Jahre später sein Geheimnis, gepeinigt von der Tatsache, dass er der Versuchung erlegen war, auch noch die letzten fünf Centavos im Laden des Chinesen zu riskieren.

Sein Verhältnis zum Geld war sehr eigen. Als meine Mutter ihn einmal dabei ertappte, wie er etwas vom Einkaufsgeld aus ihrer Tasche stibitzte, verteidigte er sich auf eine leicht barbarische, aber scharfsinnige Weise: Wenn man unerlaubt Geld aus den Geldbeuteln der Eltern nimmt, kann das kein Diebstahl sein, denn es ist unser aller Geld, das die Erwachsenen uns nur aus Neid vorenthalten, weil sie damit nicht das Gleiche wie die Kinder anfangen können. Ich ging in der Verteidigung seiner Argumente so weit, dass ich gestand, ebenfalls bei dringendem Bedarf die häuslichen Verstecke geplündert zu haben. Meine Mutter verlor die Beherrschung: »Seid doch nicht so einfältig«, schrie sie mich geradezu an, »weder dein Bruder noch du stiehlt mir irgendetwas, weil ich selbst das Geld dort hinlege, wo ihr es euch holen könnt, wenn ihr in Schwierigkeiten seid.« Zornig und verzweifelt murmelte sie, Gott müsse eigentlich erlauben, gewisse Dinge zu stehlen, um die Kinder ernähren zu können.

Luis Enriques gewitzter Charme war für die Lösung gemeinsamer Probleme sehr nützlich, er reichte jedoch nicht aus, mich zum Kumpanen seiner Streiche zu machen. Im Gegenteil, er bekam es immer so hin, dass nicht der kleinste Verdacht auf mich fiel, und das festigte eine tiefe Zuneigung, die ein Leben lang hielt. Ich dagegen ließ ihn nie wissen, wie sehr ich ihn um seinen Wagemut beneidete und wie sehr ich litt, wenn Papa ihn verprügelte. Mein Verhalten war ganz anders als seins, doch manchmal fiel es mir schwer, meinen Neid zu mäßigen, da ich selbst immer noch durch die Erinnerung an das Haus in Cataca verstört war, wo man mich nur zu Bett brachte, wenn man mir ein Wurmmittel oder Rizinusöl verabreichen wollte, was dazu führte, dass ich die 20-Centavo-Münzen hasste, mit denen man mich dafür belohnte, dass ich es würdig über mich ergehen ließ.

Ich glaube, meine Mutter hatte den Gipfel der Verzweiflung erreicht, als sie mich mit einem Brief zu einem Mann schickte, der in der Stadt den Ruf hatte, besonders reich und ein freigebiger Philanthrop zu sein. Über sein gutes Herz wurde ebenso ausführlich berichtet wie über seine wirtschaftlichen Erfolge. Meine Mutter schrieb ihm offen über ihre Not und ihre Sorgen und bat ihn dringend um finanzielle Hilfe, nicht für sich, da sie alles und jedes ertragen könne, sondern um ihrer Kinder willen. Man muss sie gekannt haben, um zu ermessen, was das für sie bedeutete, aber die Situation erforderte es. Sie wies mich darauf hin, dass dieses Geheimnis unter uns bleiben müsse, und das blieb es bis zum heutigen Tage, da ich dies schreibe.

Ich klopfte an das Portal des Hauses, das etwas von einer Kirche hatte, und fast augenblicklich öffnete sich eine Luke, eine Frau sah heraus, von der ich nur die eisigen Augen erinnere. Sie nahm wortlos den Brief entgegen und schloss die Luke wieder. Es muss etwa elf Uhr vormittags gewesen sein, und ich setzte mich vor die Schwelle und wartete dort bis drei Uhr nachmittags, dann klopfte ich noch einmal, um nach der Antwort zu fragen. Dieselbe Frau öffnete, erkannte mich überrascht und bat mich, einen Augenblick zu warten. Die Antwort lautete, ich solle am nächsten Dienstag zur gleichen Uhrzeit wieder kommen. Das tat ich dann auch, erhielt aber nur die Auskunft, ich bekäme erst nächste Woche eine Antwort. Ich musste noch dreimal dort erscheinen, erhielt immer die gleiche Auskunft, und erst anderthalb Monate später ließ mir eine andere Frau, die schroffer als die vorherige wirkte, vom Herrn ausrichten, dies sei kein Wohltätigkeitsverein.

Ich lief durch die glühenden Straßen und versuchte, den Mut aufzubringen, meiner Mutter eine Antwort zu geben, die ihre Illusionen nicht zerstörte. Es war schon Nacht, als ich mit wehem Herzen vor sie trat und ihr mitteilte, der gütige Philanthrop sei bereits vor einigen Monaten gestorben. Am meisten schmerzte mich, dass meine Mutter einen Rosenkranz für den ewigen Frieden seiner Seele betete.

Vier oder fünf Jahre später hörten wir im Radio die Nachricht, der Philanthrop sei am Vortag gestorben, und ich wartete wie versteinert auf die Reaktion meiner Mutter. Ich werde nie begreifen, wie es kam, dass sie aufmerksam und bewegt zuhörte und aus tiefster Seele seufzte: »Gott beschütze ihn in seinem heiligen Reich.« Wir freundeten uns mit der Familie Mosquera an, sie wohnte nur eine Straße weiter und gab ein Vermögen für Comic-Hefte aus, die sich in einem Schuppen im Hof bis zur Decke stapelten. Wir waren die einzigen Privilegierten, die dort ganze Tage lang Dick Tracy und Superman lesen durften. Eine glückliche Fügung war auch die Bekanntschaft mit einem Lehrling, der für das nahe gelegene Kino Las Quintas Plakate malte. Ich half ihm dabei, einfach weil es mir Spaß machte, Buchstaben zu pinseln, und er schmuggelte uns zwei- oder dreimal die Woche gratis in die guten Filme voller Schüsse und Schlägereien. Der einzige Luxus, der uns abging, war ein Radioapparat, um jederzeit auf Knopfdruck Musik hören zu können. Es ist heute schwer vorstellbar, wie selten es Rundfunkgeräte in den Häusern der Armen gab. Luis Enrique und ich pflegten uns vor dem Krämerladen an der Ecke auf eine Bank zu setzen, die man zum Verweilen für die Kundschaft aufgestellt hatte, und hörten ganze Nachmittage lang die Sendungen mit populärer Musik, und das waren fast alle. Wir kannten schließlich das Repertoire von Miguelito Valdés mit dem Orchester Casino de la Playa auswendig, das von Daniel Santos mit der Sonora Matancera sowie die Boleros von Agustín Lara, gesungen von Tona la Negra. Und als uns zweimal wegen ausstehender Zahlungen der Strom abgestellt worden war, bestritten wir die Abendunterhaltung damit, der Mutter und den Geschwistern die Lieder beizubringen. Besonderen Spaß machte das mit Ligia und Gustavo, die sie, ohne sie zu verstehen, wie die Papageien nachsangen, und wir genossen den lyrischen Unsinn, lachten uns darüber tot. Alle ohne Ausnahme hatten wir von Vater und Mutter ein besonderes Gedächtnis für Musik und ein gutes Gehör geerbt, so dass wir ein Lied beim zweiten Mal nachsingen konnten. Das galt vor allem für Luis Enrique, der ein geborener Musiker war und sich aus eigenem Antrieb auf Gitarrensoli bei den Serenaden für verbotene Lieben spezialisierte. Wir entdeckten bald, dass alle Kinder aus den Nachbarhäusern ohne Radio ihrerseits die Lieder von meinen Geschwistern und insbesondere von meiner Mutter lernten, die schließlich zu einer weiteren Schwester in diesem Haus der Kinder wurde.

Meine Lieblingssendung war »Von allem etwas« des Komponisten und Sängers Maestro Angel Maria Camacho y Cano, der die Hörer von ein Uhr mittags an mit einem einfallsreichen Unterhaltungsprogramm fesselte, besonders mit seiner Stunde für Aficionados unter fünfzehn. Es genügte, sich in den Büros von La Voz de la Patria - Die Stimme des Vaterlandes - einzuschreiben und eine halbe Stunde vor Sendebeginn dort zu sein. Der Maestro selbst saß am Klavier, und seinem Assistenten oblag es, mit dem Schlag einer Kirchenglocke den Gesang der jungen Laien zu unterbrechen, wenn sich nur der kleinste Fehler eingeschlichen hatte - ein unanfechtbares Urteil. Der Preis für das Lied, das am schönsten gesungen worden war, betrug mehr als das, wovon wir träumen konnten - fünf Pesos -, aber meine Mutter sprach sich eindeutig aus, wichtiger als das Geld sei der Ruhm, in einer so bedeutenden Sendung gut gesungen zu haben.

Bis dahin hatte ich mich nur mit dem Nachnamen meines Vaters - García - sowie mit meinen beiden Vornamen - Gabriel José -identifiziert, bei dieser historischen Gelegenheit bat mich meine Mutter aber darum, mich auch mit ihrem Nachnamen - Márquez -anzumelden, damit niemand an meiner Identität zweifeln konnte. Bei uns zu Hause war es ein Ereignis. Ich musste mich weiß kleiden, wie bei der ersten Kommunion, und bevor ich loszog, gaben sie mir Kaliumbromid zu trinken.

Ich kam zwei Stunden zu früh bei Der Stimme des Vaterlands an, und die Wirkung des Beruhigungsmittels verflog, während ich in einem nahe gelegenen Park wartete, da man erst eine viertel Stunde vor Sendebeginn in die Studios durfte. Mit jeder Minute, die verging, spürte ich, wie die Spinnen des Grauens in mir wuchsen und betrat schließlich mit galoppierendem Herzen die Sendeanstalt. Ich musste mich stark am Riemen reißen, um nicht umzudrehen und mit dem Märchen heimzukehren, man hätte mich wegen irgendeines Vorwands nicht am Wettbewerb teilnehmen lassen. Der Maestro schlug kurz das Klavier an, um meine Stimmlage festzustellen. Vor mir waren sieben andere in der Reihenfolge der Anmeldung aufgerufen worden. Bei dreien wurde die Glocke wegen unterschiedlicher Fehler geläutet, und dann wurde ich mit dem einfachen Namen Gabriel Márquez angekündigt. Ich sang El cisne, das sentimentale Lied über einen Schwan, so weiß wie eine Schneeflocke, der gemeinsam mit seiner Geliebten von einem herzlosen Jäger getötet wird. Schon bei den ersten Takten merkte ich, dass die Tonlage bei einigen Noten, die bei der Probe nicht drangekommen waren, für mich zu hoch war, und ich erlebte einen Moment der Panik, als der Assistent eine Geste des Zweifels machte und sich anschickte, zur Glocke zu greifen. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, ihm ein energisches Zeichen zu geben, er solle nicht läuten, doch zu spät: Die Glocke ertönte unbarmherzig. Die fünf Pesos Preisgeld sowie mehrere Reklamegeschenke gehörten einer schönen Blondine, die ein Stück aus Madame Butterfly massakriert hatte. Ich ging nach der Niederlage gedrückt heim, und es gelang mir nicht, meine Mutter über die Enttäuschung hinwegzutrösten. Erst nach vielen Jahren gestand sie mir, dass es sie hauptsächlich deshalb geschmerzt habe, weil sie Verwandten und Freunden Bescheid gegeben hatte, damit sie mich singen hörten, und nicht wusste, wie sie sich herausreden sollte. Inmitten dieses Tals der Tränen und des Lachens habe ich nie in der Schule gefehlt. Auch nicht mit leerem Magen. Doch die Zeit, in der ich daheim lesen wollte, verging mit Arbeiten im Haushalt, und wir hatten nicht genug Geld für Strom, dass ich bis Mitternacht hätte lesen können. Dennoch fand ich, was ich brauchte. Auf dem Schulweg gab es mehrere Werkstätten für Autobusse, und bei einer blieb ich oft hängen und schaute stundenlang zu, wie auf die Busflanken die Routen und die Fahrtziele aufgemalt wurden. Einmal bat ich den Maler, mich ein paar Buchstaben pinseln zu lassen, damit ich meine Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Er war überrascht über meine natürliche Gabe und erlaubte mir manchmal, ihm für ein paar Pesos zu helfen, die ich dann zum Haushaltsgeld beisteuerte. Viel versprechend schien auch die Zufallsfreundschaft mit den drei Brüdern García, den Söhnen eines Schiffers auf dem Magdalena; sie hatten ein Trio gebildet, um aus reiner Liebe zur Kunst die Feste von Freunden zu beleben. Ich ergänzte das Trio zum Quartett García, um bei dem Laienwettbewerb des Senders Atläntico anzutreten. Vom ersten Auftritt an sangen wir uns unter donnerndem Applaus an die Spitze, das Preisgeld von fünf Pesos wurde uns jedoch wegen eines unverzeihlichen Fehlers bei der Anmeldung nicht ausgezahlt. Das restliche Jahr über probten wir weiter zusammen und sangen aus reiner Gefälligkeit auf Familienfesten, bis das Leben uns schließlich trennte.

Ich habe nie die bösartige Meinung geteilt, dass die Geduld, mit der mein Vater die Armut anging, in hohem Grade verantwor-tungslos war. Im Gegenteil: Ich glaube, es war der homerische Beweis für ein Einvernehmen zwischen ihm und seiner Frau, auf das immer Verlass war und das ihnen erlaubte, bis zum Rand des Abgrunds den Mut zu bewahren. Er wusste, dass sie mit der Panik noch besser umgehen konnte als mit der Verzweiflung und dass dies das Geheimnis unseres Überlebens war. Nicht bedacht hat er vielleicht, dass dieweil sie seinen Kummer linderte, das Beste ihres Lebens auf der Strecke blieb. Wir haben nie den Grund für seine Reisen verstanden. Es konnte vorkommen, dass wir plötzlich an einem Samstag gegen Mitternacht aufgeweckt wurden, um zur örtlichen Vertretung des Erdölcamps von Catatumbo zu eilen, wo uns ein Funkruf meines Vaters erreichen sollte. Ich werde nie vergessen, wie meine Mutter während eines Gesprächs voll technischer Störungen in Tränen aufgelöst war.

»Ach, Gabriel«, sagte sie, »schau doch, wie du mich mit dieser Kinderschar allein gelassen hast. Oft haben wir nicht einmal etwas zu essen gehabt.«

Er antwortete mit der schlechten Nachricht, seine Leber sei geschwollen. Das kam häufig vor, doch meine Mutter nahm es nicht besonders ernst, weil er das einmal als Ausrede bei einem Seitensprung benutzt hatte.

»Das passiert immer, wenn du dich schlecht benimmst«, scherzte sie.

Sie redete und schaute dabei das Mikrophon an, als ob Papa dort stünde, und als sie ihm am Ende einen KUSSschicken wollte, kam sie ganz durcheinander und küsste das Mikrophon. Sie fand das selbst so komisch, dass sie die Geschichte nie zu Ende erzählen konnte, weil ihr vor Lachen die Tränen kamen. An jenem Tag wurde sie jedoch nachdenklich und sagte schließlich bei Tisch, als spreche sie zu niemandem:

»Da war etwas Seltsames in Gabriels Stimme.«

Wir erklärten ihr, dass das Funktelefon nicht nur die Stimmen verzerrt, sondern damit auch die Persönlichkeit verändert. Am nächsten Abend sagte sie im Halbschlaf: »Die Stimme hörte sich jedenfalls so an, als sei er viel dünner geworden.« Sie hatte die scharf geschnittene Nase ihrer schlechten Tage und fragte sich seufzend, wie es wohl in diesen gott- und gesetzlosen Dörfern zugehe, in denen sich ihr närrischer Mann herumtrieb. Was sie insgeheim beschäftigte, wurde bei einem zweiten Funkgespräch noch deutlicher, als sie meinem Vater das Versprechen abnahm, sofort nach Hause zu kommen, wenn er in den nächsten zwei Wochen nichts erreicht hätte. Vor Ablauf der Frist erreichte uns jedoch ein dramatisches Telegramm aus Altos del Rosario, das nur ein Wort enthielt: »Unentschlossen.« Meine Mutter sah in der Botschaft eine Bestätigung ihrer hellsichtigsten Ahnungen und diktierte ihr endgültiges Verdikt: »Wenn du bis Montag nicht hier bist, komme ich mit der ganzen Meute.«

Das Allheilmittel. Mein Vater kannte die Kraft ihrer Drohungen und war vor Ablauf der Woche zurück in Barranquilla. Wir waren erschüttert, als er auftauchte, er war nachlässig gekleidet, unrasiert, und seine Haut schimmerte grünlich, so dass meine Mutter glaubte, er sei krank. Aber das war nur der erste Eindruck, denn nach zwei Tagen erwog er schon wieder seinen Jugendplan, eine vielseitige Apotheke in der Ortschaft Sucre aufzumachen, einem idyllischen und wohlhabenden Flecken, eine Tag- und Nachtreise von Barranquilla entfernt. Er hatte in seinen jungen Jahren dort als Telegrafist gearbeitet, und das Herz wurde ihm schwer, wenn er der Fahrten durch die Kanäle im Abendrot, der vergoldeten Lagunen und durchtanzten Nächte gedachte. Er hatte sich zu einer früheren Zeit darauf versteift, dort eine Lizenz zu bekommen, hatte aber weniger Glück als bei anderen, noch beliebteren Orten, wie etwa Aracataca, gehabt. Etwa fünf Jahre später, bei der dritten Bananenkrise, dachte er erneut daran, Sucre war jedoch inzwischen in der Hand der Grossisten aus Magangué. Einen Monat vor dem Ultimatum seiner Frau hatte er dann zufällig einen von ihnen getroffen, der ihm nicht nur ein völlig anderes Bild entwarf, sondern ihm auch einen guten Kredit für Sucre anbot. Mein Vater lehnte ab. Er glaubte sich nah daran, den Goldtraum von Altos del Rosario zu verwirklichen, als ihn der Urteilsspruch seiner Frau ereilte, woraufhin er den Grossisten aus Magangué ausfindig machte, der noch in den Flussdörfern unterwegs war, und den Vertrag mit ihm abschloss.

Nach zwei Wochen der Berechnungen und Abmachungen mit befreundeten Grossisten machte sich mein Vater, äußerlich und innerlich wiederhergestellt, erneut auf die Reise, und sein Eindruck von Sucre war so stark, dass er ihn im ersten Brief niederschrieb: »Die Wirklichkeit ist besser als die schönen Erinnerungen.« Er mietete ein Haus mit Balkon an der großen Plaza und gewann von dort aus ehemalige Freunde wieder, die ihn mit offenen Türen empfingen. Die Familie sollte so viel wie möglich verkaufen, den Rest, also wenig, einpacken und auf einem der Dampfer, die den Magdalena regelmäßig berühren, mitbringen. Mit gleicher Post schickte der Vater eine genau berechnete Überweisung für die anfallenden Ausgaben und kündigte eine weitere mit dem Reisegeld an. Für das schwärmerische Gemüt meiner Mutter waren das höchst anregende Nachrichten, und ihre Antwort war wohl überlegt, nicht nur um den Elan meines Vaters zu unterstützen, sie wollte ihm auch die Kunde von ihrer achten Schwangerschaft versüßen.

Ich erledigte die Formalitäten und reservierte Plätze auf der Capitán de Caro, einem legendären Schiff, das eine Nacht und einen halben Tag für die Strecke von Barranquilla nach Manangué brauchte. Von dort aus würden wir in einem Motorboot auf dem Rio San Jorge und dem idyllischen Kanal La Mojana bis zu unserem Ziel fahren.

»Hauptsache wir kommen von hier weg, und sei es in die Hölle«, rief meine Mutter aus, der Sucres glanzvoller Ruf schon immer suspekt gewesen war. »Man darf seinen Mann nicht allein in so einem Ort lassen.«

Sie drängte uns zu solcher Eile, dass wir schon drei Tage vor der Abfahrt auf dem Boden schliefen, weil wir bereits die Betten und so viele Möbel wie möglich bei einer Versteigerung verkauft hatten. Alles andere war in Kisten gepackt, und das Geld für die Passagen lag in irgendeinem Versteck meiner Mutter, gut abgezählt und tausendmal nachgezählt.

Der Angestellte, der mich bei der Flussschifffahrtsgesellschaft bediente, war so einnehmend, dass sich meine zusammengepressten Kiefer lockerten und ich mich gut mit ihm verständigen konnte. Ich bin absolut sicher, dass ich buchstabengetreu die Tarife aufgeschrieben habe, die er mir mit der klaren und geschmeidigen Stimme der verbindlichen Kariben diktierte. Am meisten freute mich, und deshalb vergaß ich es auch nicht, dass Kinder unter zwölf Jahren nur die Hälfte zahlten. Das hieß, alle Kinder außer mir. Davon ausgehend legte meine Mutter das Geld für die Reise beiseite und gab noch den letzten Centavo für die Auflösung des Haushalts aus.

Am Freitag wollte ich die Fahrkarten kaufen, doch der Angestellte empfing mich mit der Überraschung, dass die Ermäßigung bis zu zwölf Jahren nicht fünfzig, sondern nur dreißig Prozent betrug, was für uns eine unüberbrückbare Differenz ausmachte. Er führte an, ich hätte mir das falsch notiert, die offizielle Preisliste liege nämlich gedruckt vor, und er zeigte sie mir. Ich ging voller Sorgen nach Hause, meine Mutter kommentierte das Ganze nicht weiter, sondern zog sich das schwarze Kleid an, in dem sie um ihren Vater getrauert hatte, und wir machten uns zum Büro der Flussschifffahrtsgesellschaft auf.

Meine Mutter war gerecht: Jemand habe sich geirrt, und das könne durchaus ihr Sohn gewesen sein, aber darum ginge es nicht. Tatsache sei, wir hätten nicht mehr Geld. Der Angestellte erklärte ihr, da sei nichts zu machen.

»Verstehen Sie doch, Senora«, sagte er, »es geht nicht darum, ob man Ihnen helfen oder nicht helfen will, das hier ist ein seriöses Unternehmen, und die Bestimmungen lassen sich nicht wie eine Wetterfahne drehen.«

»Aber die Kinder sind doch klein«, sagte meine Mutter und wies als Beispiel auf mich. »Stellen Sie sich vor, das hier ist der Älteste, und gerade einmal zwölf.« Und mit der Hand zeigte sie:

»Die anderen sind nur so groß.«

Es sei nicht eine Frage der Größe, brachte der Angestellte vor, sondern des Alters. Keiner zahle weniger, nur die Säuglinge, die reisten gratis. Meine Mutter setzte auf höhere Mächte:

»Mit wem muss ich sprechen, damit das hier in Ordnung kommt?«

Der Angestellte kam nicht dazu, ihr zu antworten. Der Geschäftsführer, ein älterer Mann mit einem mütterlichen Bauch, schaute mitten im Wortgefecht durch die Bürotür, und der Angestellte stand auf, als er ihn erblickte. Der Mann war riesig, verbreitete, sogar verschwitzt und in Hemdsärmeln, Respekt, und seine Autorität war unübersehbar. Er hörte meiner Mutter aufmerksam zu und antwortete mit ruhiger Stimme, dass eine solche Entscheidung nur durch eine Reform der Bestimmungen in der Gesellschafterversammlung möglich sei.

»Es tut mir sehr Leid, glauben Sie mir«, schloss er.

Meine Mutter verspürte den Hauch der Macht und verfeinerte ihre Argumentation.

»Sie haben Recht, Señor«, sagte sie, »das Problem ist jedoch, dass Ihr Angestellter es meinem Sohn nicht richtig erklärt hat, beziehungsweise dass mein Sohn es falsch verstanden hat und dass ich mich diesem Irrtum entsprechend verhalten habe. Jetzt habe ich alles fertig zum Einschiffen gepackt, wir schlafen auf dem nackten Boden, das Essensgeld reicht gerade mal bis heute, und am Montag übergebe ich das Haus den neuen Mietern.« Sie merkte, dass die Angestellten in der Halle ihr interessiert zuhörten, und wandte sich an diese: »Was kann das schon für ein so großes Unternehmen bedeuten?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, sah sie dem Geschäftsführer direkt in die Augen:

»Glauben Sie an Gott?«

Der Geschäftsführer war irritiert. Ein zu langes Schweigen hing in der Luft, und das ganze Büro hielt den Atem an. Da lehnte sich meine Mutter im Stuhl zurück, drückte die Knie, die zu zittern begonnen hatten, zusammen, umklammerte die Handtasche auf ihrem Schoß mit beiden Händen und sagte mit der Entschlossenheit ihrer großen Taten:

»Ich bewege mich nicht von hier weg, bis Sie eine Lösung gefunden haben.«

Der Geschäftsführer war baff, und das gesamte Personal unterbrach die Arbeit, um meine Mutter zu betrachten. Sie saß unbeirrbar da, die Nase scharf, Schweißperlchen auf der bleichen Stirn. Sie trug schon länger keine Trauer mehr, hatte das Kleid aber wieder hervorgeholt, weil es ihr für diese Aufgabe am geeignetsten erschien. Der Geschäftsführer sah nicht mehr zu ihr hin, sondern schaute auf seine Angestellten, wusste nicht, was tun, und rief schließlich für alle aus:

»So etwas hat es noch nie gegeben!«

Meine Mutter zuckte nicht mit der Wimper. »Mir stand das Wasser schon fast in den Augen, aber ich musste durchhalten, das wäre zu peinlich gewesen«, erzählte sie mir später. Der Geschäftsführer wies daraufhin den Angestellten an, ihm die Unterlagen ins Büro zu bringen. Was dieser auch tat, um nach fünf Minuten wieder herauszukommen, zusammengestaucht und wütend, doch mit allen ordnungsmäßig ausgestellten Bil-lets für die Reise.

In der folgenden Woche gingen wir in der Ortschaft Sucre an Land, als wären wir dort geboren worden. Sucre hatte etwa sechzehntausend Einwohner, wie zu jener Zeit viele Gemeinden im Land, und die Leute kannten alle einander, weniger vom Namen her als von ihren geheimen Geschichten. Nicht nur der Ort, auch die ganze Region war ein Meer zahmen Wassers, das mit dem Blütenschaum die Farbe wechselte, je nach Jahreszeit, Ort und eigener Gemütsverfassung. Diese Pracht konnte sich mit den traumhaften Wasserlandschaften Südostasiens messen. In all den Jahren, in denen unsere Familie dort lebte, hat es im Ort kein einziges Auto gegeben. Es wäre auch nutzlos gewesen, denn die schnurgeraden, glatt gewalzten Erdstraßen waren wie geschaffen fürs Barfußlaufen, und viele Häuser hatten am Kücheneingang einen Privatsteg mit eigenen Kanus für Transporte innerhalb des Orts.

Als Erstes verspürte ich eine unvorstellbare Freiheit. Alles, was uns Kindern gefehlt hatte oder wonach wir uns gesehnt hatten, war plötzlich in greifbarer Nähe. Jeder aß, wenn er Hunger hatte, schlief irgendwann, und es war für die Erwachsenen nicht leicht, sich um uns zu kümmern, denn trotz strenger Regeln kamen sie mit ihrer eigenen Zeit so wenig zurecht, dass sie sich nicht einmal um sich selbst kümmern konnten. Die einzige Sicherheitsmaßnahme für die Kinder war, dass sie schwimmen lernen mussten, noch bevor sie laufen konnten, da der Ort von einem tRuben Kanal, der gleichzeitig als Aquädukt und als Abwassergraben diente, in zwei Teile zerschnitten wurde. Wenn die Kinder ein Jahr alt waren, warf man sie aus den Küchenfenstern in den Kanal, erst mit Rettungsringen, damit sie die Angst vor dem Wasser verloren, und später ohne Rettungsringe, damit sie den Respekt vor dem Tod verloren. Jahre später glänzten mein Bruder Jaime und meine Schwester Ligia, die diese gefährliche Initiation überlebt hatten, bei den Schwimmwettbewerben für Kinder.

Zu einem unvergesslichen Ort wurde Sucre für mich durch dieses Gefühl der Freiheit, mit dem wir Kinder uns auf der Straße bewegten. Nach zwei oder drei Wochen wussten wir, wer in welchem Haus wohnte, und wir gingen dort aus und ein wie alte Bekannte. Die gesellschaftlichen Sitten - abgeschliffen vom Gebrauch - waren die des modernen Lebens innerhalb einer feudalen Kultur: Die Reichen - Viehzüchter und Zuckerbarone -lebten um die große Plaza herum, und die Armen da, wo sie Platz fanden. Für die Kirchenverwaltung war es ein Territorium selbständiger Missionen mit eigener Gerichtsbarkeit, verstreut über ein weites Reich von Seen. Im Mittelpunkt dieser Welt, auf der großen Plaza von Sucre, stand die Gemeindekirche, eine Westentaschenausgabe des Kölner Doms, die ein spanischer Pfarrer, der auch als Architekt fungierte, aus dem Gedächtnis nachgebaut hatte. Macht wurde unmittelbar und absolut ausgeübt. Jeden Abend nach dem Rosenkranz gab die Zahl der Glockenschläge vom Kirchturm an, wie der im Nachbarkino angekündigte Film nach dem Katalog des katholischen Filmbüros moralisch bewertet wurde. Der diensthabende Missionar saß an der Tür seines Büros und überwachte den Eingang des Filmtheaters auf der anderen Straßenseite, um die Unbotmäßigen zu bestrafen.

Stark frustriert war ich über das Alter, in dem ich nach Sucre kam. Es fehlten nur noch ein paar Monate, bis ich die Schicksalslinie der dreizehn Jahre überqueren würde, und man ertrug mich nicht mehr als Kind, erkannte mich aber auch noch nicht als Erwachsenen an, und in diesem Zwischenreich war ich schließlich der Einzige unter den Geschwistern, der nicht schwimmen lernte. Man wusste nicht, ob man mich an den Kindertisch oder an den der Erwachsenen setzen sollten. Die Mägde zogen sich auch bei ausgeknipstem Licht nicht mehr vor mir aus, nur eine schlief mehrmals nackt in meinem Bett, ohne meinen Schlaf zu stören. Ich hatte nicht genügend Zeit gehabt, mich in diesen Urständen des freien Willens auszutoben, als ich im Januar des neuen Jahres zurück nach Barranquilla musste, um mit der Oberschule zu beginnen, weil es in Sucre keine Schule gab, die den ausgezeichneten Noten von Lehrer Casalins genügt hätte.

Nach langen Erkundigungen und Diskussionen, bei denen ich kaum etwas zu sagen hatte, entschieden meine Eltern sich für das Jesuitenkolleg San José in Barranquilla. Ich kann mir nicht erklären, wie sie in so wenigen Monaten so viel Geld zusammenbekommen haben, da die Apotheke und die homöopathische Praxis sich erst etablieren mussten. Meine Mutter hatte immer ein Argument, das keinerlei Beweis erforderte: »Gott ist groß.« In die Umzugskosten waren wohl Unterbringung und Unterhalt der Familie in der ersten Zeit einberechnet worden, nicht aber mein Schulgeld. Da ich nur ein Paar kaputte Schuhe und einmal Kleidung zum Wechseln hatte, wenn die schmutzige gewaschen wurde, stattete mich meine Mutter mit neuer Wäsche und einem Koffer in der Größe eines Katafalks aus, ohne sich zu überlegen, dass ich in sechs Monaten um eine ganze Spanne wachsen würde. Sie entschied auch auf eigene Faust, dass ich von nun an lange Hosen tragen sollte, trotz der vom Vater unterstützten Regel, dass sie einem erst nach dem Stimmbruch zustanden.

In Wahrheit trug mich bei den Diskussionen über die Erziehung der einzelnen Kinder immer die Hoffnung, Papa würde in einem seiner homerischen Zornesausbrüche beschließen, dass keines seiner Kinder mehr zur Schule musste. So etwas war nicht ausgeschlossen. Er selbst war durch die höhere Gewalt der Armut Autodidakt, und sein Vater, ein von der eisernen Moral Ferdinand VII. inspirierter Grundschullehrer, hatte sich für den Hausunterricht eingesetzt, um die Integrität der Familie zu bewahren. Ich fürchtete die Schule wie einen Kerker, mich schreckte schon der bloße Gedanke, dem Regiment der Glocke unterworfen zu sein, andererseits war es die einzige Möglichkeit, ab dreizehn ein freies Leben zu genießen, in einem guten Verhältnis zur Familie, doch fern von ihren Ordnungsvorstellungen, ihrem demografischen Eifer, ihren schwierigen Tagen, und atemlos lesen zu können, solange das Licht reichte.

Mein einziges Argument gegen das Colegio San José, eines der anspruchsvollsten und teuersten an der Karibik, war seine martialische Disziplin, doch meine Mutter parierte meinen Schachzug mit einem Bauern: »Dort werden die Gouverneure gemacht.« Als es schon kein Zurück mehr gab, wusch mein Vater sich die Hände in Unschuld:

»Ich möchte festhalten, dass ich weder ja noch nein gesagt habe.«

Er hätte die amerikanische Schule vorgezogen, damit ich Englisch lernte, doch für meine Mutter schied sie aus dem unsachlichen Grund aus, dass es sich dabei um ein Nest von Lutheranern handele. Heute muss ich zu Ehren meines Vaters eingestehen, dass eines der großen Mankos in meinem Schriftstellerleben die Tatsache gewesen ist, kein Englisch zu sprechen.

Barranquilla von der Brücke desselben Dampfers Capi-tdn Caro aus wiederzusehen, auf dem wir die Stadt drei Monate zuvor verlassen hatten, machte mir das Herz schwer, als ahnte ich, dass ich nun alleine ins wirkliche Leben zurückkehrte. Zum Glück hatten meine Eltern arrangiert, dass ich Unterkunft und Essen bei meinem Vetter José Maria Valdeblanquez und seiner Frau Hortensia bekam; sie waren jung und freundlich und teilten ihr geruhsames Leben mit mir in einem einfachen Wohnzimmer, einer Schlafkammer und einem kleinen gepflasterten Patio, der immer im Schatten der an Drähten trocknenden Wäsche lag. Sie schliefen mit ihrer sechsmonatigen Tochter in der Kammer. Ich schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, das nachts in ein Bett verwandelt wurde.

Das Colegio San José lag sechs Blocks entfernt in einem Park mit Mandelbäumen, wo sich früher der älteste Friedhof der Stadt befunden hatte und man immer noch vereinzelt Knöchelchen und Fetzen toter Kleider zwischen den Pflastersteinen finden konnte. Am Tag, an dem ich zum ersten Mal den großen Innenhof betrat, fand dort eine Zeremonie für das erste Oberschuljahr statt. Alle trugen die Sonntagsuniform, weiße Hosen und eine blaue Tuchjacke, und ich konnte nicht der Panik Herr werden, dass diese Jungen alles beherrschten, was mir noch unbekannt war. Bald merkte ich jedoch, sie standen der Ungewissen Zukunft ebenso unbeleckt und verängstigt gegenüber wie ich.

Ein persönliches Schreckgespenst war für mich Bruder Pedro S. Reyes, Aufseher für die Grundstufe der Sekundärschule, der sich alle Mühe gab, die Ordensoberen des Kollegs davon zu überzeugen, dass es mir an Vorbildung für die Sekundärschule fehlte. Er entwickelte sich zu einem Alb, der mir an den unvorhergesehensten Orten auflauerte und mich plötzlichen Prüfungen mit diabolischen Fallstricken unterzog: »Glaubst du, dass Gott einen Stein schaffen kann, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?«, fragte er, ohne mir Zeit zum Nachdenken zu lassen. Oder noch so eine gemeine Fangfrage: »Wenn wir um den Äquator einen goldenen Gürtel von fünfzig Zentimetern Breite spannen würden, um wie viel würde das Gewicht der Erde dann zunehmen?« Ich bestand nicht ein einziges Mal vor ihm, selbst wenn ich die Antwort wusste, weil meine Zunge, wie bei meinem ersten Telefonat, vor Angst versagte. Die Angst war nicht unbegründet, denn Bruder Reyes hatte Recht. Ich war nicht ausreichend auf die Oberschule vorbereitet, aber ich konnte nicht das Geschenk ausschlagen, dass sie mich ohne Aufnahmeprüfung angenommen hatten. Ich zitterte schon, wenn ich ihn nur sah. Einige Schulkameraden hatten eine boshafte Interpretation für seine Nachstellungen, doch es gab keinen Anlass, ihnen zu glauben. Außerdem half mir das Bewusstsein, mein erstes mündliches Examen glänzend bestanden zu haben, als ich fließend wie Wasser Fray Luis de León rezitierte und mit Farbkrei-den einen Christus wie aus Fleisch und Blut an die Tafel malte. Das Prüfungstribunal war so überrascht, dass es darüber die Arithmetik und die Heimatkunde vergaß.

Das Problem mit Bruder Reyes löste sich, als er in der Karwoche Zeichnungen für seinen Botanikunterricht brauchte und ich sie ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, anfertigte. Er gab nicht nur seine Verfolgungen auf, sondern verbrachte manchmal die Pausen damit, mir die wohl fundierten Lösungen der Fragen beizubringen, die ich ihm nicht hatte beantworten können, oder noch seltsamere Fragen zu behandeln, die dann wie zufällig in späteren Prüfungen meines ersten Oberschuljahrs auftauchten. Jedes Mal, wenn er mich jedoch in einer Gruppe antraf, spottete er mit großem Gelächter darüber, dass ich der Einzige aus der dritten Grundschulklasse sei, dem es an der Oberschule gut ergehe. Heute sehe ich, dass er Recht hatte. Besonders wegen der Orthografie, die meine ganze Studienzeit zu einem Leidensweg machte und auch weiterhin die Korrektoren meiner Bücher schreckt. Die gutwilligsten trösten sich damit, dass es sich um Tippfehler handelt.

Meine Ängste verminderten sich, als der Maler und Schriftsteller Héctor Rojas Herazo zum Zeichenlehrer ernannt wurde. Er muss Anfang zwanzig gewesen sein. Begleitet von dem Pater Präfekten kam er in den Klassenraum, und sein Gruß hallte wie lautes Türenschlagen durch die heiße Schwüle um drei Uhr mittags. Er sah gut aus und hatte die lockere Eleganz eines Filmschauspielers, trug eine sehr enge Kamelhaarjacke mit goldenen Knöpfen, dazu eine gemusterte Weste und eine bedruckte Seidenkrawatte. Am ungewöhnlichsten war jedoch die Melone auf seinem Kopf. Rojas Herrazo war so groß, dass er bis oben an den Türrahmen reichte, er musste sich also bücken, wenn er mit zarter Hand etwas auf die Tafel zeichnen wollte. Neben ihm wirkte der Pater Präfekt wie von Gottes Gnade verlassen.

Von Anfang an fiel auf, dass er weder methodisch noch geduldig genug fürs Unterrichten war, doch sein maliziöser Humor hielt uns in Atem, wie uns auch die meisterhaften Bilder, die er mit Farbkreiden auf die Tafel malte, in Erstaunen versetzten. Er hielt sich nicht länger als drei Monate an der Schule, wir erfuhren nicht warum, aber es ist anzunehmen, dass seine weltliche Pädagogik sich nicht mit der geistigen Ordnung der Gesellschaft Jesu vertrug.

Schon bald errang ich am Kolleg den Ruf eines Poeten, zunächst wegen der Leichtigkeit, mit der ich die Gedichte der spanischen Klassik und Romantik aus den Schulbüchern auswendig lernte und lauthals vortrug, später wegen der gereimten Satiren, mit denen ich meinen Klassenkameraden in der Schülerzeitschrift bedachte. Ich hätte die Satiren nicht geschrieben oder ihnen etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet, wenn ich geahnt hätte, dass sie den Ruhm gedruckter Buchstaben erfahren sollten. Eigentlich waren es nur freundliche Spottverse auf meine Mitschüler; ich schrieb sie heimlich auf Zettelchen und ließ sie in der schläfrigen Unterrichtsstunde um zwei Uhr mittags zirkulieren. Pater Luis Posada, Präfekt der zweiten Abteilung, erwischte einen, las ihn mit unwirscher -Miene und tadelte mich entsprechend, steckte ihn aber in die lasche. Pater Arturo Mejia zitierte mich sodann in sein Büro und schlug mir vor, die beschlagnahmten Satiren in der Zeitschrift Juventud, dem offiziellen Organ der Kollegschüler, zu veröffentlichen. Ich bekam daraufhin vor lauter Überraschung, Scham und Glück Bauchschmerzen, was ich nicht sehr überzeugend durch eine ablehnende Haltung überspielte:

»Das ist nur dummes Zeugs.«

Pater Mejia notierte sich die Antwort und veröffentlichte die Verse mit Erlaubnis der Opfer unter diesem Titel - Dummes Zeugs von Gabito - in der nächsten Nummer der Zeitschrift. Für die zwei folgenden Ausgaben musste ich auf Bitten meiner Klassenkameraden eine weitere Serie liefern. Also sind diese kindlichen Verse - ob ich es will oder nicht - streng genommen mein opus primum.

Das Laster, alles zu lesen, was mir in die Hände fiel, nahm meine Freizeit und fast den ganzen Unterricht in Anspruch. Ich konnte Gedichte aus dem damals in Kolumbien geläufigen populären Repertoire vollständig aufsagen, dazu die schönsten aus dem Siglo de Oro und der Romantik in Spanien, die ich meistens aus den Schulbüchern lernte. Dieses für mein Alter unzeitgemäße Wissen regte meine Lehrer auf, denn jedes Mal, wenn sie mir eine tödliche Frage stellten, beantwortete ich diese mit einem Zitat oder mit irgendeinem aus Büchern bezogenen Einfall, der sich der Bewertung entzog. Padre Mejía drückte es so aus: »Er ist ein altkluger Junge«, um nicht zu sagen, schwer erträglich. Ich musste mein Gedächtnis nie besonders anstrengen, denn die Gedichte und auch einige Stücke klassischer Prosa blieben mir nach dem dritten oder vierten Lesen im Hirn haften. Meine erste Uhr habe ich bei einer Wette mit dem Pater Präfekten gewonnen, als ich, ohne zu stocken, die siebenundfünfzig zehnzeiligen Stanzen von El vértigo von Caspar Núnez de Arce aufsagte. Das offene Buch auf den Knien, las ich mit einer Dreistigkeit im Unterricht, dass Strafe nur deshalb ausbleiben konnte, weil die Lehrer ein Auge zudrückten. Was ich mit meinen wohl gereimten Scherzgedichten allerdings nicht erreichte, war, dass sie mir die tägliche Messe um sieben Uhr morgens erließen. Ich schrieb mein dummes Zeugs, sang als Solist im Chor, zeichnete Karikaturen, sagte bei feierlichen Anlässen Gedichte auf und machte noch viel mehr außerhalb der Reihe, so dass niemand begriff, wann ich eigentlich lernte. Die Erklärung war denkbar einfach: Ich lernte nicht.

Bei all dieser übertriebenen Geschäftigkeit verstehe ich immer noch nicht, wie sich die Lehrer so ausgiebig mit mir beschäftigen konnten, ohne sich über meine Holzhacker-Orthografie zu erregen. Ganz anders war das bei meiner Mutter, die meinem Vater einige meiner Briefe vorenthielt, um seine Gesundheit zu schonen, und sie mir korrigiert zurückschickte, manchmal auch mit Glückwünschen zu gewissen grammatikalischen Fortschritten und zum richtigen Gebrauch der Wörter. Nach zwei Jahren waren jedoch keine wirklichen Fortschritte ersichtlich. Heute schlage ich mich immer noch mit dem gleichen Problem herum: Ich habe nie begriffen, warum Buchstaben geduldet werden, die man nicht ausspricht, oder warum es zwei Buchstaben für den gleichen Laut gibt und noch viele andere müßige Regeln.

Am Colegio San José habe ich eine Neigung entdeckt, die mich durchs Leben begleiten sollte: die Freude an der Unterhaltung mit älteren Schülern. Noch heute muss ich mir bei Treffen mit jungen Leuten, die meine Enkel sein könnten, Mühe geben, mich nicht jünger als sie zu fühlen. Damals freundete ich mich mit zwei älteren Mitschülern an, die mich sehr viel später durch historische Abschnitte meines Lebens begleiteten. Einer war Juan B. Fernández, der Sohn von einem der drei Besitzer und Gründer der Zeitung El Heraldo in Barranquilla, wo ich später meine ersten journalistischen Gehversuche machen und er selbst seine Laufbahn von den ersten Buchstaben bis zum Direktor beschreiten sollte. Der andere war Enrique Scopell, der Sohn eines in der Stadt berühmten kubanischen Fotografen, der später selbst Fotoreporter wurde. Meine Dankbarkeit ihm gegenüber gründet allerdings weniger auf den gemeinsamen Presseaktivitäten als auf seiner Arbeit als Gerber. Er exportierte das Leder wilder Tiere in die halbe Welt und schenkte mir zu einer meiner ersten Auslandsreisen einen etwa drei Meter langen Kaimanbalg.

»Dieses Stück ist ein Vermögen wert«, sagte er ganz undramatisch, »aber ich rate dir, es nicht zu verkaufen, solange du nicht glaubst, dass du verhungerst.«

Ich frage mich noch immer, inwieweit der weise Quique Scopell wusste, dass er mir damit ein Amulett fürs Leben gab, denn tatsächlich hätte ich in jenen Jahren häufiger Hungerperioden den Kaimanbalg oft verkaufen müssen. Aber ich bewahre ihn, verstaubt und fast versteinert, noch immer auf, denn seitdem ich ihn im Koffer durch die ganze Welt trage, hat mir nie ein Centavo fürs Essen gefehlt.

Die Jesuitenlehrer, so streng im Unterricht, waren ganz anders in den Pausen. Dann hielten sie sich für das schadlos, was sie im Unterricht nicht erwähnen konnten, und brachten uns das bei, was sie in Wirklichkeit gern unterrichtet hätten. Ich glaube zu erinnern, dass ich diesen Unterschied, soweit das in meinem Alter möglich war, deutlich wahrnahm und dass er für uns äußerst hilfreich war. Pater Luis Posada, ein junger Cachaco mit einer progressiven Geisteshaltung, der lange Jahre im Gewerkschaftsumkreis gearbeitet hatte, besaß einen Zettelkasten mit allerlei zusammengefassten lexikalischen Beiträgen, insbesondere über Autoren und Bücher. Pater Ignacio Zaldivar, einen Basken aus der Provinz Santander, besuchte ich noch lange, bis in sein hohes Alter hinein, im Kloster San Pedro Claver in Cartagena. Pater Eduardo Nunez war mit der Arbeit an einer monumentalen Geschichte der kolumbianischen Literatur bereits weit gediehen, über die ich dann nie etwas gehört habe. Pater Manuel Hidalgo, Gesangslehrerund schon ein alter Mann, hatte ein eigenes Gespür für Talente und erlaubte sich Ausflüge in die heidnische Musik, die nicht vorgesehen waren.

Pater Pieschacon, der Rektor, unterhielt sich ein paarmal mit mir, und ich schöpfte daraus die Gewissheit, dass er mich als Erwachsenen betrachtete, nicht nur wegen der Themen, die er ansprach, sondern auch wegen seiner gewagten Ausführungen. In meinem Leben war er entscheidend für die Klärung der Begriffe Himmel und Hölle, die ich schon wegen schlichter geografischer Hürden nicht mit den Angaben des Katechismus in Einklag bringen konnte. Den Umgang mit solchen Dogmen erleichterte mir der Rektor mit seinen originellen Ideen. Der Himmel war, ohne weitere Komplikationen, die Gegenwart Gottes. Und die Hölle natürlich das Gegenteil. Zweimal gestand er mir jedoch sein Problem, dass »es nichts destoweniger Feuer gebe«, konnte das aber nicht erklären. Eher wegen solcher Lektionen in den Pausen als aufgrund des eigentlichen Unterrichts beendete ich das Jahr mit einer medaillengepanzerten Brust.

Meine ersten Ferien in Sucre begannen an einem Sonntag um vier Uhr nachmittags, an einem mit Girlanden und bunten Luftballons dekorierten Landungssteg und auf einer Plaza, die in einen Weihnachtsbasar verwandelt war. Ich hatte kaum festen Boden unter den Füßen, als sich ein hübsches, blondes Mädchen mit erdrückender Spontaneität an meinen Hals hängte und mich abküsste. Es war meine Schwester Carmen Rosa, Papas uneheliche Tochter, die gekommen war, eine Saison mit ihrer unbekannten Familie zu verbringen. Zur gleichen Zeit tauchte auch Papas zweites Kind, Abelardo, auf; er war von Beruf ein guter Schneider, der seine Werkstatt seitlich der Plaza Mayor einrichtete und mein Lehrer für die Dinge des Lebens während der Pubertät wurde.

Im neuen und frisch möblierten Haus herrschte eine festliche Stimmung, und es gab einen neuen Bruder: Jaime, der 'm Mai unter dem guten Zeichen der Zwillinge als Sechsmonatskind geboren war. Ich erfuhr davon erst bei meiner Ankunft, da meine Eltern eigentlich beschlossen hatten, die Geburtenrate einzudämmen, doch meine Mutter beeilte sich, mir zu erklären, dieser Sohn sei ein Tribut an Santa Rita für die Prosperität, die ins Haus Einzug gehalten habe. Sie war verjüngt und fröhlich, sang mehr denn je, und mein Vater trieb in einem Strom der guten Laune, mit einer wohl sortierten Apotheke und einer gefüllten Praxis, vor allem sonntags, wenn die Patienten aus den nahen Bergen kamen. Ich weiß nicht, ob er je erfahren hat, dass dieser Zustrom zwar in der Tat auf seinen guten Ruf als Heiler zurückzuführen war, die Leute vom Land aber weniger der homöopathischen Wirkung seiner Zuckerkügelchen und seiner wohltuenden Wässerchen vertrauten als seinen Hexenkünsten.

Sucre war noch besser als in der Erinnerung, dazu trug die Tradition bei, dass die Bevölkerung sich zum Weihnachtsfest in die beiden großen Wohnviertel aufteilte: Zulia im Süden und Congoveo im Norden. Sie traten gegeneinander an bei kleineren und größeren Spektakeln, vor allem aber bei dem Wettbewerb allegorisch geschmückter Kutschen, mit denen dann in kunstvollen Turnieren die historische Rivalität der beiden Viertel dargestellt wurde. Am Heiligabend versammelten sich schließlich alle unter großem Palaver auf der Hauptplaza, und das Publikum entschied, welches der beiden Viertel Sieger des Jahres war.

Seit ihrer Ankunft trug Carmen Rosa zum besonderen Glanz des Weihnachtsfestes bei. Sie war modern und kokett und wurde zur Herrin der Bälle, eine Schleppe aufgeregter Verehrer hinter sich herziehend. Meine Mutter, die so eifersüchtig über ihre Töchter wachte, tat das nicht bei ihr, erleichterte ihr sogar die Liebeleien, was eine unerhörte Note ins Haus brachte. Es war ein Verhältnis zwischen Komplizinnen, das meine Mutter mit ihren eigenen Töchtern nie gehabt hat. Abelardo wiederum richtete sein Leben auf andere Weise ein, in einer Werkstatt von nur einem Raum, der durch einen Paravent abgeteilt war. Als Schneider ging es ihm gut, aber nicht so gut wie als umsichtigem Schürzenjäger, der mehr Zeit wohl begleitet im Bett hinter dem Paravent verbrachte als allein und gelangweilt vor der Nähmaschine.

Mein Vater hatte in diesen Ferien die seltsame Idee, mich auf das Geschäftsleben vorzubereiten. »Vorsichtshalber«, erklärte er mir. Als Erstes brachte er mir bei, das Geld, das der Apotheke geschuldet wurde, einzutreiben. An einem jener Tage schickte er mich zum Kassieren ins La Hora, ein weitherziges Bordell am Ortsrand.

Ich schaute in die halb geöffnete Tür eines Zimmers, das zur Straße ging, und sah eine der Frauen des Hauses beim Siestaschläfchen, barfuß und in einem Unterrock, der ihr nicht über die Schenkel reichte. Bevor ich sie ansprach, setzte sie sich im Bett auf, sah mich verschlafen an und fragte, was ich wolle. Ich sagte, ich hätte eine Botschaft meines Vaters für Don Eligio Molino, den Besitzer. Statt mir zu zeigen, wohin ich musste, befahl sie mir, einzutreten und die Tür zu verriegeln, und mit dem Zeigefinger machte sie mir ein Zeichen, das alles sagte:

»Komm her.«

Ich folgte, und je näher ich kam, desto mehr füllte ihr drangvoller Atem wie ein anwachsender Fluss den Raum, bis sie mich mit der rechten Hand am Arm packen konnte und mir mit der linken in den Hosenschlitz fuhr. Ich verspürte einen köstlichen Schrecken.

»Du bist also der Sohn vom Doktor mit den Kügelchen«, sagte sie, während sie mich in der Hose befummelte, mit fünf derart beweglichen Fingern, dass es sich anfühlte, als wären es zehn. Sie zog mir die Hose aus, flüsterte mir dabei weiter warme Worte ins Ohr, zog sich den Unterrock über den Kopf und legte sich rücklings aufs Bett, nur mit dem rotgeblümten Schlüpfer bekleidet.

»Den ziehst du mir aber aus«, sagte sie, »das ist deine Pflicht als Mann.«

Ich riss an dem Höschen, konnte es ihr aber in der Hast nicht richtig ausziehen, so dass sie mit gestreckten Beinen und der schnellen Bewegung einer Schwimmerin nachhelfen musste. Dann packte sie mich unter den Achseln und hob mich im akademischen Missionarsstil auf sich. Den Rest erledigte sie, bis ich auf ihr starb, allein, in der Zwiebelsuppe zwischen ihren Stutenschenkeln plätschernd.

Sie legte sich schweigend auf die Seite, sah mir in die Augen, und ich hielt ihrem Blick in der Hoffnung stand, noch einmal von vorne beginnen zu dürfen, diesmal ohne Angst und mit mehr Zeit. Auf einmal sagte sie dann, sie verlange nicht die zwei Pesos für ihre Dienste, da ich nicht darauf vorbereitet gewesen sei. Dann legte sie sich wieder auf den Rücken und forschte mein Gesicht aus.

»Außerdem«, sagte sie, »bist du der vernünftige Bruder von Luis Enrique, stimmt's? Ihr habt die gleiche Stimme.«

Ich war so naiv zu fragen, woher sie ihn kenne.

»Ach, du Trottel«, lachte sie, »ich habe sogar eine Unterhose von ihm hier, die musste ich ihm beim letzten Mal waschen.«

Das schien mir eine Übertreibung angesichts des Alters meines Bruders, aber als sie mir später die Hose zeigte, stellte ich fest, dass es die Wahrheit war. Sie sprang mit der Grazie einer Ballerina aus dem Bett und erklärte mir, während sie sich ankleidete, dass Don Eligio Molina an der nächsten Türe links zu finden sei. Schließlich fragte sie:

»Das war dein erstes Mal, stimmt's?«

Mein Herz machte einen Sprung.

»Ach was«, log ich, »das siebte etwa.«

»Wie auch immer«, sagte sie mit einer ironischen Miene, »du solltest deinem Bruder sagen, dass er dir ein bisschen was beibringt.«

Diese Premiere gab mir einen vitalen Impuls. Die Ferien dauerten von Dezember bis Februar, und ich fragte mich, wie oft ich zwei Pesos zusammenbekommen konnte, um zu der Frau zurückzukehren. Mein Bruder Luis Enrique, seit seinem zwölften Jahr ein Veteran des Leibes, lachte sich darüber tot, dass man in unserem Alter für etwas zahlen sollte, was zwei Leute zusammen anstellten und was beide glücklich machte. Dem feudalen Geist von La Mojana entsprechend vergnügten die Grundbesitzer sich damit, die Jungfrauen ihrer Ländereien zu erproben, um sie nach einigen Nächten des Missbrauchs ihrem Schicksal zu überlassen. Man hatte die Wahl zwischen vielen, die nach den Bällen auf die Plaza kamen, um uns nachzustellen. Doch in jenen Ferien flößten sie mir noch ebensolche Angst ein wie das Telefon, und ich sah sie vorbeitreiben wie Wolken im Wasser. Ich hatte wegen der Leere, die das erste zufällige Abenteuer in meinem Körper hinterlassen hatte, keinen ruhigen Augenblick. Noch heute erscheint es mir nicht übertrieben zu glauben, dass dies die Ursache für die widerborstige Gemütsverfassung war, mit der ich in die Schule zurückkehrte, zudem völlig benebelt von dem rhetorischen Unsinn des Bogotänischen Dichters José Manuel Marroquin, der seine Zuhörerschaft von der ersten Strophe an um den Verstand brachte:

 

Nun, da die Beller banden, nun, da die Kräher hähnen, 

nun, da morgengrauend die Klänge glocken,

Und die Schnauber eseln und die Pieper vögeln,

Und Pfeifer nachtwächtern und Grunzer schweinen,

Und das morgenrotige Rosa die weiten Golder feldet 

Perlend Flüssiges, wie ich vergossen träne 

Und vor Beben kälte, indes die Glut seelt,

Klag ich meine Seufzer fensternd unter deinem.

 

Nicht nur dass ich dort, wo ich die endlosen Reihungen des Gedichts rezitierte, schon im Vorübergehen Unordnung stiftete, ich lernte diese Sprache auch so flüssig sprechen wie ein Eingeborener von wer weiß wo. Es passierte mir häufig: Ich antwortete irgendetwas, aber es war fast immer so seltsam oder komisch, dass die Lehrer sich kichernd davonmachten. Einer muss sich sogar um meinen Geisteszustand gesorgt haben, äs ich ihm bei einer Prüfung eine passende Antwort gab, die jedoch auf Anhieb nicht zu entschlüsseln war. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass etwas Böswilliges in diesen harmlosen Scherzen lag, an denen alle ihren Spaß hatten.

Mir fiel auf, dass die Priester mit mir redeten, als hätte ich den Verstand verloren, und ich spielte mit. Ein weiterer Grund zur Beunruhigung war, dass ich Choräle mit heidnischen Texten parodierte, die aber zum Glück keiner verstand. Mein Vormund brachte mich mit dem Einverständnis meiner Eltern zu einem Facharzt, der mich einer erschöpfenden, aber dennoch amüsanten Untersuchung unterzog, weil er nicht nur von schnellem Verstand, sondern persönlich auch sehr sympathisch war und eine unwiderstehliche Methode anwandte. Er ließ mich eine Sammlung von verballhornten Sprüchen lesen, die ich verbessern sollte. Ich war mit solcher Begeisterung dabei, dass der Arzt der Verlockung nicht widerstehen konnte, bei dem Spiel mitzumachen, und wir kamen auf so geistreiche Einfälle, dass er sie sich für künftige Untersuchungen notierte. Nach einer minutiösen Befragung über meine Angewohnheiten wollte er wissen, wie oft ich masturbierte. Ich antwortete, was mir gerade einfiel: Ich hätte es nie gewagt. Er glaubte mir nicht, bemerkte aber wie nebenbei, dass Angst ein negativer Faktor für die sexuelle Gesundheit sei, und gerade seine Ungläubigkeit wirkte wie eine Ermunterung auf mich. Ich fand ihn wunderbar, und als ich erwachsen war und als Journalist bei El Heraldo arbeitete, wollte ich ihn noch einmal besuchen und von ihm wissen, was für private Schlüsse er aus der ärztlichen Untersuchung gezogen hatte, erfuhr aber nur, dass er schon vor Jahren in die Vereinigten Staaten gezogen war. Einer seiner alten Kommilitonen wurde deutlicher und sagte mir durchaus liebevoll, dass der Arzt in Chicago im Irrenhaus sei, was ihn selbst nicht wundere, da er dessen Zustand schon immer für schlimmer als den der Patienten gehalten habe.

Die Diagnose bei mir lautete: nervöse Erschöpfung, die durch das Lesen nach den Mahlzeiten verstärkt werde. Der Arzt empfahl mir zwei Stunden absoluter Ruhe für die Verdauung und mehr körperliche Betätigung als nur den Schulsport. Noch immer staune ich darüber, wie ernst meine Eltern und auch meine Lehrer diese Anweisungen nahmen. Sie reglementierten meine Lektüre und nahmen mir mehr als einmal das Buch weg, wenn sie mich dabei ertappten, wie ich unter dem Pult las. Sie stellten mich von den schwierigen Fächern frei und zwangen mich zu mehreren Stunden sportlicher Betätigung am Tag. Während die anderen im Unterricht saßen, stand ich also im Hof und warf den Basketball in den Korb, ein ums andere Mal, dieweil ich vor mich hin rezitierte. Meine Klassenkameraden teilten sich von Anfang an in drei Gruppen, in diejenigen, die mich eigentlich schon immer für verrückt gehalten hatten, in jene, die meinten, ich stelle mich verrückt, um ein schönes Leben zu haben, und schließlich in die Gruppe, die weiterhin auf der Grundlage mit mir umging, dass die Verrückten die Lehrer waren. Aus jener Zeit stammt die Geschichte, dass ich von der Schule gewiesen wurde, weil ich mit einem Tintenfass nach dem Mathematiklehrer geworfen hatte, der gerade Dreisatzaufgaben an die Tafel schrieb. Zum Glück nahm mein Vater es auf die leichte Schulter und beschloss, ich solle vor Ende des Schuljahrs nach Hause kommen, bevor man noch mehr Geld und Zeit auf Beschwerden verschwendete, bei denen es sich nur um ein Leberleiden handeln konnte.

Für meinen Bruder Abelardo hingegen gab es kein Problem, das nicht im Bett zu lösen war. Während meine Schwestern mich mitfüh-lend umsorgten, offenbarte er mir das magische Rezept, kaum dass ich seine Werkstatt betreten hatte.

»Dir fehlt nur ein ordentlicher Schenkel.«

Er nahm das so ernst, dass er fast jeden Tag auf eine halbe Stunde zum Billard an die Ecke ging und mich solange hinter der spanischen Wand der Schneiderei mit Mädchen aller Art und nie mit derselben allein ließ. Es war eine Saison der kreativen Ungehörigkeiten, die Abelardos klinische Diagnose zu bestätigen schienen, denn im Jahr darauf kehrte ich bei klarem Verstand an die Schule zurück.

Ich werde nie vergessen, mit welcher Freude ich im Colegio San José wieder empfangen wurde und welche Bewunderung den Kügelchen meines Vaters gezollt wurde. Diesmal wohnte ich nicht bei den Valdeblánquez', die nach der Geburt des zweiten Kindes kaum noch selbst in ihre Wohnung passten, sondern im Haus von Eliecer García, einem Bruder meiner Großmutter väterlicherseits, der für seine Güte und Rechtschaffenheit berühmt war. Bis zum Ruhestand hatte er bei einer Bank gearbeitet, und am meisten rührte mich seine ewige Leidenschaft für die englische Sprache. Er lernte sie sein ganzes Leben hindurch, frühmorgens und spät am Abend, mittels Übungen, die er sich mit schöner Stimme und gutem Akzent vorsang, bis das Alter es ihm verwehrte. An Feiertagen ging er zum Hafen auf Jagd nach Touristen, mit denen er sich unterhalten konnte, und am Ende beherrschte er Englisch ebenso gut, wie er schon immer Spanisch beherrscht hatte, doch seine Schüchternheit verbot ihm, es vor Leuten zu sprechen, die er kannte. Seine drei Söhne, alle älter als ich, und seine Tochter Valentma haben ihn nie Englisch reden hören.

Durch Valentina - die eine inspirierte Leserin und mir eine große Freundin war - erfuhr ich von der Existenz der Bewegung Arena y Cielo, einer Gruppe junger Poeten, die sich vorgenommen hatten, mit Pablo Neruda als Vorbild die kolumbianische Poesie zu erneuern. Eigentlich handelte es sich um eine lokale Replik der Gruppe Piedra y Cielo, die zu jener Zeit in den Dichtercafés von Bogotá und in den von Eduardo Carranza bestimmten Literaturbeilagen den Ton angab und im Schatten des Spaniers Juan Ramon Jiménez die toten Blätter des 19. Jahrhunderts mit heilsamer Entschlossenheit hinwegfegen wollte. An der Atlantikküste war es nicht mehr als ein halbes Dutzend junger Leute, doch die hatten mit solcher Kraft die Literaturbeilagen der Region erobert, dass sie zunehmend als große literarische Hoffnung galten.

Der Kapitän von Arena y Cielo hieß César Augusto del Valle, war etwa zweiundzwanzig Jahre alt, und sein Erneuerungswillen betraf nicht nur die Themen und Gefühle, sondern auch die orthografischen und grammatikalischen Regeln in seinen Gedichten. Für die Puristen war er ein Ketzer, für die Akademiker ein Idiot und für die Klassiker ein Irrer. In Wahrheit war er jedoch - wie Neruda -jenseits aller ansteckenden Militanz ein unverbesserlicher Romantiker.

Meine Kusine Valentina nahm mich eines Sonntags mit in das Haus, wo César mit seinen Eltern lebte, im Viertel San Roque, dem fidelsten der Stadt. Er war grobknochig, sehr dunkel und dünn, hatte große Hasenzähne und das zerwühlte Haar der Dichter seiner Zeit. Vor allem aber war er ein Weiberheld und feierte gern. Sein Haus, eines der unteren Mittelschicht, war mit Büchern förmlich tapeziert, so dass für kein einziges mehr noch Platz war. Sein Vater war ein ernster, eher trauriger Mann, er hatte etwas von einem Beamten im Ruhestand und schien besorgt über die fruchtlose Berufung seines Sohnes. Seine Mutter nahm mich geradezu mitleidig auf, wie einen weiteren Sohn, von demselben Leiden heimgesucht, über das sie schon so viele Tränen hatte vergießen müssen.

Dieses Haus war für mich die Offenbarung einer Welt, die ich mit meinen vierzehn Jahren vielleicht erahnte, mir aber nicht so richtig hatte vorstellen können. Nach jenem ersten Tag wurde ich Césars häufigster Besucher, und ich nahm so viel seiner Zeit in Anspruch, dass ich mir heute noch nicht erklären kann, wie er das ertragen hat. Womöglich, so denke ich, hat er mich benutzt, um seine literarischen Theorien, die eigenwillig, aber bestechend waren, an einem staunenden, aber ungefährlichen Gesprächspartner zu erproben. Er lieh mir Bücher von Dichtern, deren Namen ich noch nie gehört hatte, und ich sprach mit ihm darüber, ohne mir meiner hemmungslosen Kühnheit bewusst zu sein. Besonders über Neruda, dessen Zwanzigstes Liebesgedicht ich auswendig lernte, um einige der Jesuiten, die nicht auf derlei poetischen Pfaden wandelten, damit verrückt zu machen. In jenen Tagen sorgte eine Ode an Cartagena de Indias von Meira Delmar in der Kulturszene der Stadt für Aufregung, die sich auf die ganze Küstenregion übertrug. So meisterhaft waren die Diktion und der Klang, als mir César del Valle das Gedicht vorlas, dass ich es schon nach dem zweiten Lesen auswendig konnte.

Es gab auch viele Gelegenheiten, bei denen wir uns nicht unterhalten konnten, weil César gerade auf die ihm eigene Art schrieb. Er schritt durchs Haus, war in einer anderen Welt, kam alle zwei, drei Minuten, nachdem er Zimmer und Korridore durchmessen hatte, wie ein Schlafwandler an mir vorbei, setzte sich plötzlich an die Maschine, schrieb einen Vers, ein Wort, vielleicht nur einen Buchstaben und begann erneut seine Wanderung. Ich beobachtete ihn, verzückt von dem himmlischen Gefühl, gerade die einzige, geheime Methode des Dichtens zu erlernen. So verhielt er sich immer während meiner Jahre am Colegio San José, die mir die poetische Grundlage gaben, um meine eigenen Kobolde loszulassen. Die letzte Nachricht, die mich von diesem unvergesslichen Poeten erreichte, war zwei Jahre später in Bogotá ein Telegramm von Valentina mit nur drei Worten, die sie nicht zu unterschreiben gewagt hatte: »César ist tot.«

Als Erstes überkam mich in diesem Barranquilla ohne Eltern ein Gefühl dafür, was freier Willen bedeutet. Ich pflegte Freundschaften auch außerhalb der Schule. Darunter die mit Álvaro del Toro - der beim Deklamieren in den Schulpausen die zweite Stimme übernahm - und mit dem Klan der Aretas, mit denen ich mich in Buchhandlungen herumtrieb oder ins Kino ging. Denn Onkel Eliecer hatte mir, um seiner Verantwortung zu genügen, als einzige Grenze gesetzt, dass ich vor acht Uhr zu Hause sein musste.

Als ich einmal bei César del Valle im Salon lesend auf ihn wartete, kam eine erstaunliche Frau zu Besuch. Sie hieß Martina Fonseca und war eine Weiße, in die Form einer Mulattin gegossen, intelligent und unabhängig und wahrscheinlich die Geliebte des Dichters. Zwei oder drei Stunden lang genoss ich in vollen Zügen die Freuden des Gesprächs, bis César nach Hause kam und die beiden dann aufbrachen, ohne zu sagen wohin.

Ich sah sie nicht wieder bis zum Aschermittwoch jenes Jahres, als ich aus dem Hochamt kam und sie auf einer Bank im Park auf mich wartete. Ich hielt sie für eine Erscheinung. Sie trug einen bestickten Leinenkittel, der ihre Schönheit noch reiner erscheinen ließ, eine bunte Kette und eine feurige Blume im Ausschnitt. Das Liebste an dieser Erinnerung ist mir jedoch die Art und Weise, wie sie mich zu sich einlud, ohne jeden Hinweis auf eine Absicht, ohne dass wir uns über das heilige Zeichen des Aschenkreuzes auf unserer Stirn Gedanken machen mussten. Ihr Mann, Maschinist auf einem der Flussdampfer des Magdalena, war auf seiner zwölftägigen Dienstfahrt unterwegs. Was sollte daran merkwürdig sein, dass seine Frau mich beiläufig für den Samstag zu einer Tasse Schokolade und Käseküchlein einlud? Außer der Tatsache, dass dieses Ritual sich das ganze Jahr über wiederholte, und zwar immer zwischen vier und sieben Uhr, zu der Zeit, in der im Kino Rex das Jugendprogramm lief, das mir bei Onkel Eliecer als Vorwand für die Besuche bei ihr diente.

Sie hatte sich beruflich darauf spezialisiert, Grundschullehrer auf die Beförderung vorzubereiten. Die bestqualifizierten bewirtete sie in ihrer Freizeit mit Schokolade und Käseküchlein, so dass der neue Samstagsschüler der lauten Nachbarschaft nicht weiter auffiel. Erstaunlich war die Selbstverständlichkeit dieser heimlichen Liebe meiner fünfzehn Jahre, die von März bis November wild loderte. Nach den ersten zwei Samstagen glaubte ich, das wütende Verlangen, jederzeit mit ihr zusammen zu sein, nicht länger ertragen zu können.

Wir liefen keinerlei Gefahr, da ihr Mann seine Ankunft im Hafen mit einem verschlüsselten Signal ankündigte. Das geschah am dritten Samstag unserer Liebe, wir lagen im Bett, als aus der Ferne das Tuten zu hören war. Sie war plötzlich angespannt.

»Halt still«, sagte sie und wartete zwei weitere Signale ab. Sie sprang nicht aus dem Bett, wie ich es in meiner eigenen Angst erwartete, sondern fuhr unbeeindruckt fort. »Wir haben noch gute drei Stunden zu leben.«

Sie hatte ihn mir beschrieben als »einen Mordskerl, schwarz, zwei Meter und eine Spanne lang, mit dem Rohr eines Kanoniers«. Ich war kurz davor, in einem Eifersuchtsanfall die Spielregeln zu brechen, und zwar nicht nur irgendwie: Ich wollte ihn töten. Sie löste das Problem mit ihrer Reife und führte mich von nun an wie einen kleinen Wolf im Schafspelz am Halfter durch die Klippen des wirklichen Lebens.

In der Schule lief es schlecht, und ich wollte nichts davon wissen, doch Martina kümmerte sich dann auch noch um meinen schulischen Leidensweg. Sie war befremdet von dem Infantilismus, den Unterricht zu versäumen, nur um dem Dämon einer unbändigen Lebenslust zu huldigen. »Das ist doch logisch«, sagte ich, »wäre dieses Bett die Schule und du die Lehrerin, dann wäre ich nicht nur Klassenbester, sondern Schulbester.« Sie nahm es als treffendes Beispiel:

»Genau so werden wir es machen.«

Ohne allzu große Opfer widmete sie sich mit einem festen Stundenplan meiner Rehabilitierung. Sie sah meine Hausaufgaben durch und bereitete mich zwischen Bettgeschäker und mütterlichem Tadel auf die folgende Woche vor. Erledigte ich die Aufgaben nicht richtig und rechtzeitig, drohte mir beim dritten Mal als Strafe ein Samstagsverbot. Es kam immer nur zu zwei Verfehlungen, und meine Fortschritte fielen in der Schule auf.

Was sie mir aber faktisch beibrachte, gehorchte einer unfehlbaren Formel, die ich leider erst später im letzten Jahr der Oberschule selbstständig anwandte: Wenn ich im Unterricht aufpasste und die Aufgaben selber machte, statt sie von meinen Klassenkameraden abzuschreiben, bekam ich gute Noten, konnte in meiner Freizeit nach Lust und Laune lesen und ohne erschöpfende Nachtarbeit und böse Überraschungen mein eigenes Leben führen. Dank dieses Geheimnisses war ich 1942 der Erste, erhielt eine Medaille für herausragende Leistungen und lobende Erwähnungen aller Art. Die vertraulichen Danksagungen heimsten jedoch die Ärzte ein, weil sie meinen Wahnsinn so gut kuriert hatten. Bei der Abschlussfeier wurde mir bewusst, dass in den vergangenen Jahren eine unangenehme Portion Zynismus in meinem bewegten Dank für unverdiente Lobpreisungen gelegen hatte. Nun, da das Lob mir verdient erschien, hielt ich es für anständig, nicht dafür zu danken. Aber ich revanchierte mich von ganzem Herzen mit dem Gedicht El circo von Guillermo Valencia, das ich bei der Abschlussveranstaltung ganz aufsagte, ohne Souffleur und verängstigt wie ein Christ vor den Löwen.

In den Ferien jenes guten Jahres hatte ich vor, Großmutter Tranquilina in Aracataca zu besuchen, aber sie musste dann dringend nach Barranquilla, um sich am grauen Star operieren zu lassen. Die Freude, sie wiederzusehen, wurde durch das Lexikon des Großvaters vervollkommt, das sie mir als Geschenk mitbrachte. Es war ihr nicht bewusst geworden, dass sie allmählich das Augenlicht verlor, vielleicht hatte sie es auch nicht eingestehen wollen, bis sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer bewegen konnte. Die Operation im Hospital de Caridad ging schnell, und die Prognose war gut. Großmutter saß in ihrem Bett, als man ihr den Verband abnahm, öffnete die strahlenden Augen ihrer neuen Jugend, ein Leuchten ging über ihr Gesicht, und sie fasste ihre Freude in zwei Worten zusammen:

»Ich sehe.«

Der Chirurg wollte wissen, was genau sie sah, und sie fegte mit ihrem neuen Blick durchs Zimmer und zählte alles mit erstaunlicher Präzision auf. Dem Arzt stockte der Atem, und nur ich wusste, dass die von der Großmutter aufgezählten Gegenstände nicht diejenigen waren, die sie im Hospital vor sich hatte, sondern die aus ihrem Schlafzimmer in Aracataca, an die sie sich genau und in der richtigen Reihenfolge erinnerte. Sie hat nie wieder gesehen.

Meine Eltern bestanden darauf, dass ich die Ferien mit ihnen in Sucre verlebte und die Großmutter mitbrachte. Seit dem letzten Besuch hatte sich ihr Zustand verschlechtert. Sie war stärker gealten, als die Jahre es geboten, und ihr Geist driftete ab, doch die Schönheit ihrer Stimme hatte sich noch verfeinert, und sie sang häufiger und inspirierter als je zuvor. Meine Mutter sorgte dafür, dass sie immer sauber und hübsch wie eine übergroße Puppe hergerichtet war. Ganz offensichtlich nahm die Großmutter die Welt um sich herum wahr, bezog sie aber auf die Vergangenheit. Besonders bei den Radiosendungen, die ein kindliches Interesse in ihr weckten. Sie glaubte, die Stimmen der verschiedenen Sprecher zu erkennen, die sie für Jugendfreunde aus Riohacha hielt, da nie ein Radioapparat in das Haus der Großeltern gekommen war. Sie verneinte oder kritisierte Kommentare der Sprecher, diskutierte mit ihnen über die unterschiedlichsten Themen oder tadelte irgendeinen Grammatikfehler, als ständen die Männer leibhaftig neben ihrem Bett, und sie ließ auch nicht zu, dass man sie umzog, solange die Freunde sich nicht verabschiedet hatten. Dann erwiderte sie mit ihrer ungebrochen guten Erziehung:

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Señor.«

Viele Rätsel verschwundener Dinge, ungelüfteter Geheimnisse oder verbotener Machenschaften klärten sich durch ihre Monologe: Wer die Wasserpumpe, die aus dem Haus in Aracataca verschwunden war, in einem Koffer versteckt mitgenommen hatte, wer der wirkliche Vater von Matilde Salmona gewesen war, deren Brüder ihn mit einem anderen verwechselt und es diesen dann mit Blei hatten büßen lassen.

Die ersten Ferien in Sucre ohne Martina Fonseca waren für mich nicht leicht, aber es gab keinerlei Möglichkeit, sie mitkommen zu lassen. Schon der bloße Gedanke, sie zwei Monate lang nicht zu sehen, war mir unwirklich erschienen/Ihr aber nicht. Im Gegenteil, als ich das Thema ansprach, merkte ich, dass sie mir wie immer drei Schritte voraus war.

»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen«, sagte sie gera-deraus. »Das Beste wäre, wenn du woanders weiterstudiertest, denn wir beide sind jetzt schon reif für die Zwangsjacke. Damit du merkst, dass unsere Geschichte niemals mehr sein wird, als sie war.«

Ich fasste es als Spaß auf.

»Ich fahre morgen weg und komme in drei Monaten zurück, um bei dir zu bleiben.«

Sie antwortete mir im Tangotakt:

»Ha, ha, ha, ha!«

Erst da begriff ich, dass Martina leicht umzustimmen war, wenn sie Ja gesagt hatte, nicht aber, wenn sie Nein sagte. Also nahm ich in Tränen aufgelöst den Fehdehandschuh auf und entschloss mich, ein anderer zu sein in dem Leben, das sie sich für mich ausgedacht hatte: eine andere Stadt, eine andere Schule, andere Freunde und sogar eine andere Haltung. Ich überlegte es mir kaum. Mit der Autorität meiner vielen Medaillen ging ich als Erstes zu meinem Vater und sagte ihm mit einer gewissen Feierlichkeit, ich wolle weder ans Colegio San José noch nach Barranquilla zurück.

»Gottlob!«, sagte er. »Ich habe mich schon immer gefragt, woher dieser romantische Hang kommt, in eine Jesuitenschule zu gehen.«

Meine Mutter überging diese Bemerkung.

»Wenn nicht Barranquilla, dann muss es Bogotá sein«, sagte sie.

»Dann wird es nirgendwo sein«, erwiderte Papa sofort, »denn so viel Geld, dass es für die Cachacos reicht, gibt es nicht.«

Es ist seltsam, aber der bloße Gedanke, nicht länger lernen zu müssen, was doch der Traum meines Lebens gewesen war, erschien mir plötzlich unfasslich, und ich führte sogar einen Traum ins Feld, der mir immer unerreichbar erschienen war.

»Es gibt Stipendien«, sagte ich.

»Ganz viele sogar«, sagte Papa, »aber nur für die Reichen.«

Das traf teilweise zu, allerdings nicht aufgrund von Günstlingswirtschaft, sondern weil die Bewerbungen kompliziert und die Bedingungen nicht ausreichend bekannt waren. Als Folge des Zentralismus musste jeder, der sich um ein Stipendium bewarb, nach Bogotá kommen - tausend Kilometer in acht Reisetagen -, was fast so viel kostete wie drei Monate in einem guten Internat. Und die Reise konnte vergeblich sein. Meine Mutter erregte sich:

»Wenn die Geldmaschine erst einmal angeworfen ist, weiß man, wo man anfängt, aber nicht, wo man aufhört.«

Im Übrigen gab es noch andere fällige Verpflichtungen. Luis Enrique, der ein Jahr jünger war als ich, hatte zwei Schulen am Ort besucht und war von beiden nach wenigen Monaten desertiert. Margarita und Aida kamen an der Grundschule bei den Nonnen gut voran, dachten aber bereits an eine nähere und billigere Stadt, wo sie die Oberschule besuchen konnten. Gustave, Ligia, Rita und Jaime waren noch keine dringlichen Fälle, sie wuchsen aber mit bedrohlicher Geschwindigkeit heran. Sie, wie auch die drei, die nach ihnen geboren wurden, haben mich immer wie jemanden behandelt, der stets nur kam, um wieder zu gehen.

Für mich war es das entscheidende Jahr. Die größte Attraktion beim Kutschenturnier waren die Mädchen, die nach Anmut und Schönheit ausgesucht und wie Königinnen eingekleidet wurden, um auf ihrem jeweiligen Wagen Verse über den symbolischen Kampf zwischen den beiden Hälften des Städtchens vorzutragen. Ich, der noch immer ein halber Fremdling war, genoss das Privileg, neutral zu sein, und verhielt mich auch so. In diesem Jahr gab ich jedoch den Bitten der Anführer von Congoveo nach, die Verse für meine Schwester Carmen Rosa, die Königin einer monumentalen Kutsche, zu schreiben. Ich ging bereitwillig darauf ein, übertrieb jedoch die Angriffe auf den Gegner aus Unkenntnis der Spielregeln. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Skandal mit zwei Friedensgedichten aus der Welt zu schaffen: mit einem aufbauenden Poem für die Schöne des Congoveo und einem besänftigenden für die Schöne aus Zulia. Der Zwischenfall sprach sich herum. Der namenlose Dichter, im Ort kaum bekannt, wurde zum Helden des Tages. Diese Episode führte mich in die Gesellschaft ein und bescherte mir die Freundschaft beider Seiten. Von da an blieb mir kaum Zeit, überall sollte ich schreibend aushelfen, bei Kindertheatern, Wohltätigkeitsbasaren, Tombolas für gute Zwecke, sogar bei der Rede eines Kandidaten für den Stadtrat.

Luis Enrique, der bereits den inspirierten Gitarristen erahnen ließ, der er einmal sein würde, lehrte mich Tiple zu spielen. Zusammen mit ihm und Filadelfo Velilla wurden wir zu Königen der Serenaden, und unsere größte Belohnung war, dass einige der Schönen, denen wir ein Ständchen brachten, sich eilends wieder anzogen, das Haus öffneten, die Nachbarinnen weckten und dann mit uns bis zum Frühstück weiterfeierten. Die Gruppe wurde in jenem Jahr durch José Palencia bereichert, den Enkel eines wohlhabenden und verschwenderischen Großgrundbesitzers. José war ein geborener Musiker, der jedes Instrument, das ihm in die Hände kam, spielen konnte. Er sah aus wie ein Filmschauspieler, war ein begnadeter Tänzer, von blendender Intelligenz und einem eher geneideten als beneidenswerten Glück bei flüchtigen Liebschaften.

Ich dagegen konnte nicht einmal tanzen, lernte es auch nicht bei den Fräulein Loiseau, sechs von Geburt an invaliden Schwestern, die dennoch, ohne sich von ihren Schaukelstühlen zu erheben, guten Tanzunterricht erteilten. Mein Vater, der dem Ruhm gegenüber nie gleichgültig war, begegnete mir mit einem neuen Blick. Zum ersten Mal führten wir stundenlange Gespräche. Wir kannten uns kaum. Von heute aus gesehen, habe ich tatsächlich nicht mehr als drei Jahre mit meinen Eltern zusammengelebt, wenn man die Zeit in Aracataca, Barranquilla, Cartagena, Sincé und Sucre zusammenzählt. Diese Ferien erlaubten mir, sie näher kennen zu lernen, für mich eine äußerst angenehme Erfahrung. Meine Mutter sprach es aus: »Wie schön, dass du mit Papa gut Freund geworden bist.« Tage später sagte sie, während sie in der Küche Kaffee kochte, noch mehr:

»Dein Vater ist sehr stolz auf dich.«

Am nächsten Tag weckte sie mich auf Zehenspitzen und hauchte mir ins Ohr: »Papa hat eine Überraschung für dich.« In der Tat, als er zum Frühstück herunterkam, eröffnete er mir feierlich in Anwesenheit aller:

»Pack deine Sachen, du fährst nach Bogotá.«

Zuerst verspürte ich eine große Ernüchterung, da ich inzwischen am liebsten im ewigen Feiern ertrunken wäre. Doch die Tugend setzte sich durch. Wegen der Kleidung für die kalte Region gab es keine Probleme. Mein Vater hatte von seinen Jugendreisen nach Bogotá noch einen schwarzen Cheviotanzug und einen weiteren aus Tuch, und keinen von beiden konnte er mehr über der Taille schließen. Also gingen wir damit zu Pedro León Rosales, dem so genannten Wunderschneider, und er änderte sie auf meine Größe. Außerdem kaufte mir meine Mutter den Kamelhaarmantel eines vor sechs Jahren verstorbenen Senators. Als der Schneider zu Hause meine Maße nahm, wurde ich heimlich von meiner Schwester Ligia - die von Natur aus Hellseherin ist - gewarnt: Der Geist des Senators spuke nachts in diesem Mantel durch sein Haus. Ich hörte nicht auf sie, hätte es aber besser getan, denn als ich den Mantel in Bogotá anzog, sah ich beim Blick in den Spiegel das Gesicht des verstorbenen Senators. Ich brachte den Mantel für zehn Pesos ins Pfandhaus und löste ihn nicht wieder aus.

Die Stimmung im Hause hatte sich so gebessert, dass ich beim Abschied fast geweint hätte, doch das Programm wurde ohne Sentimentalitäten Punkt für Punkt durchgezogen. In der zweiten Januarwoche bestieg ich in Magangué die David Arango, das Flaggschiff der Kolumbianischen Schifffahrtsgesellschaft, nachdem ich eine Nacht als freier Mann gelebt hatte.

Mein Kabinenkollege war ein Engel von zweihundertzwanzig Pfund und am ganzen Körper unbehaart. Er hatte sich den Namen Jack the Ripper zugelegt und war der letzte Überlebende eines Zirkusgeschlechts von Messerwerfern aus Kleinasien. Auf den ersten Blick schien er fähig, mich im Schlaf zu erwürgen, doch in den nächsten Tagen erkannte ich, dass er genau das war, was er zu sein schien: ein Riesenbaby mit einem großen Herzen, das kaum in seinen Körper passte.

Am ersten Abend gab es eine offizielle Feier mit Orchester und Galadiner, aber ich stahl mich an Deck, betrachtete zum letzten Mal die Lichter einer Welt, die ich schmerzlos zu vergessen beschlossen hatte, und weinte nach Herzenslust bis zum Morgengrauen. Heute gehe ich so weit zu sagen, dass der Wunsch, diese Fahrt noch einmal zu genießen, der einzige Grund ist, noch einmal Kind sein zu wollen. Ich musste sie in den vier Jahren, die mir bis zum Abitur blieben, und den zwei weiteren an der Universität mehrmals hinter mich bringen, und jedes Mal habe ich dabei mehr vom Leben gelernt als auf der Schule, und besser gelernt als auf der Schule. Wenn der Strom reichlich Wasser führte, dauerte die Fahrt flussaufwärts acht Tage von Barranquilla nach Puerto Salgar, und von dort ging es in einer Tagesreise mit dem Zug nach Bogotá. In den Trockenperioden, die, wenn man es nicht eilig hatte, am unterhaltsamsten waren, konnte die Fahrt bis zu drei Wochen dauern.

Die Schiffe hatten einfache, nahe liegende Namen: Atlantico, Medellin, Capitán de Caro, David Arango. Ihre Kapitäne waren, wie die bei Joseph Conrad, autoritär und gutmütig, sie fraßen wie die Barbaren und konnten nicht allein in ihren königlichen Kabinen schlafen. Die Reisen waren gemächlich und voller Überraschungen. Wir Passagiere saßen den ganzen Tag lang auf den Decks und betrachteten die vergessenen Dörfer, die Kaimane, die mit geöffnetem Schlund dalagen und auf sorglose Schmetterlinge warteten, die Reiherschwärme, die, von der Bugwelle des Schiffes aufgescheucht, sich in die Lüfte hoben, das Getümmel der Enten in den sumpfigen Binnengewässern, die Seekühe, die singend ihre Jungen auf den Sandbänken säugten. Die ganze Reise über erwachte man morgens vom Lärm der langschwänzigen Affen und der Sittiche. Zuweilen unterbrach ekelhafter Gestank die Siesta, wenn eine ertrunkene Kuh reglos im flachen Wasser trieb, einen einsamen Hühnergeier auf dem Bauch.

Heute kennt man nur selten jemanden im Flugzeug. Auf den Flussdampfern waren wir Schüler schließlich eine große Familie, weil wir uns jedes Jahr für die Fahrten verabredeten. Manchmal strandete das Schiff auf einer Sandbank und lag bis zu zwei Wochen fest. Keiner machte sich Sorgen, denn das Fest ging weiter, und ein Brief des Kapitäns, gesiegelt mit seinem Wappenring, galt als Entschuldigung, wenn man zu spät zur Schule kam.

Schon am ersten Tag fiel mir der jüngste Sohn einer Großfamilie auf, der das Bandoneon wie im Traum spielte und dabei ganze Tage lang über das Deck der ersten Klasse wandelte. Ich war voller Neid, denn ich hatte, seitdem ich die ersten Akkordeonspieler von Francisco el Hombre bei den Feierlichkeiten zum 20. Juli in Aracataca gehört hatte, darauf hingearbeitet, dass mein Großvater mir ein Akkordeon kaufte, die Großmutter hatte jedoch unsere Pläne mit dem ewigen Vorurteil durchkreuzt, das Akkordeon sei ein Instrument fürs Gesindel. Etwa dreißig Jahre später glaubte ich den eleganten Akkordeonspieler bei einem internationalen Neurologenkongress in Paris wieder zu erkennen. Die Zeit hatte das ihre getan, er trug nun den Bart eines Bohemiens, und seine Kleidung war um zwei Größen gewachsen, aber die Erinnerung an sein meisterhaftes Spiel war so lebhaft, dass ich mich nicht irren konnte. Seine Reaktion hätte jedoch nicht unwirscher sein können, als ich ihn, ohne mich vorzustellen, fragte:

»Was macht das Bandoneon?«

Er erwiderte überrascht:

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Ich spürte, wie ich in den Boden versank, und brachte demütige Entschuldigungen hervor, weil ich ihn mit einem Studenten verwechselt hatte, der Anfang Januar 1944 auf der David Arango das Bandoneon spielte. Ein Leuchten der Erinnerung ging über sein Gesicht. Es war der Kolumbianer Salomon Hakim, einer der großen Neurologen dieser Welt. Enttäuschend war, dass er das Bandoneon für die medizinische Technik aufgegeben hatte.

Ein anderer Passagier fiel mir durch seine distanzierte Art auf. Er war jung, kräftig, hatte eine rosige Haut und die Brille eines Kurzsichtigen sowie eine vorzeitige, sehr gepflegte Glatze. Er erschien mir als das Inbild eines Cachaco-Touristen. Schon am ersten Tag kaperte er sich den bequemsten Sessel, stapelte mehrere Türme von neuen Büchern auf ein Tischchen und las, ohne sich zu rühren, von früh bis spät, wenn ihn der abendliche Festlärm nicht ablenkte. Jeden Tag erschien er mit einem neuen geblümten Strandhemd im Esssaal, frühstückte, aß zu Mittag und zu Abend und las weiter, allein, am abgelegensten Tisch. Ich glaube nicht, dass er mit irgendjemand einen Gruß gewechselt hat. Für mich taufte ich ihn »den unersättlichen Leser«.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, bei seinen Büchern herumzuschnüffeln. Es handelte sich größtenteils um unverdauliche Traktate über Staatsrecht, die er vormittags studierte und mit Unterstreichungen und Randnotizen versah. Wenn es am Spätnachmittag kühler wurde, las er Romane. Darunter einen, der mir den Atem nahm: Der Doppelgänger von Dostojewski. Ich hatte versucht, den Band in einer Buchhandlung in Barranquilla zu klauen, vergeblich, und ich gierte danach, ihn zu lesen. So sehr, dass ich den Mann gern gebeten hätte, mir den Roman zu leihen, doch dazu brachte ich den Mut nicht auf. An einem jener Tage erschien er mit Der große Meaulnes, von dem ich noch nie gehört hatte, der jedoch sehr bald zu meinen Favoriten unter den Meisterwerken gehören sollte. Ich dagegen hatte nur bereits gelesene und nicht wieder lesbare Bücher dabei: Jeromin von Pater Coloma, das ich nie zu Ende gelesen habe; Der Strudel von José Eustasio Rivera; Von den Apenninen zu den Anden von Edmundo de Amicis und das Lexikon des Großvaters, das ich stundenlang absatzweise las. Dem unerbittlichen Leser reichte jedoch nicht die Zeit für die vielen Bücher. Was ich damit sagen will und nicht gesagt habe, ich hätte alles gegeben, um er zu sein.

Der dritte auffällige Reisende war natürlich Jack the Ripper, mein Kabinengenosse, der im Schlaf stundenlang in einer barbarischen Sprache redete. Er störte mich nicht, weil sein Gerede etwas Melodisches hatte, das meiner nachmitternächtlichen Lektüre einen neuen Hintergrund gab. Er sagte mir, ihm sei nicht bewusst, dass er rede, er wisse auch nicht, in welcher Sprache er träume, weil er sich als Kind mit den Seiltänzern des Zirkus in sechs asiatischen Dialekten verständigt, diese aber nach dem Tod seiner Mutter alle vergessen habe. Geblieben war ihm nur das Polnische, seine ursprüngliche Sprache, aber wir konnten ausschließen, dass er in dieser Sprache im Schlaf redete. Ich kann mich an kein hinreißenderes Geschöpf erinnern, insbesondere wenn er seine gefährlichen Messer ölte und ihre Schärfe an seiner rosigen Zunge prüfte.

Nur am ersten Tag hatte er im Speisesaal Probleme gehabt, als er den Kellnern vorhielt, er könne die Reise nicht überleben, wenn sie ihm nicht vier Portionen servierten. Der Oberkellner erklärte ihm, das täten sie gerne, wenn er einen Aufpreis dafür bezahle, auf den sie ihm einen Sonderrabatt gewähren würden. Er führte an, dass er alle Weltmeere befahren habe und ihm auf allen das Menschenrecht zuerkannt worden sei, nicht hungers zu sterben. Der Fall ging bis zum Kapitän, der sehr kolumbianisch entschied, dass man ihm zwei Rationen servieren solle und die Kellner ihm aus Versehen bis zu zwei weiteren geben könnten. Im Übrigen behalf er sich damit, von den Tellern der Tischgenossen und einiger appetitloser Nachbarn zu naschen, die ihren Spaß an seinen Einfällen hatten. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben.

Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte, bis in La Gloria eine Gruppe Studenten zustieg, die abends Trios und Quartette bildeten und bei wunderbaren Serenaden Liebesboleros sangen. Als ich entdeckte, dass sie einen Tiple übrig hatten, übernahm ich diesen, und wir übten nachmittags und sangen dann bis zum Morgengrauen. Die Langeweile der freien Stunden war durch ein Heilmittel fürs Herz behoben. Wer nicht singt, kann sich nicht vorstellen, was Singen für eine Lust ist.

In einer Mondscheinnacht weckte uns eine herzzerreißende Klage vom Ufer her. Kapitän Climaco Conde Abello, einer der Großen seiner Zunft, gab den Befehl, mit Scheinwerfern nach der Quelle dieser Klage zu suchen, es war eine Seekuh, die sich in den Zweigen eines umgestürzten Baumes verfangen hatte. Die kleinen Boote wurden zu Wasser gelassen, die Seekuh wurde an ein Spill gebunden, und es gelang, sie freizuschleppen. Es war ein phantastisches, anrührendes Geschöpf, halb Frau, halb Kuh, und fast vier Meter lang. Die Haut war bleich und zart, und hr Rumpf mit den großen Brüsten war der einer biblischen Mutter. Von eben diesem Kapitän Conde Abello hörte ich zum ersten Mal, dass die Welt untergehen würde, wenn man weiter die Tiere des Flusses tötete, und er verbot, von seinem Schiff aus auf sie zu schießen.

»Wer jemanden umbringen will, der soll es zu Hause tun!«, schrie er. »Nicht auf meinem Schiff.«

Siebzehnjahre später, am 19. Januar 1961, ein schlechter Tag in meiner Erinnerung, rief mich ein Freund in Mexiko an, um mir zu erzählen, dass das Dampfschiff David Arango im Hafen von Magangue Feuer gefangen habe und zu Asche verbrannt sei. Ich legte den Hörer auf und wurde mir mit Entsetzen dessen bewusst, dass an diesem Tag meine Jugend zu Ende und das wenige, was uns vom Fluss unserer Sehnsucht noch blieb, zum Teufel war.

Die Tiere am Magdalena sind ausgestorben und mit seinem fauligen Wasser ist er ein toter Fluss. Um die Sanierungspläne umzusetzen, von denen so viele Regierungen immer nur geredet haben, müsste man sechzig Millionen Bäume neu anpflanzen, und das auf Land, das zu neunzig Prozent in privater Hand ist; aus Liebe zur Heimat hätten die Besitzer auf 90% ihrer heutigen Einkünfte zu verzichten.

Jede Fahrt brachte wichtige Lebenserfahrungen, die uns auf flüchtige, aber unvergessliche Weise mit den Dörfern am Ufer verbanden, und mancher geriet hier auf immer in die Schlingen seines Schicksals. Ein erfolgreicher Medizinstudent stahl sich uneingeladen in eine Hochzeitsfeier und tanzte ohne Erlaubnis mit der schönsten Frau, woraufhin ihn der Ehemann mit einem Schuss niederstreckte. Ein anderer heiratete bei einem epischen Besäufnis das erste Mädchen, das ihm in Puerto Berrio gefallen hatte, und ist immer noch glücklich mit ihr und seinen neun Kindern. José Palencia, unser Freund aus Sucre, gewann bei einem Trommel-Wettbewerb in Tenerife eine Kuh und verkaufte sie dort sogleich für fünfzig Pesos - zu jener Zeit ein Vermögen. In dem riesigen Vergnügungsviertel von Barrancabermeja, der Hauptstadt des Erdöls, trafen wir zu unserer Überraschung Angel Casij Palencia, den Vetter von José, der im Jahr zuvor spurlos aus Sucre verschwunden war und jetzt als Sänger mit der Kapelle eines Bordells auftrat. Wir feierten durch bis sechs Uhr morgens, und das Orchester übernahm die Kosten.

Meine unangenehmste Erinnerung ist die an eine düstere Kneipe in Puerto Berrio, aus der die Polizei mich mit drei anderen Passagieren hinausprügelte, ohne eine Erklärung zu geben oder anzuhören, und uns festnahm, weil wir angeblich eine Schülerin vergewaltigt hatten. Als wir beim Kommissariat ankamen, saßen dort schon die wahren Schuldigen ohne einen einzigen Kratzer hinter Gittern - ein paar Rabauken vom Ort, die mit unserem Schiff nichts zu tun hatten.

Am Zielhafen, Puerto Salgar, musste man um fünf Uhr morgens in Hochlandkleidung das Schiff verlassen. Die Männer, in schwarzem Tuch, mit Weste und Melone, die Mäntel über dem Arm, hatten inmitten von springenden Fröschen und" dem Gestank der im Fluss treibenden Tierkadaver die Identität gewechselt. Als wir von Bord gingen, wurde ich Opfer eines ungewöhnlichen Übergriffs. Eine Freundin der letzten Stunden hatte meine Mutter beschwatzt, mir einen Petate zusammenzupacken, ein Bündel mit einer leichten Hängematte aus Pitahanf, einer Wolldecke und einem Nachttopf für Notfälle, alles in eine Matte aus Espartogras gewickelt und an die gekreuzten Stäbe der Hängematte gebunden. Meine Musikerfreunde konnten sich vor Lachen nicht halten, als sie mich derart für die Wiege der Zivilisation ausgerüstet sahen, und der Entschlossenste von ihnen tat das, was ich nicht zu tun gewagt hätte: Er warf das Bündel ms Wasser. Mein letztes Bild von dieser unvergesslichen Reise war der Petate, der in der Strömung schaukelnd zu seinen Ursprüngen zurückkehrte.

Von Puerto Salgar aus kroch der Zug in den ersten vier Stunden die felsigen Hänge hinauf. Auf den steilsten Strecken ließ er sich auch mal zurückrollen, um schnaubend wie ein Drache aufs Neue Anlauf zu nehmen. Manchmal mussten die Passagiere, damit der Zug leichter wurde, aussteigen und zu Fuß bis zum nächsten Felsgesims klettern. Die Dörfer auf dem Weg waren trist und eisig, und an den verlassenen Bahnhöfen warteten auf uns nur die Verkäuferinnen, die schon immer da gewesen waren, und boten durch das Zugfenster dicke, gelbe Hühner feil, die unzerteilt gekocht waren, dazu Schneekartoffeln, die ganz wunderbar schmeckten. Dort spürte ich zum ersten Mal einen mir unbekannten und unsichtbaren Zustand des Körpers: die Kälte. Zum Glück öffneten sich dann gegen Abend die Savannen vor uns, unermesslich weit bis zum Horizont, grün und schön wie ein Himmelsmeer. Das Leben wurde ruhig und bündig. Die Stimmung im Zug wandelte sich.

Ich hatte den unersättlichen Leser völlig vergessen, als er plötzlich auftauchte und sich mir gegenübersetzte, als triebe ihn etwas Dringendes. Es war kaum zu glauben. Er war von einem Bolero hingerissen, den wir nachts auf dem Schiff gesungen hatten, und bat mich, ihm den Text aufzuschreiben. Ich tat nicht nur das, sondern brachte ihm auch die Melodie bei. Ich war erstaunt über sein gutes Gehör und die Glut seiner Stimme, als er ihn dann alleine sang, genau und schön, schon beim ersten Mal.

»Diese Frau wird sterben, wenn sie das hört!«, rief er aus und strahlte.

Nun begriff ich seine Unruhe. Als er uns den Bolero singen hörte, hatte er gespürt, das Lied werde eine Offenbarung für seine Braut sein, die ihn vor drei Monaten in Bogotá verabschiedet hatte und ihn an diesem Abend am Bahnhof erwartete. Er hatte den Bolero noch zwei- oder dreimal gehört, konnte ihn halbwegs zusammenbringen, als er mich jedoch allein da sitzen sah, hatte er beschlossen, mich um den Gefallen zu bitten. Da wurde auch ich kühn und sagte zusammenhangslos, aber absichtsvoll, wie sehr ich darüber gestaunt habe, auf seinem Tisch ein Buch zu sehen, das so schwer zu bekommen sei. Seine Überraschung war echt:

»Welches denn?«

»Der Doppelgänger.«

Er lachte zufrieden.

»Ich bin noch nicht fertig damit«, sagte er, »aber es ist einer der seltsamsten Romane, die mir untergekommen sind.«

Das war alles. Er bedankte sich in den höchsten Tönen für den Bolero und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.

Es begann dunkel zu werden, als der Zug die Fahrt drosselte, an einem Schuppen voller rostigem Schrott vorbeifuhr und an einem schattigen Kai vor Anker ging. Ich packte den Koffer am Riemen und schleifte ihn zur Straße, um nicht von der Menge umgerannt zu werden. Ich war schon fast angekommen, als jemand rief:

»Junger Mann, junger Mann!«

Ich drehte mich um wie auch mehrere junge und nicht ganz so junge Leute, die gleichfalls vorwärtshasteten, sah den unersättlichen Leser kommen, er blieb nicht stehen, gab mir aber im Vorbeigehen ein Buch.

»Wohl bekomm's!«, rief er mir zu und verlor sich im Gewühl. Das Buch war Der Doppelgänger.

Ich war so benommen, dass mir gar nicht recht klar wurde, was mir widerfahren war. Ich steckte das Buch in die Manteltasche, und der eisige Wind der Abenddämmerung schlug mir entgegen, als ich aus dem Bahnhof kam. Ich konnte einfach nicht mehr, stellte den Koffer auf den Gehsteig und setzte mich nach Luft schnappend darauf. Auf den Straßen war keine Seele. Alles, was ich sah, war ein finsterer, eisiger Boulevard unter einem leichten, mit Ruß durchmischten Nieselregen, auf zweitausendvierhundert Meter Höhe, in einer Polarluft, die das Atmen schwer machte.

Halb tot vor Kälte wartete ich mindestens eine halbe Stunde. Es musste jemand kommen, denn mein Vater hatte ein dringendes Telegramm an Don Eliecer Torres Arango geschickt, einen Verwandten, der mein Betreuer sein sollte. Die Sorge, ob nun jemand kam oder nicht kam, bedrückte mich damals aber weniger als die Tatsache, dass ich auf einem sargähnlichen Koffer am anderen Ende der Welt saß und niemanden kannte. Plötzlich stieg ein vornehmer Mann aus einem Taxi, er hatte einen Regenschirm aus Seide und einen Kamelhaarmantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Ich begriff, das war mein Betreuer, obwohl er mich kaum anblickte und an mir vorüberging, und hatte nicht den Mut, ihm ein Zeichen zu geben. Er eilte in das Bahnhofsgebäude und kam Minuten später ohne jede Hoffnung wieder heraus. Endlich entdeckte er mich und deutete mit dem Zeigefinger auf mich:

»Du bist Gabito, nicht wahr?«

Ich antwortete aus tiefster Seele: »Das kann man sagen.«