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Guillermo cano, der Direktor von El Espectador, rief mich an, als er erfuhr, dass ich bei Álvaro Mutis im Büro war, das vier Stockwerke über dem seinen in einem gerade erst bezogenen Gebäude lag, fünf Straßen vom ehemaligen Sitz der Zeitung entfernt. Ich war am Vortag in Bogotá eingetroffen und wollte gerade mit Freunden von Álvaro Mutis essen gehen, doch Guillermo bestand darauf, dass ich davor noch kurz bei ihm vorbeikam. Das tat ich dann auch. Nach innigen Umarmungen, wie sie in der Hauptstadt des gewählten Sprechens zum Stil gehörten, und ein paar Bemerkungen zum Tagesgeschehen nahm er mich beiseite. »Hören Sie mal, Gabriel«, sagte er mit unverdächtiger Harmlosigkeit, »könnten Sie mir nicht vielleicht einen Riesengefallen tun? Mir fehlt da noch ein kleiner Kommentar, den ich vor Redaktionsschluss brauche.« Mit Daumen und Zeigefinger zeigte er die Höhe eines halben Wasserglases an und schloss:

»Nur so groß.«

Ich fand das amüsanter als er, fragte ihn, wo ich mich denn hinsetzen könne, und er zeigte auf einen Schreibtisch mit einer Maschine aus anderen Zeiten. Dort richtete ich mich, ohne viel zu fragen, ein und überlegte mir einen passenden Text, um dann die nächsten achtzehn Monate auf eben dem Stuhl, an eben dem Tisch und an eben der Schreibmaschine zu sitzen.

Ein paar Minuten nach meiner Ankunft kam Eduarde Zalamea Borda, der zweite Direktor, aus dem Nachbarbüro. Er war in ein Bündel Papiere vertieft und erschrak, als er mich erkannte.

»Mann, Don Gabo!« Er schrie fast den Namen, den er sich für mich in Barranquilla als Kürzel für Gabito ausgedacht hatte und den nur er benutzte. Doch diesmal sollte sich dieser Name in der Redaktion durchsetzen und sogar gedruckt erscheinen: Gabo.

Ich erinnere mich nicht mehr an das Thema des Artikels, den ich für Guillermo Cano schreiben sollte, kannte aber noch aus meiner Universitätszeit gut den ehrwürdigen Stil von El Espectador. Der wurde besonders in der Rubrik »Dia a día« - Von Tag zu Tag - auf der Kommentarseite gepflegt, die ein wohlverdientes Prestige genoss, und ich beschloss diesen Stil mit der gleichen Kaltblütigkeit zu imitieren, mit der Luisa Santiaga den Dämonen eines widrigen Schicksals entgegentrat. Ich schrieb den Artikel in einer halben Stunde, korrigierte einiges handschriftlich und übergab ihn Guillermo Cano, der ihn, über seine Brille hinwegblickend, im Stehen las. In seiner Konzentration schien sich eine ganze Dynastie weißhaariger Vorfahren versammelt zu haben, angeführt von Don Fidel Cano, der 1887 die Zeitung gegründet hatte, gefolgt von seinem Sohn Don Luis, dann von dessen Bruder Gabriel, der das Unternehmen konsolidiert hatte und der gewachsenen Tradition entsprechend seinem Enkel Guillermo übertragen hatte, der nun, gerade dreiundzwanzigjäh-rig, zum Generaldirektor ernannt worden war. Ganz wie seine Vorfahren es getan hätten, machte er ein paar Korrekturen, um kleinere Zweifel auszuräumen, und beendete das Ganze, indem er zum ersten Mal meinen neuen vereinfachten Namen verwendete:

»Gut gemacht, Gabo.«

Am Abend meiner Rückkehr war mir klar geworden, dass Bogotá für mich nicht mehr dieselbe Stadt sein würde, solange meine Erinnerungen überlebten. Wie so viele große Katastrophen des Landes hatte auch der 9. April mehr für das Vergessen als für die Geschichte bewirkt. Das Hotel Granada in seinem hundertjährigen Park war abgerissen worden, und dort wuchs nun das peinlich neue Gebäude vom Banco de la Repüblica in die Höhe. Die alten Straßen aus unseren Studentenjahren schienen ohne die erleuchteten Trambahnen niemandem zu gehören, und die Straßenkreuzung des historischen Verbrechens hatte mit dem durch die Brände hinzugewonnenen Raum eher an Größe verloren. »Jetzt sieht es hier wirklich nach Großstadt aus«, staunte jemand, der uns begleitete. Und erschütterte mich vollends mit der ritualisierten Bemerkung:

»Dem 9. April sei Dank.«

Dagegen fühlte ich mich in der namenlosen Pension, in die mich Álvaro Multis einquartiert hatte, wohl wie nie zuvor. Es war ein vom Unglück verschöntes Haus neben dem Parque Nacional, und während der ersten Nacht setzte mir der Neid auf meine Zimmernachbarn zu, die sich der Liebe hingaben, als sei sie ein glücklicher Krieg. Als ich die beiden am nächsten Tag aus der Tür kommen sah, wollte ich nicht glauben, dass sie es waren: ein mageres Mädchen in einem Kleid wie aus dem staatlichen Waisenhaus und ein alter Mann, platinweiß und zwei Meter groß, der gut und gerne ihr Großvater hätte sein können. Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt, aber sie sorgten in all den folgenden Nächten mit tödlichen Schreien bis zum Morgengrauen für den Beweis ihrer Identität.

El Espectador veröffentlichte meinen Text an hervorgehobener Stelle auf der Meinungsseite. Ich verbrachte den Vormittag in den Kaufhäusern, wo Mutis mir mit dem polternden englischen Akzent, den er sich ausgedacht hatte, um die Verkäufer zu amüsieren, alle möglichen Kleidungsstücke aufschwatzte. Zu Mittag aßen wir mit Gonzalo Mallarino und anderen jungen Schriftstellern, die man eingeladen hatte, um mich in die Gesellschaft einzuführen. Von Guillermo Cano hörte ich erst wieder drei Tage später, als er mich im Büro von Mutis anrief.

»Hören Sie mal, Gabo, wo sind Sie denn abgeblieben?«, sagte er mit der aufgesetzten Strenge eines leitenden Direktors. »Gestern waren wir bei Redaktionsschluss zu spät dran, weil wir auf Ihren Beitrag gewartet haben.«

Ich ging hinunter in die Redaktion, um mich mit ihm zu unterhalten, und ich weiß immer noch nicht, wie es kam, dass ich noch über eine Woche lang jeden Nachmittag unsignierte Beiträge schrieb, ohne dass jemand mit mir über ein Honorar oder eine Anstellung geredet hätte. In den Gesprächsrunden der Pausen behandelten mich die Redakteure wie einen der Ihren, und in der Praxis war ich das ja auch, auch wenn ich mir dieses Umstands nicht so recht bewusst war.

Die Rubrik »Dia a día«, die niemals signiert war, wurde routinemäßig mit einem politischen Artikel von Guillermo Cano aufgemacht. Nach einer von der Leitung festgelegten Ordnung folgte ein Beitrag mit freiem Thema von Gonzalo Gonzales, der zudem die außerordentlich intelligente und populäre Sektion »Preguntas y respuestas« - Fragen und Antworten - leitete, wo er unter dem Pseudonym Gog auf alle Anfragen der Leser einging -Gog nicht nach Giovanni Papim, sondern nach seinem eigenen Namen. Danach kamen meine Artikel und gelegentlich ein Sonderbeitrag von Eduardo Zalamea, der im Übrigen täglich den besten Platz der Meinungsseite »La ciudad y el mundo« - Die Stadt und die Welt - bekam; er signierte mit dem Pseudonym Ulises, nicht nach Homer, wie er klarzustellen pflegte, sondern nach James Joyce.

Kurz nach Neujahr sollte Álvaro Mutis eine Geschäftsreise nach Port au Prince unternehmen, und er lud mich ein mitzukommen. Seit ich Alejo Carpentiers Das Reich von dieser Welt gelesen hatte, war Haiti mein Traumland. Ich hatte Mutis noch nicht zugesagt, als ich am 18. Februar eine Glosse über die englische Königinmutter schrieb, die einsam in den Weiten des Buckingham Palasts residierte. Mir fiel auf, dass man meine Glosse an erster Stelle in »Día a día« veröffentlicht hatte und in den Büros wohlwollend darüber gesprochen wurde. An diesem Abend machte Eduardo Zalamea auf einem kleinen Fest bei José Salgar, dem Chefredakteur, eine geradezu begeisterte Bemerkung über meinen Text. Später hörte ich hinter vorgehaltener Hand von einem wohlmeinenden Kollegen, dass Zalameas Urteil die letzten Vorbehalte beiseite geräumt habe, die einem förmlichen Stellenangebot von Seiten der Direktion noch im Wege standen.

Am nächsten Tag rief mich Álvaro Mutis früh am Morgen in sein Büro, um mir die traurige Mitteilung zu machen, dass die Reise nach Haiti gestrichen sei. Er erzählte mir aber nicht, dass dieser Entschluss nach einem zufälligen Gespräch mit Guillermo Cano gefallen war, da dieser ihn gebeten hatte, mich auf keinen Fall nach Port au Prince mitzunehmen. Álvaro, der Haiti auch noch nicht kannte, wollte wissen, warum. »Wenn du das Land siehst«, sagte Guillermo, »wirst du begreifen, dass Gabo sich genau dafür unendlich begeistern könnte.« Und er schloss den Abend mit einem meisterlichen Schachzug:

»Wenn Gabo nach Haiti fährt, kommt er nie wieder zurück.«

Álvaro verstand, sagte die Reise ab und stellte es mir gegenüber als Entscheidung der Firma dar. Also lernte ich Port au Prince nie kennen, erfuhr den wirklichen Grund dafür aber erst vor ein paar Jahren, als Álvaro mir bei einem unserer endlosen Erinnerungsgespräche unter Großvätern davon erzählte. Nachdem Guillermo mich dann mit einem Vertrag an die Zeitung gebunden hatte, kam er jahrelang immer wieder darauf zurück, dass ich eine große Reportage über Haiti einplanen solle, aber ich habe es nie geschafft, dorthin zu fahren, und ihm auch nicht gesagt, warum.

Ich hätte nie zu träumen gewagt, einmal fest angestellter Redakteur bei El Espectador sein zu können. Es schien mir zwar verständlich, dass sie meine Erzählungen veröffentlichten, da diese Gattung in Kolumbien kaum vertreten war, doch die tägliche Redaktionsarbeit in einer Abendzeitung war eine besondere Herausforderung für jemanden, der wie ich kaum Erfahrungen mit dem harten Tagesjournalismus hatte. El Espectador, nun ein halbes Jahrhundert alt, war in einem angemieteten Haus und mit ausrangierten Maschinen von El Tiempo, einer reichen, mächtigen und überheblichen Tageszeitung, groß geworden, war aber trotzdem noch ein bescheidenes Abendblatt mit sechzehn eng bedruckten Seiten, dessen Auflage von höchstens fünftausend Exemplaren den Ausrufern fast schon an den Toren der Druckerei aus den Händen gerissen und dann in den düsteren Cafés der Altstadt in einer halben Stunde verschlungen wurde. Eduardo Zalamea Borda hatte einmal über die BBC London erklärt, dass El Espectador die beste Zeitung der Welt sei. Heikel war aber nicht diese Erklärung, sondern vielmehr die Tatsache, dass fast alle, die das Blatt machten, und auch viele seiner Leser überzeugt waren, dass es stimmte.

Ich muss gestehen, dass am Tag nach der Absage der HaitiReise mein Herz einen Sprung tat, als mich Luis Gabriel Cano, der Geschäftsführer, in sein Büro kommen ließ. Die Unterredung dauerte bei aller Förmlichkeit keine fünf Minuten. Luis Gabriel hatte den Ruf, ein abweisender Mensch zu sein, großzügig zu Freunden, aber als guter Geschäftsführer geizig, auf mich wirkte er jedoch sehr direkt und herzlich, und das blieb auch immer so. Feierlich machte er mir das Angebot, als fester Redakteur der Zeitung allgemein informierende Artikel, Kommentare und Glossen zu schreiben sowie das, was im Chaos vor Redaktionsschluss noch anfiele; das monatliche Gehalt betrage neunhundert Pesos. Mir blieb die Luft weg. Als ich wieder atmen konnte, fragte ich noch einmal nach, und er wiederholte es mir, Silbe für Silbe: neunhundert. Ich war so erschüttert, dass mein lieber Luis Gabriel es als Ausdruck der Ablehnung auffasste, wie er mir Monate später auf einem Fest erzählte. Den letzten Zweifel an meiner Anstellung hatte sein Bruder Don Gabriel mit berechtigter Furcht geäußert: »Der ist so mager und bleich, dass er uns im Büro wegsterben könnte.« So kam ich als fester Redakteur zu El Espectador, wo ich in knapp zwei Jahren das meiste Papier meines Lebens verbraucht habe.

Es war ein glücklicher Zufall. Der Patriarch Don Gabriel Cano war an der Zeitung besonders gefürchtet, weil er sich selbst zum unerbittlichen Inquisitor der Redaktion bestellt hatte. Mit seiner scharfen Lupe las er bis zum letzten Komma die Ausgabe des Tages, strich mit roter Tinte die Schnitzer in jedem Artikel an und hängte die getadelten Beiträge mit vernichtenden Kommentaren versehen an einem schwarzen Brett aus. Das Brett hieß vom ersten Tag an »Die Schandmauer«, und ich kann mich an keinen Redakteur erinnern, der Don Gabriels blutiger Feder entronnen wäre.

Die spektakuläre Beförderung des dreiundzwanzigjährigen Guillermo Cano zum Direktor von El Espectador war wohl weniger eine frühe Frucht seiner persönlichen Verdienste als die Erfüllung einer Bestimmung, die schon vor seiner Geburt feststand. Überrascht bemerkte ich bald, dass er tatsächlich die Zeitung leitete, während viele von uns Außenstehenden ihn nur für einen folgsamen Sohn gehalten hatten. Besonders fiel mir auf, wie schnell er eine Nachricht erkannte.

Manchmal musste er gegen alle andiskutieren, auch mit wenigen Argumenten, bis er sie von der Richtigkeit seiner Einschätzung überzeugt hatte. Es war eine Zeit, in der Journalismus noch nicht an den Universitäten gelehrt wurde, man lernte diesen Beruf vielmehr mit dem Geruch der Druckerschwärze in der Nase von der Pike auf, und El Espectador besaß die besten Lehrmeister, die über ein gutes Herz, aber eine harte Hand verfügten. Auch Guillermo Cano hatte dort zu schreiben begonnen, hatte Stierkampfberichte verfasst, die so streng und fachkundig waren, dass man hätte meinen können, er sei eher zum Stierkämpfer denn zum Journalisten berufen. Es muss für ihn die härteste Prüfung seines Lebens gewesen sein, als er von einem Tag auf den anderen ohne Zwischenstationen vom Lehrjungen zum obersten Meister befördert wurde. Keiner, der ihn nicht näher kannte, hätte hinter seiner sanften und etwas ausweichenden Art seine schreckliche Willensstärke erahnen können. Mit entsprechender Leidenschaft zog er in große und gefährliche Schlachten, und selbst das Wissen, dass auch hinter dem nobelsten Engagement der Tod lauern kann, hielt ihn nicht auf.

Ich habe nie wieder jemanden kennen gelernt, der sich dem öffentlichen Leben so entzog, jede persönliche Ehrung ablehnte und für die Lobhudeleien der Macht unerreichbar war. Er war ein Mann, der nur wenige Freunde hatte, aber diese wenigen waren sehr gute Freunde, und ich hatte vom ersten Tag an das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Vielleicht hat der Umstand dazu beigetragen, dass ich in einer Redaktion von ausgekochten Veteranen einer der Jüngsten war, was zwischen uns beiden ein Gefühl der Komplizenschaft wachsen ließ, das sich nicht verlor. Vorbildhaft an dieser Freundschaft war, dass sie über alle Widersprüche hinweg Bestand hatte. Die politischen Meinungsverschiedenheiten wurden immer größer, je mehr die Welt aus den Fugen geriet, aber wir haben immer eine Ebene gefunden, auf der wir weiterhin gemeinsam für die Dinge kämpfen konnten, die uns gerecht erschienen.

Der Redaktionssaal war riesig, auf beiden Seiten standen Schreibtische, und die Atmosphäre war bestimmt von guter Laune und harten Scherzen. Dort saß etwa Darío Bautista, eine Art Gegenminister der Finanzen, der vom ersten Hahnenschrei an damit beschäftigt war, den höchsten Staatsbeamten mit seinen meist zutreffenden und stets unheilvollen Prognosen den Sonnenaufgang zu vergällen. Da war Felipe González Toledo, ein geborener Gerichtsreporter, der oft den offiziellen Untersuchungen bei der Aufklärung von Ungerechtigkeiten oder Verbrechen zuvorkam. Guillermo Lanao war für mehrere Ministerien zuständig und behielt das Geheimnis für sich, wie man bis ins fortgeschrittene Alter hinein ein Kind bleibt. Rogelio Echavarría, ein großer Lyriker, war für die Morgenausgabe verantwortlich - er wurde nie bei Tageslicht gesehen. Mein Vetter Gonzalo González, der ein eingegipstes Bein vom Fußballspielen hatte, musste sich um die Fragen der Leser beantworten zu können, stets über dies und jenes kundig machen und wurde so schließlich zum Fachmann für alles. Obwohl er an der Universität ein erstklassiger Fußballer gewesen war, glaubte er unerschütterlich daran, dass sich jedwede Sache theoretisch erfassen ließ, auch jenseits aller praktischen Erfahrung. Den schlagenden Beweis dafür lieferte er uns bei einem Kegelturnier unter Journalisten, als wir bis zum Morgengrauen auf den Kegelbahnen übten, er dagegen sich mit einem Handbuch an das Studium der physikalischen Gesetze des Spiels machte und auf diese Weise Champion des Jahres wurde.

Mit solchen Leuten war der Aufenthalt im Redaktionssaal eine ständige Erquickung, immer nach dem Motto von Darío Bautista oder Felipe González Toledo: »Wer nicht zufrieden ist, soll sich selbst einen blasen.« Jeder kannte die Themen der anderen, und man half, soweit man konnte und sollte. Die allgemeine Beteiligung war derart groß, dass man fast sagen konnte, man arbeite im Gespräch. Wenn es aber hart auf hart ging, war kein Atemzug zu hören. Von dem einzigen quer stehenden Schreibtisch am Ende des Raums aus regierte José Salgar, der ab und zu den Redaktionssaal abschritt, der informierte und sich informieren ließ, während er zur therapeutischen Entspannung mit Stiften jonglierte.

Ich glaube, der Nachmittag, an dem mich Guillermo Cano von Tisch zu Tisch führte, um mich in die Gesellschaft einzuführen, war die Feuerprobe für meine unbesiegbare Schüchternheit. Es verschlug mir die Sprache, und meine Knie gaben nach, als Darío Bautista, ohne aufzusehen, mit seiner schrecklichen Donnerstimme brüllte:

»Das Genie ist da!«

Mir fiel nichts anderes ein, als mich mit einem theatralischen Schritt im Halbkreis zu drehen und dabei mit ausgestrecktem Arm auf alle Anwesenden zu weisen, wobei ich nicht eben geistreich sagte, was mir in den Sinn kam:

»Ihnen allen zu dienen.«

Immer noch leide ich unter dem Eindruck des allgemeinen Pfeifkonzerts, spüre aber auch den Trost der Umarmungen und der guten Worte, mit denen jeder Einzelne mich willkommen hieß. Von dem Augenblick an gehörte ich zu jener Gemeinschaft barmherziger Tiger, deren Freundschaft und Mannschaftsgeist niemals schwächelte. Brauchte ich auch nur die kleinste Information für einen Artikel, konnte ich zu dem entsprechenden Redakteur gehen, und er ließ mich garantiert nicht im Stich.

Meine erste wichtige Lektion als Reporter erhielt ich von Guillermo Cano, und die ganze Redaktion teilte diese Erfahrung, als an einem Nachmittag ein Platzregen über Bogotá niederging, der die Stadt drei Stunden lang sintflutartig überschwemmte. Die aufgewühlten Wassermassen stürzten die Avenida Jiménez de Quesada hinunter, rissen auf ihrem Wege alles Mögliche von den Berghängen mit und hinterließen auf den Straßen Spuren der Verheerung. Fahrzeuge aller Art und auch die öffentlichen Verkehrsmittel blieben dort, wo das Unwetter sie überrascht hatte, stecken, und Tausende von Fußgängern flüchteten sich stolpernd und drängelnd in die überfluteten Gebäude, bis für keinen mehr Platz war. Wir waren bei Redaktionsschluss von dem Desaster überrascht worden und betrachteten das traurige Spektakel von den Fenstern aus. Wie Kinder, die mit den Händen in den Hosentaschen in der Ecke stehen müssen, wussten wir nicht, was tun. Plötzlich schien Guillermo Cano aus einem abgrundtiefen Traum zu erwachen, wandte sich der gelähmten Redaktion zu und schrie:

»Das Unwetter ist die Nachricht!«

Es war ein unausgesprochener Befehl, der sofort befolgt wurde. Wir rannten alle an unsere Gefechtsstellungen, um uns über Telefon die sich überstürzenden Informationen zu verschaffen, die José Salgar von uns verlangte, damit jeder seinen Teil der großen gemeinsamen Reportage über das Jahrhundertunwetter schreiben konnte. Die Krankenwagen und die Funkstreifen, die im Noteinsatz waren, kamen in den von Fahrzeugen verstopften Straßen nicht vorwärts. Die Abwasserleitungen in den Häusern waren durch die Flut blockiert, und das ganze Geschwader der Feuerwehr reichte nicht aus, um die Situation zu entschärfen. Ganze Stadtviertel mussten zwangsevakuiert werden, da ein städtischer Damm gebrochen war. In anderen Vierteln barsten die Kloaken. Die Gehsteige waren voll mit hinfälligen Greisen, Kranken und leblosen Kindern. Inmitten von diesem Chaos organisierten fünf Männer, die mit ihren Motorbooten normalerweise am Wochenende zum Fischen fuhren, eine Wettfahrt auf der besonders stark überfluteten Avenida Caracas. Solche rasch gewonnenen Informationen verteilte José Salgar an die Redakteure, die sie dann für die im Getümmel improvisierte Sonderausgabe aufbereiteten. Die Fotografen in ihren durchweichten Regenmänteln entwickelten in aller Eile die Filme. Kurz vor fünf schrieb Guillermo Cano einen glänzenden Leitartikel über eines der dramatischsten Unwetter im Gedächtnis der Stadt. Als der Regen endlich aufhörte, wurde mit kaum einer Stunde Verspätung die improvisierte Ausgabe von El Espectador verkauft, so wie immer, als sei es ein ganz normaler Tag. Mein Verhältnis zu José Salgar war zunächst reichlich schwierig, jedoch produktiv wie kein anderes. Ich glaube, bei ihm lag das Problem genau andersherum als bei mir: Stets versuchte er seine Redakteure zum hohen C anzuspornen, während ich danach verlangte, auf die richtige Tonart eingestimmt zu werden. Aber meine anderen Verpflichtungen bei der Zeitung nahmen mich ganz in Beschlag, und mir blieben nur am Sonntag noch freie Stunden. Ich meine, Salgar hatte ein Auge auf mich als Reporter geworfen, während die anderen von mir Filmbesprechungen, Kommentare und Kulturbeiträge erwarteten, da ich stets in meiner Eigenschaft als Erzähler herausgestellt worden war. Seit meinen ersten journalistischen Versuchen an der Küste war es jedoch immer mein Traum gewesen, Reporter zu werden, und ich wusste, dass José Salgar der beste Lehrmeister war, aber er schien mir die Türen zu versperren, vielleicht in der Hoffnung, ich würde sie aufsprengen, um gewaltsam einzudringen. Wir arbeiteten sehr gut zusammen, hatten eine herzliche und schwungvolle Umgangsart, und immer wenn ich ihm einen Beitrag vorlegte, den ich mit Guillermo Cano oder auch Eduardo Zalamea abgesprochen hatte, nahm er ihn ohne Einwände ab, hatte jedoch kein Verständnis für rituelle Übungen. Er machte dann eine Bewegung, als ziehe er unter Anstrengungen den Korken aus einer Flasche und sagte, ernsthafter als er wohl selbst dachte, zu mir: »Dreh doch dem Singschwan den Hals um.« Er war aber niemals aggressiv. Ganz im Gegenteil: Ein herzlicher Mann, in der Lohe geschmiedet, war er Stufe um Stufe durch alle Abteilungen aufgestiegen -angefangen bei der Setzerei, wo er mit vierzehn Kaffee ausgeschenkt hatte, bis hin zum Sessel des Chefredakteurs -, und seine professionelle Autorität wurde in ganz Kolumbien anerkannt. Ich glaube, er konnte mir nicht verzeihen, dass ich mich in einem Land, dem es so sehr an harten Reportern mangelte, mit poetischen Spielereien abgab. Ich hingegen dachte, dass gerade die Reportage am besten über den Alltag Auskunft geben könne. Heute weiß ich, dass unser beider Sturheit der beste Anreiz für mich war, mir den scheuen Traum zu erfüllen, Reporter zu sein. Eine Gelegenheit bot sich am 9. Juni 1954, als ich vormittags um elf Uhr zwanzig von einem Besuch bei einem Freund im Mustergefängnis von Bogotá zurückkam. Eine kriegerisch bewaffnete Truppe des Heeres hielt eine große Ansammlung von Studenten auf der Carrera Séptima in Schach, zweihundert Meter von der Straßenecke entfernt, an der man sechs Jahre zuvor Jorge Eliécer Gaitán ermordet hatte. Es war eine Protestdemonstration, denn am Tag zuvor war ein Student von Einheiten des für den Koreakrieg trainierten Bataillons Colombia erschossen worden. Es war der erste Zusammenstoß zwischen Zivilisten und den regierenden Streitkräften. Von dort aus, wo ich stand, hörte ich nur die lautstarke Diskussion zwischen den Studenten, die zum Präsidentenpalast weiterziehen wollten, und den Militärs, die eben das verhinderten. Mitten im Getümmel war nicht genau zu verstehen, was da geschrien wurde, doch in der Luft lag Spannung. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, ertönte eine Maschinenge-wehrsalve und danach gleich noch zwei weitere. Mehrere Stu-denten und einige Passanten waren sofort tot. Den Überlebenden, die versuchen wollten, die Verletzten ins Hospital zu bringen, wurde das mit Gewehrkolben ausgeredet. Die Truppe räumte den Ort und sperrte die Straßen. Bei der allgemeinen Flucht erlebte ich einige Sekunden lang noch einmal den ganzen Horror des 9. April, am selben Ort und zur gleichen Uhrzeit.

Ich rannte die steile Straße zum Gebäude von El Especta-dor hoch, und dort machte sich die Redaktion gerade klar zum Gefecht. Ich erzählte keuchend, was ich am Ort des Gemetzels hatte sehen können, aber einer, der kaum etwas davon wusste, war bereits dabei, in aller Eile den ersten Bericht über die neun toten Studenten und den Zustand der Verletzten in den Hospitälern zu verfassen. Ich war mir sicher gewesen, dass man mich beauftragen würde, über den Zusammenstoß zu schreiben, war ich doch als einziger Zeuge des Vorfalls gewesen, doch Guillermo Cano und José Salgar hatten sich schon für einen kollektiv geschriebenen Bericht entschieden, zu dem jeder das Seine beisteuern sollte. Der verantwortliche Redakteur war Felipe González Toledo, der dann für die Einheit des Textes sorgen würde.

»Sie können ganz ruhig sein«, sagte Felipe, den meine Enttäuschung beschäftigte, »die Leute wissen, dass wir hier alle an allem schreiben, auch wenn kein Name darunter steht.«

Ulises wiederum tröstete mich mit dem Hinweis, dass der Kommentar, den ich schreiben sollte, womöglich das Wichtigste bei einer so schwer wiegenden Störung der öffentlichen Ordnung sei. Damit hatte er Recht, doch gng es um so heikle Fragen, die auch die Politik der Zeitung kompromittieren konnten, dass der Text mehrhändig geschrieben und auf höchster Ebene überarbeitet wurde. Ich glaube, diese Lösung wurde letztlich allen gerecht, doch damals erschien sie mir zutiefst entmutigend. Die Ereignisse läuteten das Ende der Flitterwochen der Militärregierung mit der liberalen Presse ein. Diese hatten acht Monate zuvor mit der Machtübernahme durch General Rojas Pinilla begonnen, und das Land hatte nach dem von zwei konservativen Regierungen in Folge angezettelten Blutbädern endlich einmal erleichtert aufatmen können, an jenem Tag jedoch war der Honigmond vorbei. Und für meine schlichten Reporterträume war es ebenfalls eine Feuerprobe gewesen.

Kurz danach wurde das Foto der Leiche eines namenlosen Jungen, den sie im Seziersaal der Gerichtsmedizin nicht hatten identifizieren können, veröffentlicht, und das Bild erinnerte mich an ein vermisstes Kind, dessen Foto Tage zuvor abgedruckt worden war. Ich zeigte die beiden Bilder Felipe González Toledo, dem Leiter des Gerichtsressorts, und er benachrichtigte die Mutter des immer noch vermissten Jungen. Es war eine Lektion für die Ewigkeit. Die Mutter des Jungen wartete im Vorraum des Seziersaals auf Felipe und mich. Die Frau erschien mir so ärmlich und mitgenommen, dass ich mit aller Kraft meines Herzens wünschte, die Leiche möge nicht die ihres Sohnes sein. In dem lang gestreckten eisigen Kellerraum standen zwanzig grell beleuchtete Tische aufgereiht, auf denen sich unter schmuddligen Laken die Leichen wie Steintumuli abhoben. Wir drei folgten dem gemessen schreitenden Aufseher bis zum vorletzten Tisch. Unter dem Laken schauten am Fußende zwei traurige Stiefelchen hervor, deren beschlagene Absätze stark abgenutzt waren. Die Frau erkannte die Schuhe, wurde bleich, beherrschte sich aber mit letzter Kraft, bis der Wächter mit dem Schwung eines Toreros das Laken zurückschlug. Es war die Leiche eines etwa neunjährigen Jungen mit aufgerissenen, starren Augen, und sie steckte in eben der verdreckten Kleidung, in der man das Kind, schon einige Tage nach seinem Tod, in einem Straßengraben gefunden hatte. Die Mutter stieß einen Klageschrei aus und sackte laut weinend zu Boden. Felipe hob sie hoch und beruhigte sie mit tröstendem Gemurmel, während ich mich fragte, ob all das es wert war, von einem solchen Beruf zu träumen. Eduardo Zalamea stimmte mit mir überein: nein. Auch er meinte, dass die bei den Lesern so beliebte Kriminalchronik ein problematisches Genre sei, das ein besonderes Naturell und ein starkes Herz erfordere. Ich habe mich nie mehr darin versucht.

Eine ganz andere Art von Wirklichkeit brachte mich dazu, Filmkritiker zu werden. Ich wäre selbst nie darauf gekommen, aber in Aracataca, im Kino Olympia von Don Antonio Daconte, und später in den spontanen Lehrveranstaltungen von Álvaro Cepeda hatte ich eine Ahnung von den Kriterien vermittelt bekommen, die zur Beurteilung von Filmen sinnvoller waren als die bisher in Kolumbien üblichen. Ernesto Volkening, ein großer deutscher Schriftsteller und Literaturkritiker, der sich während des Zweiten Weltkriegs in Bogotá niedergelassen hatte, kommentierte in Radio Nacional die Filmpremieren, doch seine Sendung erreichte nur Eingeweihte. Es gab noch einige exzellent, aber nur gelegentlich schreibende Filmrezensenten im Umkreis des katalanischen Buchhändlers Luis Vicens, der seit dem spanischen Bürgerkrieg in Bogotá lebte. Vicens hatte den ersten Filmklub mit Unterstützung des Malers Enrique Grau und des Kritikers Hernando Salcedo sowie durch die Tatkraft der Journalistin Gloria Valencia de Castano Castillo gegründet, die den Mitgliedsausweis Nummer eins erhielt. Es gab im Land ein riesiges Publikum für große Actionfilme und rührselige Melodramen, doch künstlerisch wertvolle Filme sprachen nur gebildete Filmfreunde an, und die Kinos gingen immer seltener das Risiko ein, einen Film eventuell nur drei Tage im Programm zu haben. Aus der gesichtslosen Masse der Kinogänger ein neues Publikum zu rekrutieren erforderte ein beschwerliches, aber mögliches pädagogisches Vorgehen, um Zuschauer für gute Filme zu gewinnen und damit die Kinobetreiber zu unterstützen, die zwar bereit waren, solche Filme zu zeigen, das aber nicht finanzieren konnten. Die größte Schwierigkeit war, dass die Betreiber damit drohten, keine Kmoanzeigen mehr zu schalten - eine wichtige Einnahmequelle für die Zeitungen -, sollten die Filmkritiken schlecht sein. El Espectador ging als erste Zeitung dieses Risiko ein und betraute mich mit der Aufgabe, die neu angelaufenen Filme der Woche zu besprechen; es ging dabei eher um einen Leitfaden für Filminteressierte als um päpstliche Urteilssprüche. Vorsichtshalber beschlossen wir gemeinsam, ich solle meine Freikarten nie ausnützen, sondern mit einer am Schalter gekauften Karte ins Kino gehen.

Meine ersten Artikel beruhigten die Kinobetreiber, da ich über eine interessante französische Filmreihe berichtete. Gezeigt wurde unter anderem Puccini, eine ausführliche Lebensdarstellung des großen Komponisten, Goldene Höhen, die gut erzählte Geschichte der Sängerin Grace Moore, und Auf den Straßen von Paris, eine friedliche Komödie von Julien Duvivier. Die Impresarios, die wir am Kinoausgang trafen, äußerten sich wohlwollend über unsere Filmkritiken. Alvaro Cepeda dagegen weckte mich um sechs Uhr morgens von Barranquilla aus, als er von meiner Kühnheit erfahren hatte.

»Wie kommen Sie, verdammt noch mal, dazu, ohne meine Erlaubnis Filme zu besprechen?«, fragte er unter brüllendem Gelächter am Telefon. »Sie haben von Kino doch keine Ahnung!«

Er wurde dann natürlich zu meinem ständigen Assistenten, obwohl er kein Verständnis dafür hatte, dass es nicht darum ging, eine Richtung durchzusetzen, sondern vielmehr darum, ein allgemeines, nicht akademisch gebildetes Publikum an die Filme heranzuführen. Die Flitterwochen mit den Impresarios waren auch nicht so innig, wie wir am Anfang gedacht hatten. Als wir uns nämlich mit dem rein kommerziellen Kino auseinander setzten, beklagten sich auch die Verständnisvollsten über die Härte unserer Kritik. Eduardo Zalamea und Guillermo Cano waren geschickt genug, sie am Telefon hinzuhalten, bis ein Kinobetreiber, der sich als Anführer aufspielte, uns Ende April in einem offenen Brief anklagte, das Publikum zu drangsalieren und dessen Interessen zu schaden. Der Kern des Problems schien mir darin zu liegen, dass der Briefschreiber nicht wusste, was das Wort drangsalieren bedeutete, doch ich fühlte mich kurz vor der Niederlage, weil ich es nicht für möglich hielt, dass Don Gabriel Cano in einer Wachstumskrise der Zeitung aus rein ästhetischen Erwägungen auf die Kinoanzeigen verzichten würde. Er rief noch an dem Tag, als er den Brief empfangen hatte, seine Söhne und Uhses zu einer dringenden Sitzung zusammen, womit für mich beschlossene Sache war, dass die Filmspalte liquidiert und begraben würde. Als Don Gabriel jedoch nach der Sitzung an meinem Schreibtisch vorbeikam, sagte er, ohne das Thema zu erwähnen, wie ein verschmitzter Großvater zu mir:

»Nur ruhig, kleiner Namensvetter.«

Am nächsten Tag erschien die Antwort an den Schreiber in »Dia a dia«. Guillermo Cano hatte sie in einem entschieden professoralen Ton geschrieben, und der Schlusssatz stand für das Ganze: »Weder wird das Publikum drangsaliert, noch wird irgendjemandem geschadet, wenn die Presse ernsthafte und verantwortungsvolle Filmkritiken veröffentlicht, die sich ein wenig an den Gepflogenheiten in anderen Ländern orientieren und mit der alten und schädlichen Regel brechen, Gutes wie Schlechtes gleichermaßen übertrieben zu loben.« Es blieb nicht der einzige Brief und auch nicht unsere einzige Antwort. Funktionäre der Filmwirtschaft rückten uns mit bitteren Vorwürfen auf den Leib, und wir erhielten widersprüchliche Briefe von verwirrten Lesern. Doch alles erwies sich als vergeblich: Die Kolumne überlebte, bis die Filmkritik im Land allgemein üblich und in Presse und Rundfunk zur Routine geworden war.

Von da an veröffentlichte ich in knapp zwei Jahren fünfundsiebzig Filmkritiken, zu denen man die Stunden zählen muss, die es mich kostete, die Filme zu sehen. Dazu kamen etwa sechshundert Kommentare, alle drei Tage ein Beitrag mit oder ohne Namen und mindestens achtzig Reportagen, anonym oder unter meinem Namen. Meine literarischen Texte wurden inzwischen im »Magazine Dominical« derselben Zeitung veröffentlicht, darunter mehrere Erzählungen sowie die ganze La-Sierpe-Serie, die in der Zeitschrift Ldmpara wegen interner Querelen abgebrochen worden war.

Es war die erste sorgenfreie Epoche in meinem Leben, ich hatte jedoch keine Zeit, sie zu genießen. Das Apartment, das ich möbliert und mit Wäscheservice gemietet hatte, war nicht mehr als ein Schlafzimmer mit Bad, Telefon und Frühstück im Bett und einem großen Fenster, das auf den ewigen Nieselregen der traurigsten Stadt der Welt blickte. Ich benutzte die Wohnung nur, um ab drei Uhr früh, nachdem ich eine Stunde gelesen hatte, bis zu den Morgennachrichten im Radio zu schlafen, mit denen ich mich auf die Aktualität des neuen Tages vorbereitete.

Mit einer gewissen Unruhe dachte ich immer wieder, dass ich zum ersten Mal einen eigenen festen Platz zum Wohnen hatte, aber nicht genügend Zeit, um mir dessen richtig bewusst zu werden. Ich war derart damit beschäftigt, mein neues Leben in den Griff zu bekommen, dass meine einzige bedeutende Ausgabe das Ruderboot war, das ich pünktlich zum Monatsende meiner Familie schickte. Erst heute fällt mir auf, dass ich auch kaum Zeit hatte, mich um mein Privatleben zu kümmern. Vielleicht steckte ja noch die Vorstellung der karibischen Mütter in mir, dass die Bogotánerinnen sich ohne Liebe hingaben, nur um sich den Traum eines Hauses am Meer zu erfüllen. In meiner ersten Junggesellenwohnung in Bogotá war ich solchen Gefahren jedoch nicht ausgesetzt, nachdem ich den Portier gefragt hatte, ob Besuche von Mitternachtsfreundinnen erlaubt seien, und er mir weise antwortete:

»So etwas ist verboten, Senor, aber, was ich nicht sehen soll, das sehe ich nicht.«

Ende Juli, als ich gerade einen Kommentar schrieb, pflanzte sich José Salgar ohne vorherige Ankündigung vor meinem Schreibtisch auf und betrachtete mich lange schweigend. Ich hörte mitten im Satz auf zu schreiben und fragte verwundert:

»Was ist?«

Er zuckte nicht mit der Wimper und ließ seinen Farbstift mit einem diabolischen Lächeln, das gar zu absichtsvoll wirkte, Kapriolen schlagen. Ohne dass ich danach gefragt hätte, erklärte er mir, er habe mir die Reportage über das Massaker an den Studenten auf der Carrera Séptima nicht anvertraut, weil es sich um eine heikle Aufgabe für einen Anfänger gehandelt habe. Dafür bot er mir nun von sich aus das Diplom eines Reporters an, ganz direkt, doch ohne mich damit unter Druck setzen zu wollen, sofern ich bereit sei, einen tödlichen Vorschlag anzunehmen:

»Warum fahren Sie nicht mal nach Medellin und erzählen uns, was zum Teufel da passiert ist?«

Ich verstand nicht gleich, was er meinte, denn er sprach von etwas, das vor über zwei Wochen geschehen war, so dass man vermuten konnte, es handele sich um eine alte Kamelle, aus der nichts mehr zu machen war. Man wusste, dass am Morgen des 12. Juli ein Erdrutsch in La Media Luna, einem steilen Gelände im Osten von Medellin, stattgefunden hatte. Die Skandalnachrichten der Zeitungen, das Chaos bei den Behörden und die Panik der Geschädigten hatten aber zu einem solchen administrativen und humanitären Durcheinander geführt, dass der wirkliche Ablauf der Ereignisse nicht mehr nachvollziehbar war. Salgar bat mich nicht darum, so weit wie möglich zu erkunden, was dort geschehen war, sondern befahl mir schlicht und einfach, in kürzester Zeit die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit herauszubekommen. Doch so, wie er das sagte, hatte ich das Gefühl, dass er mir nun endlich die Zügel locker ließ.

Bis dahin wusste die Welt von Medellin nur, dass hier Carlos Gardel bei einer Flugzeugkatastrophe verbrannt war. Ich wusste, es war ein Landstrich großer Schriftsteller und Dichter, und es gab dort das Colegio de la Presentación, in dem Mercedes Barcha seit jenem Jahr im Internat war. Angesichts einer so wahnwitzigen Mission erschien es mir auch schon nicht mehr unmöglich, Stück für Stück die Vernichtung eines Berges zu rekonstruieren. Also landete ich in Medellin um elf Uhr vormittags bei einem Gewitter, das so Furcht erregend war, dass ich mir dabei einbildete, das letzte Opfer des Erdrutsches zu sein.

Ich ließ meinen Koffer mit Wäsche für zwei Tage und einer Krawatte für Notfälle im Hotel Nutibara und ging hinaus in eine idyllische Stadt, die noch von den Nachwehen des Wolkenbruchs eingeschattet war. Álvaro Mutis hatte mich zum Flugzeug begleitet, um mir bei der Überwindung meiner Flugangst zu helfen, und mir die Namen von Leuten gegeben, die im Leben der Stadt von Bedeutung waren. Die erschütternde Wahrheit aber war, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte. Dem Zufall gehorchend lief ich durch die leuchtenden Straßen, auf die nach dem Gewitter wie goldenes Mehl die Sonne rieselte, und nach einer Stunde musste ich in den ersten Laden flüchten, weil es unter der Sonne wieder zu regnen begonnen hatte. Und dann spürte ich das erste Flügelschlagen der Panik in der Brust. Ich versuchte es mit einer magischen Formel meines Großvaters zu beherrschen, die er im Schlachtgetümmel eingesetzt hatte, doch die Angst vor der Angst brachte mich vollends aus der Fassung.

Ich merkte, dass ich niemals schaffen würde, was man mir aufgetragen hatte, und dass ich zu feige gewesen war, es einzugestehen. Ich begriff, dass es das einzig Vernünftige wäre, Guillermo Cano einen Dankesbrief zu schreiben und nach Barranquilla in den Zustand der Gnade zurückzukehren, in dem ich mich vor sechs Monaten befunden hatte.

Mächtig erleichtert, der Hölle entkommen zu sein, nahm ich ein Taxi zurück zum Hotel. Die Mittagsnachrichten brachten einen langen zweistimmigen Kommentar zu den Erdrutschen, als hätten die sich erst gestern ereignet. Der Chauffeur ereiferte sich über die Nachlässigkeit der Regierung und über die schlecht organisierte Hilfe für die Opfer, und irgendwie fühlte auch ich mich schuldig an seinem lauten und gerechten Zorn. Inzwischen hatte der Regen wieder aufgehört, und die Luft war klar und duftete von den jählings aufgegangenen Blüten im Parque Berrio. Plötzlich, ich weiß nicht warum, spürte ich den Prankenschlag des Wahnsinns.

»Machen wir doch eins«, sagte ich zum Fahrer: »Bringen Sie mich zum Ort des Erdrutsches, bevor wir zum Hotel fahren.«

»Aber da gibt es doch nichts zu sehen«, sagte er. »Nur die brennenden Kerzen und die kleinen Kreuze für die Toten, die nicht ausgegraben werden konnten.«

So wurde mir klar, dass sowohl Opfer wie Überlebende aus unterschiedlichen Stadtteilen stammten und sehr viele die Stadt durchquert hatten, um die Leichen des ersten Erdrutsches zu bergen. Die große Tragödie trug sich zu, als Neugierige sich am Unglücksort drängten und ein weiterer Teil des Berges in einer verheerenden Lawine abwärts stürzte. Die Geschichte konnten demnach nur die wenigen erzählen, die vor den nachfolgenden Erdrutschen hatten fliehen können und am anderen Ende der Stadt noch am Leben waren.

»Verstehe«, sagte ich zu dem Fahrer und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu beherrschen. »Bringen Sie mich zu den Lebenden.«

Er machte mitten auf der Straße eine Kehrtwende und raste in die Gegenrichtung. Sein Schweigen war wohl nicht allein der Geschwindigkeit geschuldet, sondern der Hoffnung, mich von seinen Argumenten zu überzeugen.

Ich nahm den Faden bei zwei Kindern auf. Acht und elf Jahre alt, hatten sie am 12. Juli um sieben Uhr morgens ihr Haus verlassen, um Holz zu schlagen. Sie waren etwa hundert Meter weit gegangen, als sie das Getöse der Erd- und Steinlawine hörten, die über die Bergflanke auf sie zustürzte. Es gelang ihnen gerade noch zu fliehen. Im Haus wurden die drei jüngeren Schwestern und die Mutter mit dem gerade erst geborenen Brüderchen verschüttet. Die einzigen Überlebenden waren die beiden Jungen, die kurz zuvor aus dem Haus gegangen waren, und der Vater der Kinder, der schon sehr früh zu seiner Arbeit in der zehn Kilometer entfernten Sandgrube aufgebrochen war.

Der Ort war ungastliches Brachland an der Landstraße von Medellin nach Rionegro, und in der Früh um acht Uhr hielten sich dort keine weiteren Bewohner auf, die der Katastrophe zum Opfer hätten fallen können. In den Radiosendern wurde die Nachricht stark übertrieben und mit so vielen blutigen Einzelheiten ausgeschmückt, dass die ersten freiwilligen Helfer vor der Feuerwehr anrückten. Gegen Mittag gab es zwei weitere Erdrutsche, die zwar keine Opfer forderten, aber die allgemeine Nervosität verstärkten, und eine lokale Radiostation schickte ein Team, das live vom Unglücksort senden sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren fast alle Bewohner der angrenzenden Dörfer und Stadtviertel dort versammelt, hinzu kamen aus der ganzen Stadt Neugierige, angelockt von den Sensationsmeldungen des Rundfunks, sowie die Leute, die aus den Überlandbussen gestiegen waren und mehr störten als halfen. Außer den wenigen Leichen, die noch vom Morgen dort lagen, gab es inzwischen weitere dreihundert Opfer der nachfolgenden Erdrutsche. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit befanden sich immer noch über zweitausend spontane Helfer am Ort, die eher ungeschickt den Überlebenden Beistand leisteten. Nicht einmal zum Atmen gab es noch Platz. In die chaotisch sich drängende Menge stürzte um sechs Uhr abends mit ungeheurem Getöse eine weitere verheerende Lawine von sechshunderttausend Kubikmetern und forderte so viele Opfer, als sei sie im Parque Berrio mitten in Medellin niedergegangen. Die Katastrophe brach derartig schnell und überraschend herein, dass Dr. Javier Mora vom städtischen Bauamt später im Schutt sogar den Kadaver eines Kaninchens fand, das nicht hatte fliehen können.

Als ich zwei Wochen später dort ankam, hatte man erst vierundsiebzig Leichen bergen können, doch zahlreiche Verletzte waren inzwischen außer Gefahr. Die meisten waren nicht Opfer der Naturkatastrophe geworden, sondern der Fahrlässigkeit und der unorganisierten Solidarität. Wie bei Erdbeben war es auch hier nicht möglich, die Zahl der Personen festzustellen, die, auf der Flucht vor ihren Schulden oder weil sie die Frau wechseln wollten, die Gelegenheit genutzt hatten, spurlos zu verschwinden. Doch auch das Glück hatte seine Hand im Spiel, da, wie eine spätere Untersuchung ergab, am ersten Tag der Rettungsarbeiten beinahe noch weitere Felsbrocken weggebrochen wären, die eine zusätzliche Lawine von fünfzigtausend Kubikmetern hätten auslösen können. Mit Hilfe der Überlebenden, die sich inzwischen erholt hatten, konnte ich nun, nach über zwei Wochen, die Geschichte tatsächlich viel besser rekonstruieren, als es im allgemeinen Durcheinander möglich gewesen wäre.

Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, die in einem Wirrwarr von widersprüchlichen Mutmaßungen untergegangene Wahrheit aufzuspüren und das menschliche Drama jenseits aller politischen oder sentimentalen Rücksichten in seiner zeitlichen Abfolge zu rekonstruieren. Álvaro Mutis hatte mich auf die richtige Fährte gesetzt, als er mich zu der Publizistin Cecilia Warren schickte, die mir half, die am Unglücksort gesammelten Angaben richtig einzuordnen. Die Reportage wurde in drei Folgen abgedruckt und hatte immerhin den Verdienst, das Interesse für eine vergessene Nachricht nach zwei Wochen wieder zu beleben und die Tragödie durchschaubar zu machen.

Am liebsten erinnere ich mich aber nicht an das, was ich auf dieser Reise getan habe, sondern an das, was ich dank der überbordenden Phantasie des Malers Orlando Rivera, Figurita, beinahe getan hätte. Ich hatte den alten Gefährten aus Barran-quilla unverhofft in einer der knappen Atempausen während der Recherche getroffen. Er lebte seit einigen Monaten in Medeüin und war frisch verheiratet und glücklich mit Sol Santamaria, einer reizenden und freigeistigen Nonne, die mit Figuritas Hilfe nach sieben Jahren der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit aus der Klausur ihres Klosters geflohen war. Bei einem unserer Trinkgelage offenbarte mir der Freund, dass er auf eigenes Risiko gemeinsam mit seiner Frau einen meisterhaften Plan ausgeheckt habe, um Mercedes Barcha aus dem Internat zu entführen. Ein mit ihnen befreundeter Gemeindepfarrer, der als Ehestifter bekannt war, stehe jederzeit bereit, uns zu trauen. Die einzige Bedingung sei natürlich, dass Mercedes sich einverstanden erkläre. Wir aber fanden keinen Weg, das mit ihr innerhalb der vier Wände ihres Gefängnisses zu besprechen. Heute ärgert es mich mehr denn je, dass ich nicht genügend Schneid hatte, diesen Groschenroman zu leben. Mercedes ihrerseits erfuhr von dem Plan erst nach über fünfzig Jahren, als sie die Rohfassung dieses Buches las.

Es war eines der letzten Male, dass ich Figurita sah. Im Karneval des Jahres 1960 rutschte er, verkleidet als kubanischer Tiger, von der Kutsche, die ihn nach der Blumenschlacht wiederRichtung Baranoa nach Hause brachte, und brach sich auf dem mit Karnevalsabfällen bedeckten Pflaster das Genick.

Am zweiten Abend meiner Arbeit über das Unglück in Medellin warteten zwei Redakteure der Zeitung El Colombiano im Hotel auf mich - beide waren so jung, dass sogar ich älter war - und wollten mit mir ein Interview über meine bis dahin veröffentlichten Erzählungen machen. Es kostete sie Mühe, mich dazu zu überreden, weil ich schon damals ein vielleicht ungerechtes Vorurteil gegen Interviews hatte, die ich immer noch als ein Frage-und-Antwort-Spiel betrachte, bei dem beide Seiten sich angestrengt bemühen, Bedeutsames von sich zu geben. Ich hatte dieses Vorurteil bei den beiden Zeitungen entwickelt, für die ich bis dahin tätig gewesen war, und dann bei Cronica versucht, die übrigen Mitarbeiter mit meiner Ablehnung anzustecken. Dennoch ließ ich mich auf dieses erste Interview für El Colombiano ein und war dabei von einer selbstmörderischen Ehrlichkeit.

Die Interviews, deren Opfer ich über fünfzig Jahre lang in der halben Welt geworden bin, lassen sich nicht mehr zählen, dennoch habe ich mich weder als Interviewer noch als Interviewter von der Effizienz dieses Genres überzeugen können. Die große Mehrzahl der Interviews, denen ich mich nicht habe entziehen können, müssten als wichtiger Teil meines fiktionalen Werks gelten, denn sie enthalten unabhängig vom Thema nichts als Phantastereien über mein Leben. Für die Recherche haben Interviews allerdings einen unschätzbaren Wert, vorausgesetzt, man will sie nicht als solche veröffentlichen, sondern als Arbeitsmaterial für eine Reportage verwenden, die ich für das Beste des besten Berufs der Welt halte.

Wie auch immer, die Zeit damals bot wenig Anlass zum Feiern. Die Regierung von General Rojas Pmilla, die bereits in einem offenen Konflikt mit der Presse und einem großen Teil der öffentlichen Meinung stand, hatte den Monat September mit dem Beschluss gekrönt, den fernen und vergessenen Bezirk Chocóunter seinen wohlhabenden Nachbarn aufzuteilen: Antioquia, Caldas und Valle. Die Bezirkshauptstadt Quibdo konnte man von Medellin aus nur auf einer einspurigen Landstraße erreichen, die in einem so schlechten Zustand war, dass man für hundertsechzig Kilometer mehr als zwanzig Stunden brauchte. Heute sind die Bedingungen nicht besser.

In der Redaktion sahen wir kaum eine Möglichkeit, etwas gegen die Zerschlagung des Bezirks zu unternehmen, da die liberale Presse auf schlechtem Fuß mit der Regierung stand. Primo Guerrero, der altgediente Korrespondent von El Espectador in Quibdo, teilte uns nach drei Tagen mit, es sei zu einem Volksprotest gekommen, ganze Familien mit Kindern wären auf die große Plaza geströmt, entschlossen, diese Tag und Nacht besetzt zu halten, bis die Regierung ihr Vorhaben aufgebe. Die Fotos der rebellischen Mütter mit Kindern in den Armen wurden im Laufe der Tage immer jammervoller, weil das Ausharren bei Wind und Wetter die Leute sichtlich mitnahm. Von der Redaktion aus verstärkten wir täglich die Meldungen mit Kommentaren oder Erklärungen von Politikern und Intellektuellen, die in Bogotá wohnten, aber aus dem Choco stammten, doch die Regierung wollte die Angelegenheit offensichtlich aussitzen. Nach mehreren Tagen kam dann aber José Salgar mit dem tanzenden Stift eines Puppenspielers an meinen Schreibtisch und schlug mir vor, ich solle in den Choco fahren und feststellen, was da wirklich los sei. Ich versuchte, das Ansinnen mit dem bisschen Autorität, das ich mit der Reportage über Medellin gewonnen hatte, abzuwehren, aber ich schaffte es nicht. Guillermo Cano, der mit dem Rücken zu uns schrieb, rief, ohne uns anzusehen:

»Fahren Sie, Gabo, die Mädchen sind noch besser als in Haiti!«

Also machte ich mich auf, ohne auch nur einen Gedanken daran verschwendet zu haben, wie man über eine Protestkundgebung schreiben sollte, die sich der Gewalt verweigerte. Als Fotograf begleitete mich Guillermo Sánchez, der schon seit Monaten darauf drängte, dass wir gemeinsam Kriegsreportagen machen sollten. Genervt davon, das so oft zu hören, hatte ich geschrien:

»Was für ein Krieg denn, verdammt?«

»Stellen Sie sich nicht dumm, Gabo«, schleuderte er mir die Wahrheit ins Gesicht, »Sie sagen doch selbst dauernd, dass dieses Land seit der Unabhängigkeit im Krieg lebt.«

Frühmorgens am 21. September tauchte Sánchez in der Redaktion auf, und er sah, mit Beuteln und Kameras ausgerüstet, eher nach einem Kämpfer als nach einem Fotoreporter aus, der über einen verdeckten Krieg berichten soll. Die erste Überraschung war, dass man im Choco ankam, bevor man Bogotá verlassen hatte, nämlich auf einem kleinen Nebenflughafen, der zwischen verschrotteten Lastern und rostigen Flugzeugen lag und keinerlei Service bot. Unsere Maschine, wie durch Zauberkünste noch im Einsatz, war eine der legendären Catalinas aus dem Zweiten Weltkrieg, die von einer zivilen Luftfahrtslinie betrieben wurden. Es gab keine Sitze. Das Innere war karg und düster wegen der kleinen beschlagenen Fenster, und man hatte große Bündel von Pflanzenfasern für die Besenfabrikation geladen. Wir waren die einzigen Passagiere. Der Kopilot, in Hemdsärmeln, jung und gut aussehend wie ein Flieger aus einem Film, zeigte uns, welche Bündel am besten zum Sitzen geeignet waren. Er erkannte mich nicht, doch ich wusste, dass er ein großartiger Baseballspieler in der Liga La Matuna in Cartagena gewesen war.

Der Start war wegen des ohrenbetäubenden Dröhnens der Motoren und des blechernen Geklappers des schrottreifen Rumpfs beängstigend, selbst für einen so erprobten Passagier wie Guillermo Sánchez, aber als sich die Maschine dann im klaren Himmel der Savanne stabilisiert hatte, glitt sie mit der Tapferkeit des Kriegsveteranen dahin. Nach der Zwischenlandung in Medellin überraschte uns über dichtem Urwald zwischen zwei Kordilleren ein sintflutartiger Wolkenbruch, den wir frontal nehmen mussten. Wir erlebten, was wohl nur wenige Sterbliche erlebt haben: Es regnete im Flugzeug durch die Lecks im Rumpf. Unser Freund, der Kopilot, sprang über die Besenbündel und brachte uns die Zeitungen des Tages, damit wir sie als Regenschirm benützen konnten. Ich zog mir meine Zeitung über das ganze Gesicht, nicht so sehr, um mich vor dem Wasser zu schützen, sondern damit man nicht sah, wie ich vor Angst weinte.

Nach zwei Stunden des Zufalls und des Glücks neigte das Flugzeug sich über den linken Flügel, stieß in Angriffsposition abwärts und drehte zwei Erkundungsrunden über der großen Plaza von Quibdo. Guillermo Sánchez, der bereit war, aus der Luft die von den langen Wachen erschöpften Demonstranten aufzunehmen, sah nur einen leeren Platz. Das klapprige Wasserflugzeug drehte noch eine letzte Runde, um zu überprüfen, dass keine lebenden oder toten Hindernisse im friedlichen Rio Atrape trieben, und setzte in der schläfrigen Mittagshitze glücklich im Wasser auf.

Außer der mit Brettern reparierten Kirche, den von den Vögeln voll gekackten Zementbänken und einem herrenlosen Maultier, das an den Zweigen eines riesigen Baumes herumzupfte, gab es keinerlei Anzeichen von menschlicher Existenz auf der staubigen und einsamen Plaza, die an eine afrikanische Hauptstadt erinnerte. Wir hatten vorgehabt, von der protestierenden Menschenmenge sofort Fotos zu machen, diese gleich mit der zurückfliegenden Maschine nach Bogotá zu schicken und uns dann die nötigen Informationen aus erster Hand zu beschaffen, um sie telegrafisch für die Morgenausgabe durchzugeben. Nichts davon war möglich, weil nichts geschah.

Ohne Zeugen liefen wir die endlose Straße parallel zum Fluss entlang. Sie war gesäumt von Läden, die wegen der Mittagszeit geschlossen hatten, und Wohnhäusern mit Holzbalkonen und rostigen Dächern. Die Kulisse war perfekt, doch es fehlte das Drama. Unser guter Kollege Primo Guerrero, Korrespondent von El Espectador, lag in einer leichten Hängematte in der Laube seines Hauses und hielt Siesta, als sei die Stille, die ihn umgab, der Frieden der Gräber. Die Offenheit, mit der er uns seine Trägheit erklärte, hätte nicht objektiver sein können. Nach den Demonstrationen der ersten Tage hatte die Spannung nachgelassen, da es an Themen mangelte. Daraufhin hatte man den ganzen Ort mobilisiert und ein paar Fotos von der theatralischen Inszenierung gemacht, die aber nicht veröffentlicht wurden, da sie nicht besonders glaubwürdig wirkten; sodann waren die patriotischen Reden gehalten worden, die tatsächlich das Land aufgerüttelt hatten, ohne jedoch die Regierung zu beeindrucken. Daher hatte Primo Guerrero - mit einer ethischen Flexibilität, die ihm vielleicht sogar Gott verziehen hat - den Protest einfach nur durch Telegramme in der Presse aufrechterhalten.

Unser berufliches Problem war einfach: Wir hatten diese eines Tarzans würdige Expedition nicht unternommen, um darüber zu informieren, dass es keine Nachricht gab. Aber wir hatten die Mittel in der Hand, die Nachricht wahr werden zu lassen, damit sie ihren Zweck erfüllte. Primo Guerrero schlug dann vor, noch einmal die Behelfskundgebung auf die Beine zu bringen, und niemand hatte eine bessere Idee. Als begeisterter Mitstreiter erwies sich Hauptmann Luis A. Cano, der zum neuen Gouverneur ernannt worden war, nachdem sein Vorgänger im Zorn abgedankt hatte, und Cano war beherzt genug, den Start des Flugzeugs zu verzögern, damit Guillermo Sánchez' frische Fotos die Zeitung rechtzeitig erreichten. Und so war die aus der Not heraus erfundene Nachricht schließlich die einzig wahre, die von Presse und Rundfunk im ganzen Land ausgewalzt und von der Militärregierung schnell aufgefangen wurde, da diese das Gesicht wahren wollte. Noch am selben Abend begann eine allgemeine Mobilisierung der aus dem Choco stammenden Politiker - von denen einige in verschiedenen Bereichen durchaus einflussreich waren -, und zwei Tage später erklärte General Rojas Pinilla die eigene Entscheidung, den Choco stückweise unter den Nachbarn aufzuteilen, für ungültig.

Guillermo Sánchez und ich kehrten nicht gleich nach Bogotá zurück, weil wir der Zeitung die Erlaubnis abgerungen hatten, das Innere des Choco zu bereisen, um diese phantastische Welt gründlich kennen zu lernen. Zehn Tage lang hörte man nichts von uns, und als wir dann, sonnengegerbt und todmüde, in den Redaktionssaal einzogen, empfing uns José Salgar glücklich, aber streng.

»Wisst ihr eigentlich«, fragte er uns mit seiner unschlagbaren Bestimmtheit, »wie lange das Thema Choco schon vom Tisch ist?«

Diese Frage konfrontierte mich zum ersten Mal mit der tödlichen Bedingtheit des Journalismus. In der Tat hatte sich niemand mehr für den Choco interessiert, seitdem der Präsident entschieden hatte, den Bezirk nicht aufzuteilen. Dennoch unterstützte mich José Salgar dabei, aus diesem stinkenden Fisch das bestmögliche Mahl zu bereiten.

In vier langen Folgen versuchten wir, den Leser an der Entdeckung eines anderen, unglaublichen Landes innerhalb Kolumbiens teilhaben zu lassen, eines Landes, dessen wir uns nicht bewusst gewesen waren: eine magische Heimat aus blühenden Urwäldern und ewigen Sintfluten, in der alles wie eine unwahrscheinliche Variante unseres täglichen Lebens wirkte. Das größte Hindernis für den Straßenbau im Chocó war die große Zahl ungebändigter Flüsse, zudem gab es im ganzen Gebiet nur eine Brücke. Wir stießen auf eine fünfundsiebzig Kilometer lange Landstraße, die mit einem ungeheuren Kostenaufwand durch den unberührten Urwald gebaut worden war, um Itsmina und Yuto zu verbinden; doch sie führte weder durch den einen noch durch den anderen Ort - ein Racheakt des Bauleiters wegen der Schwierigkeiten, die er mit beiden Bürgermeistern gehabt hatte.

In einem der Dörfer des Inneren bat uns der Postbeamte darum, für seinen Kollegen in Itsmina die Post der letzten sechs Monate mitzunehmen. Eine Schachtel einheimischer Zigaretten kostete in der Region, wie im übrigen Land, dreißig Centavos, wenn sich aber die wöchentliche Versorgungsmaschine verspätete, stieg der Preis der Zigaretten Tag für Tag, bis sich die Leute dazu gezwungen sahen, importierte Zigaretten zu rauchen, die am Ende billiger als die einheimischen waren. Ein Sack Reis kostete fünfzehn Pesos mehr als im Anbaugebiet, weil er achtzig Kilometer durch den Urwald transportiert werden musste, auf dem Rücken von Maultieren, die sich wie Katzen an die Berghänge krallten. Die Frauen der ärmsten Dörfer wuschen Gold und Platin in den Flüssen, während die Männer fischten, und verkauften dann am Samstag den fahrenden Händlern ein Dutzend Fische und vier Gramm Platin für nur drei Pesos.

All dies geschah in einer Gesellschaft, die für ihren Lerneifer berühmt war. Schulen waren jedoch selten und weit verstreut, so dass die Schüler für den Hin- und Rückweg jeden Tag mehrere Meilen zu Fuß und im Kanu zurücklegen mussten.

Einige Schulen waren so überfüllt, dass derselbe Raum montags, mittwochs und freitags für die Jungen benutzt wurde, und dienstags, donnerstags und samstags für die Mädchen. Durch die Kraft des Faktischen waren diese Schulen die demokratischsten im ganzen Land, weil der Sohn der Waschfrau, die kaum etwas zu essen hatte, dieselbe Schule besuchte wie der Sohn des Bürgermeisters.

Nur wenige Kolumbianer wussten damals, dass sich mitten im Herzen des Urwalds von Choco eine der modernsten Städte des Landes befand. Sie hieß Andagoya, lag dort, wo der San Juan und der Condoto zusammenflössen, hatte ein perfekt funktionierendes Telefonsystem, Anlegestege für Schiffe und Motorboote und zudem wunderbare Alleen. Die Häuser, klein und sauber inmitten großer umzäunter Flächen und mit malerischen Holztreppchen vor den Eingängen, schienen in den Rasen gepflanzt zu sein. Im Stadtzentrum gab es ein Kasino, ein Restaurant mit Cabaret und eine Bar, in der importierte Alkoholika zu einem niedrigeren Preis als sonst wo im Land konsumiert wurden. Die Bewohner der Stadt waren Menschen aus aller Welt, die ihr Heimweh vergessen hatten und dort besser als im eigenen Land unter der unumschränkten Gewalt des lokalen Geschäftsführers der Choco Pacifico lebten. Denn Andagoya war im wirklichen Leben Ausland, das sich in Privatbesitz befand; Bagger plünderten die prähistorischen Flüsse aus, und das geförderte Gold und Platin wurde in firmeneigenen Schiffen unkontrolliert über die Mündung des Rio San Juan in alle Welt abtransportiert.

Das war der Choco, für den wir den Kolumbianern die Augen öffnen wollten, ohne jeden Erfolg, denn als die Nachricht passe war, verfiel alles wieder in seinen alten Trott, und der Choco war weiterhin die bestvergessene Region des Landes. Der Grund dafür ist, so glaube ich, offensichtlich: Kolumbien war immer ein Land mit karibischer Identität, und die Nabelschnur Panama hatte es mit der Welt verbunden. Die gewaltsame Amputation verdammte uns zu dem, was wir heute sind: ein Land mit einer anderen Mentalität, die davon begünstigt wird, dass der Kanal zwischen den beiden Ozeanen nicht uns, sondern den USA gehört.

Der wöchentliche Redaktionsrhythmus wäre tödlich gewesen, wenn wir uns nicht freitagabends, wenn jeder mit seiner Arbeit fertig war, in der Bar des Hotel Continental auf der anderen Straßenseite zu einer Entspannungsübung versammelt hätten, die sich bis zum Morgengrauen hinzuziehen pflegte. Eduarde Zalamea gab diesen Nächten ihren Namen: die »Kulturellen Freitage«. Für mich war es die einzige Gelegenheit, mit ihm zu reden und über die literarischen Neuigkeiten der Welt auf dem Laufenden zu bleiben, denn er war dank seiner außerordentlichen Lesekapazität immer auf dem letzten Stand. Die Überlebenden jener Runden mit unzähligen geistigen Getränken und unvorhersehbarem Ausgang waren - neben zwei oder drei alten Freunden von Ulises - jene Redakteure, die keine Angst davor hatten, den Schwan bis zum Morgengrauen wieder zum Singen zu bringen.

Mir war schon lange aufgefallen, dass Zalamea nie irgendeine Bemerkung über meine Glossen gemacht hatte, obwohl ich mich oft von den seinen hatte inspirieren lassen. Als dann aber die Kulturellen Freitage eingeführt wurden, äußerte er dort offen seine Gedanken zu dieser Form. Er gestand, dass er mit dem Ansatz vieler meiner Glossen nicht einverstanden sei, und schlug mir andere vor, aber nicht im Ton eines Chefs, der mit seinem Schüler spricht, sondern von Schriftsteller zu Schriftsteller.

Ein weiterer häufiger Zufluchtsort, wenige Straßen von El Espectador entfernt, war die Wohnung von Luis Vicens und seiner Frau Nancy, wo wir nach den Vorstellungen des Filmklubs zu mitternächtlichen Treffen zusammenkamen. Vicens war in Paris ein Mitarbeiter von Marcel Colin Reval, dem Chefredakteur der Zeitschrift Cinématographie francaise, gewesen und hatte wegen der Kriege in Europa seine Kinoträume gegen den guten Beruf eines Buchhändlers in Kolumbien eingetauscht. Nancy war eine mit Zauberkünsten gesegnete Gastgeberin, da sie einen Esstisch für vier Personen in einen für zwölf vergrößern konnte. Die beiden hatten sich kurz nach Luis' Ankunft in Bogotá im Jahr 1937 bei einem familiären Abendessen kennen gelernt. Am Tisch war nur noch neben Nancy ein Platz frei gewesen, die entsetzt den letzten Gast eintreten sah, der weißes Haar und die sonnenverwitterte Haut eines Bergsteigers hatte. »So ein Pech!«, hatte sie sich gesagt, »jetzt landet dieser Pole neben mir, der bestimmt nicht mal Spanisch kann.« Mit der Sprache hatte sie nicht so Unrecht, da das Spanisch des Neuankömmlings ein krudes, mit französischen Brocken durchsetztes Katalanisch war, während sie, die aus Boyacä kam, geistreich war und eine lockere Zunge hatte. Doch schon nach der ersten Begrüßung verstanden sie sich so ausgezeichnet, dass sie für immer zusammenzogen.

Ihre improvisierten Abendgesellschaften fanden nach den großen Filmpremieren in einer Wohnung statt, die mit einem Sammelsurium von Kunstgegenständen voll gestopft war und in die kein einziges weiteres Bild der jungen kolumbianischen Maler gepasst hätte, von denen einige einmal weltberühmt werden sollten. Ihre Gäste wählten sie unter der Creme der Kunst-und Literaturszene aus, und ab und zu kamen auch Mitglieder der Gruppe von Barranquilla. Nachdem meine erste Filmkritik erschienen war, wurde ich aufgenommen, als sei ich dort zu Hause, und wenn ich vor Mitternacht aus der Zeitung kam, lief ich zu Fuß die drei Straßen bis zu ihnen und hielt sie davon ab, schlafen zu gehen. Die Lehrmeisterin Nancy, die nicht nur eine hervorragende Köchin, sondern auch eine eingefleischte Ehestifterin war, improvisierte harmlose Essen, um mich mit den attraktivsten und freiesten Mädchen aus der Welt der Kunst zu verkuppeln, und sie verzieh es mir nie, dass ich ihr mit meinen achtundzwanzig Jahren sagte, meine wahre Berufung bestehe nicht darin, Schriftsteller oder Journalist zu werden, sondern unbesiegbarer Junggeselle zu bleiben.

Álvaro Mutis sorgte in den wenigen Pausen, die ihm zwischen seinen Weltreisen blieben, auf luxuriöse Art für meinen endgültigen Einstieg ins kulturelle Leben. In seiner Eigenschaft als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von Esso Colom-biana lud er alles, was in Literatur und Kunst Rang und Namen hatte, oft auch angereiste Gäste, in die teuersten Restaurants zum Mittagessen ein. Dem Dichter Jorge Gaitán Durán, der von der Idee getrieben war, eine große, kostspielige Literaturzeitschrift herauszugeben, gelang es, seinen Plan zu verwirklichen, zum Teil dank der Gelder, die Álvaro Mutis zur Förderung von Kultur vergeben konnte. Álvaro Castano Castillo und seine Frau Gloria Valencia wollten schon seit Jahren einen Rundfunksender gründen, der sich ausschließlich guter Musik und Kulturthemen widmen sollte. Wir alle machten uns wegen dieses gar so unrealistischen Projekts über sie lustig, nur Álvaro Mutis nicht, der ihnen nach Kräften half. Auf diese Weise gründeten sie HJCK »Die Welt in Bogotá«, mit einem Sender von 500 Watt, was damals das Mindeste war. Es gab noch kein Fernsehen in Kolumbien, doch Gloria Valencia schuf das metaphysische Wunderwerk einer im Radio übertragenen Modenschau.

Die einzige Erholung, die ich mir in jenen hektischen Zeiten gönnte, waren die geruhsamen Sonntagnachmittage im Haus von Alvaro Mutis. Er lehrte mich, ohne Klassenvorurteile Musik zu hören. Wir lagen auf dem Teppich und hörten die großen Meister mit dem Herzen, ohne tiefgründige Spekulationen. Das war der Ursprung einer Leidenschaft, die sich in dem versteckten kleinen Saal der Biblioteca Nacional angekündigt hatte und die uns nie mehr loslassen sollte. Bis heute habe ich so viel Musik gehört, wie nur möglich war, vor allem Kammermusik der Romantik, die für mich die höchste aller Künste ist. Als ich in Mexiko 1965 und 1966 an Hundert Jahre Einsamkeit schrieb, besaß ich nur zwei Platten, die vom vielen Hören abgenutzt waren: Les Préludes von Debussy und A Hard Days Night von den Beatles. Als ich dann später in Barcelona endlich fast so viele Platten hatte, wie ich mir immer gewünscht hatte, fand ich es zu konventionell, sie alphabetisch zu ordnen, und ich entschied mich, weil das für mich am praktischsten war, für eine Klassifizierung nach Instrumenten: Cello, mein Lieblingsinstrument, von Vivaldi bis Brahms; Geige von Corelli bis Schönberg; Cembalo und Klavier von Bach bis Banök. Bis sich mir das Wunder offenbarte, dass alles, was klingt, Musik ist, auch Geschirr und Besteck beim Abwasch, sofern es nur unserer Hoffnung erfüllt und uns zeigt, wo das Leben langgeht.

Ich konnte allerdings nicht bei Musik schreiben, weil ich dann mehr darauf achtete, was ich hörte, als darauf, was ich zu Papier brachte. Noch heute gehe ich nur selten in Konzerte, weil ich das Gefühl habe, als schaffe die Nähe beim Sitzen eine gewissermaßen schamlose Intimität mit dem fremden Nachbarn. Mit der Zeit und der Möglichkeit, gute Musik daheim zu hören, habe ich gelernt, mit Hintergrundmusik zu arbeiten, die mit dem, was ich schreibe, harmoniert. Die Nocturnes von Chopin für ruhige Episoden oder Brahms Sextette für glückliche Abende. Jahrelang habe ich aber keinen Mozart mehr gehört, weil ich auf den abwegigen Gedanken gekommen war, dass es Mozart gar nicht gibt, denn ist er gut, ist er Beethoven, und ist er schlecht, ist er Haydn.

In diesen Jahren, da ich meine Erinnerungen wachrufe, habe ich den wundersamen Zustand erreicht, dass mich keine Musik mehr beim Schreiben stört, während ich mir anderer Tugenden der Musik vielleicht nicht bewusst bin, denn zu meiner großen Überraschung haben zwei katalanische Musiker, beide sehr jung und scharfsinnig, gemeint, erstaunliche Verwandtschaften zwischen meinem sechsten Roman, Der Herbst des Patriarchen, und dem Dritten Klavierkonzert von Bela Bartok entdeckt zu haben. Tatsächlich habe ich es beim Schreiben erbarmungslos gehört, weil es mich in eine besondere und etwas seltsame Stimmung versetzte, aber ich hätte nie gedacht, dass es so sehr auf mich wirken könnte, dass es dem Text anzumerken wäre. Ich weiß nicht, woher die Mitglieder der Schwedischen Akademie von meiner Schwäche erfahren haben, jedenfalls wurde dieses Konzert bei der Preisverleihung gespielt. Ich war natürlich von Herzen dafür dankbar, hätte man mich aber gefragt, so hätte ich - bei allem Respekt für die Akademie und für Bela Bartök - eine der einfachen Romanzen gewählt, die Francisco el Hombre auf den Festen meiner Kindheit sang.

In Kolumbien hat es in jenen Jahren kein kulturelles Projekt gegeben, kein Buch, das geschrieben, kein Bild, das gemalt werden sollte, das nicht zunächst das Büro von Alvaro Mutis passiert hätte. Ich war Zeuge seines Gesprächs mit einem jungen Maler, der alles für die obligate Bildungsreise nach Europa vorbereitet hatte, nur das Geld für die Überfahrt fehlte ihm noch. Alvaro hatte sich die Geschichte noch nicht einmal ganz angehört, als er seine Zaubermappe aus dem Schreibtisch hervorholte.

»Hier ist die Fahrkarte«, sagte er.

Ich erlebte überwältigt, mit welcher Natürlichkeit er solche Wunder vollbrachte, ohne auch nur im Geringsten seine Macht herauszukehren. Deshalb frage ich mich immer noch, ob er nicht auch etwas mit dem Vorschlag zu tun hatte, den mir Oscar Delgado, der Sekretär des Kolumbianischen Schriftsteller- und Künstlerverbands, bei einem Cocktailempfang machte: Ich solle mich an dem nationalen Erzählwettbewerb beteiligen, der mangels Bewerbungen Gefahr liefe, ausgesetzt zu werden. Er sagte es auf so merkwürdige Weise, dass mir das Angebot unziemlich erschien, doch jemand, der zugehört hatte, erklärte, dass man in einem Land wie dem unseren nicht Schriftsteller sein könne, ohne zu wissen, dass die literarischen Wettbewerbe reine gesellschaftliche Schattenspiele seien. »Das gilt sogar für den Nobelpreis«, schloss er keineswegs boshaft, und damit war ich, ohne dass er sich etwas dabei gedacht hätte, vorgewarnt für eine andere unerhörte Entscheidung, die mich siebenundzwanzig Jahre später ereilte.

Die Jury des Erzählwettbewerbes bestand aus Hernando Téllez, Juan Lozano y Lozano, Pedro Gómez Valderrama und noch drei anderen Schriftstellern und Kritikern aus der Oberliga. Ich stellte also keine weiteren ethischen oder ökonomischen Erwägungen an, sondern verbrachte eine ganze Nacht mit der endgültigen Korrektur von Ein Tag nach dem Samstag, der Erzählung, die ich in Barranquilla in einem Anflug von Inspiration an meinem Schreibtisch bei El National geschrieben hatte. Nachdem sie ein Jahr lang in der Schublade geruht hatte, schien sie mir geeignet, eine gute Jury zu blenden. So war es auch, und hinzu kam das außerordentliche Preisgeld von dreitausend Pesos.

Ohne jeden Zusammenhang mit dem Wettbewerb tauchte in jenen Tagen der Kulturattache der israelischen Botschaft, Samuel Lisman Baum, bei mir im Büro auf. Er hatte soeben mit Fárrago. Quinta Mamotreto, einem Gedichtband von León de Greiff, einen Verlag eröffnet. Die Ausgabe war vorzeigbar, und man hone nur Gutes über Lisman Baum. Also gab ich ihm in aller Eile eine stark korrigierte Ausgabe von Laubsturm, und wir machten aus, dass wir über alles andere später sprechen würden. Insbesondere übers Geld - das Einzige, worüber wir am Ende nie gesprochen haben. Cecilia Porras malte, ausgehend von meiner Beschreibung der Figur des Jungen, einen originellen Umschlag - für den sie auch nie bezahlt wurde. Die Druckerei von El Espectador stiftete das Klischee für die Farbillustration.

Ich hörte erst fünf Monate später wieder von dem Buch, als nämlich der Verlag Sipa aus Bogotá, der mir völlig unbekannt war, mich in der Redaktion anrief, um mir mitzuteilen, dass die Auflage von viertausend Exemplaren fertig zur Auslieferung sei, sie aber nicht wüssten, was sie damit anfangen sollten, da man Lisman Baum nicht auftreiben könne. Nicht einmal die Reporter der Zeitung fanden seine Spur, und bis zum heutigen Tage blieb er unauffindbar. Ulises schlug dem Verlag vor, die Bücher an die Buchhändler zu verkaufen und sich dabei auf die Pressekampagne zu berufen, die er selbst mit einem Beitrag initiierte, für den ich ihm immer noch nicht genug danken kann. Die Kritiken waren hervorragend, doch der größte Teil der Auflage verstaubte im Lager, und es konnte nie festgestellt werden, wie viele Exemplare verkauft worden waren, und ich habe auch nie einen Centavo für meine Autorenrechte bekommen.

Vier Jahre später nahm Eduarde Caballero Calderon, der die Biblioteca Básica de Cultura Colombiana leitete, eine Taschenbuchausgabe von Laubsturm in eine Reihe auf, die in Bogotá und anderen Städten an Kiosken verkauft wurde. Er zahlte pünktlich die vereinbarten Rechte, die zwar nur gering waren, für mich aber den sentimentalen Wert hatten, dass es das erste Geld war, das ich mit einem Buch verdiente. Die Ausgabe wies einige Änderungen auf, die eindeutig nicht von mir waren, aber ich sorgte auch nicht dafür, dass sie in folgenden Auflagen ausgemerzt wurden. Als ich fast dreizehn Jahre später nach dem Erscheinen von Hundert Jahre Einsamkeit in Buenos Aires in Kolumbien Station machte, entdeckte ich an den Kiosken zahlreiche Exemplare der ersten Auflage von Laubsturm zu einem Peso das Stück. Ich kaufte so viele Exemplare, wie ich tragen konnte. Seitdem habe ich in Buchhandlungen in Lateinamerika immer mal wieder vereinzelte Restexemplare gefunden, die man als historische Ausgaben zu verkaufen versuchte. Vor etwa zwei Jahren hat ein englisches Antiquariat eine signierte Erstausgabe von Hundert Jahre Einsamkeit für dreitausend Dollar verkauft.

Keines jener Ereignisse befreite mich damals auch nur einen Augenblick aus meiner journalistischen Mühle. Der Anfangserfolg der Fortsetzungsreportagen zwang uns, nach weiterem Futter für eine unersättliche Bestie zu suchen. Der tägliche Druck war kaum auszuhalten, nicht nur bei der Ausschau nach Themen, mit denen sich die Leser identifizieren konnten, sondern auch beim Schreiben, das stets von den Verlockungen der Fiktion bedroht war. In El Espectador gab es aber keinen Zweifel: Der unveränderliche Rohstoff des Handwerks hatte die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sein, und das hielt uns in einer kaum erträglichen Anspannung. José Salgar und ich wurden geradezu süchtig davon, so dass wir keinen Augenblick des Friedens hatten, nicht einmal am sonntäglichen Ruhetag.

Eine Meldung des Jahres 1956 war, dass der Papst an einem lebensbedrohenden Anfall von Schluckauf litt. Der einzige ähnliche Fall, an den ich mich erinnere, kommt in der meisterhaften Erzählung P & O von Somerset Maugham vor, deren Held mitten auf dem Indischen Ozean an einem fünftägigen ihn erschöpfenden Anfall von Schluckauf stirbt, während aus aller Welt die absonderlichsten Rezepte eintreffen, eine Geschichte, die mir damals aber wohl kaum bekannt war. An den Wochenenden wagten wir nicht, uns bei unseren Ausflügen durch die Dörfer der Savanne allzu weit von der Stadt zu entfernen, da die Zeitung für den Fall, dass der Papst starb, eine Extraausgabe geplant hatte. Wie andere war auch ich dafür, die Ausgabe so weit vorzubereiten, dass nur noch der nötige Platz für die ersten telegrafischen Meldungen über den Tod frei blieb. Zwei Jahre später, als ich Korrespondent in Rom war, wartete man immer noch auf ein Ende des päpstlichen Schluckaufs.

Ein anderes mich bedrückendes Problem war, dass in der Zeitung die Tendenz herrschte, uns nur auf spektakuläre Themen anzusetzen, um immer mehr Leser zu binden, während ich eher das bescheidene Bedürfnis hatte, ein anderes, gern vernachlässigtes Publikum nicht aus den Augen zu verlieren, das stärker mit dem Herzen dachte. Unter den wenigen passenden Reportagethemen, die ich fand, erinnere ich mich an eine ganz schlichte Idee, die mir durch ein Trambahnfenster zuflog. An dem Tor eines wunderbaren Hauses aus der Kolonialzeit, Nummer 567 auf der Carrera Octava in Bogotá, prangte ein Schild, das sich selbst gering schätzte: »Büro für Fehlsendungen der Staatspost«. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich etwas Fehlgeleitetes nicht erreicht hätte, aber ich stieg aus der Trambahn und klingelte. Der Mann, der mir öffnete, leitete ein Büro mit sechs methodisch arbeitenden Angestellten, die, vom Rost der Routine befallen, die romantische Mission hatten, den Empfänger jedweden fehlgeleiteten Briefs herauszufinden.

Es war ein schönes Haus, riesig und verstaubt, mit hohen Decken und zerbröckelnden Wänden, dunklen Korridoren und Galerien, die mit herrenlosen Papieren angefüllt waren. Von durchschnittlich hundert fehlgeleiteten Briefen, die täglich eintrafen, waren mindestens zehn richtig frankiert, doch stand auf den Umschlägen weder Adressat noch Absender. Unter den Angestellten waren sie als die »Briefe für den unsichtbaren Mann« bekannt, dennoch wurde keine Mühe gescheut, um sie zustellen oder zurücksenden zu können. Die Zeremonie, sie zu öffnen, um nach hilfreichen Hinweisen zu suchen, war von einer zwar verdienstvollen, aber eher nutzlosen bürokratischen Strenge.

Die nur einteilige Reportage wurde unter dem Titel »Der Postbote klingelt tausendmal« und dem Untertitel »Der Friedhof der verlorenen Briefe« veröffentlicht. Nachdem Salgar sie gelesen hatte, sagte er zu mir: »Diesem Singschwan muss man den Hals nicht umdrehen, weil der Vogel schon tot zur Welt gekommen ist.« Er räumte dem Text den nötigen Platz ein, nicht zu wenig und nicht zu viel, aber man merkte seiner Miene an, dass ihm, wie auch mir, weh tat, dass da nicht etwas anderes stand. Rogelio Echavarría lobte den Artikel, vielleicht weil er Dichter war, aber mit einem wohlwollenden Satz, den ich nie vergaß: »Gabo kann sich eben auch an einem Strohhalm festhalten.«

Ich war davon so demoralisiert, dass ich auf eigene Faust und ohne Salgar davon zu erzählen beschloss, die Adressatin eines Briefes zu finden, der meine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte. Er war in der Leprastation Agua de Dios aufgegeben worden und an »die Frau in Trauerkleidung, die jeden Tag zur Fünf-UhrMesse in die Kirche Las Aguas kommt«, adressiert. Nachdem ich vergeblich beim Gemeindepfarrer und seinen Helfern nachgefragt hatte, sprach ich noch einige Wochen lang die Gläubigen nach der Frühmesse an. Es fiel mir auf, dass drei sehr alte Frauen in strenger Trauer die eifrigsten Besucherinnen waren, keine von ihnen hatte aber etwas mit der Leprastation zu tun. Es war ein Reinfall, von dem ich mich lange nicht erholte, nicht nur wegen meines Stolzes oder weil ich ein wohltätiges Werk tun wollte, sondern weil ich davon überzeugt war, dass hinter der Geschichte der Frau in Trauerkleidung eine ganz andere aufregende Geschichte steckte.

Während ich in den Sümpfen der Reportage versank, wurde mein Kontakt zu der Gruppe von Barranquilla wieder intensiver. Die Freunde reisten zwar nur selten nach Bogotá, aber ich überfiel sie per Telefon, zu jeder Zeit und bei jeder Verlegenheit, besonders Germán Vargas, der ein pädagogisches Verständnis für die Reportage hatte. Ich fragte die Freunde, wenn sich irgendeine Schwierigkeit auftat, und das kam häufig vor, oder sie riefen mich an, wenn es einen Grund gab, mir zu gratulieren. Álvaro Cepeda war für mich stets so etwas wie ein Mitschüler und Banknachbar. Nach einem freundschaftlich spöttelnden Schlagabtausch, der bei der Gruppe obligatorisch war, zog er mich mit einer Mühelosigkeit aus dem Sumpf, über die ich immer wieder nur staunen konnte.

Mit Alfonso Fuenmayor beriet ich mich hingegen eher auf literarischer Ebene. Er beherrschte die wirksame Zauberkunst, mich mit Beispielen großer Autoren aus der Not zu erlösen, oder diktierte mir das rettende Zitat, das er aus seinem endlosen Arsenal hervorholte. Seinen besten Scherz machte er, als ich ihn nach einer Überschrift für einen Artikel über Imbissverkäufer fragte, denen von der Hygieneaufsicht zugesetzt wurde. Alfonsos Antwort kam wie aus der Pistole geschossen:

»Wer Essen verkauft, verhungert nicht.«

Ich dankte ihm von Herzen, und der Ausspruch erschien mir so gelungen, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, nach dem Urheber zu fragen. Alfonso stopfte mir den Mund mit einer Tatsache, an die ich mich nicht erinnern konnte:

»Das stammt von Ihnen, Meister.«

In der Tat war mir die Sentenz einmal für irgendeinen un-signierten Beitrag eingefallen, ich hatte sie aber vergessen. Die Geschichte wurde noch jahrelang von den Freunden in Barranquilla erzählt, die ich nicht davon überzeugen konnte, dass ich mir damals keinen Scherz erlaubt hatte.

Eine von Álvaro Cepedas gelegentlichen Reisen nach Bogotá lenkte mich ein paar Tage lang von der Galeerenarbeit der täglichen Nachrichten ab. Er kam mit dem Plan, einen Film zu machen, von dem er bisher nur den Titel hatte: La langosta azul. Das war ein folgenreicher Fehler, da Luis Vicens, Enrique Grau und der Fotograf Nereo López die Sache ernst nahmen. Ich hörte nichts mehr von dem Projekt, bis Vicens mir eines Tages einen Drehbuchentwurf zuschickte, damit ich auf der Grundlage von Álvaros Original etwas Eigenes hinzumengte. Irgendetwas, an das ich mich heute nicht mehr erinnern kann, habe ich auch beigesteuert, jedenfalls fand ich die Geschichte amüsant und mit genau der Prise Verrücktheit gewürzt, dass sie nach uns schmeckte.

Alle haben ein wenig dazu beigetragen, doch der eigentliche Vater des Projekts war Luis Vicens, der viele der Dinge einbrachte, die er bei seinen filmischen Gehversuchen in Paris gelernt hatte. Mein Problem war, dass ich mich damals mitten in der Arbeit an einer jener umfassenden Reportagen befand, die mir keine Zeit zum Atmen ließen, und als ich mich schließlich davon befreit hatte, war man in Barranquilla schon bei den Dreharbeiten.

Es ist ein einfacher Film, der sich aber durch die intuitive Beherrschung des Materials auszeichnet, wofür vielleicht Álvaro Cepedas Schutzengel gesorgt hat. Auf einer der vielen häuslichen Premieren in Barranquilla war auch der italienische Regisseur Enrico Fulchignoni anwesend, der uns mit dem Ausmaß seines Erbarmens überraschte: Er fand den Film sehr gut. Dank der Zähigkeit und der ungenierten Kühnheit von Tita Manotas, Álvaros Frau, hat das, was von La langosta azul noch übrig ist, kraft waghalsiger Festivals die ganze Welt bereist.

Solche Dinge lenkten uns streckenweise von der politischen Wirklichkeit im Lande ab, die schrecklich war. Kolumbien hielt sich für guerrillafrei, seitdem die Streitkräfte mit der Friedensfahne und der einträchtigen Unterstützung der Parteien die Macht übernommen hatten. Niemand zweifelte daran, dass sich etwas geändert hatte, bis es dann zum Massaker an den Studenten auf der Carrera Séptima kam. Die Militärs waren bestrebt, uns Journalisten zu beweisen, dass es sich hier keineswegs um den ewigen Krieg zwischen Liberalen und Konservativen handelte. Das war die Situation, als José Salgar wieder einmal mit einer seiner Schrecken erregenden Ideen vor meinem Schreibtisch stand.

»Bereiten Sie sich darauf vor, den Krieg kennen zu lernen.«

Die dazu Eingeladenen traten, ohne weitere Einzelheiten erfahren zu haben, pünktlich um fünf Uhr morgens an, um nach Villarrica zu fahren, einer 183 Kilometer von Bogotá entfernten Ortschaft. Auf halbem Wege, in der Militärbasis von Melgar, in die er sich häufig zurückzog, wartete General Rojas Pinilla auf unseren Besuch. Er hatte zum Abschluss eine Presserunde versprochen, die vor fünf Uhr nachmittags zu Ende gehen sollte, damit man reichlich Zeit hätte, mit Fotos und Nachrichten aus erster Hand in die Redaktion zurückzukehren.

Für El Tiempo waren Ramiro Andrade und der Fotograf Germán Caycedo gekommen, dann waren da noch vier weitere Journalisten, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, und Daniel Rodríguez und ich für El Espectador. Einige trugen strapazierfähige Kleidung, weil man uns darauf hingewiesen hatte, dass wir vielleicht auch ein paar Schritte in den Urwald machen müssten.

Bis Melgar fuhren wir im Auto und verteilten uns dann auf drei Hubschrauber, die uns in der Zentralkordillere durch einen engen Canyon mit hohen schroffen Felswänden flogen. Besonders beklemmend fand ich die Anspannung der jungen Piloten, die bestimmte Zonen, in denen die Guerrilla am Tag zuvor einen Hubschrauber abgeschossen und einen weiteren beschädigt hatte, zu vermeiden suchten. Nach etwa fünfzehn intensiven Minuten landeten wir in Villarrica auf der riesigen trostlosen Plaza, deren steiniger Belag nicht stabil genug zu sein schien, um das Gewicht des Hubschraubers zu tragen. Um die Plaza standen Holzbauten, zerstörte Geschäfte und verlassene Wohnhäuser, nur eines war frisch gestrichen - es war das Hotel des Ortes gewesen, bevor der Terror Einzug gehalten hatte.

Vor uns sah man die Ausläufer der Kordillere und in der Ferne das Zinkdach eines einzelnen Hauses, das im Dunst der Bergkuppe kaum zu erkennen war. Der Offizier, der uns begleitete, wies darauf hin, dass dort die Guerrilleros säßen und Waffen hätten, deren Reichweite uns gefährlich werden könnte. Wir mussten folglich im Zickzack und mit vorgebeugtem Oberkörper zum Hotel rennen, eine Mindestvorsichtsmaßnahme gegen mögliche Schüsse aus Richtung Kordillere. Erst als wir das Hotel erreicht hatten, merkte ich, dass man es in eine Kaserne verwandelt hatte.

Ein Oberst in Kampfausrüstung, gut aussehend wie ein Filmschauspieler, intelligent und sympathisch, erklärte uns gelassen, dass die Vorhut der Guerrilleros seit mehreren Wochen in jenem Haus in der Kordillere kampiere und von dort aus mehrere nächtliche Überfälle auf den Ort versucht habe. Das Heer rechnete damit, dass sie irgendetwas unternehmen würden, wenn sie die Hubschrauber auf der Plaza entdeckten, und die Truppe war darauf vorbereitet. Doch nachdem man eine Stunde lang versucht hatte, sie zu provozieren und sogar per Lautsprecher herauszufordern, gaben die Guerrilleros immer noch kein Lebenszeichen von sich.

Entmutigt schickte der Oberst eine Patrouille aus, die herausfinden sollte, ob überhaupt noch jemand in dem Haus war.

Die Anspannung ließ nach. Wir Journalisten verließen das Hotel und erkundeten die umliegenden Straßen, sogar die weniger geschützten an der Plaza. Der Fotograf und ich begannen mit anderen auf einem gewundenen Maultierpfad den Aufstieg zur Kordillere. Hinter der ersten Kurve lagen, das Gewehr im Anschlag, Soldaten zwischen den Büschen. Ein Offizier gab uns den Rat, zur Plaza zurückzukehren, da jederzeit etwas passieren könne, aber wir hörten nicht auf ihn. Wir wollten so weit aufsteigen, dass wir auf eine Vorhut der Guerrilla trafen, um den Tag mit einer großen Nachricht zu retten.

Es kam nicht dazu. Plötzlich hörten wir mehrere gleichzeitige Befehle und unmittelbar darauf eine Salve des Militärs. Wir warfen uns in der Nähe der Soldaten zu Boden, und diese eröffneten das Feuer auf das Haus am Berg. In der Verwirrung des Augenblicks verlor ich Rodríguez aus den Augen, der auf der Suche nach einer strategischen Position für sein Objektiv verschwunden war. Der Schusswechsel war sehr heftig, dauerte aber nicht lang, und zurück blieb eine tödliche Stille.

Als wir die Plaza wieder erreicht hatten, sahen wir eine Militärpatrouille mit einer Bahre aus dem Wald kommen. Der Führer der Patrouille war sehr nervös und verbot das Fotografieren. Ich suchte Rodríguez und sah ihn fünf Meter rechts von mir mit schussbereiter Kamera auftauchen. Die Patrouille hatte ihn nicht gesehen. Ich durchlebte einen Augenblick größter innerer Anspannung, da ich hin- und hergerissen war zwischen dem Impuls, Rodríguez zuzurufen, er solle nicht fotografieren - ich hatte Angst, man könnte wegen Ungehorsams auf ihn schießen -, und dem professionellen Instinkt, das Foto um jeden Preis zu bekommen. Es blieb mir keine Zeit zur Entscheidung, denn im gleichen Moment hörte ich den donnernden Schrei des Patrouillenführers:

»Kein Foto!«

Rodríguez nahm die Kamera ohne Hast herunter und stellte sich neben mich. Der Trupp zog so nah an uns vorüber, dass wir die säuerliche Ausdünstung der lebendigen Leiber und die Stille des Leichnams spürten. Als sie vorbei waren, flüsterte Rodríguez mir ins Ohr:

»Ich habe das Foto.«

So war es, aber es wurde nie veröffentlicht. Die Einladung hatte mit einer Katastrophe geendet. Es gab noch zwei weitere verletzte Soldaten und mindestens zwei tote Guerrilleros, die schon zu dem einsamen Haus abgeschleppt worden waren. Die Stimmung des Obersts hatte sich verdüstert. Er gab uns nur noch die schlichte Information, dass der Besuch abgesagt sei, wir noch eine halbe Stunde zum Mittagessen hätten und danach gleich auf der Landstraße nach Melgar zurückführen, weil die Hubschrauber für die Verletzten und die Toten gebraucht würden. Wie viele es jeweils waren, wurde uns nie gesagt.

Keiner erwähnte mehr die Pressekonferenz von General Rojas Pinilla. In einem Jeep für sechs Personen fuhren wir an seinem Haus in Melgar vorbei und kamen nach Mitternacht in Bogotá an. Im Redaktionssaal warteten noch alle auf uns, da das Informations- und Pressebüro der Regierung angerufen und ohne nähere Erklärungen Bescheid gegeben hatte, dass wir auf dem Landweg zurückkämen, nicht aber, ob tot oder lebendig.

Bisher hatte die Militärzensur nur ein einziges Mal interveniert -nach dem Tod der Studenten im Zentrum von Bogotá. Es gab in der Redaktion keinen festen Zensor, nachdem der letzte, noch von der vorherigen Regierung eingesetzt, beinahe unter Tränen aufgegeben hatte, weil er nicht mehr den Hohn der Redakteure ertrug, die ihm falsche Schlagzeilen vorlegten und ihn, wo es ging, an der Nase herumführten. Wir wussten, dass das Informationsund Pressebüro uns nicht aus den Augen ließ, und sie warnten uns auch häufig per Telefon oder gaben väterliche Ratschläge. Das Militär, das sich am Anfang seiner Regierungszeit der Presse gegenüber einer forcierten Freundlichkeit befleißigt hatte, wurde unsichtbar oder unzugänglich. Eine der Vermutungen, die nach jenem Vorfall angestellt worden waren, verdichtete sich im Stillen jedoch allmählich zur weder verifizierten noch dementierten Gewissheit, dass nämlich der Führer jener Keimzelle der Guerrilla in Tolima ein zweiundzwanzigjähriger junger Mann gewesen war, der in diesem Metier Karriere machen sollte und dessen Name ebenfalls nie bestätigt oder dementiert worden ist: Manuel Marulanda Vélez oder Pedro Antonio Marin, genannt Tirofijo. Über vierzig Jahre später erklärte Marulanda, der in seinem Kriegsquartier dazu befragt wurde, dass er sich nicht mehr daran erinnern könne, ob er es wirklich gewesen sei.

Damals war es nicht möglich, auch nur eine weitere Information zu bekommen. Seit meiner Rückkehr aus Villarrica brannte ich darauf, noch mehr herauszufinden, doch da war keine Tür, an die ich klopfen konnte. Zum Informations- und Pressebüro der Regierung hatten wir keinen Zugang, und über der unglückseligen Episode von Villarrica lag der Mantel militärischer Geheimhaltung. Ich hatte die Hoffnung schon begraben, als sich José Salgar vor meinem Schreibtisch aufpflanzte, sich kaltblütig gab, wie er nie wirklich gewesen ist, und mir ein gerade erst eingegangenes Telegramm zeigte.

»Hier haben wir das, was Sie in Villarrica nicht gesehen haben«, sagte er.

Es ging um das Drama einer Vielzahl von Kindern, die von den Streitkräften ohne durchdachten Plan und ohne die dazu nötigen Vorkehrungen aus ihren Dörfern und Weilern geholt worden waren, damit man beim Ausrottungskrieg gegen die Guerrilla von Tolima ungehindert vorgehen konnte. Man hatte die Kinder so hastig von ihren Eltern getrennt, dass nun niemand wusste, wer zu wem gehörte, und viele von den Kleinen konnten es selbst nicht sagen. Begonnen hatte das Drama mit einer Flut von eintausendzweihundert Erwachsenen, die man - nach unserem Besuch in Melgar - in verschiedene Dörfer des Tolimagebiets geleitet, notdürftig untergebracht und dann ihrem Schicksal überlassen hatte. Die etwa dreitausend Kinder unterschiedlicher Herkunft und Alters, die man aus schlichten logistischen Erwägungen von den Eltern getrennt hatte, waren auf verschiedene Waisenheime des Landes verteilt worden. Nur dreißig waren Vollwaisen, darunter ein gerade erst dreizehn Tage altes Zwillingspärchen. Die Aktion war absolut geheim und unter dem Schutz der Pressezensur durchgeführt worden, bis der Korrespondent von El Espectador in Ambalema, zweihundert Kilometer von Villarrica entfernt, uns telegrafisch erste Hinweise gab.

Nach knapp sechs Stunden hatten wir im Amparo de Niños, dem Waisenhaus von Bogotá, dreihundert Kinder unter fünf Jahren gefunden. Von vielen war die Herkunft nicht bekannt. Die zweijährige Helí Rodríguez konnte uns gerade einmal ihren Namen sagen. Sonst wusste sie nichts, weder, wo sie sich befand, noch warum, und sie kannte weder den Namen ihrer Eltern, noch konnte sie einen Hinweis geben, wie man diese finden konnte. Ihr einziger Trost war, dass sie im Heim bleiben durfte, bis sie vierzehn war. Die Mittel des Waisenhauses beschränkten sich auf die achtzig Centavos monatlich, die von den Bezirksbehörden für jedes Kind bereitgestellt wurden. Zehn Kinder waren schon in der ersten Woche mit der Absicht geflohen, sich als blinde Passagiere in Züge nach Tolima zu schmuggeln, und wir konnten keine Spur mehr von ihnen finden.

Bei vielen der Kleinen wurde im Waisenhaus so etwas wie eine administrative Taufe vollzogen, bei der sie Namen aus der Region bekamen, damit man sie auseinander halten konnte, aber es waren so viele Kinder, und sie sahen einander so ähnlich, dass man sie in den Pausen nicht unterscheiden konnte, auch weil sie so ruhelos waren, besonders in den kalten Monaten, wenn sie über die Gänge und Treppen rannten, um sich aufzuwärmen. Bei diesem erschütternden Besuch drängte sich mir zwangsläufig die Frage auf, ob die Guerrilla, die den Soldaten im Gefecht getötet hatte, unter den Kindern von Villarrica vergleichbare Verheerungen hätte anrichten können.

Die Geschichte jenes logistischen Irrsinns wurde in mehreren Folgen abgedruckt, ohne dass wir dafür Erlaubnis eingeholt hätten. Die Zensur schwieg, und das Militär reagierte mit der Erklärung, die gerade in Mode war: Die Vorfälle in Villarrica seien Teil einer breiten Offensive der Kommunisten gegen die Regierung der Streitkräfte, weshalb man gezwungen sei, wie im Krieg vorzugehen. Schon nachdem ich eine Zeile von diesem Kommunique gelesen hatte, kam mir der Gedanke, mich direkt bei Gilberto Vieira, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, zu informieren, den ich allerdings noch nie gesehen hatte.

Ich weiß nicht mehr, ob ich den nächsten Schritt mit Autorisierung der Zeitung tat oder auf eigene Faust unternahm, jedenfalls kann ich mich noch gut daran erinnern, dass ich mehrere vergebliche Versuche machte, Kontakt zu irgendeinem der Führer der illegalen Kommunistischen Partei zu bekommen, der mich über die Lage in Villarrica hätte informieren können. Das Hauptproblem war, dass die Kommunisten im Untergrund wie nie zuvor von den Militärs gejagt wurden. Ich kontaktierte dann einen kommunistischen Freund, und zwei Tage später stand vor meinem Schreibtisch ein anderer Uhrenverkäufer; der Mann hatte mich schon gesucht, um die Raten zu kassieren, die ich nicht mehr in Barranquilla hatte zahlen können. Ich zahlte, so viel ich konnte, und sagte ihm nebenbei, ich müsse dringend mit einem seiner großen Führer sprechen, doch er erwiderte mit der üblichen Formel, er sei kein Verbindungsmann und er wisse auch nicht, an wen ich mich wenden könnte. Am selben Nachmittag noch überraschte mich jedoch am Telefon eine wohlklingende, unbekümmerte Stimme:

»Hallo, Gabriel, hier ist Gilberto Vieira.«

Obwohl er das bekannteste Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei war, hatte Vieira bis dahin noch keine Minute im Exil oder im Gefängnis verbracht. Trotz des Risikos, dass beide Telefone abgehört wurden, gab er mir die Adresse seines geheimen Domizils, damit ich ihn noch am Abend besuchen käme.

Es war eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern und einem kleinen Salon, der mit belletristischen und politischen Büchern voll gestopft war. Sie lag im sechsten Stock, zu dem man über steile und finstere Treppen gelangte, völlig außer Atem, nicht nur wegen der Höhe, sondern auch wegen des Bewusstseins, in eins der bestgehüteten Geheimnisse des Landes einzudringen. Vieira wohnte dort mit seiner Frau Cecilia und einer neugeborenen Tochter. Da seine Frau nicht zu Hause war, hatte er die Wiege in greifbarer Nähe und schaukelte sie leicht, wenn die Kleine mit ihrem Schreien zu lange das Gespräch unterbrach, bei dem es sowohl um Politik wie um Literatur ging und das nicht sehr humorvoll verlief. Es war kaum vorstellbar, dass dieser rosige Glatzkopf in den Vierzigern mit klaren und durchdringenden Augen und präziser Ausdrucksweise der Mann war, der von den Geheimdiensten des Landes am dringlichsten gesucht wurde.

Ich merkte gleich zu Anfang, dass er, seit ich bei El Nacional in Barranquilla die Uhr gekauft hatte, über mein Leben Bescheid wusste. Er las meine Reportagen in El Espectador, identifizierte auch die unsignierten Beiträge und las zwischen den Zeilen, um den verborgenen Absichten auf die Spur zu kommen. Auch er war jedoch der Meinung, dass ich dem Land den besten Dienst erwies, wenn ich auf meiner Linie weiterarbeitete, ohne mich von irgend jemandem in die politische Pflicht nehmen zu lassen.

Sobald ich dazu gekommen war, ihm von dem Grund meines Besuchs zu erzählen, ging er gründlich auf das Thema ein. Er kannte sich mit der Situation in Villarrica so gut aus, als sei er selbst dort gewesen, doch wegen der Zensur konnten wir kein Wort davon veröffentlichen. Ich erhielt von ihm aber wichtige Angaben, die mir die Einsicht ermöglichten, dass es sich, nach einem halben Jahrhundert gelegentlicher Scharmützel, hier um das Vorspiel eines chronischen Krieges handelte. Seine Sprache erinnerte mich an jenem Tag und jenem Ort mehr an die von Jorge Eliécer Gaitán als an die seines Patrons Marx, und das anvisierte Ziel schien weniger die Machtübernahme durch das Proletariat zu sein als eine Art Bündnis der Ohnmächtigen gegen die herrschende Klasse. Der Besuch bei Vieira brachte mir nicht nur einen genaueren Einblick in das Geschehen, sondern gab mir auch eine Methode an die Hand, es besser zu verstehen. So erklärte ich es Guillermo Cano und Zalamea und ließ mir eine Tür offen, die unvollendete Reportage fertig zu schreiben, wenn sich ein Ende abzeichnete. Überflüssig zu sagen, dass es zwischen Vieira und mir zu einer guten freundschaftlichen Beziehung kam, die auch in seiner härtesten Zeit im Untergrund Kontakte möglich machte.

Ein anderes ernsthaftes Drama bahnte sich im Verborgenen an, bis es im Februar 1954 durch schlechte Nachrichten an die Öffentlichkeit drang. In der Presse erschien die Meldung, dass ein Veteran des Koreakrieges seine Orden versetzt hatte, um sich etwas zum Essen zu beschaffen. Der Mann war nur einer von viertausend, die eher zufällig in einem jener unfassbaren Momente unserer Geschichte rekrutiert worden waren, als für die Kleinbauern, die von der offiziellen violencia mit Waffengewalt von ihrem Land vertrieben worden waren, jedwede Aufgabe besser schien als gar keine. Die mit Vertriebenen überfüllten Städte boten keinerlei Hoffnung. Kolumbien war, wie man täglich in den Zeitungskommentaren las sowie auf der Straße, in den Cafés und bei den Gesprächen im Familienkreis hörte, eine Republik, in der es sich nicht leben ließ. Für viele Vertriebene vom Lande und zahlreiche junge Männer ohne Perspektive war der Koreakrieg eine Lösung ihres persönlichen Problems. So zogen alle möglichen Männer dorthin, bunt zusammengewürfelt, nach undurchschaubaren Kriterien ausgewählt und gerade einmal auf ihre physische Tauglichkeit geprüft, fast wie die Spanier, als sie zur Entdeckung Amerikas aufbrachen. Erst als diese heterogene Gruppe nach und nach heimkehrte, hatten die Männer endlich ein gemeinsames Merkmal: Sie waren Kriegsveteranen. Es genügte, dass einige davon Schlägereien anzettelten, um alle dafür verantwortlich zu machen. Man verschloss ihnen die Türen mit dem einfachen Argument, dass sie kein Anrecht auf eine Anstellung hätten, weil sie psychisch gestört seien. Die Unzähligen aber, die in vierhundert Kilo Asche verwandelt zurückkehrten, wurden nicht genügend beweint.

Die Meldung über den Mann, der seine Orden verpfändet hatte, stand in brutalem Kontrast zu einer anderen, zehn Monate zuvor veröffentlichten, als die letzten Veteranen mit fast einer Million Dollar in bar heimgekehrt waren und der Dollarkurs in Kolumbien von 3,30 auf 2,90 sank, nachdem sie das Geld bei den Banken eingetauscht hatten. Das Ansehen der Veteranen verschlechterte sich in dem Maße, wie sie mit der Realität des Landes konfrontiert wurden. Vor ihrer Rückkehr waren verstreute Meldungen erschienen, dass sie besondere Stipendien für eine produktive Ausbildung bekämen, dass sie lebenslängliche Pensionen bezögen und dass ihnen Erleichterungen eingeräumt würden, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus: Kurz nach ihrer Rückkehr wurden sie vom Heer entlassen, und viele hatten dann nichts anderes in der Tasche als die Fotos ihrer japanischen Freundinnen, die in den Lagern in Japan auf sie warteten, wohin man die Soldaten auf Fronturlaub zu bringen pflegte.

Dieses nationale Drama erinnerte mich zwangsläufig an das von Oberst Márquez, an das ewige Warten meines Großvaters auf die Veteranenpension. Ich kam am Ende zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine schäbige Repressalie gehandelt hatte, mit der ein subversiver Oberst für seinen erbitterten Widerstand gegen die konservative Hegemonie bestraft wurde. Die Überlebenden aus Korea hatten jedoch gegen den Kommunismus und für die imperialen Bestrebungen der Vereinigten Staaten gekämpft. Nachdem sie heimgekehrt waren, erschienen sie aber nicht auf den Gesellschaftsseiten, sondern in der Kriminalchronik. Einer von ihnen, der zwei Unschuldige erschossen hatte, fragte seine Richter: »Wenn ich in Korea hundert getötet habe, warum kann ich dann in Bogotá nicht zehn erschießen?«

Wie andere Krimmeile war auch dieser Mann erst am Kriegsschauplatz angekommen, als der Waffenstillstand bereits unterschrieben war. Männer wie er wurden allerdings auch Opfer des kolumbianischen Machismo, der sich nun darin äußerte, quasi als Trophäe einen Koreaveteranen zu erlegen. Noch keine drei Jahre nach der Rückkehr des ersten Kontingents waren bereits weit über ein Dutzend dieser Männer eines gewaltsamen Todes gestorben. Ein paar kamen bei verschiedenen unsinnigen Zwischenfällen schon kurz nach der Rückkehr um. Einer wurde bei einem Streit erstochen, weil er in einer Kneipe öfters dasselbe Lied auf einem Musikautomaten gespielt hatte. Der Unteroffizier Cantor, der seinem Namen alle Ehre gemacht und in den Gefechtspausen Gitarre gespielt und dazu gesungen hatte, wurde ein paar Wochen nach seiner Rückkehr erschossen. Ebenfalls in Bogotá wurde ein anderer Veteran erstochen, für dessen Begräbnis unter den Nachbarn gesammelt werden musste. Angel Fabio Goes, der im Krieg ein Auge und eine Hand verloren hatte, wurde von drei nie gefassten Unbekannten getötet.

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, wie ich gerade an der letzten Folge schrieb, als das Telefon auf meinem Schreibtisch läutete und ich sofort die strahlende Stimme von Martina Fonseca erkannte:

»Alo?«

Mit klopfendem Herzen unterbrach ich den Artikel mitten in der Seite und überquerte die Avenida, um mich mit ihr im Hotel Continental zu treffen. Ich hatte sie zwölf Jahre nicht gesehen, und es war nicht leicht, sie von der Tür aus unter all den Frauen zu erkennen, die im vollen Speisesaal zu Mittag aßen, doch dann winkte sie mit dem Handschuh. Sie war wie immer nach ihrem persönlichen Geschmack gekleidet, trug einen Mantel aus Büffelleder, einen welken Fuchs über den Schultern und einen Jägerhut auf dem Kopf, und die Jahre waren ihrer von der Sonne malträtierten Pflaumenhaut und den glanzlosen Augen anzusehen, ja ihre ganze Erscheinung wurde von den ersten Zeichen eines ungerechten Alters geschmälert. Wir beide merkten wohl, dass zwölf Jahre in ihrem Alter viel waren, aber wir wurden gut damit fertig. In meiner ersten Zeit in Barranquilla hatte ich nach ihr gefahndet, bis ich erfuhr, dass sie in Panama lebte, wo ihr Lotse am Kanal arbeitete, aber eher aus Schüchternheit denn aus Stolz erwähnte ich meine Suche nicht.

Ich glaube, sie hatte gerade mit jemandem zu Mittag gegessen, der den Tisch verlassen hatte, damit sie mich dort allein empfangen konnte. Wir tranken drei tödliche Tassen Kaffee und rauchten gemeinsam ein halbes Päckchen billige Zigaretten, während wir tastend nach einem Weg suchten, ein Gespräch zu führen, ohne etwas zu sagen, bis sie die Frage wagte, ob ich je an sie gedacht hätte. Erst da rückte ich mit der Wahrheit heraus: Ich hätte sie nie vergessen, aber ihr Abschied sei so brutal gewesen, dass er mein ganzes Wesen verändert habe. Sie hatte mehr Erbarmen:

»Ich vergesse nie, dass du für mich wie ein Sohn bist.«

Sie hatte meine Zeitungsartikel, meine Erzählungen und meinen einzigen Roman gelesen und sprach mit einem luziden und glühenden Scharfsinn davon, wie ihn allein die Liebe oder der Groll hervorbringt. Ich aber tat nichts anderes, als mit der schäbigen Feigheit, zu der nur wir Männer fähig sind, den Fallen der Nostalgie auszuweichen. Als es mir schließlich gelungen war, die Anspannung zu mildern, wagte ich zu fragen, ob sie das Kind, das sie sich gewünscht hatte, bekommen habe.

»Ja«, sagte sie freudig, »und jetzt ist er schon bald mit der Grundschule fertig.«

»Ist er schwarz wie sein Vater?«, fragte ich mit kleinlicher Eifersucht.

Wie immer verließ sie sich auf ihren gesunden Menschenverstand. »Weiß wie seine Mutter«, sagte sie. »Aber der Papa hat nicht, wie ich befürchtete, das Haus verlassen, sondern wir sind uns nur noch näher gekommen.« Und angesichts meiner sichtbaren Verwirrung bestätigte sie mit einem vernichtenden Lächeln:

»Keine Sorge: Es ist von ihm. Wie die zwei Töchter, die sich so ähneln, als sei es nur eine.«

Sie freute sich, gekommen zu sein, unterhielt mich mit ein paar Erinnerungen, die nichts mit mir zu tun hatten, und ich war so eingebildet, dass ich dachte, sie erwarte Intimeres. Aber wie alle Männer irrte auch ich mich im Ort und im Zeitpunkt. Als ich den vierten Kaffee und ein weiteres Päckchen Zigaretten bestellte, stand sie überraschend auf:

»Gut, mein Junge, ich bin glücklich, dch gesehen zu haben«, sagte sie. Und schloss: »Ich hielt es nicht mehr aus, so viel von dir gelesen zu haben, ohne zu wissen, wie du bist.«

»Und wie bin ich?«, wagte ich zu fragen.

»Oh nein!«, lachte sie von ganzem Herzen. »Das wirst du nie erfahren.«

Erst als ich vor der Schreibmaschine wieder zu Atem gekommen war, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich immer danach gesehnt hatte, Martina zu sehen, und welch tiefe Furcht mich daran gehindert hatte, für den Rest unseres Lebens bei ihr zu bleiben. Die gleiche trostlose Furcht, die mich seit jenem Tag oft überfiel, wenn das Telefon läutete.

Das neue Jahr 1955 begann für die Journalisten am 28. Februar mit der Nachricht, dass acht Matrosen des Zerstörers Caldas knapp zwei Stunden vor der Ankunft in Cartagena bei einem Unwetter von Bord gespült worden und verschwunden waren. Vier Tage zuvor hatte das Schiff der Kriegsmarine in Mobile, Alabama, wo es mehrere Monate für eine vorschriftsmäßige Reparatur gelegen hatte, die Anker gelichtet.

Während die gesamte Redaktion angespannt die ersten Rundfunknachrichten über das Unglück verfolgte, hatte sich Guillermo Cano auf seinem Drehstuhl zu mir umgewandt und behielt mich im Visier, einen fertigen Befehl auf der Zunge. Auch José Salgar, der auf dem Weg zur Druckerei war, blieb mit von der Nachricht gestählten Nerven vor mir stehen. Ich war vor einer Stunde aus Barranquilla zurückgekehrt, wo ich einen Beitrag über das ewige Drama der Bocas de Ceniza vorbereitet hatte, und musste mich nun schon wieder fragen, wann das nächste Flugzeug an die Küste startete, um dort einen hochaktuellen Bericht über die acht Schiffbrüchigen schreiben zu können. Aus den Radiobulletins wurde jedoch bald klar, dass der Zerstörer gegen drei Uhr nachmittags ohne weitere Neuigkeiten in Cartagena anlegen würde, da die Leichen der acht ertrunkenen Seeleute nicht hatten geborgen werden können. Guillermo Cano sackte in sich zusammen.

»So ein Mist, Gabo«, sagte er. »Der Knüller ist uns abgesoffen.«

Das Unglück reduzierte sich auf eine Reihe von offiziellen Bulletins, wobei die Information mit den üblichen Ehrungen für die im Dienst Gefallenen verbunden wurde, aber das war alles. Gegen Ende der Woche gab die Marine jedoch bekannt, dass einer der Matrosen, Luis Alejandro Velasco, völlig erschöpft und mit einem Sonnenstich, aber außer Lebensgefahr, an einem Strand von Urabá auf einem Floß angeschwemmt worden sei, auf dem er zehn Tage lang ohne Ruder getrieben habe. Wir waren uns alle einig, dass dies die Reportage des Jahres werden könnte, wenn es uns gelänge, allein mit ihm zu sprechen, und sei es auch nur eine halbe Stunde lang.

Es gelang uns nicht. Die Marine verordnete eine Kontaktsperre, solange der Matrose sich im Marinehospital von Cartagena erholte. Antonio Montana, ein listiger Redakteur von El Tiempo, der sich als Arzt verkleidet eingeschlichen hatte, sah ihn dort ein paar flüchtige Minuten. Den Ergebnissen nach zu urteilen, hatte er von dem Schiffbrüchigen jedoch nur eine Bleistiftskizze bekommen, auf der aufgezeichnet war, wo der Mann sich auf dem Schiff befunden hatte, als er von dem Sturm heruntergefegt worden war, sowie ein paar unzusammenhängende Erklärungen, aus denen klar hervorging, dass er den Befehl hatte, die Geschichte nicht zu erzählen. »Hätte ich gewusst, dass er Journalist war, hätte ich ihm geholfen«, erklärte Velasco Tage später. Als er sich erholt hatte, gab er, immer noch unter Kuratel der Marine, dem Korrespondenten von El Espectador in Cartagena, Lácides Orozco, ein Interview, doch dieser kam nicht so weit, wie wir wollten, und brachte nicht in Erfahrung, wie eine Windböe eine Katastrophe mit sieben Toten hatte auslösen können.

Luis Alejandro Velasco war in der Tat an eiserne Auflagen gebunden, die ihn daran hinderten, sich frei zu bewegen oder frei zu sprechen, auch dann noch, als man ihn in das Haus seiner Eltern in Bogotá gebracht hatte. Jede technische oder politische Frage beantwortete uns der Fregattenleutnant Guil-lermo Fonseca mit freundlicher Bravour, mit entsprechender Eleganz verwehrte er uns jedoch wesentliche Informationen über das, was uns allein interessierte: die Tatsachen hinter diesem Abenteuer. Nur um Zeit zu gewinnen, schrieb ich ein paar kurze Stimmungsberichte über die Rückkehr des Schiffbrüchigen in sein Elternhaus, doch dann hinderten mich seine uniformierten Begleiter erneut daran, mit ihm zu sprechen, während sie einem lokalen Rundfunksender ein ödes Interview gestatteten. Damit war klar: Meister der offiziösen Kunst, eine Nachricht herunterzuspielen, hatten uns in der Hand. Zum ersten Mal durchfuhr mich der Gedanke, dass der Öffentlichkeit etwas Wichtiges über die Katastrophe verheimlicht wurde. Wenn ich mich heute daran erinnere, dann war das weniger ein Verdacht als eine Vorahnung.

Es war ein März eisiger Winde, und der stäubende Nieselregen verstärkte den Druck meines schlechten Gewissens. Bevor ich von der Niederlage gebeugt im Redaktionssaal antrat, flüchtete ich mich in das nahe Hotel Continental und bestellte mir einen doppelten Schnaps am Tresen der leeren Bar. Ich trank ihn in langsamen Schlucken, hatte mir nicht einmal meinen dicken Ministermantel ausgezogen, als ich, fast an meinem Ohr, eine weiche Stimme hörte:

»Wer allein trinkt, stirbt allein.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, du Schöne«, antwortete ich, das Herz auf der Zunge und überzeugt, dass es Martina Fonseca war.

Die Stimme hinterließ eine Spur lauer Gardenien in der Luft, doch es war nicht Martina. Ich sah die Frau durch die Drehtür hinausgehen und mit ihrem unvergesslichen gelben Regenschirm auf der vom Regen verschlammten Avenida verschwinden. Nach einem weiteren Schnaps überquerte auch ich die Avenida und kam, von den beiden Schnäpsen gestützt, in den Redaktionssaal. Guillermo Cano sah mich eintreten und stieß für alle einen freudigen Schrei aus:

»Mal sehen, was für einen dicken Fisch der große Gabo an Land gezogen hat!«

Ich kam mit der Wahrheit heraus:

»Nur einen toten Fisch.«

Da merkte ich, dass die unbarmherzigen Spötter der Redaktion mich lieb gewonnen hatten, denn sie sahen mich vorübergehen, den nassen Mantel hinter mir her schleifend, und schwiegen. Keiner hatte das Herz, mich nach dem üblichen Ritual auszupfeifen.

Luis Alejandro Velasco genoss weiter seinen eingeschränkten Ruhm. Seine Aufpasser erlaubten ihm nicht nur allerlei perverse Werbeaktionen, sondern förderten diese sogar. Er erhielt fünfhundert Dollar und eine neue Uhr dafür, dass er im Radio wahrheitsgemäß erzählte, seine Uhr habe Wind und Wetter überstanden. Der Hersteller seiner Turnschuhe zahlte ihm tausend Dollar dafür, dass er erzählte, seine Schuhe seien derart widerstandsfähig gewesen, dass er sie nicht habe zerreißen können, um etwas zum Kauen zu haben. An ein und demselben Tag hielt er eine patriotische Rede, ließ sich von einer Schönheitskönigin küssen und zeigte sich den Waisenkindern als Vorbild vaterländischen Durchhaltevermögens. An dem denkwürdigen Tag, als Guillermo Cano mir ankündigte, Velasco sitze in seinem Büro und sei bereit, einen Vertrag darüber zu unterschreiben, dass er sein Abenteuer vollständig erzählen werde, hatte ich ihn schon beinahe vergessen. Ich fühlte mich gedemütigt.

»Dieser Fisch ist nicht nur tot, er stinkt schon«, sagte ich bockig.

Zum ersten und einzigen Mal weigerte ich mich, etwas für die Zeitung zu tun, was eigentlich meine Pflicht gewesen wäre. Guillermo Cano gab sich geschlagen und fertigte den Schiffbrüchigen ohne weitere Erklärungen ab. Später erzählte er mir, dass er, nachdem er den Mann in seinem Büro verabschiedet hatte, plötzlich noch einmal nachgedacht habe und sich selbst nicht habe erklären können, was er da gerade getan hatte. Woraufhin er den Portier beauftragte, ihm den Schiffbrüchigen wieder heraufzuschicken, und dann mich anrief, um mir entschieden mitzuteilen, dass er die Exklusivrechte für die ganze Geschichte gekauft habe.

Es war nicht das erste Mal und sollte auch nicht das letzte Mal sein, dass Guillermo sich auf einen hoffnungslosen Fall kaprizierte und ihm am Ende der Erfolg Recht gab. Ich wies ihn niedergeschlagen, aber so höflich wie möglich darauf hin, dass ich die Reportage nur aus arbeitsrechtlichem Gehorsam schreiben würde, jedoch nicht unter meinem Namen. Diese zufällige Entscheidung, über die ich nicht groß nachgedacht hatte, erwies sich aber als richtig, zwang sie mich doch, die Reportage in der ersten Person zu erzählen, im persönlichen Stil des Protagonisten, mit seinen eigenen Gedanken und unter seinem Namen. Die Entscheidung bewahrte mich damit vor jedwedem anderen Schiffbruch an Land. Das heißt, es würde der innere Monolog eines einsamen Abenteuers werden, wortwörtlich, so wie das Leben ihn geschrieben hatte. Die Entscheidung war auch deshalb wunderbar, weil Velasco sich als intelligenter Mensch erwies, dessen Sensibilität und gute Erziehung ich ebenso wenig vergessen werde wie seinen Sinn für Humor zur rechten Zeit und am rechten Ort. Und all diese Eigenschaften wurden, zum Glück, auch noch von einem geradlinigen Charakter gelenkt.

Das Interview war lang, sehr genau und dauerte drei ganze, erschöpfende Wochen, und ich führte es im Bewusstsein, dass ich es nicht roh veröffentlichen, sondern in einem anderen Topf zur Reportage gar kochen wollte. Ich begann etwas unredlich, weil ich versuchte, den Schiffbrüchigen in Widersprüche zu verwickeln, um verdeckte Wahrheiten aus ihm herauszulocken, war mir aber bald sicher, dass er nichts verheimlichte. Ich brauchte nichts zu forcieren. Es war, als ginge ich über eine blühende Wiese und hätte alle Freiheit, die Blumen auszuwählen, die mir am liebsten waren. Pünktlich um drei Uhr nachmittags erschien Velasco vor meinem Schreibtisch in der Redaktion, wir schauten die vorangegangenen Texte durch und fuhren anschließend in chronologischer Reihenfolge fön. Jedes Kapitel, das er mir erzählte, schrieb ich noch in der Nacht nieder, und es wurde dann am nächsten Abend veröffentlicht. Es wäre einfacher und sicherer gewesen, zunächst das ganze Abenteuer aufzuschreiben und es erst zu publizieren, nachdem es durchgesehen und alle Einzelheiten gründlich überprüft waren. Aber die Zeit drängte. Das Thema verlor von Minute zu Minute an Aktualität, und jede Aufsehen erregende Neuigkeit hätte ihm den Garaus machen können.

Wir benutzten kein Tonbandgerät. Das war gerade erst erfunden worden, und die besten Geräte waren groß und schwer wie eine Schreibmaschine, außerdem pflegte sich das Magnetband zu verheddern wie der gesponnene Zucker auf einem Engelshaartörtchen. Schon allein die Abschrift war eine Heldentat. Auch heute noch sind Tonbandaufnahmen bekanntlich als Gedächtnisstütze nützlich, doch sollte man nie das Gesicht des Befragten außer Acht lassen, das sehr viel mehr als seine Stimme verraten kann und manchmal auch das Gegenteil. Ich musste mich damit begnügen, mir wie üblich Notizen in Schulhefte zu machen, aber ich glaube, dass mir auf diese Weise kein Wort und keine Nuance des Gesprächs entgangen sind und ich damit Schritt für Schritt mehr in die Tiefe dringen konnte. Die beiden ersten Tage waren schwierig, weil der Schiffbrüchige alles auf einmal erzählen wollte. Er lernte jedoch sehr schnell, sich nach der Reihenfolge und der Tragweite meiner Fragen zu richten, ließ sich vor allem aber von seinem eigenen Erzählinstinkt und seinem angeborenen Gespür für die Bauformen einer Geschichte leiten.

Zur Vorbereitung des Lesers, bevor er ins kalte Wasser geworfen wurde, beschlossen wir, den Bericht mit den letzten Tagen in Mobile zu beginnen. Wir vereinbarten auch, die Erzählung nicht mit dem Augenblick enden zu lassen, an dem der Schiffbrüchige wieder Land betritt, sondern mit seiner Ankunft in Cartagena, wo er bereits von den Massen bejubelt wird - also zu einem Zeitpunkt, von dem an die Leser aufgrund der bereits veröffentlichten Fakten den Faden der Erzählung selbständig weiterspinnen konnten. Das ergab vierzehn Folgen, um zwei Wochen lang die Spannung aufrechtzuerhalten.

Die erste Folge erschien am 5. April 1955. Diese Ausgabe von El Espectador, durch Rundfunkwerbung angekündigt, war binnen weniger Stunden ausverkauft. Die Bombe platzte am dritten Tag, als wir beschlossen, die wahre Ursache des Unglücks zu enthüllen, die nach der offiziellen Version ein Sturm gewesen war. Auf größtmögliche Genauigkeit aus, bat ich Velasco, er möge in allen Einzelheiten von diesem Sturm erzählen. Er war inzwischen schon so vertraut mit unserer gemeinsamen Methode, dass ich in seinen Augen ein schelmisches Funkeln sah, als er mir antwortete:

»Das Problem ist, es hat gar keinen Sturm gegeben.«

Allerdings hatte es, so führte er aus, zwanzig Stunden steifen Windes gegeben, was in jener Region und zu jener Jahreszeit durchaus normal ist, von den Verantwortlichen aber nicht einkalkuliert worden war. Die Mannschaft hatte vor dem Ablegen verspätet den Sold von mehreren Monaten ausgezahlt bekommen und ihn im letzten Moment für alle möglichen Haushaltsgeräte ausgegeben, die man in die Heimat mitbringen wollte. Das war so überraschend, dass niemand sich groß Gedanken machte, als die Laderäume im Schiffsbauch überquollen und man deshalb die größten Kisten an Deck vertäute: Kühlschränke, Waschmaschinen, Öfen. Eine derartige Fracht war auf einem Kriegsschiff verboten, und sie war außerdem so umfangreich, dass sie entscheidende Flächen auf Deck beanspruchte. Vielleicht hatte man gedacht, dass bei einer Fahrt, die keinen offiziellen Charakter hatte und nur vier Tage bei bester Wetterprognose dauern würde, übertriebene Strenge nicht nötig war. Wie oft waren ähnliche Fahrten unternommen worden, ohne dass irgendetwas passiert war? Ihrer aller Unglück war, dass die Winde, die nur geringfügig stärker waren als angekündigt, das Meer bei strahlender Sonne aufwühlten und das Schiff stärker als erwartet in Schräglage brachten, so dass die Taue um die schlecht gestaute Fracht rissen. Nur weil die Caldas ein so seetüchtiges Schiff war, ging sie nicht erbarmungslos unter, doch acht von den Matrosen, die an Deck Wache hatten, wurden über Bord gerissen. Der Hauptgrund für den Unfall war also nicht ein Sturm, wie die offiziellen Verlautbarungen immer wieder betont hatten, sondern, wie Velasco in der Reportage erklärte, eine übermäßige Ladung schlecht gestauter Haushaltsgeräte auf dem Deck eines Kriegschiffes.

Ein anderer Aspekt des Unglücks, über den man sich in Stillschweigen hüllte, betraf die Rettungsboote, die den ins Meer gestürzten Matrosen, von denen nur Velasco mit dem Leben davongekommen war, zur Verfügung gestanden hatten. Vermutlich gab es an Bord zwei Sorten von Flößen, die ebenso wie die Männer ins Meer gerissen wurden. Die einen waren aus Kork und Segeltuch, drei Meter lang und eineinhalb Meter breit, mit einer Sicherheitsplattform in der Mitte und mit Proviant, Trinkwasser, Rudern, einem Erste-Hilfe-Kästchen, Gerät zum Fischen und zur Navigation sowie einer Bibel ausgestattet. Auch ohne das Angelgerät konnten zehn Personen acht Tage lang darauf überleben. Außerdem hatte die Caldas auch kleinere Flöße mit keinerlei Ausrüstung an Bord. Nach Velascos Erzählungen musste sein Floß dazugehört haben. Auf ewig offen bleibt die Frage, ob und wie vielen anderen Opfern es gelungen war, sich auf weitere Flöße zu retten, die sie irgendwohin brachten.

Zweifellos waren dies die wichtigsten Gründe dafür, dass die offiziellen Erklärungen zu dem Unglück nur schleppend erfolgten. Bis man dann bemerkte, dass sich diese Taktik nicht durchhalten ließ, weil inzwischen der Rest der Mannschaft auf Heimurlaub war und die vollständige Geschichte überall im Land erzählte. Die Regierung beharrte bis zum Schluss auf der Sturm-Version und gab ein endgültiges offizielles Kommunique dazu heraus. Die Zensur ging nicht so weit, die Veröffentlichung der restlichen Folgen der Reportage zu verbieten. Velasco seinerseits bewahrte, so weit er konnte, eine loyale Unbestimmtheit, und man erfuhr nie, ob er unter Druck gesetzt worden war, damit er Tatsachen verschwieg, und bei uns hat er sich weder die Enthüllung verbeten noch darum gebeten.

Nach der fünften Folge war daran gedacht worden, eine Sonderausgabe von den ersten vier zu drucken, um jenen Lesern entgegenzukommen, die den ganzen Bericht sammeln wollten. Don Gabriel Cano, den wir in diesen hektischen Tagen nicht in der Redaktion gesehen hatten, stieg von seinem Taubenhaus herab, kam direkt zu meinem Schreibtisch und fragte:

»Sagen Sie mal, Namensvetterchen, wie viele Folgen soll eigentlich der Schiffbrüchige haben?«

Wir waren mit dem Bericht gerade beim siebten Tag, nachdem Velasco eine Visitenkarte, den einzigen Leckerbissen weit und breit, verspeist hatte und nun vergeblich versuchte, seine Turnschuhe mit den Zähnen zu zerreißen, um etwas zum Kauen zu haben. Also fehlten uns noch sieben Folgen. Don Gabriel war empört.

»Nein, Namensvetterchen, so geht das nicht«, sagte er erregt. »Es müssen mindestens fünfzig Folgen werden.«

Ich nannte ihm meine Gründe, die seinen basierten jedoch darauf, dass sich der Verkauf fast schon verdoppelt hatte. Nach seinen Berechnungen war es möglich, eine bei der kolumbianischen Presse noch nie da gewesene Auflagenhöhe zu erreichen. Es wurde eine Redaktionssitzung einberufen, bei der ökonomische, technische und journalistische Erwägungen angestellt wurden und man sich auf die vernünftige Obergrenze von zwanzig Folgen einigte. Das heißt: sechs mehr als vorgesehen.

Obwohl unter den abgedruckten Kapiteln nicht mein Name stand, hatte sich die Arbeitsmethode herumgesprochen, und an einem Abend, an dem ich meinen Pflichten als Filmkritiker nachging, kam es in der Eingangshalle des Kinos zu einer lebhaften Diskussion über den Bericht des Schiffbrüchigen. Die meisten der Anwesenden waren Bekannte, mit denen ich nach den Vorstellungen in den nahen Cafés zu diskutieren pflegte. Ihre Einschätzungen halfen mir, Klarheit über meine eigene Meinung zu gewinnen, die in den wöchentlichen Beitrag einging. In Bezug auf den Schiffbrüchigen war der allgemeine Wunsch - mit sehr wenigen Ausnahmen -, dass der Bericht so lange wie möglich weitergehen sollte.

Eine dieser Ausnahmen war ein stattlicher Mann in reiferem Alter, der einen wunderbaren Kamelhaarmantel und eine Melone trug und mir drei Straßen lang folgte, als ich vom Kino zur Zeitung zurückging. Er war in Begleitung einer sehr schönen Frau, die ebenso gut gekleidet war, und eines nicht ganz so gepflegten Freundes. Er zog den Hut, um mich zu begrüßen, und stellte sich vor, ich merkte mir aber den Namen nicht. Ohne Umschweife sagte er mir, dass er ganz und gar nicht mit der Reportage über den Schiffbrüchigen einverstanden sei, weil sie dem Kommunismus direkt in die Hände spiele. Ohne groß zu übertreiben, erklärte ich ihm, dass ich nur der Vermittler der Geschichte sei, die der Protagonist selbst erzähle. Der Herr hatte jedoch seine eigenen Vorstellungen und meinte, dass Velasco in die Streitkräfte eingeschleust worden sei und im Dienste der UdSSR stehe. Ich hatte den Eindruck, mit einem hohen Offizier des Heeres oder der Marine zu sprechen, und der Gedanke, er könne sich näher erklären, begeisterte mich. Aber er schien mir nur das sagen zu wollen.

»Ich weiß nicht, ob Sie das bewusst machen oder nicht«, sagte er, »aber, wie auch immer, Sie tun dem Land einen schlechten Gefallen und nützen den Kommunisten.«

Seine blendend schöne Gattin machte eine beunruhigte Geste und versuchte leise flehend, ihn am Arm wegzuziehen: »Ich bitte dich, Rogelio!« Er beendete den Satz mit eben der Haltung, mit der er ihn begonnen hatte:

»Bitte, glauben Sie mir, ich erlaube mir nur deshalb diese Bemerkungen, weil ich das, was Sie schreiben, bewundere.«

Er gab mir noch einmal die Hand und ließ sich von der besorgten Gattin wegführen. Der verblüffte Begleiter kam nicht mehr dazu, sich zu verabschieden.

Das war der erste in einer Reihe von Zwischenfällen, die uns nahe legten, uns über die Gefahren der Straße ernsthafte Gedanken zu machen. In einer ärmlichen Kneipe hinter dem Gebäude der Zeitung, in der die Arbeiter der Gegend bis spät-nachts zusammenkamen, hatten zwei Unbekannte einige Tage zuvor Gonzalo González grundlos angefallen, der dort gerade seinen letzten Kaffee der Nacht trank. Keiner verstand, was man gegen den friedlichsten Mann der Welt haben könnte, es sei denn, man hätte ihn wegen unserer karibischen Manieren und Moden und den zwei Gs in seinem Pseudonym Gog mit mir verwechselt. Jedenfalls warnte mich der Sicherheitsdienst der Zeitung, ich solle nachts nicht allein ausgehen, da die Stadt immer gefährlicher würde. Für mich dagegen war sie so vertrauenswürdig, dass ich zu Fuß zu meiner Wohnung lief, wenn ich mit meiner Schicht fertig war.

An einem jener intensiven Tage spürte ich spätnachts, dass meine Stunde geschlagen hatte, als ein von der Straße aus in mein Schlafzimmer geworfener Ziegelstein einen Scherbenhagel auslöste. Es war Alejandro Obregon, der die Schlüssel zu seiner Wohnung verloren und keine wachen Freunde und kein Hotelzimmer gefunden hatte. Müde von der Suche nach einem Platz zum Schlafen und nachdem er vergeblich immer wieder auf die kaputte Klingel gedrückt hatte, löste er sein nächtliches Problem mit einem Ziegelstein von der Baustelle nebenan. Um mich nicht vollends zu wecken, grüßte er mich kaum, als ich ihm die Tür öffnete, warf sich rücklings auf den nackten Boden und schlief bis mittags.

An den Toren von El Espectador wurde das Gedrängel der Leute, die sich die Zeitung gleich bei der Auslieferung kaufen wollten, immer größer. Die Angestellten der Geschäfte im Zentrum zögerten ihre Heimfahrt hinaus, um noch die neue Folge im Bus lesen zu können. Ich denke, das Interesse der Leser entsprang zunächst dem Mitgefühl, hatte dann literarische Gründe, und zuletzt gewannen politische Aspekte die Oberhand, wach gehalten wurde es aber die ganze Zeit über von der inneren Spannung des Berichts. Velasco erzählte mir Episoden, von denen ich argwöhnte, er hätte sie erfunden, und hob auf symbolisch oder sentimental Bedeutsames ab, wie bei der ersten Möwe, die das Floß nicht verlassen wollte. Die Flugzeugepisode hatte, von ihm erzählt, eine geradezu filmische Schönheit. Von einem Freund, der Seemann war, wurde ich gefragt, woher ich denn das Meer so gut kenne, und ich antwortete ihm, dass ich nichts anderes getan hätte, als die Beobachtungen von Velasco wortwörtlich wiederzugeben. Von einem bestimmten Punkt an musste ich tatsächlich nichts mehr hinzufügen.

Das Kommando der Marine war nicht gleichermaßen begeistert. Kurz vor dem Ende der Serie schrieb es einen rotestbrief an die Zeitung, man habe mit Maßstäben des Festlands und auf wenig elegante Weise über eine Tragödie geurteilt, die überall dort, wo Marineeinheiten operierten, geschehen könne. »Uneingedenk der Trauer und des Schmerzes, von dem sieben achtbare kolumbianische Familien und alle Männer der Kriegsmarine ergriffen sind«, hieß es in dem Brief, sei die Zeitung nicht davor zurückgescheut, sich in die Niederungen eines von Unkenntnis getragenen Sensationsberichts zu begeben, der, mit technisch unsinnigen und unlogischen Begriffen und Wendungen gespickt, auch noch dem glücklich verschonten und verdienstvollen Matrosen in den Mund gelegt worden sei, der dank seiner Tapferkeit überlebt habe. Aus diesem Grunde forderte die Kriegsmarine eine Intervention des Informations- und Pressebüros der Regierung, damit es - mit Unterstützung eines Marineoffiziers -künftige Veröffentlichungen über den Zwischenfall prüfe. Als der Brief kam, waren wir zum Glück schon bei der vorletzten Folge und konnten uns bis zur nächsten Woche dumm stellen.

Da wir eine abschließende Veröffentlichung des vollständigen Textes planten, hatten wir den Schiffbrüchigen gebeten, uns eine Liste mit den Namen und Adressen anderer Kameraden zu geben, die einen Fotoapparat besaßen, und diese schickten uns eine Sammlung von Fotos, die auf der Fahrt aufgenommen worden waren. Es gab die verschiedensten Aufnahmen, vor allem aber Gruppenbilder auf Deck, und im Hintergrund waren die Kisten mit Hausgeräten zu sehen - Kühlschränke, Öfen, Waschmaschinen -und darauf deutlich erkennbar die Firmennamen. Dieser glückliche Zufall reichte aus, die offiziellen Dementis Lügen zu strafen. Die Reaktion von Seiten der Regierung kam sofort und war entschieden, und die Beilage übertraf alle vorherigen und jedwede Auflagenprognose. Guillermo Cano und José Salgar aber stellten siegesgewohnt nur eine Frage:

»Und was zum Teufel machen wir jetzt?«

In jenem Augenblick hatten wir, berauscht vom Erfolg, keine Antwort. Alle Themen kamen uns banal vor.

Fünfzehnjahre nach der Veröffentlichung des Berichts in El Espectador wurde er von dem Verlag Tusquets in Barcelona als Buch mit goldenem Einband publiziert, das wegging wie warmes Brot. Geleitet von einem Gefühl für Gerechtigkeit und von meiner Bewunderung für den heldenhaften Seemann schrieb ich am Ende des Prologs: »Es gibt Bücher, die sind nicht von dem, der sie geschrieben, sondern von dem, der sie erlitten hat, und dieses Buch gehört dazu. Die Autorentantiemen sollen deshalb für denjenigen sein, der sie verdient hat: ein namenloser Landsmann, der zehn Tage ohne Essen und Trinken auf einem Floß leiden musste, damit dieses Buch geschrieben werden konnte.«

Das war keine leere Floskel, denn die Tantiemen sind in meinem Auftrag vierzehn Jahre lang vom Verlag Tusquets vollständig an Luis Alejandro Velasco gezahlt worden. Bis der Rechtsanwalt Guillermo Zea Fernändez aus Bogotá Velasco davon überzeugte, dass die Tantiemen ihm per Gesetz zustanden, wohl wissend, dass Velasco nicht das Urheberrecht hatte, ich das vielmehr so entschieden hatte als Würdigung seiner heldenhaften Leistung, seines erzählerischen Talents und seiner Freundschaft.

Die Klage gegen mich wurde vor der 22. Kammer des Zivilgerichts in Bogotá verhandelt. Mein Anwalt und Freund Alfonso Gómez Méndez wies den Verlag Tusquets daraufhin an, bei künftigen Auflagen den letzten Absatz des Prologs zu streichen und keinen Centavo mehr an Luis Alejandro Velasco zu zahlen. So wurde es gemacht. Nach einem langen Prozess, in dem Dokumente, Zeugenaussagen und technische Beweise zur Geltung kamen, entschied das Gericht, dass ich der einzige Autor des Werkes sei, und kam den Forderungen, die Velascos Anwalt gestellt hatte, nicht nach. Daraus folgerte, dass den bis dahin von mir angeordneten Zahlungen nicht die Anerkennung einer KoAutorschaft des Matrosen zugrunde lag, sondern dass sie eine freiwillige Zuwendung desjenigen waren, der das Werk geschrieben hatte. Die Tantiemen wurden von da an, ebenfalls auf meine Anweisung hin, einer Stiftung für Lehrer gespendet.

Es gelang uns nicht, erneut eine solche Geschichte aufzutreiben, denn Velascos Geschichte gehörte nicht zu denen, die man auf Papier erfindet. Das Leben erfindet sie, und fast immer unter Schmerzen. Das lernten wir später, als wir versuchten, die Lebensgeschichte des wunderbaren Radsportlers Ramon Hoyos aus Antioquía zu schreiben, der in jenem Jahr zum dritten Mal Landesmeister geworden war. Wir brachten sie groß heraus, wie wir es bei der Reportage über den Seemann gelernt hatten, und dehnten die Geschichte auf neunzehn Folgen aus, bis uns klar wurde, dass das Publikum den Ramon Hoyos vorzog, der im wirklichen Leben die Berge hochstrampelte und als Erster im Ziel war.

Eine kleine Hoffnung, an vergangenen Erfolg wieder anzuknüpfen, schöpften wir an einem Abend, als Salgar anrief und mich sofort in die Bar des Hotel Continental beorderte. Dort stand er zusammen mit einem seriösen alten Freund, der ihm gerade seinen Begleiter vorgestellt hatte, einen echten Albino in Arbeiterkluft, dessen Haar und Augenbrauen so weiß waren, dass er sogar im Schummerlicht der Bar geblendet schien. Salgars Freund, ein bekannter Unternehmer, stellte den Albino als Bergbauingenieur vor. Dieser hatte auf einem leeren Grundstück, zweihundert Meter von El Espectador entfernt, mit Grabungen nach einem märchenhaften Schatz begonnen, der General Simon Bolívar gehört haben sollte. Salgars guter Freund - und seit damals auch meiner - bürgte für die Wahrheit der Geschichte. Diese war verdächtig einfach. Als sich der Befreiungsheld, besiegt und todkrank, auf den Weg zur Küste machen musste, um von Cartagena aus seine letzte Reise anzutreten, habe er wohl einen großen persönlichen Schatz nicht mitführen wollen, den er in den Entbehrungen seiner Kriege als wohlverdiente Rücklage für ein sorgloses Alter zusammengetragen hatte. Bevor Bolívar sich nun anschickte, seine bittere Reise fortzusetzen - man weiß nicht, ob sie ihn nach Caracas oder nach Europa führen sollte -, war er so umsichtig gewesen, den Schatz in Bogotá versteckt zurückzulassen, geschützt von einem lakedämonischen Zeichencode, wie es dem Zeitgeist entsprach, um von jedem Ort der Welt aus auf das Vermögen zurückgreifen zu können, wenn er es brauchte. An die Geschichte des Schatzes erinnerte ich mich mit unstillbarem Verlangen, als ich an Der General in seinem Labyrinth schrieb, in dem sie einen wesentlichen Platz eingenommen hätte, wenn es mir denn gelungen wäre, die nötigen Daten zusammenzubekommen, um sie glaubhaft zu machen; als fiktionale Erfindung aber erschien sie mir nichtig. Nach eben diesem märchenhaften Vermögen, das von seinem Eigentümer nie abgeholt worden war, grub der Schatzgräber mit so viel Eifer. Ich begriff nicht, warum die beiden uns das alles enthüllt hatten, bis Salgar mir erklärte, dass sein Freund, beeindruckt von dem Bericht des Schiffbrüchigen, uns im Vorhinein einweihen wollte, damit wir die Grabungen von Anfang an verfolgen könnten, um dann die Geschichte mit ähnlichem Aufwand zu veröffentlichen.

Wir gingen zu dem Grundstück, das als Einziges westlich vom Parque de los Periodistas noch unbebaut war und in der Nähe meiner neuen Wohnung lag. Der Freund erklärte uns auf einer Karte aus der Kolonialzeit die Koordinaten des Verstecks anhand realer Orientierungspunkte auf den Bergen Monserrate und Guadalupe. Es war eine faszinierende Geschichte, und uns winkte eine mindestens so explosive Nachricht wie die über den Schiffbrüchigen, die darüber hinaus eine größere internationale Resonanz gehabt hätte.

Wir fanden uns mit einer gewissen Regelmäßigkeit am Ort ein, um auf dem Laufenden zu bleiben, hörten dem Ingenieur auf der Basis von Aguardiente und Zitrone stundenlang zu, und das Wunder rückte in immer weitere Ferne, bis so viel Zeit vergangen war, dass uns nicht einmal mehr die Illusion blieb. Später kam uns dann der Verdacht, dass die Geschichte mit dem Schatz nichts als ein Deckmantel war, um mitten in der Hauptstadt etwas sehr viel Wertvolleres ohne Schürflizenz zu fördern. Aber es hätte auch sein können, dass dies wiederum ein Deckmantel war, um den Schatz des Befreiers vor Zugriffen zu bewahren.

Es waren nicht die besten Zeiten zum Träumen. Nach dem Bericht des Schiffbrüchigen hatte man mir geraten, für eine Weile Kolumbien zu verlassen, bis sich die Lage entspannt hätte, da uns auf unterschiedlichen Wegen reale oder fiktive Morddrohungen erreichten. Daran dachte ich zuerst, als Luis Gabriel Cano mich ohne Einleitung fragte, was ich am nächsten Mittwoch vorhätte. Da nichts geplant war, sagte er mit der üblichen Gelassenheit, ich solle meine Papiere in Ordnung bringen, um als Sonderberichterstatter der Zeitung nach Genf zu fahren, wo in der kommenden Woche die Konferenz der Großen Vier stattfand.

Zuerst rief ich meine Mutter an. Die Nachricht erschien ihr so großartig, dass sie mich fragte, ob ich irgendeine Finca meine, die so heiße. »Das ist eine Stadt in der Schweiz«, sagte ich. Gefasst und mit der endlosen Langmut, mit der sie auch völlig unerwartetem Unfug ihrer Kinder begegnete, fragte sie mich, wie lange ich denn bliebe, und ich sagte, ich käme spätestens in zwei Wochen zurück. Eigentlich fuhr ich nur zu der Konferenz, die vier Tage dauerte. Aus Gründen, die nichts mit meinem Willen zu tun hatten, blieb ich nicht zwei Wochen, sondern fast drei Jahre. Damals hätte ich ein Ruderboot gebraucht, und sei es nur, um einmal am Tag richtig essen zu können, aber ich sorgte dafür, dass meine Familie davon nichts erfuhr. Einmal versuchte jemand meine Mutter mit der perfiden Bemerkung zu beunruhigen, dass ihr Sohn wie ein Fürst in Paris lebe, nachdem er sie mit der Geschichte betrogen habe, er bleibe nur zwei Wochen.

»Gabito betrügt niemanden«, sagte sie mit einem unschuldigen Lächeln, »aber selbst Gott muss manchmal Wochen von zwei Jahren einlegen.«

Mir war nie bewusst geworden, dass ich wie die Millionen, die durch die violencia vertrieben worden waren, ohne Papiere lebte. Ich hatte nie gewählt, da ich keinen Staatsbürgernachweis besaß. In Barranquilla hatte ich mich mit meinem Mitarbeiterschein von El Heraldo ausgewiesen, auf dem ein falsches Geburtsdatum stand, um der Militärpflicht zu entgehen, vor der ich mich damals schon seit zwei Jahren drückte. In Notfällen wies ich mich mit einer Postkarte aus, die mir die Telegrafistin von Zipaquira gegeben hatte. Ein zufälliger Freund stellte den Kontakt zu dem Behördengänger eines Reisebüros her, und dieser versprach, mich für 200 Dollar im Voraus und meine auf zehn leeren Formblättern geleistete Unterschrift am angegebenen Datum an Bord des Flugzeugs zu bringen. So erfuhr ich auf Umwegen, dass mein Bankkonto einen erstaunlichen Saldo aufwies, weil ich in meiner Hektik als Reporter kaum zum Geldausgeben gekommen war. Die einzige Aufwendung außer meinem persönlichen Lebensunterhalt, der den eines armen Studenten nicht überstieg, war die monatliche Überweisung des Ruderboots an meine Familie gewesen.

Am Tag vor dem Abflug betete mir der Agent des Reisebüros den Namen jedes Dokuments vor, das er vor mich auf den Schreibtisch legte, damit ich nichts durcheinander brachte: Personalausweis, Wehrpass, Unbedenklichkeitsbescheinigung der Steuerbehörde und der Impfschein gegen Pocken und Gelbfieber. Am Ende bat er mich um ein zusätzliches Trinkgeld für den mageren jungen Mann, der sich beide Male in meinem Namen hatte impfen lassen, so wie er sich schon seit Jahren täglich für eilige Kunden impfen ließ.

Ich flog nach Genf und kam gerade rechtzeitig zu der Eröffnungsveranstaltung mit Eisenhower, Bulganin, Eden und Faure, hatte keine weiteren Sprachkenntnisse und Spesengeld für ein Hotel dritter Klasse dabei, war aber durch meine Reserven auf der Bank abgesichert. Ich sollte in wenigen Wochen zurückkehren, und ich weiß nicht, aus welcher merkwürdigen Vorahnung heraus ich alles, was in der Wohnung mir gehörte, an Freunde verteilt hatte, darunter auch eine erstklassige Filmbibliothek, die ich mir in zwei Jahren unter Anleitung von Alvaro Cepeda und Luis Vicens zugelegt hatte.

Der Dichter Jorge Gaitan Duran kam zu einem Abschiedsbesuch, als ich gerade nutzlose Papiere zerriss, und er war so neugierig, dass er den Papierkorb nach etwas, das er für seine Zeitschrift gebrauchen könnte, durchwühlte. Er fischte drei oder vier durchgerissene Seiten heraus und überflog sie, nachdem er sie auf dem Schreibtisch wie ein Puzzle zusammengelegt hatte. Er fragte, woher das komme, und ich sagte ihm, das sei lsabels Monolog beim Betrachten des Regens in Macondo, den ich aus der Rohfassung von Laubsturm herausgestrichen hatte. Ich wies ihn daraufhin, dass der Text bereits in Cronica und im »Magazine Dominical« von El Espectador veröffentlicht worden sei, unter eben dem Titel, der von mir stamme, ein Abdruck, den ich angeblich in Eile in einem Lift genehmigt hatte. Gaitán Durän machte das nichts aus, und er publizierte den Monolog in der nächsten Nummer der Zeitschrift Mito.

Bei der Abschiedsfeier am Vorabend der Reise im Haus von Guillermo Cano ging es so hoch her, dass, als ich schließlich am Flughafen ankam, mein Flugzeug nach Cartagena, wo ich mich von der Familie verabschieden und übernachten wollte, schon weg war. Zum Glück bekam ich mittags noch eine Maschine. Es war ein guter Entschluss, dort vorbeizuschauen, denn die Stimmung zu Hause hatte sich seit dem letzten Besuch entspannt, und meine Eltern und Geschwister fühlten sich in der Lage, auch ohne das Ruderboot zu überleben, das ich in Europa dringender brauchen würde.

Am nächsten Tag fuhr ich sehr früh morgens mit dem Bus nach Barranquilla, um dort um zwei Uhr nachmittags ins Flugzeug nach Paris zu steigen. Am Busbahnhof von Cartagena traf ich Lácides, den unvergesslichen Portier des Rascacielo, den ich seit damals nicht mehr gesehen hatte. Er schloss mich mit echter Herzlichkeit in die Arme, hatte Tränen in den Augen und wusste nicht, was er sagen und wie er mit mir umgehen sollte. Nachdem wir etwas hastig ein paar Worte gewechselt hatten - sein Bus war gerade angekommen, und der meine fuhr ab -, sagte er mit einer Verehrung, die mich ins Herz traf:

»Ich kann einfach nicht verstehen, Don Gabriel, warum Sie mir nie gesagt haben, wer Sie sind.«

»Ach Lácides, mein Lieber«, antwortete ich, noch kummervoller als er, »ich konnte es Ihnen nicht sagen, denn selbst ich weiß bis heute nicht, wer ich bin.«

Stunden später, als ich im Taxi zum Flughafen saß, unter dem undankbaren Himmel, der durchsichtiger ist als jeder andere auf der Welt, fiel mir auf, dass wir durch die Avenida Veinte de Julio fuhren. Aus einem Reflex heraus, der schon seit fünf Jahren zu meinem Leben gehörte, schaute ich zu dem Haus von Mercedes Barcha. Und da war sie, eine sitzende Statue vor dem Eingang, anmutig und fern und ganz nach der Mode des Jahres in ein grünes Kleid mit goldenen Spitzen gekleidet, das Haar zu Schwalbenschwingen geschnitten und mit der gespannten Ruhe eines Menschen, der auf jemanden wartet, der nicht kommen wird.

Ich konnte mich nicht des Schauders erwehren, dass ich sie an einem Donnerstag im Juli zu so früher Stunde für immer verlor, und dachte einen Augenblick daran, das Taxi anhalten zu lassen, um mich von ihr zu verabschieden, wollte schließlich nicht ein so beharrlich Ungewisses Schicksal wie das meine erneut herausfordern.

Auf dem Flug peinigte mich dann die Reue. Damals herrschte noch die gute Sitte, die Rückenlehne des Vordersitzes mit dem auszustatten, was man nach guter alter Art Schreibmappe nannte. Goldumrandete Billetts mit einem Umschlag aus dem gleichen Leinenpapier, rosa, cremefarben oder blau, manchmal sogar parfümiert. Bei meinen wenigen vorherigen Flugreisen hatte ich Abschiedsverse darauf geschrieben, sie dann zu Papierschwalben gefaltet, und beim Verlassen der Maschine hatte ich sie fliegen lassen. Ich wählte eine himmelblaue Karte und schrieb meinen ersten förmlichen Brief an Mercedes, die um sieben Uhr morgens am Eingang ihres Hauses saß, im grünen Kleid einer herrenlosen Braut und mit dem Haar einer unschlüssigen Schwalbe, ohne dass ich auch nur geahnt hätte, für wen sie sich bei Tagesanbruch so gekleidet hatte. Ich hatte ihr bereits andere spielerische Briefchen geschickt, die ich auf gut Glück schrieb, aber stets nur mündlich eine ausweichende Antwort erhalten, wenn wir uns zufällig einmal trafen. Diesmal sollten es bloß fünf Zeilen sein, um sie von meiner Reise zu informieren. Am Ende fügte ich jedoch ein Postskriptum an, das mich beim Unterschreiben wie ein Blitz am hellichten Mittag blendete: »Wenn ich in einem Monat keine Antwort auf diesen Brief erhalten habe, bleibe ich für immer in Europa.« Ich ließ mir kaum Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, bevor ich den Brief um zwei Uhr früh in den Briefkasten des trostlosen Flughafens von Montego Bay warf. Es war schon Freitag. Am Donnerstag der folgenden Woche, als ich nach einem sinnlosen Tag der internationalen Uneinigkeit in mein Genfer Hotel zurückkehrte, hatte ich eine Antwort.