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Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass neun Monate nach dem Abitur meine erste Erzählung in »Fin de Semana« erscheinen könnte. Das war die Literaturbeilage von El Espectador und zu jener Zeit die interessanteste und anspruchsvollste im Land. Zweiundvierzig Tage später wurde die zweite Erzählung veröffentlicht. Noch mehr überraschte mich allerdings der lobende Begleittext von Eduardo Zalamea Borda, der als Ulises firmierte, zweiter Direktor der Zeitung sowie chef der Literaturbeilage war. Er galt damals als scharfsinnigster kolumbianischer Kritiker mit einem besonderen Gespür für neue Talente.
Das war eine so unverhoffte Entwicklung, dass es schwer ist, davon zu erzählen. Zu Beginn des Jahres hatte ich mich, wie mit den Eltern abgemacht, in der juristischen Fakultät der Universidad Nacional de Bogotá immatrikuliert. ich wohnte mitten in der Stadt in der Galle Florian in einer Pension, wo vornehmlich Studenten von der Atlantikküste logierten. An den freien Nachmittagen arbeitete ich nicht für meinen Lebensunterhalt, sondern las in meinem Zimmer oder in den Cafés, die das gestatteten. An die Bücher kam ich durch Glück oder Zufall, und die Auswahl hatte mehr mit Schicksal als mit meinen Vorlieben zu tun, zudem setzten mir die Freunde, die sich die Bücher kaufen konnten, so enge Leihfristen, dass ich für eine rechtzeitige Rückgabe die Nächte durch lesen musste. Anders aber als in Zipaquirá, wo ich Autoren las, die sich bereits einen Platz im Mausoleum der anerkannten Dichter verdient hatten, verschlangen wir hier die Bücher, die nach der langen Dürreperiode der Verlage im Zweiten Weltkrieg gerade erst in Buenos Aires übersetzt und gedruckt worden waren, wie frisches, noch warmes Brot. Auf diese Weise entdeckte ich zu meinem Glück die schon längst entdeckten Autoren Jorge Luis Borges, D. H. Lawrence und Aldous Huxley, Graham Greene und Chesterton, William Irish, Katherine Mansfield und viele mehr.
Solche Neuerscheinungen lagen unerreichbar in den Schaufenstern der Buchläden aus, ein paar Exemplare kursierten aber in den Studentencafés, die für die jungen Leute aus der Provinz geradezu Zentren der Kulturvermittlung waren. Viele Studenten hatten über Jahre hinweg ein Stammcafé, wo sie auch ihre Post und sogar Geldüberweisungen empfingen. Gefälligkeiten der Cafébesitzer oder ihrer vertrauenswürdigen Kellner trugen entscheidend zur Rettung manch einer universitären Laufbahn bei. Wahrscheinlich verdanken viele Akademiker des Landes, besonders solche aus ärmeren Familien, diesen Cafés mehr als den Universitäten, weil die Cafébesitzer, anders als die unsichtbaren Professoren, in Notfällen für sie ansprechbar waren.
Ich bevorzugte das Café El Molino, da dort die älteren Dichter verkehrten und es nur zweihundert Meter von meiner Pension entfernt an der entscheidenden Ecke Avenida Jiménez de Quesada und Carrera Séptima lag. Stammtische für Studenten waren dort nicht erlaubt, dafür konnte man aber sicher sein, aus den literarischen Gesprächen, die man unauffällig von den Nebentischen aus verfolgte, mehr und Besseres als aus den Fachbüchern zu lernen. Es war ein riesiges Haus, im spanischen Stil eingerichtet und von Santiago Martínez Delgado mit Szenen aus Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen ausgemalt. Auch wenn ich keinen reservierten Platz hatte, bekam ich es immer so hin, dass die Kellner mich in die Nähe des großen Meisters León de Greiff ließen, der - bärtig, knurrig, bezaubernd - gegen Abend zu seiner literarischen Runde mit den damals berühmten Schriftstellern eintraf und gegen Mitternacht dann mit seinen Schachschülern in billigem Fusel versackte. Kaum einer der Großen in Kunst und Literatur hat nicht irgendwann einmal an diesem Tisch gesessen, und wir an dem unseren stellten uns tot, um ja kein Wort zu verpassen. Auch wenn sie mehr über Frauen und politische Intrigen sprachen als über die Kunst und ihr Handwerk, kam doch immer etwas Neues und Lehrreiches dabei heraus. Am regelmäßigsten kamen wir Kariben, die wir uns weniger durch die Verschwörungen gegen die Cachacos als durch das Laster der Literatur verbunden fühlten. Jorge Álvaro Espinosa, ein Jurastudent, der mich gelehrt hatte, die Bibel zu durchschiffen, und der mich alle Namen der Begleiter Hiobs auswendig lernen ließ, legte mir eines Tages einen erschreckenden Wälzer auf den Tisch und erklärte mit seiner bischöflichen Autorität:
»Das ist die andere Bibel.«
Es war, wie konnte es anders sein, der Ulysses von James Joyce, den ich stückweise und stolpernd las, bis meine Geduld am Ende war. Es war verfrühter Wagemut. Jahre später, als ich schon erwachsen und demütig war, stellte ich mich der Aufgabe, den Ulysses ernsthaft wieder zu lesen, und es war für mich die Entdeckung einer eigenen Welt, die ich nie in mir vermutet hatte, und darüber hinaus eine unschätzbare technische Hilfe, was die Freiheit der Sprache, die Behandlung der Zeit und die Struktur meiner Bücher anbelangte.
Einer meiner Zimmergenossen war Domingo Manuel Vega, ein Medizinstudent, der schon in Sucre mein Freund gewesen war und meine Lesegier teilte. Ein anderer war mein Vetter Nicolás Ricardo, der älteste Sohn meines Onkels Juan de Dios, der für mich die Werte der Familie lebendig erhielt. Eines Abends kam Vega mit drei Büchern heim, die er gerade gekauft hatte, und lieh mir irgendeins davon, was er häufig tat, um mir das Einschlafen zu erleichtern. Diesmal erreichte er jedoch das Gegenteil: Von da an habe ich nie wieder so friedlich geschlafen wie zuvor. Das Buch war Franz Kafkas Die Verwandlung, übersetzt von Borges und erschienen im Losada Verlag in Buenos Aires, und es hat meinem Leben einen neuen Weg gewiesen, schon mit der ersten Zeile, die heute einer der berühmten Sätze der Weltliteratur ist: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Es waren rätselhafte Bücher, deren Erzählschluchten nicht nur anders waren als alles, was ich bis dahin gekannt hatte, sondern oft auch dazu gegenläufig. Das Geschehen musste nicht belegt werden: Der Autor musste nur etwas schreiben, damit es wahr wurde, keine anderen Beweise waren erforderlich als die Kraft seines Talents und die Autorität seiner Stimme. Da war wieder Scheherezade, aber nicht in ihrer tausendjährigen Welt, in der alles möglich schien, sondern in einer anderen, irreparablen Welt, in der schon alles verloren war.
Als ich Die Verwandlung fertig gelesen hatte, blieb in mir das unwiderstehliche Verlangen zurück, in jenem fremden Paradies zu leben. Der neue Tag überraschte mich an der Reiseschreibmaschine, die ich ebenfalls von Domingo Manuel Vega geliehen bekam; ich versuchte, etwas zu Papier zu bringen, das Kafkas armem, in einen riesigen Käfer verwandelten Bürokraten entsprechen könnte. In den folgenden Tagen ging ich nicht zur Universität, da ich fürchtete, den Zauberbann zu brechen, und schwitzte weiter meinen Neid aus, bis ich einen pessimistischen Artikel von Eduardo Zalamea Borda las. Er beklagte darin, dass es der neuen Generation kolumbianischer Schriftsteller an Namen mangele, die man sich merken müsse, und dass sich auch nichts abzeichne, das auf eine bessere Zukunft hindeute. Ich weiß nicht, woher ich das Recht nahm, mich im Namen meiner Generation von dieser Herausforderung angesprochen zu fühlen, jedenfalls machte ich mich erneut an die liegen gebliebene Erzählung, weil ich versuchen wollte, Zalamea Borda zu widerlegen. Ich entwickelte den Gedanken der Leiche, die bei Bewusstsein ist, aus der Verwandlung weiter, drängte aber die falschen Mysterien und ontologischen Vorurteile zurück.
Ich fühlte mich damit allerdings so unsicher, dass ich mich nicht traute, den Text mit einem meiner Tischgefährten zu besprechen. Nicht einmal mit Gonzalo Mallarino, einem Kommilitonen von der juristischen Fakultät, dem einzigen Leser meiner lyrischen Prosa, die ich gegen die Langeweile der Vorlesungen schrieb. Ich las und korrigierte die Erzählung wieder und wieder, bis zur Ermattung, und schrieb schließlich an Eduardo Zalamea - den ich noch nie gesehen hatte - einen kurzen persönlichen Brief, von dem ich keine Zeile in Erinnerung habe. Ich steckte alles in einen Umschlag und trug ihn selbst zum Empfang von El Espectador. Der Portier gab mir die Erlaubnis, in den zweiten Stock zu gehen, um den Brief dem leibhaftigen Zalamea zu übergeben, doch schon der bloße Gedanke daran ließ mich erstarren. Ich legte den Umschlag auf den Tisch des Portiers und flüchtete.
Das war an einem Dienstag gewesen, und keinerlei Vorahnung über das Los meiner Erzählung beunruhigte mich, aber ich war mir sicher, wenn sie denn überhaupt veröffentlicht würde, dann bestimmt nicht so bald. An den Samstagnachmittagen der nächsten beiden Wochen streunte ich von Café zu Café, um meiner Unruhe Herr zu werden, bis zum 13. Dezember, als ich El Molino betrat und mir der Titel meiner Erzählung, der über die ganze Breite des eben erschienenen El Espectador ging, entgegensprang: Die dritte Entsagung.
Als Erstes überkam mich die entsetzliche Gewissheit, dass ich nicht die fünf Centavos hatte, um die Zeitung zu kaufen. Das war das deutlichste Symbol der Armut, denn außer der Zeitung kosteten noch viele andere einfache Dinge des täglichen Lebens fünf Centavos: die Trambahn, das öffentliche Telefon, eine Tasse Kaffee, einmal Schuhputzen. Ich stürmte auf die Straße, ungeschützt vor dem unbeirrbaren Nieselregen, aber ich fand in den Cafés der Umgebung keinen Bekannten, der mir die Münze hätte geben können. Auch in der Pension traf ich zu dieser toten Stunde des Sonnabends keinen außer der Wirtin an, und das war ebenso gut wie keiner, weil ich ihr siebenhundertzwanzig Mal fünf Centavos für zwei Monate Unterkunft und Versorgung schuldete. Zu allem entschlossen ging ich wieder auf die Straße, und da begegnete mir ein Sendbote der göttlichen Vorsehung, er stieg mit dem Espectador in der Hand aus einem Taxi, und ich bat ihn geradeheraus, mir die Zeitung zu schenken.
So konnte ich meine erste Erzählung in Bleisatz lesen, illustriert von Hernán Merino, dem offiziellen Zeichner der Zeitung. Ich las sie in meinem Zimmer versteckt, mit rasendem Herzen und in einem Atemzug. In jeder Zeile entdeckte ich die zerstörerische Kraft der gedruckten Buchstaben, da das, was ich mit so viel Liebe und Schmerz als demütige Parodie auf das Werk eines Universalgenies zusammengebaut hatte, sich mir als wirrer und brüchiger Monolog offenbarte, der nur notdürftig von drei oder vier Trost bringenden Sätzen zusammengehalten wurde. Es mussten beinahe zwanzig Jahre vergehen, bis ich wagte, die Geschichte ein zweites Mal zu lesen, und mein Urteil - kaum durch Mitgefühl gemildert - fiel noch strenger aus.
Das Schwierigste war, mit dem Trupp strahlender Freunde zurechtzukommen, die mein Zimmer mit Exemplaren der Zeitung stürmten und eine Erzählung, die sie sicherlich nicht verstanden hatten, über alle Maßen lobten. Unter meinen Kommilitonen mochten einige die Geschichte, andere verstanden sie nicht recht, wieder andere kamen wohl mit Grund nicht über die vierte Zeile hinaus, doch Gonzalo Mallarino, dessen literarisches Urteil ich nicht ohne weiteres anzweifeln konnte, billigte sie ohne Abstriche.
Große Angst hatte ich vor dem Verdikt von Jorge Álvaro Espinosa, dessen messerscharfe Kritik auch außerhalb unseres Kreises gefürchtet war. Ich hatte widersprüchliche Gefühle: Einerseits wollte ich ihn sofort sehen, um ein für alle Mal die Ungewissheit los zu sein, zugleich aber schreckte mich der Gedanke, ihm zu begegnen. Er war bis zum Dienstag verschwunden, was bei einem unersättlichen Leser nicht weiter seltsam war, und als er dann wieder im Molino auftauchte, sprach er zunächst nicht über die Erzählung, sondern stattdessen über meine Kühnheit.
»Ich nehme an, du weißt, in was für einen Schlamassel du da geraten bist«, sagte er und fixierte mich mit den grünen Augen einer Königskobra. »Jetzt stehst du in der Vitrine der anerkannten Autoren und musst viel tun, um das auch zu verdienen.«
Ich war versteinert angesichts des einzigen Urteils, das mich ebenso beeindrucken konnte wie das von Ulises. Bevor Espinosa zum Ende kam, beschloss ich, ihm zuvorzukommen, und sagte, was ich für die Wahrheit hielt und noch immer halte:
»Diese Geschichte ist Scheiße.«
Er erwiderte unbeirrt und gelassen, dazu könne er noch nichts sagen, weil er nur zum Querlesen Zeit gehabt hätte. Erklärte mir dann aber, selbst wenn die Erzählung so schlecht wäre, wie ich sagte, könne sie doch nicht so übel sein, um diese einzigartige Gelegenheit, die mir das Leben böte, zu verschenken.
»Wie auch immer, diese Geschichte gehört bereits der Vergangenheit an«, schloss er. »Wichtig ist jetzt die nächste.«
Ich war verwirrt und suchte unsinnigerweise nach Gegenargumenten, bis ich mich davon überzeugt hatte, dass ich keinen intelligenteren Rat als den seinen hören würde. Er verbreitete sich über seine fixe Idee, dass man erst die Geschichte und dann den Stil entwickeln müsse, dass jedoch das eine auf das andere in gegenseitiger Dienstbarkeit angewiesen sei, genau das sei der Zauberstab der Klassiker. Er unterhielt mich eine Zeit lang mit seiner oft wiederholten Ansicht, dass es mir an einer gründlichen und unvoreingenommenen Lektüre der Griechen mangele, und zwar nicht nur von Homer, dem Einzigen, den ich als Pflichtlektüre in der Oberschule gelesen hatte. Ich versprach ihm, es nachzuholen, und wollte noch andere Namen hören, er wechselte jedoch das Thema, fing mit den Falschmünzern von Andre Gide an, ein Buch, das er an jenem Wochenende gelesen hatte. Ich habe mich nie getraut, ihm zu sagen, dass unser Gespräch vielleicht mein Leben zurechtgerückt hatte. Ich blieb die Nacht über wach und machte mir Notizen für die nächste Erzählung, die ohne die Mäander der ersten auskommen sollte.
Ich hatte den Verdacht, dass diejenigen, die mit mir darüber sprachen, nicht so sehr von der Geschichte selbst - die sie vielleicht gar nicht gelesen oder kaum verstanden hatten -beeindruckt waren als davon, dass sie ungewöhnlich groß aufgemacht in der wichtigen Literaturbeilage erschienen war. Als Erstes wurden mir meine beiden großen Schwächen bewusst, die Unbeholfenheit beim Schreiben und die Unkenntnis des menschlichen Herzens. Das heißt, es fehlte das Wesentliche. Und das war meiner ersten Erzählung, einer ebenso konfusen wie abstrakten Meditation, deutlich anzumerken und wurde durch den Missbrauch ausgedachter Gefühle noch verschlimmert.
Für die zweite Erzählung suchte ich in der Erinnerung nach Situationen aus dem realen Leben, und mir fiel ein, dass eine der schönsten Frauen in meiner Kindheit mir gesagt hatte, sie wäre gern in der wundersam schönen Katze, die sie auf ihrem Schoß streichelte. Ich fragte warum, und sie antwortete mir: »Weil sie schöner ist als ich.« Damit hatte ich einen Ansatzpunkt für meine zweite Erzählung und einen attraktiven Titel: Eva ist in ihrer Katze. Der Rest war, wie in der vorherigen Geschichte, aus dem Nichts erfunden, und eben deshalb trugen beide Texte den Keim der eigenen Zerstörung in sich - wie wir damals gern sagten.
Diese Erzählung wurde am Samstag, dem 25. Oktober 1947 an ebenso prominenter Stelle wie die vorherige veröffentlicht und von Enrique Grau, einem aufsteigenden Stern am karibischen Himmel, illustriert. Es fiel mir auf, dass meine Freunde die Veröffentlichung nun wie etwas Routinemäßiges bei einem eingeführten Schriftsteller aufnahmen. Ich dagegen litt an den Schwächen und zweifelte an den Stärken, es gelang mir jedoch halbwegs, mein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Der große Schlag kam ein paar Tage später mit der täglichen Kolumne von Eduardo Zalamea in El Espectador. Unter dem gewohnten Pseudonym Ulises kam er direkt auf den Punkt: »Die Leser von >El Fin de Semana<, der Literaturbeilage dieser Zeitung, werden das Erscheinen eines neuen, originellen Geistes von kraftvoller Persönlichkeit bemerkt haben.« Und weiter unten: »In der Phantasie ist alles möglich. Die Perlen, die man ihr abgewinnen kann, dann auf natürliche, schlichte Weise und ohne großes Aufheben darzubieten gelingt aber nicht allen Zwanzigjährigen, die eine erste Beziehung mit der Literatur eingehen.« Und er schloss unumwunden: »Mit García Márquez ist ein neuer, bemerkenswerter Schriftsteller geboren.«
Die Glosse löste - wie sollte es anders sein! - ein Glücksgefühl in mir aus, doch zugleich war ich darüber konsterniert, dass Zalamea sich keine Rückzugsmöglichkeit offen gelassen hatte. Es war schon alles gesagt, und ich musste seinen Großmut als einen Appell an mein Gewissen betrachten, für den Rest meines Lebens. Aus der Kolumne ging auch hervor, dass Ulises durch einen seiner Redaktionskollegen entdeckt hatte, wer ich war. An jenem Abend erfuhr ich, dass dieser Kollege Gonzalo González war, ein Cousin meiner Cousins, der fünfzehn Jahre lang mit anhaltender Leidenschaft unter dem Pseudonym Gog für die Zeitung eine Kolumne verfasste, in der er auf Leserfragen einging, und das fünf Meter von Eduardo Zalameas Schreibtisch entfernt. Zum Glück suchte Zalamea nicht meine Bekanntschaft, und auch ich suchte nicht die seine. Ich hatte ihn einmal am Tisch des Dichters León de Greiff gesehen, wo ich seine Stimme und sein Husten eines unverbesserlichen Rauchers kennen lernte, sah ihn auch auf mehreren kulturellen Veranstaltungen, doch keiner stellte uns einander vor. Die einen, weil sie uns nicht beide kannten, und die anderen, weil sie nicht darauf kamen, dass wir uns nicht kennen könnten.
Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr die Poesie damals das Leben bestimmte. Sie war eine heftige Leidenschaft, eine andere Art zu leben, ein Kugelblitz, der überall auftauchen konnte. Wir öffneten die Zeitung, und dort, sogar im Wirtschaftsteil oder in den Gerichtsberichten, oder wenn wir im Kaffeesatz lasen, erwartete uns die Poesie, um sich unserer Träume zu bemächtigen. Also war für uns Eingeborene aller Provinzen Bogotá nicht nur Hauptstadt und Regierungssitz, sondern vor allem die Stadt, in der die Dichter wohnten. Wir glaubten nicht nur an die Poesie und verzehrten uns für sie, sondern waren uns auch dessen gewiss, dass - wie Luis Cardoza y Aragón schrieb - »die Poesie der einzige konkrete Beweis für die Existenz des Menschen« ist.
Die Welt gehörte den Dichtern. Ihre neuen Bücher waren für meine Generation wichtiger als die immer deprimierenderen politischen Neuigkeiten. Die kolumbianische Lyrik war im Licht des einsamen Sterns José Asunción Silva aus dem 19. Jahrhundert aufgetaucht, eines sublimen Romantikers, der mit einunddreißig Jahren die Pistole in den Kreis setzte, den sein Arzt ihm über dem Herzen mit Jod auf die Brust gepinselt hatte. Ich wurde nicht rechtzeitig geboren, um Rafael Pombo oder den großen Lyriker Eduardo Castillo kennen gelernt zu haben; Letzteren haben mir seine Freunde als Gespenst beschrieben, das bei Einbruch der Dunkelheit mit einer vom Morphium grünlichen Haut und dem Profil eines Hühnergeiers in einem weiten Cape seinem Grab entwich: die Verkörperung eines poète maudit. Eines Nachmittags fuhr ich mit der Straßenbahn an einem Herrenhaus in der Carrera Séptima vorbei und sah am Portal die beeindruckendste Erscheinung meines Lebens, einen Mann in makellosem Anzug mit einem englischen Hut, schwarzen Gläsern für seine lichtlosen Augen und einem Savannenponcho. Es war der Dichter Alberto Angel Montoya, ein etwas bombastischer Romantiker, der einige der guten Gedichte seiner Zeit geschrieben hatte. Für meine Generation waren das schon Geister aus der Vergangenheit, mit Ausnahme des Meisters León de Greiff, dem ich jahrelang im Café El Molino auflauerte.
Keiner von ihnen kam aber auch nur annähernd an den Ruhm von Guillermo Valencia heran, einem Aristokraten aus Popayän, der sich noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr als Papst der Generation Centenario durchgesetzt hatte, die so genannt wurde, weil sie 1910 zeitgleich mit der Hundertjahresfeier der nationalen Unabhängigkeit aufgetreten war. Seine Zeitgenossen Eduardo Castillo und Porfirio Barba Jacob, zwei große, von der Romantik inspirierte Dichter, wurden in einem vom rhetorischen Marmor Valencias geblendeten Land nicht angemessen von der Kritik gewürdigt. Valencias mythischer Schatten stand noch drei weiteren Generationen im Weg. Zu der ihm unmittelbar folgenden, die sich 1925 mit dem Namen und dem Schwung der Neuen als Los Nuevos formierte, gehörten so großartige Lyriker wie Rafael Maya und wieder einmal León de Greiff, die, solange Valencia auf seinem Thron saß, nicht in ihrer wahren Bedeutung erkannt wurden. Die ganze Zeit über genoss er einen einzigartigen Ruhm, der ihn bis an die Schwelle der Präsidentschaft der Republik brachte.
Die Einzigen, die es in einem halben Jahrhundert wagten, ihn herauszufordern, waren die Dichter der Gruppe Piedra y Cielo mit ihren jugendlichen Bändchen: Eduardo Carranza, Arturo Camacho Ramírez, Aurelio Arturo und Jorge Rojas selbst, der die Veröffentlichung der Gedichte finanzierte. Sie alle waren weder im Formalen noch in der Inspiration gleich geartet, zusammen erschütterten sie jedoch die archäologischen Ruinen der Parnassiens und erweckten eine neue Poesie des Herzens zum Leben, mit vielfachen Anklängen an Juan Ramón Jiménez, Rubén Darío, García Lorca, Pablo Neruda und Vicente Huidobro. Die öffentliche Anerkennung kam nicht sofort, und ihnen war wohl selbst nicht bewusst, dass sie als himmlische Boten angesehen wurden, die das Haus der Poesie ausmisteten. Baldomero Sanín Cano, der angesehenste Essayist und Kritiker jener Jahre, beeilte sich damals jedoch, mit einem entschiedenen Essay jede Bewegung gegen Valencia im Keim zu ersticken. Für seine maßvollen Urteile bekannt, vergaß er nun alle Zurückhaltung. Apodiktisch erklärte er unter anderem, dass Valencia die klassische Kunst beherrsche, die Seele ferner, vergangener Zeiten zu ergründen, während er über zeitgenössischen Texten grübele, um mit Analogien die ganze Seele des Menschen in Staunen zu versetzen. Einmal mehr verlieh der Kritiker Valencia die Weihe, ein Dichter ohne Zeit und ohne Grenzen zu sein, und stellte ihn in eine Reihe mit jenen, die »wie Lukrez, Dante und Goethe den Leib nährten, um die Seele zu retten«. Manch einer muss sich gedacht haben, dass Valencia bei solchen Freunden keine Feinde benötigte.
Eduardo Carranza erwiderte Sanín Cano mit einem Artikel, dessen Titel schon alles sagte: »Ein Fall von Bardolatrie«. Das war der erste wirksame Vorstoß, Valencia in seine Grenzen zu verweisen und seinen Sockel auf das rechte Maß zurechtzustutzen. Carranza warf ihm vor, in Kolumbien nicht eine Flamme des Geistes entzündet, sondern ein orthopädisches Sprachkorsett eingeführt zu haben, und er beschrieb Valencias Verse als die eines manierierten, kühlen und geschickten Künstlers, eines gewissenhaften Ziseleurs. Seine Schlussfolgerung war eine Frage an sich selbst, die in ihrer Essenz eines seiner guten Gedichte hätte sein können: »Wenn die Poesie nicht mein Blut beschleunigt, nicht plötzliche Fenster auf Geheimnisvolles öffnet, mir nicht hilft, die Welt zu erkunden, und so diesem trostlosen Herzen in der Einsamkeit und in der Liebe beisteht, im Festtaumel und in der Kälte, wozu dann Poesie?« Und er schloss: »Für mich - was bin ich für ein Ketzer! - ist Valencia kaum ein guter Dichter.« Die Veröffentlichung von »Ein Fall von Bardolatrie« in der Beilage »Lecturas Dominicales« der Zeitung El Tiempo, die damals eine große Verbreitung hatte, löste geradezu eine gesellschaftliche Erschütterung aus. Darüber hinaus führte sie erfreulicherweise dazu, dass die Dichtung in Kolumbien von ihren Ursprüngen an gründlich untersucht wurde, was mit solcher Ernsthaftigkeit wohl nicht geschehen war, seitdem Juan de Castellanos die hundertfünfzigtausend elfsilbigen Verse seiner Elegien über berühmte Männer Westindiens geschrieben hatte.
Von da an lebte die Poesie unter freiem Himmel. Nicht nur für die Gruppe Los Nuevos, die geradezu in Mode kam, sondern auch für andere, die später auftauchten und sich ihren Platz mit den Ellbogen erkämpften. Die Poesie wurde so populär, dass heute kaum verständlich ist, wie sehr man auf jede neue Ausgabe der von Carranza geleiteten »Lecturas Dominicales« hinlebte oder auf das Erscheinen von Sabado, für den unser ehemaliger Rektor am Liceo, Carlos Martín, verantwortlich war. Mit dem Ruhm seiner Gedichte setzte Carranza auch um sechs Uhr abends auf der Carrera Séptima in Bogotá eine Lebensform als Dichter durch, man wandelte gleichsam in einem zehn Straßen langen Schaufenster umher, ein Buch in der Hand und die Hand auf dem Herzen. Er war für seine Generation ein Vorbild, das in der nächsten Schule machte, für jeden auf seine Weise.
In der Mitte des Jahres kam der Dichter Pablo Neruda nach Bogotá, der davon überzeugt war, dass die Poesie eine Waffe im politischen Kampf zu sein hatte. Bei den Dichterrunden in Bogotá erfuhr er, wie reaktionär Laureano Gómez war, und gewissermaßen zum Abschied schrieb er drei Strafsonette, die ihm förmlich aus der Feder flössen. Das erste Quartett gab den Ton für die folgenden an:
Adiós, Laureano, nie vom Lorbeer gekrönter trauriger Tyrann, hergelaufner König.
Adiós, Imperator der vierten Etage,
Du vor der Zeit unaufhörlich Gelöhnter.
Trotz seiner Sympathien für die Rechte und seiner persönlichen Freundschaft mit Laureano Gómez brachte Carranza die Sonette in seinen Literaturseiten groß heraus, mehr als journalistische Nachricht denn als politische Erklärung. Die Ablehnung war aber fast einhellig. Insbesondere weil die Veröffentlichung in der Zeitung eines Altliberalen wie dem Expräsidenten Eduardo Santos widersinnig schien, da Santos der rückständigen Gesinnung von Laureano Gómez ebenso fern stand wie der revolutionären Pablo Nerudas. Am lautesten reagierten diejenigen, die einem Dichter aus dem Ausland nicht eine solche Einmischung zubilligten. Schon allein die Tatsache, dass drei spitzfindige Sonette, die doch eher geistreich als poetisch waren, eine solche Aufregung auslösen konnten, war ein ermutigendes Zeichen für die Macht der Poesie in jenen Jahren. Jedenfalls wurde Pablo Neruda, als Laureano Gómez dann Präsident der Republik war, ebenso wie später unter der Regierung von General Rojas Pinilla, die Einreise in Kolumbien verweigert; dennoch war Neruda mehrmals in Cartagena und Buenaventura, wenn sein Schiff auf einer Fahrt von Chile nach Europa dort Station machte. Für seine kolumbianischen Freunde, denen er jeweils Bescheid gab, war jeder Aufenthalt auf der Hinoder Rückfahrt ein Grund, groß zu feiern.
Als ich im Februar 1947 widerwillig in die juristische Fakultät eintrat, war meine Identifikation mit der Gruppe Piedra y Cielo ungebrochen. Obwohl ich die bedeutendsten Mitglieder bei Carlos Martín in Zipaquirá kennen gelernt hatte, wagte ich es nicht, mich darauf zu berufen, nicht einmal bei Carranza, der von allen am zugänglichsten war. Einmal bin ich ihm in der Buchhandlung Grancolombia begegnet, er stand unübersehbar ganz in meiner Nähe, und ich gab mich als ein Verehrer zu erkennen. Er ging höflich darauf ein, erkannte mich jedoch nicht. Meister León de Greiff hingegen erhob sich von seinem Tisch im Molino, um mich an meinem Tisch zu begrüßen, nachdem ihm jemand erzählt hatte, dass ich Erzählungen in El Espectador veröffentlicht hatte, und er versprach mir, sie zu lesen. Leider fand wenige Wochen später der Volksaufstand vom 9. Juli statt, so dass ich die brennende Stadt verlassen musste. Als ich vier Jahre später nach Bogotá zurückkehrte, lag El Molino in Staub und Asche, und der Meister war mit seinen Siebensachen und seinem Hofstaat von Freunden ins Café Automático umgezogen, wo wir über Bücher und Aguardiente zueinander fanden und er mir beibrachte, kunst- und glücklos die Schachfiguren zu bewegen.
Meine Freunde aus der ersten Zeit verstanden nicht, warum ich mich darauf verlegte, Erzählungen zu schreiben, und auch ich konnte es mir nicht erklären, lebte ich doch in einem Land, in dem die Lyrik als höchste Kunst galt. Das hatte ich schon als Kind am Erfolg von Miseria humana, Menschliches Elend, ermessen können, einem populären Gedicht, das in billigen Heftchen verkauft oder für zwei Centavos auf den Märkten und Friedhöfen der karibischen Dörfer rezitiert wurde. Romane gab es dagegen nur wenige. Seit Maria von Jorge Isaacs waren zwar eine ganze Reihe geschrieben worden, doch ohne größere Resonanz geblieben. Mit seinen zweiundfünfzig Romanen, die direkt ins Herz der Armen zielten, galt José Maria Vargas Vila als außergewöhnliches Phänomen. Er war ein unermüdlicher Reisender und schleppte in seinem übermäßigen Gepäck die eigenen Bücher mit, die dann an den Eingängen seiner Hotels in Lateinamerika und Spanien ausgestellt wurden und wie warmes Brot weggingen. Aura o las violetas, sein Starroman, brach mehr Herzen als viele bessere Bücher seiner Zeitgenossen.
Die wenigen Romane, die ihre Zeit überlebten, waren El carnero, den der Spanier Juan Rodríguez Freyle mitten in der Kolonialzeit von 1600 bis 1638 schrieb, ein so maßlos und frei gestalteter Bericht über die Geschichte von Neu Granada, dass er nunmehr als fiktionales Meisterwerk gilt; ferner Maria von Jorge Isaacs, 1867 erschienen; DerStrudel von José Eustasio Rivera aus dem Jahr 1924; Die Marquise von Yolombó von Tomás Carrasquilla von 1926 und Eduarde Zalameas Cuatro años a bordo de mi mismo, das 1934 erschien. Keiner dieser Autoren erhaschte auch nur einen Zipfel des Ruhmes, den so viele Lyriker zu Recht oder Unrecht genossen. Die Erzählung hingegen hatte - trotz eines so bedeutenden Vorläufers wie Carrasquilla, dem großen Schriftsteller aus Antioquía - an den Riffen einer seelenlosen Rhetorik Schiffbruch erlitten.
Der Beweis dafür, dass mein Talent sich aufs Erzählen beschränkte, war die Flut von Versen, die ich unsigniert oder unter Pseudonym im Liceo zurückließ, da ich nie die Absicht gehabt hatte, für sie zu sterben. Mehr noch: Als ich die ersten Erzählungen in El Espectador veröffentlichte, beanspruchten viele diese Gattung für sich, obwohl sie auf Grund ihrer Texte dazu nicht wirklich berechtigt waren. Heute meine ich, dass dies aus den Lebensumständen in Kolumbien erklärlich ist, die in vielerlei Hinsicht noch die des vorigen Jahrhunderts waren. Vor allem im düsteren Bogotá der vierziger Jahre, das sich, als ich mich gegen meinen Wunsch und Willen an der Universidad Nacional immatrikulierte, noch immer nach der Kolonialzeit zurücksehnte.
Um das zu erkennen, musste man nur in das neuralgische Zentrum an der Carrera Séptima und der Avenida Jiménez de Quesada eintauchen, ein Ort, der in Bogotánischer Maßlosigkeit zur wichtigsten Straßenecke der Welt erklärt worden war. Wenn die Uhr am Turm von San Francisco zwölf Uhr mittags schlug, blieben die Männer auf der Straße stehen oder unterbrachen ihre Gespräche im Café, um die Uhr nach der offiziellen Zeit der Kirche zu stellen. Rund um diese Straßenkreuzung und in den anschließenden Straßen lagen die beliebtesten Treffpunkte, wo sich zweimal am Tag die Kaufleute, die Politiker und die Journalisten - und die Dichter natürlich - zusammenfanden, alle von Kopf bis Fuß in Schwarz, wie König Philip der Vierte.
In meiner Studentenzeit konnte man dort noch eine Zeitung lesen, die wohl nur wenige Vorläufer auf der Welt gehabt hat. Es handelte sich, wie in der Schule, um eine schwarze Tafel, die um zwölf Uhr mittags sowie um fünf Uhr abends auf dem Balkon von El Espectador ausgestellt wurde und auf die man die letzten Nachrichten in Kreide schrieb. Um diese Zeit war ein Durchkommen mit der Straßenbahn schwer bis unmöglich, weil dort eine Menschenmenge ungeduldig auf die Neuigkeiten wartete. Die Straßenleser hatten zudem die Möglichkeit, die ihrer Ansicht nach guten Nachrichten mit Ovationen zu begrüßen und jene, die ihnen missfielen, auszupfeifen oder mit Steinwürfen auf die Tafel zu quittieren. Das war eine unmittelbare Form der demokratischen Willensäußerung und für den Espectador das beste Thermometer, um das Fieber der öffentlichen Meinung zu messen.
Es gab noch kein Fernsehen, dafür ausführliche Rundfunknachrichten, aber nur zu festgelegten Zeiten, so dass man, bevor man mittags oder abends zum Essen ging, noch auf die Tafel wartete, um mit einem vollständigeren Überblick über die Welt heimzukommen. Vor dieser Tafel verfolgte man auch mit beispielhafter und unvergesslicher Gewissenhaftigkeit den einsamen Flug des Kapitän Concha Venegas von Lima nach Bogotá. Wenn es um solche Nachrichten ging, wurde die Tafel mehrmals außerplanmäßig ausgetauscht, um die Neugier des Publikums mit Extrabulletins zu nähren. Von den Straßenlesern der einzigartigen Zeitung wusste keiner, dass der Erfinder und Sklave dieser Idee José Salgar war, der mit zwanzig als Frischling in die Redaktion von El Espectador gekommen war und nur mit Grundschulausbildung einer der großen Journalisten wurde.
Die wichtigste Institution in Bogotá waren die Cafés im Zentrum, in denen früher oder später das Leben des ganzen Landes zusammenströmte. Jedes von ihnen genoss zeitweise einen besonderen Ruf, der etwas mit Politik, Literatur oder dem Finanzwesen zu tun hatte, so dass ein großer Teil der kolumbianischen Geschichte jener Zeit in irgendeiner Beziehung zu den Cafés stand. Man wählte sein Lieblingscafé als untrügliches Zeichen der eigenen Identität.
Schriftsteller und Politiker der ersten Jahrhunderthälfte -darunter auch der eine oder andere Staatspräsident - waren in den Cafés der Galle Catorce, gegenüber von ihrem Gymnasium, dem Colegio del Rosario, zur Schule gegangen. Eines der dauerhaftesten war das Café Windsor, das seine Epoche der großen Politiker hatte und dem großen Karikaturisten Ricardo Rendon als Zuflucht diente. Er arbeitete dort an seinem Werk und schoss sich Jahre später auf der Gran Via eine Revolverkugel durch sein geniales Hirn.
Die Kehrseite meiner vielen langweiligen Nachmittage war dann die zufällige Entdeckung eines Musiksaals in der Nationalbibliothek, der für das Publikum geöffnet war. Er wurde mein liebster Zufluchtsort, und ich konnte dort im Schutz der großen Komponisten lesen, deren Musik wir schriftlich bei einer entzückenden Angestellten bestellen konnten. Die regelmäßigen Besucher entdeckten untereinander Wahlverwandtschaften aller Arten durch die Musik, die man jeweils bevorzugte. Viele meiner Lieblingsautoren lernte ich auf diese Weise begleitet von fremden Vorlieben kennen, die vielfältig und abwechslungsreich waren, und ich hasste über Jahre Chopin, weil ein unerbittlicher Melomane ihn ohne Erbarmen fast täglich bestellte.
Eines Tages war der Saal leer, weil etwas an der Anlage kaputt war, die Direktorin erlaubte mir jedoch, mich hineinzusetzen und in der Stille zu lesen. Zunächst fühlte ich mich wie in einem friedlichen Port, es gelang mir aber zwei Stunden lang nicht, mich auf meine Lektüre zu konzentrieren, weil mich immer wieder die Unruhe überkam und ich mich in der eigenen Haut fremd fühlte. Es dauerte mehrere Tage, bis ich merkte, dass nicht die Stille das Heilmittel für meine Unruhe war, sondern die Musik, die sich seitdem zu einer quasi heimlichen Leidenschaft entwickelt hat, für immer.
Sonntagnachmittags, wenn der Saal geschlossen wurde, war meine erbaulichste Unterhaltung, in einer der Straßenbahnen zu fahren, die für fünf Centavos zwischen der Plaza de Bolívar und der Avenida Chile unentwegt ihre Runden drehten, und hinter den blau getönten Scheiben jene Nachmittage der Adoleszenz zu verbringen, die eine endlose Schleppe vieler anderer verlorener Sonntage hinter sich her zu ziehen scheinen. Während dieser Fahrt im Teufelskreis las ich nur Gedichte, vielleicht eine Strophe pro Häuserblock, bis im ewigen Nieselregen die ersten Lichter aufleuchteten. Dann ging ich durch die verschwiegenen Cafés der Altstadt, auf der Suche nach irgendjemandem, der sich meiner erbarmte und mit mir über die Gedichte sprach, die ich gerade gelesen hatte. Manchmal fand ich einen - immer war es ein Mann -, und wir hockten bis weit nach Mitternacht in irgendeiner finsteren Kneipe, zündeten die Kippen wieder an, die wir geraucht hatten, und sprachen über Poesie, während überall sonst auf der Welt sich die Menschheit der Liebe hingab.
Zu jener Zeit waren alle jung, aber wir fanden immer welche, die noch jünger waren als wir. Die Generationen traten einander auf die Fersen, vor allem bei den Dichtern und den Kriminellen, und kaum war einem etwas gelungen, tauchte bereits ein anderer auf, der drohte, es besser zu machen. Zuweilen stoße ich zwischen alten Papieren auf eines der Bilder der Straßenfotografen, die uns im Atrium der Kirche San Francisco ablichteten, und kann ein mitleidiges Schnauben nicht unterdrücken, denn es scheint so, als seien nicht wir das, sondern unsere eigenen Kinder, in einer Stadt der geschlossenen Türen, in der nichts leicht war, vor allem nicht, den Sonn-tagnachmhtag ohne Liebe zu überleben. In jenem Atrium lernte ich zufällig meinen Onkel José Maria Valdeblánquez kennen; ich meinte, meinen Großvater zu sehen, als er sich mit dem Regenschirm den Weg durch die sonntägliche Menge bahnte, die aus der Kirche strömte. Sein Aufzug entsprach ganz seinem Wesen: Anzug aus schwarzem Tuch, weißes Hemd mit Zelluloidkragen, diagonal gestreifte Krawatte, Weste mit Uhrkette, steifer Hut und goldene Brille. Ich war so gebannt, dass ich mich ihm, ohne es zu bemerken, in den Weg stellte. Drohend erhob er den Regenschirm und herrschte mich, eine Spanne vor meinen Augen, an:
»Kann ich vorbei?«
»Verzeihen Sie«, sagte ich beschämt. »Ich habe Sie mit meinem Großvater verwechselt.«
Er sah mich weiter mit dem Forscherblick eines Astronomen an und fragte mit böser Ironie:
»Und darf man wissen, wer dieser berühmte Großvater ist?«
Verwirrt von der eigenen Impertinenz, sagte ich ihm den vollständigen Namen. Daraufhin senkte er den Regenschirm und lächelte gutlaunig.
»Dann hat die Ähnlichkeit ihren Grund«, sagte er, »ich bin sein Erstgeborener.«
Der Alltag an der Universidad Nacional war leichter zu bewältigen. Ich schaffe es jedoch nicht, mir jene Zeit konkret ins Gedächtnis zurückzurufen, mir ist, als sei ich keinen einzigen Tag lang Jurastudent gewesen, obwohl meine Noten des ersten Studienjahrs - das einzige, das ich in Bogotá beendete -das Gegenteil nahe legen. An der Fakultät gab es weder Zeit noch Gelegenheit, so persönliche Beziehungen wie in der Schule aufzubauen, und nach Ende der Vorlesungen verstreuten sich die Kommilitonen über die ganze Stadt. Die angenehmste Überraschung war, dass Pedro Gómez Valderrama Generalsekretär der juristischen Fakultät war, ein Schriftsteller, den ich von seinen ersten Beiträgen für die Literaturblätter her kannte und der mir dann bis zu seinem frühzeitigen Tod ein guter Freund war.
Mein engster Studienfreund war vom ersten Jahr an Gonzalo Mallarino Botero, der als Einziger daran gewöhnt war, an bestimmte Wunder des Lebens zu glauben, die wahr, aber nicht wirklich sind. Er zeigte mir, dass die juristische Fakultät nicht so steril war, wie ich dachte, als er mich am ersten Tag um sieben Uhr früh aus dem Kurs für Statistik und Demo-grafie herausholte und zu einem poetischen Duell im Uni-vers^tscafé herausforderte. In den toten Vormittagsstunden rezitierte er die Gedichte der spanischen Klassiker, und ich erwiderte mit denen der jungen Kolumbianer, die das Feuer gegen die gespreizte Rhetorik des vorigen Jahrhunderts eröffnet hatten.
Eines Sonntags lud er mich zu sich nach Hause ein, wo er mit seiner Mutter und seinen Brüdern und Schwestern in einer Atmosphäre geschwisterlicher Spannungen lebte, die an rnein Elternhaus erinnerte. Victor, der Älteste, war bereits hauptberuflich ein Theatermann und ein im ganzen spanischen Sprachraum anerkannter Vortragskünstler. Seit ich dem Schutz meiner Eltern entkommen war, hatte ich mich nie mehr irgendwo zu Hause gefühlt, bis ich Pepa Botero kennen lernte, die Mutter der Mallarinos, eine Frau aus Antioquía, die sich auch inmitten der hermetischen Aristokratie von Bogotá nicht hatte verbiegen lassen. Mit ihrer natürlichen Intelligenz und ihrer reichen Sprache hatte sie die unvergleichliche Fähigkeit, genau den Ort zu kennen, an dem unflätige Worte zu ihrem cervantinischen Ursprung zurückkehren. Es waren unvergessliche Abende, wenn beim Duft der heißen Schokolade und der warmen Käseküchlein die Dunkelheit über die endlos smaragdene Savanne hereinbrach. Durch Pepa Boteros unbekümmerte Sprechweise und ihre Art, die Dinge des gewöhnlichen Lebens auszudrücken, habe ich Unschätzbares für eine neue Rhetorik des wirklichen Lebens gelernt.
Zwei weitere gleich gesinnte Studienkollegen waren Guillermo López Guerra und Álvaro Vidal Varon, die schon in Zipaquirä meine Mitstreiter gewesen waren. An der Fakultät kamen mir dann jedoch Luis Villar Borda und Camilo Torres näher, die unverdrossen und nur aus Liebe zur Kunst die Literaturbeilage von La Razón machten, einer fast geheimen Zeitung unter der Leitung des Dichters und Journalisten Juan Lozano y Lozano. Wenn der Redaktionsschluss bevorstand, ging ich mit ihnen ins Büro der Zeitung und half ihnen bei den dringlichen Arbeiten der letzten Minuten. Ein paar Mal bin ich dort mit dem Direktor zusammengetroffen; ich bewunderte seine Sonette und mehr noch die Lebensbilder von historischen Persönlichkeiten Kolumbiens, die er in der Zeitschrift Sábado veröffentlichte. Er konnte sich vage an den Artikel von Ulises über mich erinnern, hatte aber keine meiner Erzählungen gelesen, und ich wechselte das Thema, weil ich mir sicher war, dass sie ihm nicht gefallen würden. Schon beim ersten Mal sagte er mir zum Abschied, dass seine Zeitung mir offen stände, ich hielt das aber nur für eine bogotanische Höflichkeit.
Im Café Asturias stellten mir Camilo Torres und Luis Villar Borda den sechzehnjährigen Plinio Apuleyo Mendoza vor, der bereits eine Reihe von lyrischen Prosatexten veröffentlicht hatte, eine Gattung, die, von Eduardo Carranza auf den Literaturseiten von El Tiempo durchgesetzt, gerade in Mode gekommen war. Plinio hatte die gegerbte Haut und das blauschwarze, glatte Haar eines Indios, was zu seiner guten Erscheinung beitrug. Trotz seiner Jugend war es ihm gelungen, mit seinen Beiträgen im Sdbado Ansehen zu erwerben, einer Wochenzeitschrift, die sein Vater, der ehemalige Verteidigungsminister Plinio Mendoza Neira, gegründet hatte. Dieser war ein geborener Journalist, der in seinem Leben vielleicht keine einzige Zeile geschrieben, dafür aber vielen anderen beigebracht hat, ihre Zeilen für Zeitungen zu schreiben, die er mit großem Tamtam ins Leben rief und dann aufgab, weil er ein hohes politisches Amt angeboten bekommen hatte oder andere grandiose und katastrophische Unternehmen gründen wollte. Den Sohn habe ich damals nur zwei oder drei Mal gesehen, immer in Begleitung meiner Kommilitonen. Mich beeindruckte, dass er in seinen jungen Jahren wie ein alter Mann argumentierte, und ich wäre nie darauf gekommen, dass wir ein paar Jahre später so viele Stunden tollkühner Zeitungsarbeit teilen würden, schon weil ich damals das Gaukelspiel des Journalismus noch nicht als möglichen Beruf ansah, und die Zeitungswissenschaft mich noch weniger als Jura interessierte.
So hätte ich auch nicht gedacht, dass ich mich je für den Journalismus würde begeistern können, bis zu einem jener Tage, als Elvíra Mendoza, Plinios Schwester, ein eiliges Interview mit der argentinischen Vortragskünstlerin Berta Singer-man machte, das mit meinen Vorurteilen über dieses Handwerk aufräumte und mir ungeahnte Möglichkeiten entdeckte. Es war kein klassisches Interview aus Fragen und Antworten - dem ich seit jeher skeptisch gegenüberstehe -, sondern mit das originellste, das je in Kolumbien veröffentlicht wurde. Jahre später, als Elvíra Mendoza bereits eine international anerkannte Journalistin und meine gute Freundin war, erzählte sie mir, dass sie aus der Not eine Tugend gemacht hatte.
Berta Singermans Ankunft war das Ereignis des Tages gewesen. Elvíra, Leiterin der Frauenseiten in der Zeitschrift Sábado, wollte ein Interview machen, bekam auch von ihrem Vater die Erlaubnis dazu, obwohl dieser wegen Elvíras mangelnder Erfahrung mit dem Genre einige Bedenken hatte. Die Redaktion des Sábado war ein Treffpunkt der bekanntesten Intellektuellen jener Jahre, und Elvíra bat sie um Tipps für ihre Interviewfragen, geriet dann aber angesichts der Geringschätzung, mit der Berta Singerman sie in der Präsidentensuite des Hotels Granada empfing, an den Rand der Panik.
Von Anfang an gefiel die Künstlerin sich darin, die gestellten Fragen als einfältig oder schwachsinnig zurückzuweisen, ohne zu ahnen, dass sich hinter jeder Frage jeweils einer jener renommierten Schriftsteller verbarg, die sie auf ihren vielen Besuchen in Kolumbien kennen und bewundern gelernt hatte. Elvíra, die schon immer ein wacher Geist war, musste verunsichert die Kränkung hinnehmen und die Tränen hinunterschlucken. Das überraschende Erscheinen von Berta Singermanns Mann rettete die Reportage, da er die Situation, die sich schon zu einem ernsthaften Zwischenfall zuspitzte, mit exquisitem Takt und Sinn für Humor auffing.
Elvíra schrieb nicht wie vorgesehen das Gespräch mit den Antworten der Diva nieder, sondern stattdessen eine Reportage über die Schwierigkeiten mit ihr. Sie nutzte den Glücksfall, dass der Ehemann eingegriffen hatte, dazu, aus ihm die Hauptperson zu machen. Berta Singerman bekam einen ihrer historischen Wutanfälle, als sie das Interview las. Sábado, bereits die meistgelesene Zeitschrift, konnte das nicht schaden, und als sie dann wöchentlich erschien, stieg ihre Verbreitung auf hunderttausend Exemplare in einer Stadt von sechshunderttausend Einwohnern.
Die Kaltblütigkeit und der Witz, mit denen Elvíra Mendoza die Torheit Berta Singermans dazu genutzt hatte, deren wahres Wesen zu enthüllen, ließ mich zum ersten Mal über die Möglichkeiten der Reportage nachdenken, nicht als beliebtes Informationsmedium, sondern als viel mehr: als literarische Gattung. Es sollten nur wenige Jahre vergehen, bis ich mich selbst daran erprobte und schließlich zu der Überzeugung gelangte, der ich heute mehr denn je anhänge, dass Roman und Reportage Kinder ein und derselben Mutter sind.
Vor Bogotá hatte ich mich nur an Lyrik gewagt: satirische Verse in der Schülerzeitschrift des Colegio San José, lyrische Prosa und Sonette an imaginäre Lieben nach der Manier von Piedra y Cielo in der einzigen Nummer der Gaceta Literaria am Liceo. Kurz zuvor hatte Cecilia González, meine Vertraute aus Zipaquira, den Dichter und Essayisten Daniel Arango dazu überredet, eines meiner Lieder in der verstecktesten Ecke der Sonntagsbeilage von El Tiempo zu drucken - unter Pseudonym und in Sieben-PunktSchrift. Die Veröffentlichung hat mich nicht beeindruckt und mir auch nicht das Gefühl gegeben, mehr Dichter zu sein, als ich war. Durch Elvíras Reportage aber entdeckte ich den Journalisten, der in meinem Herzen schlummerte, und bekam Mut, ihn zu wecken. Ich begann, Zeitungen auf eine andere Art zu lesen. Camilo Torres und Luis Villar Borda, die mit mir einer Meinung waren, erneuerten das Angebot von Don Juan Lozano, in La Razón zu veröffentlichen, aber ich wagte nur, zwei formalistische Gedichte beizusteuern, die ich nie als eigene angesehen habe. Sie schlugen mir vor, mit Plmio Apuleyo Mendoza über Möglichkeiten bei der Zeitschrift Sábado zu sprechen, doch mein Schutzengel Schüchternheit ließ mich wissen, dass mir noch einiges fehlte, um mich im Dunklen an ein neues Handwerk zu wagen. Dennoch hatte meine Entdeckung unmittelbar nützliche Folgen, da mich in jener Zeit gerade das schlechte Gewissen plagte, dass ich mit allem, was ich schrieb, egal ob Prosa oder Lyrik, sogar bei den Aufgaben im Liceo, auf dreiste Weise Piedra y Cielo imitiert hatte, so dass ich mir vornahm, mit meiner nächsten Erzählung grundlegend neu anzusetzen. Die Schreibpraxis hat mich davon überzeugt, dass die im Spanischen auf -mente endenden Adverbien eine schlechte Angewohnheit und ein Armutszeugnis sind. Also begann ich sie zu tilgen, wo immer sie mir begegneten, eine Obsession, die, wie ich glaube, dazu zwingt, reichere und ausdrucksstärkere Formen zu finden. Schon seit langem gibt es in meinen Büchern kein einziges dieser Adverbien mehr, es sei denn in Zitaten. Ich weiß natürlich nicht, ob meine Übersetzer diese stilistische Paranoia erkannt und sie sich von Berufs wegen zu Eigen gemacht haben.
Die Freundschaft mit Camilo Torres und Villar Borda ging schon bald über die Grenzen der Vorlesungssäle und der Redaktion hinaus, und wir verbrachten mehr Zeit zusammen auf der Straße als in der Universität. Die beiden übten harsche Kritik an der politischen und sozialen Lage und köchelten in ihrer Wut. Eingetaucht in die Mysterien der Literatur, machte ich nicht einmal den Versuch, ihre zirkelschlüssigen Analysen und ihre düsteren Vorhersagen zu begreifen, dennoch gehören die Spuren ihrer Freundschaft zu dem Angenehmsten und Nützlichsten aus jener Zeit.
Bei den Vorlesungen in der Universität war ich jedoch gestrandet. Ich habe immer meinen mangelnden Respekt vor den Meriten der großen Lehrer bedauert, die unseren Widerwillen ertragen mussten. Zu ihnen gehörte Alfonso López Michelsen, Sohn des einzigen kolumbianischen Präsidenten des 20. Jahrhunderts, der wiedergewählt wurde. Daher kam, glaube ich, das allgemeine Empfinden, dass auch er von Geburt her zum Präsidenten bestimmt war, was er dann auch wurde. Zu seiner Einführung in die Rechtswissenschaft kam er mit irritierender Pünktlichkeit und prächtigen, in London geschneiderten Kaschmir-jackets. Er hielt seine Vorlesung, ohne dabei jemanden anzusehen, und hatte dieses überirdische Etwas der intelligenten Kurzsichtigen, die immer durch fremde Träume zu wandeln scheinen. Seine Vorlesungen waren für mich monotone Monologe, wie alle Vorlesungen, in denen es nicht um Poesie ging, doch die Langeweile in seiner Stimme hatte die hypnotische Kraft eines Schlangenbeschwörers. Die Rechtswissenschaft war ein solides Fundament für seine breite literarische Bildung, die er schriftlich und mündlich zu nützen wusste, was ich jedoch erst schätzen lernte, als wir uns Jahre später wieder begegneten und uns fernab von einschläfernden Vorlesungen anfreundeten. Sein Prestige als eingefleischter Politiker nährte sich von seinem fast magischen persönlichen Charme und einer gefährlichen Hellsicht, mit der er die Hintergedanken anderer erkannte. Besonders derjenigen, die er nicht recht mochte. Seine herausragendste Tugend als Mann des öffentlichen Lebens war jedoch seine erstaunliche Fähigkeit, mit einem einzigen Satz eine historische Situation zu schaffen.
Im Laufe der Jahre gelang uns eine gute Freundschaft, an der Universität aber war ich nicht durch Eifer und Fleiß aufgefallen, und meine unüberwindliche Schüchternheit hatte eine abgrundtiefe Distanz geschaffen, gerade zu den Menschen, die ich bewunderte. Deshalb war ich sehr überrascht, als López Michelsen mich trotz meiner vielen Abwesenheiten, mit denen ich mir den Ruf eines unsichtbaren Studenten verdient hatte, zur Abschlussprüfung des ersten Jahres zuließ. Ich griff auf meinen alten Trick zurück, mit rhetorischen Mitteln dem Thema auszuweichen, merkte aber, dass der Lehrer meine List durchschaute, sie aber vielleicht als literarische Verschnaufpause zu schätzen wusste. Der einzige Stolperstein tauchte auf, als es in der Prüfung um Gewohnheitsrechte und Verjährung ging und ich in meiner Agonie den Begriff prescripción verwendete, worauf er eine Definition von mir forderte, um sicherzugehen, dass ich wusste, wovon ich sprach.
»Prescribir bedeutet, einen Besitz durch das Vergehen der Zeit zu erwerben«, sagte ich.
Er fragte sofort:
»Erwerben oder verlieren?«
Das war das Gleiche, aber meine angeborene Unsicherheit ließ mich nicht widersprechen. Es muss sich wohl um einen seiner berühmten Scherze zum Nachtisch gehandelt haben, weil er mein Zögern bei der Benotung nicht wertete. Viele Jahre später erwähnte ich den Vorfall, und er konnte sich natürlich nicht daran erinnern, doch zu diesem Zeitpunkt waren wir uns schon beide nicht mehr sicher, ob eine solche Episode je stattgefunden hatte.
Beide fanden wir in der Literatur ein ruhiges Gewässer, in dem wir die Politik und die Geheimnisse der Verjährung vergessen konnten. Stattdessen machten wir einander auf staunenswerte Bücher und vergessene Autoren in endlosen Gesprächen aufmerksam, die Gästerunden sprengten und unsere Frauen verzweifeln ließen. Meine Mutter hatte mir eingeredet, dass wir mit ihm verwandt seien, und das stimmte tatsächlich. Mehr als jeder entfernte Verwandtschaftsgrad verband uns jedoch die gemeinsame Leidenschaft für die Cantos Vallenatos.
Eine ferne verwandtschaftliche Beziehung bestand väterlicherseits auch zu dem Professor für politische Ökonomie Carlos H.
Pareja, dem Besitzer der Librería Grancolombia, die bei den Studenten besonders beliebt war, weil dort die gute Sitte herrschte, Neuerscheinungen berühmter Autoren offen und unbewacht auf Tischen auszulegen. Sogar Parejas eigene Studenten drangen in den unübersichtlichen Abendstunden in den Laden ein und ließen mit künstlerischer Fingerfertigkeit Bücher mitgehen, getreu dem Schülerkodex, dass Bücherklau zwar ein Vergehen, aber keine Sünde ist. Nicht aus Tugend, sondern aus rein physischer Angst beschränkte sich meine Rolle bei solchen Überfällen darauf, den Geschickteren Rückendeckung zu gewähren, unter der Bedingung, dass sie nicht nur den eigenen Bedarf deckten, sondern auch das eine oder andere von mir ausgesuchte Buch mitnahmen. Eines Abends, als einer meiner Gefährten gerade La ciudad sin Laura - Die Stadt ohne Laura - von Francisco Luis Bernárdez geklaut hatte, spürte ich eine wilde Pranke auf meiner Schulter und hörte eine Feldwebelstimme:
»Endlich erwischt!«
Ich drehte mich entsetzt um und stand vor Professor Carlos H. Pareja, während drei meiner Komplizen die wilde Flucht ergriffen. Bevor ich eine Entschuldigung vorbringen konnte, merkte ich zum Glück, dass mich der Lehrer nicht wegen Diebstahls gestellt hatte, sondern weil er mich seit über einem Monat nicht mehr in seiner Vorlesung gesehen hatte. Nach einem eher förmlichen Tadel fragte er:
»Stimmt es, dass du Gabriel Eligios Sohn bist?«
Es stimmte, aber ich verneinte, weil ich wusste, dass sein Vater und der meine wegen eines Vorfalls, den ich nie begriffen hatte, zerstritten waren. Zu einem späteren Zeitpunkt erfuhr er jedoch die Wahrheit und behandelte mich seitdem im Unterricht und in der Buchhandlung als seinen Neffen; unsere Beziehung hatte dann jedoch mehr mit Politik als mit Literatur zu tun, obwohl er einige Bände mit mehr oder weniger gelungenen Gedichten geschrieben und unter dem Pseudonym Simon Latino publiziert hatte. Das Bewusstsein dieser Verwandtschaft war allerdings nur für ihn von Vorteil, weil ich mich nicht mehr dafür hergab, den Bücherdiebstahl zu decken.
Ein anderer ausgezeichneter Lehrer, Diego Montana Cuéllar, war das ganze Gegenteil von López Michelsen, zu dem er in einer heimlichen Rivalität zu stehen schien. López war ein verspielter Liberaler, Montana Cuéllar ein radikaler Linker. Außerhalb der Universität hatte ich stets ein gutes Verhältnis zu ihm, und mir schien immer, dass López Michelsen das Dichterküken in mir sah, Montana Cuéllar dagegen ein hoffnungsvolles Objekt für seinen revolutionären Bekehrungseifer.
Meine Sympathie für Montana Cuéllar begann bei einem Zusammenstoß, den er mit drei jungen Offizieren der Militärakademie hatte, die in Paradeuniform zu seinen Lehrveranstaltungen kamen. Sie waren pünktlich wie in der Kaserne, schrieben unerbittlich mit und bekamen verdiente Noten in strengen Prüfungen. Diego Montana Cuéllar gab ihnen an einem der ersten Tage privat den Rat, nicht in Kriegsuniform in die Vorlesung zu kommen. Sie erwiderten aufs Höflichste, dass sie höheren Befehlen gehorchten, und versäumten keine Gelegenheit, ihn das spüren zu lassen. Wie auch immer, Studenten und Lehrkräften war klar, dass die drei Offiziere, wenn man über ihre Merkwürdigkeiten hinwegsah, auffallend gute Studenten waren.
Sie erschienen immer zusammen und rechtzeitig und trugen die gleiche tadellose Uniform. Sie setzten sich abseits von den anderen und fielen als besonders ernsthaft und methodisch auf, mir schien es jedoch, als lebten sie in einer anderen Welt. Wenn man sie ansprach, waren sie aufmerksam und höflich, doch von unüberwindlicher Förmlichkeit, und sie antworteten nur auf das, was man fragte. In Prüfungszeiten pflegten wir Zivilisten uns in Vierergruppen zusammenzufinden, um in den Cafés zu lernen, wir trafen uns sonnabends auf Tanzfesten, bei studentischen Wettbewerben, in harmlosen Kneipen oder in den düsteren Bordellen jener Zeit, aber unseren militärischen Kommilitonen sind wir dabei nicht einmal zufällig begegnet.
In dem langen Jahr, das wir zusammen auf der Universität waren, habe ich kaum einen Gruß mit ihnen gewechselt. Dafür war auch kaum Zeit, da sie pünktlich antraten und bei dem letzten Wort des Professors wieder gingen, ohne mit jemandem Kontakt aufzunehmen, außer mit anderen jungen Militärs aus dem zweiten Studienjahr, mit denen sie sich in den Pausen trafen. Ich erfuhr nie, wie sie hießen, und hörte dann auch nicht wieder von ihnen. Heute ist mir klar, dass meine Vorbehalte größer als die ihren waren, da ich nie über die Bitterkeit hinausgekommen bin, mit der meine Großeltern ihrer gescheiterten Kriege und der grausamen Massaker der Bananengesellschaft gedachten.
Jorge Soto del Corral, der Verfassungsrecht lehrte, ging der Ruf voraus, er kenne alle Verfassungen der Welt auswendig, und wir staunten über seine Intelligenz und seine juristische Gelehrsamkeit, deren Glanz nur von seinem geringen Sinn für Humor getrübt wurde. Ich glaube, er gehörte zu den Lehrern, die sich große Mühe gaben, ihre politischen Vorlieben nicht im Unterricht durchblicken zu lassen, doch waren ihnen diese deutlicher anzumerken, als sie es wohl selbst glaubten. Sogar an den Gesten und an der Emphase, mit der sie ihre Gedanken vorbrachten, denn gerade an der Universität war am stärksten der verborgene Puls eines Landes zu spüren, das nach gut vierzig Jahren des bewaffneten Friedens am Rande eines neuen Bürgerkriegs stand.
Trotz meiner chronischen Abwesenheit und meiner juristischen Lässlichkeit bestand ich die leichten Fächer des ersten Studienjahres durch Aufwärmaktionen in letzter Minute und die schwierigeren Fächer mit meinem alten Kniff, das Thema durch geistreiche Taschenspielertricks zum Verschwinden zu bringen. In Wahrheit aber fühlte ich mich nicht wohl in meiner Haut und wusste nicht, wie ich mich in dieser Sackgasse weiter vorantasten sollte. Von der Rechtswissenschaft verstand ich nicht nur wenig, sie interessierte mich auch sehr viel weniger als irgendein Fach der Oberschule, und ich fühlte mich erwachsen genug, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Nach sechzehn Monaten des wundersamen Überlebens blieb mir am Ende nur eine Hand voll guter Freunde für den Rest meines Lebens.
Mein geringes Interesse für das Studium wurde nach dem lobenden Artikel von Ulises noch geringer, besonders als mich in der Universität einige Kommilitonen Meister zu nennen begannen und mich als Schriftsteller vorstellten. Zugleich war ich wild entschlossen zu lernen, wie man eine Erzählung baut, die zugleich glaubwürdig und phantastisch ist und nichts zu wünschen übrig lässt. Ich versuchte es anhand von perfekten, aber sich entziehenden Vorbildern wie dem König Ödipus von Sophokles, dessen Held den Mord an seinem Vater aufklären will, um schließlich zu entdecken, dass er selbst der Mörder ist; mit W. W. Jacobs Die Affenpfote, einer vollkommenen Erzählung, in der alles zufällig geschieht; oder mit Maupassants Fettklößchen und den Werken so vieler anderer großen Sünder, die Gott in seinem himmlischen Reich versammelt haben möge. Solcherlei Dinge beschäftigten mich, als mir an einem Sonntagabend etwas wirklich Erzählenswertes widerfuhr. Ich hatte fast den ganzen Tag damit verbracht, meinen schriftstellerischen Frustrationen bei Gonzalo Mallarino in der Avenida Chile Luft zu machen, und als ich dann mit der letzten Straßenbahn zurück zur Pension fuhr, stieg an der Station Chapinero ein leibhaftiger Faun ein. Ja, ein Faun. Mir fiel auf, dass keiner der wenigen Mitternachtspassagiere sich über den Anblick wunderte, so dass ich dachte, es handele sich wohl wieder mal um einen der Maskierten, die sonntags alles Mögliche auf den Kinderspielplätzen verkauften. Die Tatsachen überzeugten mich jedoch davon, dass es keinen Grund zum Zweifeln gab, denn die Hörner und der Bart des Fauns waren so wild wie die eines Ziegenbocks, und ich nahm sogar im Vorbeigehen den Geruch seines Fells wahr. Vor der Galle 26, wo der Friedhof liegt, stieg er wie ein guter Familienvater aus und verschwand zwischen den Alleebäumen im Park.
Nach Mitternacht fragte mich Domingo Manuel Vega, der davon aufgewacht war, dass ich mich im Bett herumwarf, was denn mit mir los sei. »Ein Faun ist in die Trambahn gestiegen«, sagte ich ihm halb im Traum. Er antwortete mir hellwach, dass, falls es sich um einen Albtraum handele, er wohl auf die sonntäglichen Verdauungsschwierigkeiten zurückzuführen sei, falls es aber das Thema meiner neuen Geschichte sei, fände er das phantastisch. Am nächsten Morgen wusste ich nicht mehr genau, ob ich wirklich einen Faun in der Straßenbahn gesehen hatte oder ob das nur eine sonntägliche Halluzination gewesen war. Ich räumte zunächst ein, dass ich vor Müdigkeit eingeschlafen sei und einen so deutlichen Traum gehabt hätte, dass ich ihn nicht von dem wirklich Geschehenen unterscheiden konnte. Wesentlich für mich war am Ende nicht, ob der Faun nun real gewesen war, sondern dass ich ihn real erlebt hatte. Und eben deshalb - egal ob wirklich oder geträumt - war es nicht richtig, dies als einen Hexenzauber der Einbildung abzutun, es war vielmehr eine wunderbare Erfahrung in meinem Leben.
Also schrieb ich die Geschichte am nächsten Tag in einem Schwung nieder, legte sie unters Kopfkissen und las sie an mehreren Abenden vor dem Schlafen und morgens nach dem Aufwachen wieder durch. Es war eine schmucklose und getreue Niederschrift der Trambahnepisode, genau wie sie sich ereignet hatte, und in einem so harmlosen Ton gehalten, als handele es sich um den Bericht über eine Taufe in den Gesellschaftsnachrichten. Als mich wieder neue Zweifel beschlichen, beschloss ich schließlich, die Erzählung der unfehlbaren Prüfung des gedruckten Wortes zu unterziehen, diesmal aber nicht in El Espectador, sondern in der Literaturbeilage von El Tiempo. Womöglich konnte ich so ein anderes Urteil als das von Eduarde Zalamea kennen lernen, ohne ihn in ein Abenteuer zu ziehen, das er nicht unbedingt teilen musste. Die Erzählung gab ich zusammen mit einem Brief an Jaime Posada, den neuen jungen Chef des »Suplemento Literano« von El Tiempo, einem meiner Pensionsgefährten mit. Doch die Geschichte wurde nicht veröffentlicht, und es kam auch keine Antwort auf meinen Brief.
Meine in »Fin de Semana« erschienenen Erzählungen aus jener Zeit sind, nachdem offizielle Horden am 6. September 1952 den Espectador überfielen und das Gebäude in Brand setzten, aus den Archiven der Zeitung verschwunden. Weder ich noch meine eifrigsten Freunde hatten Kopien, so dass ich mit einer gewissen Erleichterung meinte, die Erzählungen seien vom Vergessen eingeäschert worden. Einige Literaturbeilagen in der Provinz hatten sie jedoch ohne Genehmigung abgedruckt, andere Geschichten waren in verschiedenen Zeitschriften erschienen, so dass sie dann 1972 in einem Band bei Ediciones Alfil in Montevideo gesammelt und unter dem Titel einer der Erzählungen publiziert werden konnten: Nabo, der Neger, der die Engel warten ließ.
Eine Erzählung, die nie in ein Buch aufgenommen wurde, fehlt auch hier, vielleicht weil es keine verlässliche Version gab: Tubal Cain schmiedet einen Stern, erschienen in El Espectador am 17. Januar 1948. Der Name des Helden ist, wie nicht jedermann weiß, der eines biblischen Schmieds, der die Musik erfunden hat. Es waren drei Erzählungen. In der Reihenfolge ihres Entstehens und Erscheinens gelesen, erschienen sie mir inkonsequent und abstrakt, manchmal auch ungereimt, und keine beruhte auf wirklichen Gefühlen. Es ist mir nie gelungen, die Maßstäbe auszumachen, nach denen ein so strenger Kritiker wie Eduardo Zalamea sie gelesen hat. Für mich haben sie allerdings eine Bedeutung, die sie für keinen anderen haben, denn in jeder dieser Geschichten liegt etwas, das auf die schnelle Entwicklung meines Lebens in jener Zeit reagierte.
Bei vielen der Romane, die ich damals las und bewunderte, interessierte mich nur das, was ich technisch dabei lernte. Das heißt: die Baugeheimnisse. Von den metaphysischen Abstraktionen der ersten drei Erzählungen bis zu den drei letzten aus jener Zeit habe ich genaue und nützliche Ansätze für die Grundausbildung eines Schriftstellers gefunden. Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, neue Formen zu erproben. Ich war der Meinung, dass Erzählung und Roman nicht nur zwei verschiedene literarische Gattungen sind, sondern zwei Organismen ganz unterschiedlicher Natur, die zu verwechseln tödlich sein könnte. Heute glaube ich das noch immer und bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Erzählung dem Roman überlegen ist.
Die Veröffentlichungen im Espectador brachten mir neben dem literarischen Erfolg auch irdischere und kuriosere Probleme ein. Ahnungslose Freunde hielten mich auf der Straße an, um rettende Kredite von mir zu bekommen, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ein Schriftsteller mit einer solchen Auflage nicht riesige Summen für seine Geschichten erhielt. Nur wenige glaubten mir die Wahrheit, dass ich nie einen Centavo für die Veröffentlichung bezahlt bekam und es auch gar nicht erwartete, weil das in den Zeitungen des Landes nicht üblich war. Noch härter war die Enttäuschung meines Vaters, als er sich davon überzeugen musste, dass ich nicht für mich selbst aufkommen konnte, wo doch schon drei der inzwischen elf Geschwister auf die kostenpflichtige Oberschule gingen. Die Familie schickte mir dreißig Pesos im Monat. Allein die Pension kostete achtzehn Pesos, ohne Anspruch auf ein Frühstücksei, und ich musste dieses Geld meistens für unvorhergesehene Ausgaben angreifen. Ich weiß nicht, woher ich die Gewohnheit hatte, immer auf Zeitungsränder, auf Servietten oder auf die Marmortische der Cafés zu zeichnen, aber das war mein Glück. Ich wage zu glauben, dass diese Zeichnungen unmittelbare Nachkommen jener Bilder waren, die ich als Kind an die Wände der Goldschmiedewerkstatt meines Großvaters gemalt habe, und dass sie vielleicht ein Ventil waren, um Druck abzulassen. Ein gelegentlicher Tischgenosse im Molino, der Beziehungen zu einem Ministerium hatte und sich dort, ohne jegliche Ahnung vom Zeichnen zu haben, als Zeichner eingeschlichen hatte, schlug mir vor, dass ich ihm die Arbeit machte und er sein Gehalt mit mir teilte. In meinem restlichen Leben bin ich nie wieder der Korruption so nahe gewesen, aber doch nicht nah genug, um es zu bereuen.
Mein Interesse für die Musik steigerte sich in jener Zeit, in der die populären Lieder aus der Karibik - die ich mit der Muttermilch eingesogen hatte - auch in Bogotá erfolgreich wurden. Die Sendung mit der größten Zuhörerzahl war La hora costeña, die Stunde der Küste, moderiert von Pascual Delvecchio, der eine Art Konsul der Küstenmusik in Bogotá war. Sonntagvormittags war dieses Programm besonders beliebt, und wir Studenten aus der Karibik kamen in den Sender, in dessen Räumen wir bis zum späten Nachmittag tanzen konnten. So begann die enorme Popularität der karibischen Musik im Landesinneren, die sich später bis in die fernsten Winkel ausbreitete. Und damit stieg auch das Ansehen der karibischen Studenten in Bogotá.
Das einzige Schreckgespenst war eine erzwungene Ehe. Ich weiß nicht, welche unseligen Präzedenzfälle an der Küste den Glauben genährt hatten, dass die Bräute aus Bogotá sich mit uns Kariben locker gaben und uns im Bett Fallen stellten, um eine Heirat zu erzwingen. Und das nicht etwa aus Liebe, sondern weil sie hofften, einmal in einem Haus mit Meerblick zu leben. Ich habe das nie geglaubt. Im Gegenteil, zu den unangenehmsten Erinnerungen meines Lebens gehören die finsteren Bordelle in den Außenbezirken von Bogotá, in denen unsere trübsinnigen Besäufnisse mündeten. In einem besonders schäbigen Bordell hätte ich fast das bisschen Leben gelassen, das mir noch blieb, als eine Frau, mit der ich gerade zusammen gewesen war, nackt auf dem Gang auftauchte und schrie, ich hätte ihr zwölf Pesos aus einer Schublade des Toilettentischs gestohlen. Zwei Rausschmeißer des Hauses schlugen mich nieder und begnügten sich nicht damit, mir die letzten beiden Pesos, die mir nach dem schäbigen Liebesgeschäft geblieben waren, aus der Tasche zu holen, sie zogen mich auch noch bis auf die Schuhe aus und bohrten mit dem Finger in mir nach dem gestohlenen Geld. Sie hatten immerhin beschlossen, mich nicht umzubringen, sondern mich der Polizei zu übergeben, als der Frau einfiel, dass sie am Tag zuvor ihr Geldversteck geändert hatte, welches sie dann unberührt vorfand.
Unter den Freundschaften, die mir von der Universität geblieben sind, war die zu Camilo Torres nicht nur unvergesslich, sondern auch die dramatischste unserer Jugend. Eines Tages kam er zum ersten Mal nicht zur Vorlesung. Der Grund dafür verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Er hatte seine Angelegenheiten geordnet und beschlossen, von zu Hause in das Priesterseminar von Chiquinquirá zu fliehen, das gut hundert Kilometer von Bogotá entfernt lag. Seine Mutter fing ihn am Bahnhof ab und sperrte ihn in ihre Bibliothek ein. Dort besuchte ich ihn, er war blasser als gewöhnlich, trug einen weißen Poncho und war von einer Ruhe und Gelassenheit, die mich zum ersten Mal an einen Zustand der Gnade denken ließ. Aus einer inneren Berufung heraus, die er bis dahin gut vertuscht hatte, der er aber nun bis zum Ende folgen wollte, hatte er beschlossen, ins Priesterseminar einzutreten.
»Das Schlimmste ist schon vorüber«, sagte er zu mir.
Damit wollte er mir sagen, dass er sich von seiner Freundin verabschiedet hatte und dass diese seine Entscheidung begrüßte. Nach einem Abend, der uns beide bereicherte, machte er mir ein schwer zu deutendes Geschenk: Die Entstehung der Arten von Darwin. Ich verabschiedete mich von ihm mit dem seltsamen Gefühl, dass es für immer war.
Ich verlor ihn aus den Augen, solange er im Seminar war. Vage Nachrichten erreichten mich, dass er für drei Jahre theologischer Ausbildung nach Löwen gegangen sei, die religiöse Hingabe aber seinen studentischen Geist und seine weltlichen Manieren nicht verändert habe und dass die Mädchen, die für ihn schwärmten, ihn wie einen Filmschauspieler behandeln würden, der durch die Soutane entwaffnet sei.
Zehn Jahre später, als er nach Bogotá zurückkehrte, war er mit Leib und Seele Priester, hatte sich aber die größten Tugenden aus seiner Jugend bewahrt. Ich war damals Schriftsteller und einfacher Journalist, war verheiratet und hatte einen Sohn, Rodrigo, der am 24. August 1959 in der Clínica Palermo in Bogotá geboren worden war. In der Familie beschlossen wir, dass Camilo ihn taufen sollte. Taufpate sollte Plinio Apuleyo Mendoza sein, mit dem meine Frau und mich schon seit längerem eine familiäre Freundschaft verband. Taufpatin wurde Susana Linares, die Frau von Germán Vargas, der mir stets seine Gaben als Journalist und bester Freund zugute kommen ließ - Camilo stand uns näher als Plinio, und schon seit viel längerem, aber ich wollte Camilo nicht als Paten wegen seiner damaligen Nähe zu den Kommunisten und vielleicht auch wegen seiner Spottlust, mit der er die Feierlichkeit des Sakraments hätte stören können. Susana übernahm die Verpflichtung, sich um die geistige Erziehung des Kindes zu kümmern, und Camilo fand keine Argumente - oder wollte sie nicht finden -, Plinio als Paten zu verhindern.
Die Taufe fand in der Kapelle der Clínica Palermo statt, im eisigen Dämmerlicht um sechs Uhr abends, und es war niemand weiter da außer den Paten und mir und einem Landarbeiter in Poncho und Hanfschuhen, der sich leichtfüßig wie in einer Levitation näherte, um unauffällig der Zeremonie beizuwohnen. Als Susana mit dem Neugeborenen kam, machte der unverbesserliche Pate einen ersten provokanten Scherz:
»Wir werden aus diesem Jungen einen großen Guerrillero machen.«
Camilo, der gerade das Sakrament vorbereitete, gab im gleichen Ton zurück: »Ja, aber einen Guerrillero Gottes.« Und er begann die Zeremonie mit einer Entscheidung schweren Kalibers, wie sie in jenen Jahren absolut unüblich war:
»Ich werde ihn auf Spanisch taufen, damit die Ungläubigen verstehen, was dieses Sakrament bedeutet.«
Seine Stimme ertönte in einem erhabenen Spanisch, das ich über das Latein meiner jungen Jahre als Ministrant in Aracataca verfolgte. Im Augenblick der Waschung dachte sich Camilo eine weitere provozierende Formel aus. Ohne jemanden anzusehen, sagte er:
»Wer daran glaubt, dass sich in diesem Augenblick der Heilige Geist auf dieses Kind herabsenkt, der kniee nieder.«
Die Paten und ich blieben stehen, vielleicht etwas peinlich berührt von der Hintersinnigkeit des Priesters und Freundes, während das Kind unter dem Guss eisigen Wassers schrie. Der Einzige, der niederkniete, war der Landarbeiter in Hanfschuhen. Die Wirkung dieser Szene ist mir als einer der strengen Denkzettel meines Lebens in Erinnerung geblieben, und ich habe immer geglaubt, dass Camilo den Landarbeiter absichtlich mitgebracht hatte, um uns mit einer Lektion in Demut zu strafen. Oder zumindest mit einer Lektion in gutem Benehmen.
Ich habe Camilo nur noch selten gesehen, und dann stets aus einem wichtigen und dringenden Grund, der meistens etwas mit seinen wohltätigen Werken für die politisch Verfolgten zu tun hatte. Eines Morgens erschien er in dem Haus unserer jungen Ehe mit einem Dieb, der seine Strafe abgesessen hatte, jedoch von der Polizei nicht in Ruhe gelassen wurde: Sie nahmen ihm immer wieder ab, was er bei sich hatte. Einmal habe ich dem Dieb ein paar Wanderschuhe geschenkt, die ein besonderes Sicherheitsprofil hatten. Ein paar Tage später erkannte das Hausmädchen die Sohlen auf dem Foto eines Straßendiebes, der in einem Graben tot aufgefunden worden war. Es war unser Freund, der Dieb.
Ich will nicht behaupten, dass diese Episode letztlich etwas mit dem Schicksal von Camilo zu tun hatte, doch ein paar Monate später ging er ins Militärhospital, um einen kranken Freund zu besuchen, und danach hörte man nichts mehr von ihm, bis die Regierung erklärte, er sei als einfacher Guerrillero des Ejército de Liberacion Nacional, des Nationalen Befreiungsheers, wieder aufgetaucht. Er starb am 5. Februar 1966, mit siebenunddreißig Jahren, im offenen Kampf mit einer Militärpatrouille.
Camilos Eintritt ins Seminar war mit meiner inneren Entscheidung zusammengefallen, nicht länger an der juristischen Fakultät Zeit zu verlieren, aber ich hatte damals nicht den Mumm, mich ein für alle Mal mit meinen Eltern auseinander zu setzen. Von meinem Bruder Luis Enrique - der im Februar 1948 dank einer guten Anstellung nach Bogotá gekommen war - erfuhr ich, wie zufrieden sie mit meinen Ergebnissen im Abitur und im ersten Studienjahr waren und dass sie mir als Überraschung die leichteste und modernste Schreibmaschine geschickt hatten, die auf dem Markt war. Es war die erste Schreibmaschine meines Lebens, und sie hatte das traurigste Schicksal, weil wir sie noch am selben Tag für zwölf Pesos ins Pfandhaus brachten, um die Ankunft meines Bruders weiter mit den Pensionskumpanen feiern zu können. Am nächsten Tag gingen wir, irr vor Kopfschmerzen, zum Pfandhaus und überprüften, ob die Maschine noch mit unbeschädigten Siegeln dort stand und mit der angebrachten Sorgfalt behandelt wurde, bis das Geld vom Himmel fiel, mit dem wir sie auslösen konnten. Eine gute Gelegenheit ergab sich, als mein Partner, der falsche Zeichner, mich auszahlte, doch im letzten Augenblick beschlossen wir, die Auslösung auf später zu verschieben. Jedes Mal, wenn mein Bruder und ich, zusammen oder getrennt, am Pfandhaus vorbeikamen, vergewisserten wir uns von der Straße aus, dass die Maschine, wie ein Schmuckstück in Zellophanpapier gewickelt und mit einer Organdyschleife versehen, noch an ihrem Platz inmitten von Reihen gut geschützter Hausgeräte stand. Nach einem Monat waren die fröhlichen Berechnungen, die wir in der Euphorie des Rauschs angestellt hatten, noch nicht aufgegangen, doch die Maschine stand immer noch unberührt an ihrem Platz und konnte da auch weiter stehen, solange wir rechtzeitig die dreimonatlichen Zinsen zahlten.
Ich glaube, wir waren uns damals der schrecklichen politischen Spannungen, die das Land mehr und mehr zerrütteten, noch nicht richtig bewusst. Auch wenn Ospina Pérez mit dem guten Ruf eines gemäßigten Konservativen an die Macht gelangt war, wusste die Mehrheit seiner Partei, dass nur die Spaltung der Liberalen den Sieg ermöglicht hatte. Diese wiederum, wie betäubt von dem Schlag, warfen Alberto Lleras seine selbstmörderische Unparteilichkeit vor, die eine Niederlage erst denkbar gemacht hatte. Dr. Gabriel Turbay, der mehr unter seinem depressiven Gemüt als unter den Gegenstimmen litt, war ohne Sinn und Ziel unter dem Vorwand, sich als Herzspezialist fortbilden zu lassen, nach Europa gegangen, wo er anderthalb Jahre später allein und vom Asthma besiegt inmitten der Papierblumen und der verblichenen Gobelins des Hotels Place Athénée in Paris starb. Jorge Eliécer Gaitán hingegen unterbrach keinen Tag lang seine Kampagne für die nächste Amtsperiode, radikalisierte den Wahlkampf vielmehr gründlich mit einem Programm zur moralischen Restauration der Republik, das die historische Aufteilung des Landes in Liberale und Konservative überwand, um sie mit einem horizontalen und realistischeren Schnitt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu vertiefen: Es ging um die politische Elite und die Nation als Ganzes. Mit seinem historischen Ausruf - »Auf zum Angriff!« - und seiner übernatürlichen Energie streute er die Saat des Widerstands bis in die letzten Winkel des Landes. Mit seiner gigantischen Agitationskampagne gewann er in weniger als einem Jahr immer mehr an Boden und führte das Land bis an die Schwelle einer echten sozialen Revolution.
Erst da wurde uns bewusst, dass das Land in den Abgrund eben jenes Bürgerkriegs zu stürzen drohte, der uns seit der Unabhängigkeit von Spanien begleitet hatte und nun bereits die Urenkel der ursprünglichen Protagonisten ereilte. Die konservative Partei, die wegen der Spaltung der Liberalen das Präsidentenamt nach vier liberalen Amtsperioden zurückerobert hatte, war entschlossen, es um keinen Preis wieder zu verlieren. Zu diesem Zweck verfolgte die Regierung von Ospina Pérez eine Politik der verbrannten Erde, wodurch das Land bis hinein ins Alltagsleben der Familien in Blut getaucht wurde.
Auf literarischen Wolken schwebend hatte ich in meiner politischen Ahnungslosigkeit diese offenkundigen Tatsachen nicht wahrgenommen, bis ich eines Nachts auf dem Rückweg zur Pension dem Gespenst meines Gewissens begegnete. Die leere Stadt, vom eisigen Wind gepeitscht, der durch die Scharten der Bergkette wehte, war erfüllt von der metallischen Stimme mit dem emphatisch eingesetzten Unterschichtklang: Gaitán hielt seine obligate Freitagsrede im Teatro Municipal. Der Raum bot höchstens tausend eng gedrängten Menschen Platz, die Rede verbreitete sich jedoch in konzentrischen Wellen, erst über Lautsprecher in die Nebenstraßen und dann über die voll aufgedrehten Radioapparate, und sie hallte wie Peitschenhiebe in der sprachlosen Stadt wider und überflutete drei bis vier Stunden lang die ganze zuhörende Nation.
In jener Nacht hatte ich den Eindruck, der einzige Mensch auf den Straßen zu sein, nur an der entscheidenden Ecke der Zeitung El Tiempo stand wie jeden Freitag ein kriegerisch bewaffneter Polizeitrupp. Es war eine Offenbarung für mich, dass ich zu arrogant gewesen war, Gaitán Glauben zu schenken, und ich begriff nun, dass er das spanische Kolumbien hinter sich gelassen hatte und dabei war, eine Lingua franca für alle zu erfinden, nicht so sehr mit dem, was er sagte, sondern mit seiner aufrührerischen und listenreichen Stimme. In seinen epischen Reden empfahl er den Zuhörern in durchtrieben väterlichem Ton, friedlich heimzugehen, und sie verstanden es richtig als den verschlüsselten Befehl, ihre Ablehnung gegen all das kundzutun, was die soziale Ungleichheit und die Macht einer brutalen Regierung verkörperte. Selbst die Polizisten, die die Ordnung aufrechterhalten sollten, wurden durch eine Mahnung motiviert, die sie ms Gegenteil verkehrten.
Die Rede von jenem Abend war eine schonungslose Bestandsaufnahme der gewaltsamen Übergriffe des Staates bei seiner Politik der verbrannten Erde zur Unterdrückung der liberalen Opposition; eine noch nicht feststellbare Zahl von Menschen war dabei getötet worden, und die Bewohner ganzer Ortschaften waren in die Städte geflüchtet, und hatten nun kein Dach über dem Kopf und kein Brot zum Essen.
Nach der fürchterlichen Aufzählung von Morden und Überfällen erhob Gaitán die Stimme immer mehr und gefiel sich Wort für Wort, Satz um Satz in einer grandiosen und effektsicheren Rhetorik. Die Anspannung der Zuhörer steigerte sich im Takt seiner Stimme bis zu einer Explosion, die am Ende in der Stadt widerhallte und durch das Radio bis in die fernsten Winkel des Landes dröhnte.
Die aufgeheizte Menge strömte unter heimlicher Duldung der Polizei auf die Straße in eine unblutige Feldschlacht. Ich glaube, in dieser Nacht begriff ich zum ersten Mal die Enttäuschungen des Großvaters und die hellsichtigen Analysen von Camilo Torres. Ich staunte darüber, dass die Studenten der Universidad Nacional weiterhin Liberale oder Konservative waren, mit einigen kommunistischen Zellen dazwischen, dass aber die Kluft, die Gaitán quer durchs Land aufriss, dort nicht wahrgenommen wurde. Ich kam betäubt von der Erschütterung der Nacht in die Pension zurück und fand meinen Zimmergenossen friedlich im Bett bei der Lektüre von Ortega y Gasset vor.
»Ich komme wie neu zurück, Doktor Vega«, sagte ich. »Jetzt weiß ich, wie und warum die Kriege von Oberst Nicolás Márquez begannen.«
Wenige Tage später, am 7. Februar 1948, nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer politischen Kundgebung teil. Gaitán hatte zu einem Trauermarsch für die unzähligen Opfer der offiziellen violencia aufgerufen, zu dem über sechzigtausend schwarz gekleidete Frauen und Männer mit den roten Fahnen der Partei und den schwarzen Fahnen des trauernden Liberalismus gekommen waren. Es gab nur eine einzige Parole: absolutes Schweigen. Und dieses wurde mit ergreifender Dramatik eingehalten, sogar auf den Baikonen der Wohnhäuser und Büros, an denen wir einen guten Kilometer lang auf der verstopften Hauptstraße vorbeizogen. Eine Frau an meiner Seite murmelte zwischen den Zähnen ein Gebet. Ein Mann neben ihr schaute sie befremdet an:
»Señora, ich bitte Sie!«
Sie gab einen klagenden Laut der Entschuldigung von sich und versank im Meer ihrer Gespenster. An den Rand der Tränen brachte mich aber das vorsichtige Schreiten der Menge und ihr Atmen in der übernatürlichen Stille. Ich hatte mich nicht aus irgendeiner politischen Überzeugung angeschlossen, mich trieb die Neugier auf die Stille, und nun hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals. Auf der Plaza de Bolívar hielt Gaitán vom Balkon des Rechnungshofs aus eine Leichenrede von erschütternder emotionaler Wucht. Entgegen den finsteren Prognosen seiner eigenen Partei gipfelte sie in der Erfüllung der schwierigsten, durch die Parole vorgegebenen Bedingung: Keinerlei Applaus.
Das war der »Marsch des Schweigens«, ergreifender als jede andere Kundgebung, die in Kolumbien stattgefunden hat. Dieser historische Nachmittag hinterließ bei Anhängern und Feinden den Eindruck, dass der Wahlsieg Gaitáns nicht mehr aufzuhalten war. Auch die Konservativen wussten das, hatte sich doch im ganzen Land die Gewalt verselbständigt, die vom brutalen Eingreifen der regimetreuen Polizei gegen den wehrlosen Liberalismus und von der Politik der verbrannten Erde ausgegangen war. In welch schauriger Gemütsverfassung das Land war, erlebten an jenem Wochenende die Besucher der Stierkampfarena von Bogotá, wo die Zuschauer von den Rängen in das Rund stürzten, empört über die Zahmheit des Stiers und die Unfähigkeit des Toreros, ihn endlich zu töten. Die aufgeputschte Menge vierteilte den Stier bei lebendigem Leibe. Zahlreiche Journalisten und Schriftsteller, die jenen Horror miterlebt oder davon gehört hatten, deuteten ihn als besonders beängstigendes Zeichen für die mörderische Raserei, unter der das Land litt.
In diesem hoch angespannten Klima wurde am 30. März um halb fünf Uhr nachmittags in Bogotá die Neunte Panamerikanische Konferenz eröffnet. Die Stadt war für dieses Ereignis mit einem ungeheuren Kostenaufwand nach dem pompösen ästhetischen Geschmack von Außenminister Laureano Gómez verschönt worden, der kraft seines Amts Präsident der Konferenz war. Die Außenminister aller lateinamerikanischen Länder und bekannte Persönlichkeiten des Zeitgeschehens nahmen teil. Die wichtigsten kolumbianischen Politiker waren als Ehrengäste geladen - mit einer einzigen, bedeutsamen Ausnahme: Jorge Eliécer Gaitán, der zweifelsohne durch das gewichtige Veto von Laureano Gómez ausgeschlossen worden war, vielleicht mit Einverständnis gewisser liberaler Führer, die ihn wegen seiner Attacken gegen die in beiden Parteien vertretene Oligarchie verabscheuten. Der Polarstern der Konferenz war General George Marshall, größter Held des noch nicht lange beendeten Zweiten Weltkriegs, Delegierter der Vereinigten Staaten, der in seiner tragenden Rolle beim Wiederaufbau eines vernichteten Europas die leuchtende Ausstrahlung eines Filmschauspielers hatte.
Am Freitag, den 9. April war jedoch Jorge Eliécer Gaitán der Mann des Tages, da er einen Freispruch für Oberleutnant Jesus Maria Cortés Poveda erreicht hatte, der angeklagt war, den Journalisten Eudoro Galarza Ossa getötet zu haben. Obwohl Gaitán bis spät in die Nacht im Gericht gewesen war, kam er kurz vor acht euphorisch in sein Anwaltsbüro an der belebten Kreuzung Carrera Séptima und Avenida Jiménez de Quesada. Er hatte mehrere Termine in den nächsten Stunden, nahm aber die Essenseinladung von Plinio Mendoza Neira an, der kurz vor eins mit sechs persönlichen und politischen Freunden in Gaitáns Büro gekommen war, um ihm zu dem Sieg vor Gericht zu gratulieren, über den noch nichts in den Zeitungen stehen konnte. Unter den Besuchern war Pedro Eliseo Cruz, Gaitáns Hausarzt, der auch zu Gaitáns politischer Entourage gehörte.
Die Atmosphäre in der Stadt war am 9. April aufgeladen. Um ein Uhr setzte ich mich in das noch leere Esszimmer meiner Pension, die keine vier Straßen entfernt von der berühmten Kreuzung lag. Man hatte mir noch nicht die Suppe serviert, als Wilfrido Mathieu verstört vor meinem Tisch stand.
»Das Land ist im Eimer«, sagte er, »sie haben Gaitán umgebracht, eben gerade, vor dem Gato Negro.«
Mathieu war ein vorbildlicher Medizinstudent, aus Sucre gebürtig wie mehrere der Pensionsgäste, und er litt an unheilvollen Vorahnungen. Es war noch keine Woche her, dass er uns verkündet hatte, die Ermordung von Jorge Eliécer Gaitán könne unmittelbar bevorstehen und verheerende Folgen seien zu befürchten. Das beeindruckte allerdings niemanden, weil es keiner Vorahnungen bedurfte, um dergleichen zu vermuten.
Ich bekam kaum Luft, als ich über die Avenida Jiménez de Quesada stürzte, und erreichte atemlos das Café Gato Negro, das fast an der Ecke der Carrera Séptima lag. Der Verletzte war gerade in die vier Straßen entfernte Clínica Central gebracht worden, er hatte noch gelebt, es gab aber keine Hoffnung für ihn. Mehrere Männer tränkten in der warmen Blutlache ihre Taschentücher, um sie als historische Reliquien aufzubewahren. Eine Frau mit schwarzem Umschlagtuch und Hanfschuhen, eine von den vielen, die billigen Krimskrams in der Umgebung verkauften, grollte, das blutige Taschentuch in der Hand,:
»Hurensöhne, ihr habt ihn mir umgebracht.«
Ein Trupp von Schuhputzern schlug mit ihren Holzkisten gegen das Metallgitter der Apotheke Nueva Granada, in der die paar Wachpolizisten den Attentäter eingesperrt hatten, um ihn vor der aufgeputschten Menge zu schützen. Ein großer, selbstgewiss wirkender Mann, der wie für eine Hochzeit in einen makellosen grauen Anzug gekleidet war, feuerte sie mit gezielten Schreien an. Die waren so effektiv, dass der Besitzer der Apotheke, aus Furcht, man werde Feuer legen, die Gitter-Jalousie hochzog. Der Täter, der sich an einen Polizisten klammerte, wurde angesichts der aufgeputschten Horde, die auf ihn zustürzte, von Panik gepackt.
»Lassen Sie nicht zu, dass die mich töten«, flehte er fast tonlos den Polizisten an.
Ich werde es nie vergessen. Der Mann hatte zerzaustes Haar und einen Zweitagebart, das Gesicht war totenbleich, und in seinen Augen stand das Entsetzen. Er trug einen abgetragenen braun gestreiften Tuchanzug, dessen Revers die Meute schon bei den ersten Angriffen eingerissen hatte. Eine flüchtige Erscheinung für die Ewigkeit, weil die Schuhputzer mit ihren Kisten schlagend die Polizisten abdrängten und dann den Mann zu Tode trampelten. Bei dem ersten harten Tritt hatte er einen Schuh verloren.
»Zum Palast!«, schrie der Mann in Grau, der nie identifiziert wurde, »zum Palast!«
Die Erregtesten gehorchten dem Befehl. Sie packten den blutigen Körper an den Knöcheln und schleiften ihn unter Schlachtrufen gegen die Regierung über die Carrera Séptima, vorbei an den elektrischen Straßenbahnen, die sich wegen der Ereignisse stauten, bis zur Plaza de Bolívar. Von den Gehsteigen und den Baikonen wurden sie mit Schreien und Applaus angefeuert, während die entstellte Leiche auf dem Straßenpflaster Stoff- und Hautfetzen hinterließ. Viele Menschen schlossen sich dem Marsch an, der kaum sechs Straßen weiter die Größe und die expansive Kraft einer Kriegsoffensive erreichte. Der gemarterten Leiche war nur noch die Unterhose und ein Schuh geblieben.
Die Plaza de Bolívar, die gerade renoviert worden war, hatte mit den gestutzten Bäumen und den primitiven Statuen der neuen staatlichen Ästhetik nicht die Majestät vergangener historischer Freitage. Im Capitolio Nacional, wo seit drei Tagen die Panamerikanische Konferenz tagte, waren die Delegierten zum Mittagessen gegangen. Also drängte die Menge weiter bis zum Präsidentenpalast, der ebenfalls unbewacht war. Dort ließen sie das, was von dem Mann noch übrig war, liegen, nackt, abgesehen von der zerfetzten Unterhose, dem linken Schuh, und zwei unerklärlichen, um seinen Hals geknoteten Krawatten. Ein paar Minuten später traf der Präsident der Republik Mariano Ospina Pérez mit seiner Gattin zum Mittagessen ein; sie kamen von der Eröffnung einer Viehausstellung in der Ortschaft Engativá und wussten noch nichts von dem Mordanschlag, da sie in der Präsidentenlimousine nicht Radio gehört hatten.
Ich blieb noch etwa zehn Minuten am Ort des Verbrechens und staunte darüber, wie schnell die Aussagen der Zeugen sich in Form und Inhalt veränderten, bis sie jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit verloren hatten. Wir standen zur belebtesten Tageszeit an der Kreuzung Avenida Jiménez und Carrera Séptima und fünfzig Meter von El Tiempo entfernt. Inzwischen wussten wir, dass Gaitán in Begleitung von Pedro Eliseo Cruz, Alejandro Vallejo, Jorge Padilla und Plinio Mendoza Neira, Verteidigungsminister unter der Regierung von Alfonso López Pumarejo, sein Büro verlassen hatte. Mendoza Neira hatte zum Essen eingeladen. Gaitán war ohne jede Eskorte, doch umgeben von einer dichten Gruppe von Freunden aus dem Gebäude gekommen. Als sie das Trottoir erreicht hatten, nahm Mendoza ihn am Arm, führte ihn ein paar Schritte vor die anderen und sagte:
»Was ich dir sagen wollte, ist eine Lappalie.«
Weiter kam er nicht. Gaitán hob den Arm vors Gesicht, und Mendoza hörte den ersten Schuss, bevor er den Mann sah, der mit dem Revolver vor ihnen stand und mit professioneller Kaltblütigkeit dreimal auf den Kopf des politischen Führers feuerte. Einen Augenblick später war schon von einem vierten ziellosen Schuss die Rede, vielleicht von einem fünften.
Plinio Apuleyo Mendoza, der mit seinem Vater und seinen Schwestern Elvíra und Rosa Inés gekommen war, sah gerade noch Gaitán auf dem Pflaster liegen, bevor man diesen eine Minute später in die Klinik brachte. »Er sah nicht wie ein Toter aus«, erzählte er mir Jahre später. »Er wirkte wie eine imponierende Statue, die rücklings auf dem Gehsteig neben einer kleinen Blutlache lag, mit einer großen Trauer in den offenen, starr blickenden Augen.« In der Verwirrung des Augenblicks dachten die Schwestern, dass vielleicht auch ihr Vater tot wäre, und sie waren so verstört, dass Plinio Apuleyo sie in die erste Straßenbahn, die kam, einsteigen ließ, um sie fortzubringen. Doch dem Fahrer wurde klar, was geschehen war, er warf seine Straßenbahnermütze hin und verließ mitten auf der Straße die Trambahn, um in die ersten Rebellionsrufe einzustimmen. Minuten später war dies die erste Straßenbahn, die von der aufgebrachten Menge umgekippt wurde.
Die Aussagen, was die Zahl und die Rolle der Täter anging, waren unvereinbar, weil ein Zeuge versicherte, es seien drei gewesen, die abwechselnd geschossen hätten, und ein anderer behauptete, dass der wahre Schuldige in der aufgeregten Menge untergetaucht und ohne Hast auf eine fahrende Straßenbahn gesprungen sei. Auch darüber, was Mendoza Neira sagen wollte, als er Gaitán am Arm nahm, hat es seitdem unzählige Mutmaßungen gegeben; tatsächlich wollte er Gaitán bitten, in die Gründung eines Schulungsinstituts für Gewerkschaftsführer einzuwilligen. Oder, wie sein Schwiegervater ein paar Tage zuvor gespottet hatte: »Eine Schule, in der man dem Chauffeur
Philosophie beibringt.« Mendoza kam nicht dazu, davon zu sprechen, weil vor ihnen der erste Schuss losging.
Fünfzig Jahre später ist meine Erinnerung immer noch auf das Bild eines Mannes fixiert, der die Menge vor der Apotheke aufputschte und dem ich in keinem der unzähligen Zeugnisse, die ich über diesen Tag gelesen habe, begegnet bin. Ich hatte ihn ganz aus der Nähe gesehen, mit seinem edlen Anzug, der alabasterfarbenen Haut und seinem genau kontrollierten Auftreten. Er hatte meine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt, dass ich ihn nicht aus den Augen ließ, bis man ihn, kaum war die Leiche des Mörders weggeschleift worden, in einem neuen Automobil abholte. Seitdem war er aus dem historischen Gedächtnis verschwunden. Sogar aus dem meinen. Erst viele Jahre später, in meiner Zeit als Journalist, überfiel mich der Gedanke, dass dieser Mann womöglich erreicht hatte, dass man einen Falschen umbrachte, um die Identität des wahren Mörders zu schützen.
In dem unkontrollierbaren Getümmel befand sich der zwanzigjährige kubanische Studentenführer Fidel Castro, von der Universität Havanna zu einem Studentenkongress delegiert, der als demokratische Alternative zur Panamerikanischen Konferenz einberufen worden war. Castro war etwa sechs Tage zuvor in Begleitung von Alfrede Guevara, Enrique Ovares und Rafael del Pino, drei weiteren kubanischen Studenten, angekommen und hatte sich gleich um ein Treffen mit dem von ihm bewunderten Jorge Eliecer Gaitan bemüht. Zwei Tage später kam es zu einer Begegnung zwischen Castro und Gaitan, und dieser verabredete sich mit ihm für den kommenden Freitag. Gaitan trug den Termin mit eigener Hand für den 9. April in seinen Bürokalender ein: »Fidel Castro, 14 Uhr«.
Nach Fidels Aussagen in mehreren Medien und dem, was er mir bei unseren endlosen Gesprächen alter Freunde über das Ereignis erzählt hat, erhielt er die erste Nachricht von dem Verbrechen, als er sich in der Nähe des Gebäudes herumtrieb, um pünktlich zu dem Zwei-Uhr-Termin da zu sein. Plötzlich wurde er von den ersten haltlos rennenden Trupps und dem allgemeinen Schrei überrascht:
»Sie haben Gaitan umgebracht!«
Erst später wurde Fidel Castro bewusst, dass das Treffen auf keinen Fall vor vier oder fünf Uhr nachmittags hätte stattfinden können, weil Mendoza Neira Gaitán ja überraschend zum Essen eingeladen hatte.
Am Tatort drängten sich die Menschen. Der Verkehr war unterbrochen, die Straßenbahnen umgekippt, und ich lief Richtung Pension, um mein Mittagessen zu beenden, als mich mein Lehrer Carlos H. Pareja vor der Tür zu seinem Büro abfing und mich fragte, wohin ich ginge.
»Ich gehe essen«, sagte ich.
»Erzähl keinen Scheiß«, meinte er in seiner unverbesserlichen karibischen Weise. »Wie kannst du essen, wenn Gaitán gerade umgebracht worden ist?«
Ohne mir für weiteres Zeit zu lassen, befahl er mir, zur Universität zu gehen und mich an die Spitze des Studentenprotestes zu stellen. Das Merkwürdige war, dass ich ihm, ganz gegen meine Art, gehorchte. Ich lief die Carrera Séptima weiter Richtung Norden, in Gegenrichtung zu der Menge, die von Neugier, Schmerz oder Wut getrieben, zur Straßenkreuzung des Verbrechens drängte. Die Universitätsbusse, von Studenten gelenkt, führten den Zug an. Am Parque Santander, hundert Meter vom Tatort entfernt, waren die Angestellten des Hotels Granada, des ersten der Stadt, in dem in diesen Tagen einige Außenminister und Ehrengäste der Panamerikanischen Konferenz logierten, gerade dabei, hastig die Portale zu schließen.
An allen Ecken tauchten neue Haufen von eindeutig kampfbereiten armen Leuten auf. Viele davon waren mit Macheten bewaffnet, die sie gerade bei den ersten Überfällen auf Geschäfte gestohlen hatten, und schienen begierig, sie einzusetzen. Ich hatte keine klaren Vorstellungen von den möglichen Konsequenzen des Attentats, und das Mittagessen bewegte mich mehr als der Protest, aso machte ich kehrt und ging zur Pension. Mit großen Schritten erklomm ich die Treppe und war davon überzeugt, dass meine politisierten Freunden auf dem Kriegspfad wandelten. Aber nein: Der Speisesaal war noch immer leer, und mein Bruder und José Palencia, die in dem Zimmer nebenan wohnten, sangen dort gemeinsam mit anderen Freunden.
»Sie haben Gaitán ermordet!«, schrie ich.
Sie bedeuteten mir, dass sie das schon wüssten, schienen aber eher in Urlaubsstimmung als in Trauer zu sein und unterbrachen ihr Lied nicht. Später setzten wir uns zum Essen in den leeren Speisesaal, überzeugt davon, dass es damit sein Bewenden haben würde, bis jemand das Radio laut stellte, damit die Gleichgültigen zuhörten. Carlos H. Pareja machte seiner Aufforderung an mich eine Stunde zuvor alle Ehre, indem er die Konstituierung einer revolutionären Regierungsjunta verkündete, die aus bedeutenden Linksliberalen bestand, darunter der berühmte Schriftsteller und Politiker Jorge Zalamea. Die ersten Maßnahmen waren die Bildung eines Exekutivkomitees, eines Kommandos der Staatspolizei und aller anderen Organe eines revolutionären Staates. Nach ihm sprachen die übrigen Juntamitglieder und gaben immer maßlosere Parolen aus.
Angesichts der Feierlichkeit dieses Aktes fragte ich mich zuerst, was wohl mein Vater denken würde, wenn er erfuhr, dass sein Vetter, der harte Konservative, Führer einer Revolution der extremen Linken war. Die Pensionswirtin staunte in Anbetracht der gewichtigen, mit der Universität verbundenen Namen darüber, dass diese Männer sich nicht wie Professoren, sondern wie aufmüpfige Studenten gebärdeten. Man musste auf der Radioskala aber nur zwei Zahlen weiter drehen, um einem anderen Land zu begegnen. In Radio Nacional riefen die staatstragenden Liberalen zur Ruhe auf, bei anderen Rundfunkstationen wurde gegen moskautreue Kommunisten gewettert, während die obersten Funktionäre des Liberalismus sich den Gefahren der Straßenschlachten aussetzten, um zum Präsidentenpalast vorzudringen, wo sie mit der konservativen Regierung einen Kompromiss zur Einheit aushandeln wollten.
Wir waren noch wie betäubt von dem ganzen wahnwitzigen Durcheinander, als der Sohn der Wirtin plötzlich schrie, das Haus brenne. Tatsächlich hatte sich im hinteren Teil des Gebäudes ein Riss im Mauerwerk aufgetan, durch den dicker schwarzer Rauch quoll, der die Luft in den Zimmern verpestete. Er kam zweifellos von der benachbarten Bezirksverwaltung, die von den Demonstranten angezündet worden war, die Mauer schien jedoch stark genug, das auszuhalten. Wir sprangen in großen Sätzen die Treppe hinunter und befanden uns in einer Stadt im Krieg. Die rabiaten Angreifer warfen alles, was sie in den Büros der Bezirksverwaltung vorfanden, aus den Fenstern. Der Rauch von den Bränden hatte die Luft vernebelt, darüber hing wie eine unheilvolle Decke der wolkendunkle Himmel. Fanatische Horden, bewaffnet mit Macheten und allerlei Werkzeug, das sie aus den Eisenwarenhandlungen gestohlen hatten, überfielen mit der Unterstützung von meuternden Polizisten die Geschäfte in der Carrera Séptima und den Nebenstraßen und steckten sie in Brand. Ein kurzer Blick genügte, wir sahen, die Lage war außer Kontrolle. Mein Bruder kam meinem Gedanken mit einem Schrei zuvor:
»Scheiße! Die Schreibmaschine!«
Wir rannten zum Pfandhaus, das hinter wohlgeschlossenen Eisenjalousien noch unbeschädigt war, doch die Maschine stand nicht dort, wo sie immer gestanden hatte. Wir machten uns nicht weiter Sorgen, weil wir dachten, dass wir sie in den nächsten Tagen zurückbekommen könnten, ohne zu bedenken, dass es bei solch einer kolossalen Katastrophe keine nächsten Tage geben würde.
Die Militärgarnison von Bogotá beschränkte sich darauf, die Staatsgebäude und die Banken zu schützen, und für die öffentliche Ordnung war keiner mehr verantwortlich. Viele ranghohe Polizisten hatten sich seit den ersten Stunden im Quartier der Fünften Division verbarrikadiert und zahlreiche Straßenpolizisten folgten ihnen mit ganzen Ladungen auf der Straße eingesammelter Waffen. Mehrere von ihnen, am Arm die rote Binde der Aufständischen, feuerten ihr Gewehr so nah von uns ab, dass es in meiner Brust dröhnte. Seitdem bin ich davon überzeugt, dass ein Gewehr mit dem bloßen Knall töten kann.
Auf dem Rückweg vom Pfandhaus sahen wir, wie binnen Minuten die teuersten Geschäfte der Stadt in der Carrera Octava verwüstet wurden. Der exquisite Schmuck, die Hüte aus der Bond Street, das englische Tuch, die wir karibischen Studenten als unerreichbar in den Schaufenstern bewundert hatten, waren nun für jeden zugänglich, vor den Augen der gleichmütigen Soldaten, die nur die ausländischen Banken bewachten. Das feine Café San Marino, in das wir nie hineingekommen waren, stand offen und ausgeweidet da, diesmal ohne die Kellner im Smoking, die den Eintritt von karibischen Studenten schon im Vorhinein verhinderten.
Manche von denen, die beladen mit edler Kleidung und großen Tuchrollen auf der Schulter aus den Geschäften kamen, ließen Letztere mitten auf der Straße fallen. Ich hob eine auf, staunte, dass sie so schwer war, und musste mich zu meinem großen Schmerz wieder von ihr trennen. Überall auf der Straße stolperten wir über Hausgerät, und das Vorankommen war nicht leicht inmitten all der Flaschen edlen Whiskys und anderer exotischer Getränke, die der Mob mit der Machete köpfte. Mein Bruder Luis Enrique und José Palencia fanden in einem Lager mit guten Kleidungsstücken Überbleibsel der Plünderung, darunter einen himmelblauen Anzug aus bestem Tuch, genau in der Größe meines Vaters, der ihn noch Jahre lang zu feierlichen Anlässen trug. Als einzige zufällige Trophäe trug ich aus dem teuersten Teesalon der Stadt eine Kalbsledermappe davon, in der ich dann in den folgenden Jahren, immer wenn ich mal wieder keinen Platz zum Schlafen hatte, meine Manuskripte mit mir herumschleppte.
Ich lief in einer Gruppe, die sich auf der Carrera Octava Richtung Capitolio den Weg bahnte, als eine Maschinengewehrsalve die Ersten, die auf die Plaza de Bolívar kamen, hinwegfegte. Die Toten und Verletzten fielen augenblicklich mitten auf der Straße übereinander und stoppten uns jäh. Ein in Blut gebadeter Todgeweihter, der sich aus dem Haufen geschleppt hatte, hielt mich am Hosenbein fest und flehte mich herzzerreißend an:
»Junger Mann, um Gottes willen, lassen Sie mich nicht sterben!«
Ich floh in Panik. Seitdem habe ich gelernt, andere Schrecken, eigene und fremde, zu vergessen, aber die Schutzlosigkeit dieser Augen im Lodern des Brandes habe ich nie vergessen. Noch heute staune ich jedoch darüber, dass ich keinen Augenblick lang gedacht habe, mein Bruder und ich könnten in dieser Hölle ohne Gnade sterben.
Ab drei Uhr nachmittags hatte es einzelne kleine Schauer gegeben, doch nach fünf Uhr brach ein biblischer Platzregen herein, der viele der kleineren Brände löschte und den Schwung der Rebellion minderte. Die Militärgarnison von Bogotá war zu klein, um sich dem Aufstand entgegenzustellen, und löste nur punktuell die erbitterten Menschenmengen auf den Straßen auf. Erst nach Mitternacht trafen Einheiten aus den Nachbarbezirken zur Verstärkung ein, vor allem aus Boyacá, das als Schule der staatlichen violencia einen schlechten Ruf genoss. Bis dahin hatte der Rundfunk aufgewiegelt, aber nicht informiert, für keine Nachricht gab es eine Quelle, und an Wahrheit war nicht zu denken. Die Entsatztruppe eroberte am frühen Morgen das verwüstete Geschäftszentrum zurück, in dem es kein Licht gab außer dem der Brände, der radikalisierte Widerstand hielt sich jedoch noch mehrere Tage mit Heckenschützen, die auf Türmen und Dachterrassen postiert blieben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Toten auf den Straßen schon nicht mehr zählbar.
Als wir zurück zur Pension kamen, stand der Großteil des Zentrums in Flammen. Umgekippte Straßenbahnen und Trümmer von Autos dienten als zufällige Barrikaden. Wir packten die wenigen Sachen, die es lohnten, in einen Koffer, und ich merkte erst später, was ich zurückgelassen hatte: die Rohfassungen von zwei oder drei nicht druckbaren Erzählungen, das Lexikon des Großvaters, das ich nie wiederbekam, und das Buch von Diogenes Laercio, den Preis für das beste Abitur.
Meinem Bruder und mir fiel nichts Besseres ein, als bei Onkel Juanito um Asyl zu bitten, der nur vier Straßen weiter wohnte. Er hatte eine Wohnung im zweiten Stock, die aus einem kleinen Salon, einem Esszimmer und zwei Schlafzimmern bestand. Dort lebte er zusammen mit seiner Frau Dilia Caballero und seinen Kindern Eduardo, Margarita und Nicolás, dem Altesten, der eine Zeit lang bei mir in der Pension untergekommen war. Wir passten kaum alle in die Wohnung, doch die Márquez Caballeros waren so großherzig, Raum bereitzustellen, wo es keinen gab, sogar im Esszimmer, und das nicht nur für uns, sondern auch für unsere Freunde und Pensionsgenossen: José Palencia, Domingo Manuel Vega, Carmelo Martínez - alle aus Sucre -, und für andere, die wir kaum kannten.
Kurz vor Mitternacht hörte der Regen auf, und wir stiegen auf die Dachterrasse, um das Inferno der Stadtlandschaft zu sehen, die von den Resten der Brände erleuchtet war. Im Hintergrund ragten die Berge Monserrate und La Guadalupe wie zwei Schattenriesen in den rauchbewölkten Himmel, aber ich sah in dem trostlosen Dunst immer nur riesengroß das Gesicht des Sterbenden, der sich zu mir geschleppt und eine unmögliche Hilfe erfleht hatte. Die Hatz in den Straßen ließ nach, und in der schrecklichen Stille hörte man nur die vereinzelten Schüsse der zahllosen Heckenschützen, die sich über das ganze Zentrum verteilt hatten, und den Lärm der Truppen, die nach und nach jede Spur des bewaffneten oder unbewaffneten Widerstandes auslöschten, um die Stadt in ihre Gewalt zu bringen. Erschüttert von dieser Todeslandschaft drückte Onkel Juanito mit einem einzigen Seufzer aus, was wir alle fühlten:
»Du lieber Gott, das ist wie ein Traum!«
Zurück im dämmrigen Salon sackte ich auf dem Sofa zusammen. Die von der Regierung besetzten Sender verbreiteten in offiziellen Bulletins den Eindruck einkehrender Ruhe. Es gab keine Reden mehr, und man konnte nicht mehr genau die Staatssender von denen unterscheiden, die noch in der Hand der Aufständischen waren, und auch deren Aussagen waren in der unaufhaltsamen Flut der Latrinengerüchte nicht mehr zu erkennen. Es hieß, dass alle Botschaften mit Flüchtlingen überfüllt seien und dass General Marshall in der nordamerikanischen Botschaft von einer Ehrengarde der Militärakademie geschützt werde. Auch Laureano Gómez hatte in den ersten Stunden des Aufstands dort Zuflucht gesucht und mehrmals mit seinem Präsidenten telefoniert, um zu verhindern, dass dieser mit den Liberalen in einer Situation verhandelte, die Gómez für kommunistisch gesteuert hielt. Expräsident Alberto Lleras, damals Generalsekretär der Union Panamericana, war wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen, als er beim Verlassen des Capitolio in einem ungepanzerten Wagen erkannt wurde und man ihn für die legale Übergabe der Macht an Ospina Pérez büßen lassen wollte. Die Mehrzahl der Delegierten der Panamerikanischen Konferenz war gegen Mitternacht in Sicherheit.
Zwischen den vielen widersprüchlichen Nachrichten wurde mitgeteilt, dass Guillermo León Valencia, Sohn des gleichnamigen Dichters, gesteinigt worden sei und man die Leiche an der Plaza de Bolívar aufgehängt habe. Doch sobald das Heer die von den Rebellen besetzten Rundfunksender zurückerobert hatte, stellte sich der Eindruck ein, dass die Regierung die Lage kontrollierte. Statt Kriegserklärungen auszustrahlen, versuchte man mit der Nachricht, dass die Regierung die Lage im Griff habe, das Land zu beruhigen, während die Führungsspitze der Liberalen unter dem Juristen Darío Echandía noch mit der Regierung um die Hälfte der Macht verhandelte.
Eigentlich schienen nur die Kommunisten mit einer politischen Zielvorstellung zu agieren: eine exaltierte Minderheit, die mitten im Tohuwabohu der Straßen die Menge wie Verkehrspolizisten zu den Zentren der Macht dirigierte. Dagegen bewies der Liberalismus, dass er in zwei Hälften zerfiel, wie es schon Gaitán in seiner Wahlkampagne angeprangert hatte: auf der einen Seite die Führer, die im Präsidentenpalais um einen Anteil an der Macht feilschten, auf der anderen ihre Wähler, die auf Türmen und Dachterrassen, so lange und so gut sie konnten, Widerstand leisteten.
Die ersten Zweifel, die im Zusammenhang mit dem Tod von Gaitán auftauchten, betrafen die Identität des Täters. Noch heute gibt es keine völlige Übereinstimmung darüber, ob Juan Roa Sierra, der einsame Pistolenschütze, der aus der Menschenmenge auf der Carrera Séptima auf Gaitán schoss, allein verantwortlich für den Mord war. Es ist nicht ohne weiteres zu begreifen, dass er aus eigenem Antrieb gehandelt haben soll, da er offensichtlich zu unselbständig und nur mangelhaft politisch informiert gewesen ist, um von sich aus diesen folgenreichen Tod zu planen und an jenem Tag, zu jener Stunde, an jenem Ort und auf eben diese Weise auszuführen. Seine Mutter Encarnacion Sierra, verwitwete Roa, zweiundfünfzig Jahre alt, hörte im Radio vom Tod ihres politischen Helden Gaitán und machte sich daran, ihr bestes Kleid schwarz zu färben, um ihn zu betrauern. Sie war noch nicht damit fertig, als sie hörte, dass der Mörder Juan Roa Sierra war, das dreizehnte ihrer vierzehn Kinder. Keines war über die Grundschule hinausgekommen, und vier von ihnen - zwei Jungen und zwei Mädchen -waren gestorben.
Sie erklärte vor Gericht, dass sie seit etwa acht Monaten seltsame Veränderungen in Juans Verhalten beobachtet hatte. Er hatte Selbstgespräche geführt, grundlos gelacht und eines Tages seiner Familie gestanden, dass er glaube, die Inkarnation des Generals Francisco de Paula Santander, des Helden unserer Unabhängigkeit, zu sein, sie hätten jedoch gedacht, dass das der schlechte Scherz eines Betrunkenen gewesen wäre. Ihr Sohn habe nie jemandem etwas zu Leide getan, er habe sogar erreicht, dass Leute von einer gewissen Bedeutung ihm Empfehlungen schrieben, damit er eine Anstellung bekäme. Eines dieser Empfehlungsschreiben hatte er in seiner Brieftasche, als er Gaitán tötete. Sechs Monate zuvor hatte er eigenhändig einen Brief an Präsident Ospina Pérez geschrieben, in dem er wegen einer Anstellung um einen Termin bat.
Die Mutter erklärte den Untersuchungsrichtern gegenüber, dass ihr Sohn mit seinem Problem auch bei Gaitán persönlich vorstellig geworden sei, dass ihm dieser jedoch keinerlei Hoffnung gemacht habe. Es war nicht bekannt, dass Juan Roa in seinem Leben je mit einer Waffe umgegangen wäre, doch er gebrauchte sie bei der Tat auf eine Art und Weise, die ganz und gar nicht an einen Neuling denken ließ. Der Revolver war ein 38er mit langem Lauf und in so schlechtem Zustand, dass es schon fast bewundernswert ist, dass kein Schuss danebenging.
Einige Angestellte in dem Gebäude glaubten, Juan Roa am Vortag des Mordes im Stockwerk von Gaitáns Büros gesehen zu haben. Der Portier bestätigte zweifelsfrei, man habe ihn am Morgen des 9. April mit einem Unbekannten die Treppen hinaufsteigen und später im Aufzug herunterkommen sehen. Er meinte, beide hätten mehrere Stunden lang neben dem Eingang des Gebäudes gewartet, dass Roa jedoch allein an der Tür war, als Gaitán in sein Büro hochging.
Gabriel Restrepo, ein Journalist von La Jornada - der Zeitung, die Gaitáns Kampagne unterstützte -, listete die Ausweispapiere auf, die Roa Sierra bei sich hatte, als er das Verbrechen beging. Sie ließen keinen Zweifel an seiner Identität und seiner sozialen Lage, gaben aber keinen Hinweis auf seine Absichten. In den Hosentaschen hatte er zweiundachtzig Centavos in unterschiedlichen Münzen, obwohl doch viele wichtige Dinge des täglichen Lebens nur fünf Centavos kosteten. In einer Innentasche des Jacketts steckte eine Brieftasche aus schwarzem Leder mit einem Pesoschein. Roa Sierra hatte auch eine Bescheinigung bei sich, die seine Rechtschaffenheit beglaubigte, ein Führungszeugnis von der Polizei, nach dem er nicht vorbestraft war, und eine Meldebescheinigung mit seinem Wohnort in einem Armenviertel: Galle Octava, Nummer 30-73. Sein Wehrpass eines Reservisten der zweiten Klasse, den er in derselben Tasche trug, wies ihn als Sohn von Rafael Roa und Encarnación Sierra aus, geboren vor einundzwanzig Jahren: am 4. November 1927.
Alles schien in Ordnung zu sein, nur nicht, dass ein so einfacher Mann, der keine Vorstrafen hatte, derart viele Beweise für seine gute Führung bei sich trug. Mir blieb auf immer der Hauch eines Zweifels, den ich nicht habe überwinden können, allein wegen des elegant und teuer gekleideten Mannes, der die wutentbrannte Meute auf Roa gehetzt hatte und für immer in einem Luxusauto verschwunden war.
Im Strudel der Tragödie und während der Leichnam des ermordeten Apostels einbalsamiert wurde, hatten sich die Mitglieder des Parteipräsidiums der Liberalen im Speisesaal der Clínica Central versammelt, um Notmaßnahmen zu beraten. Man wollte eiligst zum Präsidentenpalais vordringen, um auch ohne vereinbarte Audienz mit dem Staatschef zu besprechen, wie das Land vor der drohenden Katastrophe bewahrt werden könnte. Kurz vor neun Uhr abends hatte der Regen nachgelassen, und die ersten Abgesandten versuchten nun, sich mühselig einen Weg durch die vom Volksaufstand verwüsteten Straßen zu bahnen, auf denen zwischen den Trümmern die Toten lagen, die von den ziellosen Kugeln der auf Balkons und Dächern postierten Heckenschützen getroffen worden waren.
In der Halle vor dem Büro des Präsidenten trafen die Abgesandten der Liberalen auf ein paar konservative Funktionäre und Politiker und auf die Gattin des Präsidenten, Dona Bertha Hernández de Ospina, die sich sehr beherrscht zeigte. Sie trug noch das Kostüm, in dem sie ihren Mann zur Ausstellung in Engativá begleitet hatte, und am Gürtel einen Dienstrevolver.
Gegen Abend hatte der Präsident keine Verbindung mehr zu den kritischen Orten und versuchte, hinter verschlossenen Türen mit Militärs und Ministern die Lage im Lande einzuschätzen. Vom Besuch der liberalen Führer wurde er kurz vor zehn überrascht, und er wollte sie nicht alle gleichzeitig empfangen, sondern in Zweiergruppen, worauf sie entschieden, dass dann keiner zum Gespräch käme. Der Präsident gab nach, dennoch fassten die Liberalen den Vorgang als wenig ermutigend auf.
Der Präsident saß am Kopfende eines langen Konferenztischs, in einem makellosen Anzug und ohne jedes Anzeichen von Unruhe. Eine gewisse Anspannung verriet nur die Art, wie er rauchte, andauernd und gierig, und dass er manchmal eine erst halb gerauchte Zigarette ausdrückte, um eine neue anzuzünden. Einer der Besucher erzählte mir Jahre später, wie sehr ihn der Widerschein der Brände auf dem platinfarbenen Haar des gleichmütigen Präsidenten beeindruckt habe. Durch die großen Fenster des Präsidentenbüros waren bis ans Ende der Welt die glimmenden Trümmer unter einem glühenden Himmel zu sehen.
Von dieser Audienz wissen wir nicht viel; die Protagonisten haben nur wenig darüber erzählt, es gab ein paar Indiskretionen Einzelner und viele Phantasien anderer, sowie die stückweise Rekonstruktion jener unheilvollen Tage, die der Dichter und Geschichtsschreiber Arturo Alape geleistet hat. Seiner Arbeit ist auch die Darstellung der Ereignisse in diesen Memoiren in wesentlichen Teilen verpflichtet.
Die Besucher waren Luis Cano, Direktor der liberalen Abendzeitung El Espectador, Plinio Mendoza Neira, der die Versammlung angeregt hatte, und drei weitere aktive junge liberale Politiker: Carlos Lleras Restrepo, Darío Echandía und Alfonso Araujo. Im Laufe der Diskussion kamen zeitweise noch andere prominente Liberale dazu.
Demzufolge, was mir Jahre später Plinio Mendoza Neira in seinem ungeduldigen Exil in Caracas mit aller Klarsicht erzählte, hatte keiner von ihnen schon einen ausgearbeiteten Plan. Mendoza Neira war als Einziger Zeuge des Mordes an Gaitán gewesen, und er berichtete bei der Audienz davon, Schritt für Schritt, mit der Gabe eines geborenen Erzählers und chronischen Journalisten. Der Präsident hörte ihm mit feierlicher Aufmerksamkeit zu und forderte am Ende die Anwesenden auf, ihre Vorschläge für eine gerechte und patriotische Lösung in dieser extremen Notlage zu unterbreiten.
Mendoza, der bei Freunden und Feinden für seine offene, unverschnörkelte Art bekannt war, erklärte, das Sinnvollste sei, die Macht an die Streitkräfte zu delegieren, weil das Volk ihnen in diesem Augenblick am meisten vertraute. Es war noch nicht lange her, dass Mendoza unter der liberalen Regierung von Alfonso López Pumarejo Verteidigungsminister gewesen war, er kannte sich innerhalb des Militärs gut aus und meinte, dass es nur den Offizieren gelingen könne, das Land wieder in die Normalität zu führen. Der Präsident hielt diesen Plan jedoch nicht für realistisch, und selbst die Liberalen stellten sich nicht dahinter.
Als Nächster sprach Don Luis Cano, der für seine vorzügliche Umsicht wohl bekannt war. Er hegte fast väterliche Gefühle für den Präsidenten und beschränkte sich darauf, seine Mitwirkung bei jeder schnellen und gerechten Lösung anzubieten, für die Ospina sich mit Unterstützung der Mehrheit entscheiden würde. Dieser versicherte, er werde die unerlässlichen Maßnahmen zur Rückkehr in die Normalität ergreifen, dabei jedoch stets die Verfassung achten. Und während er aus dem Fenster auf die Hölle zeigte, von der die Stadt verschlungen wurde, erinnerte er die Anwesenden mit kaum verhohlener Ironie daran, dass dies nicht die Regierung verursacht habe.
Der Präsident war berühmt für seine gemessene Art und sein höfliches Benehmen, die ganz im Gegensatz zu den lauten Ausbrüchen von Laureano Gómez und der Hoffart anderer, auf taktische Manöver spezialisierter Parteifreunde standen. In jener historischen Nacht zeigte er jedoch, dass er entschlossen war, genauso hartnäckig wie diese zu sein. Also ging die Diskussion ohne jegliche Übereinkunft bis Mitternacht weiter, mit einigen Unterbrechungen, wenn Doña Bertha de Ospina mit neuen und noch schrecklicheren Nachrichten hereinkam.
Zu diesem Zeitpunkt konnte man sich schon keine Vorstellung mehr von der Zahl der Toten auf der Straße machen, von den Heckenschützen in unerreichbaren Stellungen und den Menschenmassen, die von Schmerz, Wut und den teuren alkoholischen Getränken aus den geplünderten Luxusgeschäften aufgeputscht waren. Denn das Zentrum der Stadt war zerstört und stand noch in Flammen, und nicht nur die eleganten Läden waren verwüstet oder brannten, sondern auch der Justizpalast, die Bezirksverwaltung und viele andere historische Gebäude. Die Tatsachen schränkten erbarmungslos die Möglichkeiten ein, durch die auf der abgeschiedenen Insel des Präsidentenbüros mehrere Männer sich mit einem einzigen zu einer besonnenen Übereinkunft hätten verständigen können.
Darío Echandía, der vielleicht die größte Autorität hatte, war der Wortkargste. Er machte zwei oder drei ironische Kommentare über den Präsidenten und zog sich wieder in seine Grübeleien zurück.
Er schien der einzige in Frage kommende Kandidat für die Ablösung von Ospina Pérez im Präsidentenamt zu sein, tat in jener Nacht jedoch nichts, um dieses Amt zu verdienen oder zu vermeiden. Der Präsident, den man für einen gemäßigten Konservativen gehalten hatte, schien das immer weniger zu sein. Er war Enkel und Neffe von zwei Präsidenten in einem Jahrhundert, Familienvater, Ingenieur im Ruhestand, schon seit jeher Millionär und noch ein paar Dinge mehr, die er aber im Stillen ausübte, so dass es sogar unbegründet hieß, sowohl bei ihm zu Hause wie im Palast führe in Wirklichkeit seine streitbare Frau das Regiment. Mit beißendem Sarkasmus stellte er schließlich fest, er habe eigentlich kein Problem damit, den Vorschlag anzunehmen, aber es sei nun einmal so, dass er sich sehr wohl dabei fühle, von eben dem Sessel aus zu regieren, auf den der Wille des Volkes ihn gesetzt habe.
Als er das sagte, fühlte er sich zweifellos durch Informationen gestärkt, die den Liberalen fehlten: Er wusste genau und umfassend über den jeweiligen Zustand der öffentlichen Ordnung im Land Bescheid. Und zwar schon die ganze Zeit über, da er immer wieder das Büro verlassen hatte, um sich gründlich zu informieren. Die Garnison von Bogotá war nicht einmal tausend Mann stark, und aus den anderen Bezirken gab es mehr oder weniger alarmierende Nachrichten, aber alles war unter Kontrolle und die Armee loyal. Im Nachbarbezirk Boyacá, bekannt für seinen historisch gewachsenen Liberalismus und seinen unversöhnlichen Konservatismus, war Gouverneur José Maria Villarreal, konservativ bis ins Mark, nicht nur früh gegen die lokalen Unruheherde vorgegangen, sondern er schickte nun auch Truppen nach Bogotá, die besser ausgerüstet waren, den Aufruhr zu unterdrücken. Also brauchte der Präsident die Liberalen nur taktisch hinzuhalten, indem er bedachtsam wenig sagte und langsam rauchte. Er schaute dabei nie auf die Uhr, musste sich aber genau ausgerechnet haben, wann die Stadt wieder ausreichend mit Verstärkungstruppen versorgt war, die nicht nur ausgeruht, sondern auch gut trainiert in der Ausübung staatlicher Repression waren.
Nach einem langen Hin und Her über mögliche Lösungen schlug Carlos Lleras Restrepo das vor, was das Parteipräsidium der Liberalen in der Clínica Central als letztes Mittel vereinbart hatte:
Der Präsident solle um der politischen Eintracht und des sozialen Friedens willen die Macht an Darío Echandía übergeben. Dieser Plan hätte zweifellos die völlige Billigung von Eduardo Santos und Alfonso López Pumarejo gefunden, zwei Expräsidenten von großer politischer Glaubwürdigkeit, die zu der Zeit gerade außer Landes waren.
Die Antwort des Präsidenten, die er mit der gleichen Gelassenheit gab, mit der er rauchte, war nicht die, die man hätte erwarten können. Er nutzte die Gelegenheit, um seine wahre Haltung zu zeigen, die bis dahin wenigen bekannt war. Er sagte, dass es für ihn und seine Familie das Bequemste wäre, sich von der Regierung zurückzuziehen und im Ausland ohne politische Sorgen von seinem Privatvermögen zu leben, jedoch beunruhige ihn der Gedanke, was es für das Land bedeuten würde, wenn ein gewählter Präsident aus seinem Amt flüchtete. Ein Bürgerkrieg wäre unvermeidlich. Und als Lleras Restrepo noch einmal auf Ospinas Rücktritt beharrte, erlaubte dieser sich, daran zu erinnern, dass er dazu verpflichtet sei, die Verfassung und die Gesetze zu verteidigen, eine Verpflichtung, die er nicht nur dem Vaterland, sondern auch seinem Gewissen und Gott gegenüber eingegangen sei. Und dann, so heißt es, sagte er den historischen Satz, den er wohl nie gesagt hat, der aber auf ewig als der seine gelten wird: »Für die kolumbianische Demokratie ist ein toter Präsident mehr wert als ein geflüchteter Präsident.«
Keiner der Zeugen konnte sich daran erinnern, den Satz aus seinem Mund oder von irgendjemand anderem gehört zu haben. Im Laufe der Zeit wurde er unterschiedlichen Stimmen zugeschrieben, es wurden sogar sein politischer Wert und seine historische Gültigkeit in Frage gestellt, jedoch nie seine literarische Leuchtkraft. Damals wurde er zur Devise der Regierung von Ospina Pérez und zu einer der Säulen seines Ruhms. Diverse konservative Journalisten bekamen dann unterstellt, sie hätten den Satz erfunden, das Gleiche wurde mit mehr Grund von dem bekannten Schriftsteller, Politiker und gegenwärtigen Minister für Erdöl und Bergbau Joaquín Estrada Monsalve behauptet, der tatsächlich damals im Präsidentenpalais war, wenn auch nicht im Sitzungssaal. Also blieb in die Geschichte eingeschrieben, dass ihn derjenige gesagt hatte, der ihn hätte sagen sollen, in einer verwüsteten Stadt, in der die Asche zu erkalten begann, und in einem Land, das niemals mehr dasselbe sein würde.
Schließlich und endlich war der wirkliche Verdienst des Präsidenten nicht die Erfindung historischer Sätze, sondern die Tatsache, dass er die Liberalen mit beruhigenden Bonbons so lange hingehalten hatte, bis die Entsatztruppen eingetroffen waren und den Aufstand der Volksmassen niederschlugen, um den konservativen Frieden durchzusetzen. Erst dann, am 10. April um acht Uhr morgens, weckte er Darío Echandía mit elfmaligem albtraumartigen Telefonklingeln und ernannte ihn zum Staatsminister in einer Zweiparteienregierung der Beschwichtigung. Laureano Gómez war verärgert über diese Entwicklung und reiste mit seiner Familie nach New York; dort wollte er abwarten, bis sich für ihn eine Chance ergab, seinen ewigen Wunsch nach der Präsidentschaft zu verwirklichen.
Der Traum von einem grundlegenden sozialen Wandel, für den Gaitán gestorben war, verflüchtigte sich zwischen den rauchenden Trümmern. Die Zahl der Toten in den Straßen von Bogotá sowie die Zahl derer, die in den folgenden Jahren Opfer der staatlichen Repression wurden, muss die Million übersteigen, hinzu kamen Elend und Exil für viele. Es dauerte lange, bis den an der Regierung beteiligten Liberalen bewusst wurde, dass sie sich auf das Risiko eingelassen hatten, als Komplizen in die Geschichte einzugehen.
Zu den vielen historischen Zeugen jenes Tages in Bogotá gehörten zwei Männer, die einander nicht kannten und die Jahre später meine guten Freunde wurden. Der eine war Luis Cardoza y Aragón aus Guatemala, Dichter und Autor politischer und literarischer Essays, der als Außenminister seines Landes und Leiter der guatemaltekischen Delegation zur Panamerikanischen Konferenz angereist war. Der andere war Fidel Castro. Beide wurden auch irgendwann einmal beschuldigt, in die Unruhen verwickelt gewesen zu sein.
Über Cardoza y Aragón hieß es insbesondere, er sei, getarnt durch seine Akkreditierung als Sonderdelegierter der fortschrittlichen Regierung von Guatemala, einer der Anstifter gewesen. Man muss sich vor Augen führen, dass Cardoza y Aragón Delegierter der historisch bedeutsamen Regierung von
Jacobo Arbenz war und zudem ein großer Sprachkünstler, der sich nie für ein verrücktes Abenteuer hergegeben hätte. In seinen wunderbaren Memoiren erinnerte er sich voller Schmerz der Anschuldigung von Enrique Santos Montejo in El Tiempo. Dieser hatte unter dem Pseudonym Calíban in seiner populären Kolumne »La Danza de las Horas« - der Reigen der Stunden - unterstellt, Cardoza y Aragón habe die offizielle Mission gehabt, General George Marshall zu töten. Zahlreiche Delegierte der Konferenz verlangten von der Redaktion eine Richtigstellung dieser wahnwitzigen Zeitungsente; vergeblich. El Siglo, offizielles Organ der regierenden Konservativen, posaunte daraufhin in alle vier Winde, dass Cardoza y Aragón der Anstifter des Aufruhrs gewesen sei.
Ich lernte ihn und seine Frau Lya Kostakowsky viele Jahre später in Mexiko-Stadt kennen. In ihrem Haus in Coyoacán, geweiht durch Erinnerungsstücke und verschönt durch die Originale von großen Malern der Zeit, kamen sonntagabends enge Freunde zu wichtigen, aber ganz unprätentiösen Treffen zusammen. Cardoza y Aragón hielt sich für einen Überlebenden des 9. April, einmal, weil sein Wagen ein paar Stunden nach dem Verbrechen an Gaitán von Heckenschützen unter Maschinengewehrbeschuss genommen worden war. Und dann, weil ihm Tage später, als die Rebellion schon besiegt war, ein Betrunkener auf der Straße ins Gesicht schießen wollte, der Revolver allerdings zweimal Ladehemmung hatte. Der 9. April war ein häufiges Thema unserer Gespräche, in denen sich die Wut mit der Sehnsucht nach den verlorenen Jahren vermengte.
Fidel Castro wurde wegen einiger Handlungen, die mit seiner Eigenschaft als studentischer Aktivist zusammenhingen, ebenfalls Opfer allerlei absurder Anschuldigungen. Nach einem unruhigen Tag zwischen den enthemmten Horden landete er in der schwarzen Nacht bei der fünften Division der Staatspolizei, weil er hoffte, sich bei der Beendigung des Gemetzels auf den Straßen irgendwie nützlich machen zu können. Man muss ihn kennen, will man sich seine Verzweiflung in der aufständischen Festung vorstellen, wo es unmöglich schien, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen.
Er traf sich mit den Kommandeuren der Garnison und anderen aufständischen Offizieren und versuchte vergeblich, sie davon zu überzeugen, dass jede kasernierte Kraft verpufft. Er schlug ihnen vor, ihre Männer in den Straßenkampf zu schicken, mit dem Ziel, die Ordnung für ein gerechteres System wieder herzustellen. Er erinnerte an alle möglichen historischen Präzedenzfälle, wurde aber nicht gehört, während die Festung von Regierungstruppen und Panzern beschossen wurde. Am Ende beschloss er, das allgemeine Schicksal zu teilen.
Nach Mitternacht kam Plinio Mendoza Neira mit Instruktionen der liberalen Führung in die Festung; er sollte eine friedliche Kapitulation der aufständischen Offiziere und Polizisten sowie zahlreicher umherirrender Liberaler erreichen, die nur auf Befehle warteten, um loszuschlagen. In den vielen Stunden der Verhandlung prägte sich Mendoza das Bild eines kubanischen Studenten ein, der, korpulent und diskussionsfreudig, mehrmals vermittelnd in die Kontroversen zwischen liberalen Führern und rebellischen Offizieren eingriff und mit der Klarheit seiner Gedanken alle anderen übertraf. Wer das gewesen war, erfuhr Mendoza erst Jahre später, als er schon in Caracas war und den Kubaner zufällig auf einem Foto der schrecklichen Nacht wiedererkannte. Zu diesem Zeitpunkt war Fidel Castro bereits in der Sierra Maestra.
Ich lernte Fidel Castro elf Jahre später kennen, nachdem ich als Reporter zu seinem triumphalen Einzug in Havanna gekommen war, und wir haben mit der Zeit eine persönliche Freundschaft aufgebaut, die uns über die Jahre und unzählige Schwierigkeiten hinweg erhalten geblieben ist. In meinen langen Gesprächen mit ihm über alles Irdische und Himmlische sind wir oft auf den 9. April zurückgekommen, den Castro immer wieder als eines der Dramen erinnerte, die seine Entwicklung entscheidend beeinflusst haben. Vor allem jene Nacht in der Quinta Division, wo ihm klar wurde, dass die Mehrheit der Aufständischen, die kamen und gingen, sich bei der Plünderung verausgabten, statt sich unbeirrt auf die dringliche politische Lösung zu konzentrieren.
Während diese beiden Freunde bewusste Zeugen der Ereignisse waren, die einen tiefen Einschnitt in der kolumbianische Geschichte bedeuteten, überlebten mein Bruder und ich sie wie blind in der Wohnung von Onkel Juanito, zusammen mit den anderen Flüchtlingen. In keinem Augenblick machte ich mir bewusst, dass ich bereits ein Schriftstellerlehrling war, der eines Tages versuchen würde, aus dem Gedächtnis ein Zeugnis der fürchterlichen Tage, die wir erlebten, zu rekonstruieren. Meine einzige Sorge war höchst irdisch: unserer Familie die Nachricht zukommen zu lassen, dass wir lebten - beziehungsweise noch lebten -, und zugleich zu erfahren, wie es Eltern und Geschwistern ging, vor allem den beiden älteren Schwestern Margot und Aida, die in entfernten Städten im Internat waren.
Dass wir bei Onkel Juanito einen Zufluchtsort gefunden hatten, war ein Wunder. Die ersten Tage gestalteten sich schwierig wegen der ständigen Schießereien und weil keine Nachricht verlässlich war. Allmählich erkundeten wir jedoch die nahen Geschäfte, und es gelang uns, etwas zum Essen zu kaufen. Die Straßen waren von Überfallkommandos besetzt, die strikten Schießbefehl hatten. Der unverbesserliche José Palencia verkleidete sich als Militär, um sich ungehindert bewegen zu können, er trug einen Tropenhelm und ein paar Gamaschen, die er im Müll gefunden hatte, und rettete sich wie durch ein Wunder vor der ersten Patrouille, die ihn entdeckte.
Die kommerziellen Sender, die noch vor Mitternacht zum Schweigen gebracht worden waren, blieben unter der Kontrolle des Heeres. Die wenigen primitiven Telefone waren den Ordnungshütern vorbehalten, und es gab keine anderen Mittel der Kommunikation. Die Schlangen vor den überfüllten Telegrafenämtern waren endlos, doch dann richteten die Radiosender einen Übermittlungsdienst im Äther ein, und wer Glück hatte, erwischte die ihm zugedachte Nachricht. Dieser Weg erschien uns am einfachsten und verlässlichsten, und wir vertrauten uns ihm ohne allzu große Hoffnung an.
Nach dem wir drei Tage eingesperrt gewesen waren, gingen mein Bruder und ich auf die Straße. Es war ein entsetzlicher Anblick. Die Stadt lag in Schutt unter einer trüben Wolkendecke, und es regnete ununterbrochen, wodurch die Brände zurückgedrängt, aber auch die Aufräumarbeiten verzögert worden waren. Viele Straßen im Zentrum waren wegen der Nester von Heckenschützen auf den Dächern abgesperrt, und man musste auf Befehl der Militärpatrouillen, die wie für einen Weltkrieg bewaffnet waren, unsinnige Umwege machen. Der Gestank des Todes auf der Straße war unerträglich. Die Lastwagen des Heeres hatten noch nicht all die Leichenhaufen auf den Gehsteigen abtransportieren können, und die Soldaten wurden mit ganzen Gruppen von verzweifelten Menschen konfrontiert, die ihre Angehörigen identifizieren wollten.
Zwischen den Ruinen des einstigen Geschäftszentrums konnte man wegen des pestilenzialischen Gestanks nicht mehr atmen, so dass viele Familien die Suche einstellen mussten. In einer der großen Leichenpyramiden fiel ein Leichnam auf, der barfuß und ohne Hose, aber mit einem tadellosen Jacket bekleidet war. Noch drei Tage später atmete die Asche den Gestank der verwesenden Toten aus, die zwischen den Trümmern oder auf den Gehsteigen gestapelt lagen und nach denen niemand fragte.
Völlig unverhofft wurden mein Bruder und ich von dem unverwechselbaren Schnappen eines Gewehrschlosses hinter uns und einem schneidenden Befehl gestoppt:
»Hände hoch!«
Ich hob sie, ohne zu überlegen, und erstarrte vor Angst, bis rnich das Gelächter unseres Freundes Angel Casij, der als Reservist erster Klasse dem Aufruf der Streitkräfte gefolgt war, wieder ins Leben zurückholte. Mit seiner Hilfe gelang es uns allen, die wir bei Onkel Juanito Zuflucht gefunden hatten, nach einem Tag Wartezeit vor dem Gebäude von Radio Nacional eine Nachricht in den Äther zu senden. Mein Vater hörte sie in Sucre unter den zahllosen Botschaften, die zwei Wochen lang Tag und Nacht verlesen wurden. Mein Bruder und ich, dem Hang der Familie zu abwegigen Mutmaßungen unrettbar verfallen, befürchteten, dass unsere Mutter die Nachricht als eine barmherzige List von Freunden verstehen könnte, die sie auf Schlimmeres vorbereiten wollten. Wir lagen damit kaum falsch: Schon in der ersten Nacht hatte unsere Mutter geträumt, dass ihre beiden Ältesten bei den Unruhen in einem Meer von Blut ertrunken wären. Der Albtraum war wohl so überzeugend, dass sie, als die Wahrheit sie über andere Kanäle erreichte, entschied, dass keiner von uns je wieder nach Bogotá gehen dürfe, selbst wenn wir deshalb zu Hause verhungern müssten. Es muss sich um eine endgültige Entscheidung gehandelt haben, denn in ihrem ersten Telegramm übermittelten uns die Eltern nur einen Befehl: Wir sollten umgehend nach Sucre kommen, um die Zukunft neu zu bestimmen.
In der angespannten Wartezeit hatten mehrere Kommilitonen mir in leuchtenden Farben die Möglichkeit ausgemalt, in Cartagena de Indias weiterzustudieren, da sie davon ausgingen, dass Bogotá zwar aus dem Schutt auferstehen würde, die Bogotáner sich jedoch nie von dem Schrecken und dem Grauen des Gemetzels erholen würden. Cartagena hatte eine hundertjährige Universität, ebenso berühmt wie die historischen Reliquien der Stadt, und eine juristische Fakultät mit menschlichem Maß, wo man meine eher schlechten Noten der Universidad Nacional als gut ansehen würde.
Ich wollte den Gedanken nicht ausschließen, ihn aber zuvor einer Feuerprobe aussetzen und ihn meinen Eltern gegenüber erst dann erwähnen, wenn ich ihn persönlich überprüft hätte. Ich kündigte ihnen nur an, ich würde per Flugzeug über Cartagena nach Sucre kommen, da die Magdalena-Route bei dem heißen Krieg selbstmörderisch sein könnte. Luis Enrique ließ die Eltern seinerseits wissen, dass er sich eine Arbeit in Barranquilla suchen werde, sobald er mit seinem Arbeitgeber in Bogotá abgerechnet habe.
Ich wusste jedenfalls, dass ich nirgendwo Rechtsanwalt sein würde. Ich wollte nur noch ein wenig Zeit gewinnen, um meine Eltern abzulenken, und Cartagena war womöglich eine gute Zwischenstation zum Nachdenken. Nie wäre mir eingefallen, dass diese vernünftige Erwägung mich dazu bringen würde, aus innerstem Herzen zu entscheiden, dass ich dort weiterleben wollte.
In jenen Tagen fünf Plätze in einem bestimmten Flugzeug zu irgendeinem Ort an der Küste zu bekommen war eine Herausforderung für meinen Bruder. Nach endlosem gefährlichen Schlangestehen und einem ganzen Tag hastigen Hin-und Hergerennes auf einem Notflughafen inmitten von unsichtbaren Schusswechseln und Explosionen hatte er fünf Plätze in drei unterschiedlichen Maschinen ergattert. Meinem Bruder und mir wurden endlich zwei Plätze in ein und demselben Flugzeug nach Barranquilla bestätigt, im letzten Augenblick mussten wir aber dann doch mit unterschiedlichen Maschinen fliegen. Der Regen und der Nebel, die seit dem letzten Freitag in Bogotá anhielten, stanken nach Pulver und verwesten Leichen. Auf dem Weg zum Flughafen wurden wir an zwei Straßensperren von Soldaten verhört, die selbst starr vor Angst waren. Beim zweiten Kontrollposten warfen sie sich zu Boden und befahlen uns, das Gleiche zu tun, als es eine Explosion gab, der ein Feuergefecht mit schweren Waffen folgte; es stellte sich aber heraus, dass die Explosion von einem Gasleck in einer Fabrikanlage herrührte. Wir Passagiere hatten Verständnis für das Verhalten der Soldaten, als einer von ihnen uns sagte, er stehe dort seit drei Tagen Wache, ohne Ablösung, aber auch ohne Munition, weil diese in der Stadt ausgegangen war. Seitdem man uns angehalten hatte, wagten wir kaum zu sprechen, und die Angst der Soldaten gab uns den Rest. Wir mussten uns ausweisen und über unsere Absichten Auskunft geben; nach diesen Formalitäten tröstete uns jedoch die Auskunft, dass wir nur noch zu warten hatten, bis wir an Bord gebracht würden. Ich rauchte in der Zeit zwei von den drei Zigaretten, die mir jemand aus Mitleid gegeben hatte, und bewahrte eine für die Schrecken des Flugs auf.
Da es keine Telefone gab, wurden die Abflüge und Änderungen im Flugplan von Ordonnanzen auf Motorrädern an den Militärposten bekannt gegeben. Um acht Uhr morgens wurde eine Gruppe Passagiere aufgerufen, sie sollten sofort an Bord einer Maschine nach Barranquilla gehen, die nicht die meine war. Später erfuhr ich, dass mein Bruder und die übrigen drei aus unserer Gruppe von einem anderen Militärposten aus aufgerufen worden waren. Die einsame Warterei war eine Rosskur für meine angeborene Flugangst, denn als ich das Flugzeug besteigen sollte, war der Himmel bedeckt, und Donner grollte. Auch hatte man die Gangway unserer Maschine für ein anderes Flugzeug abtransportiert, und zwei Soldaten mussten mir auf einer Maurerleiter ins Flugzeug helfen - alles zu eben der Zeit, da Fidel Castro am selben Flughafen ein anderes, mit Kampfstieren beladenes Flugzeug nach Havanna bestieg, wie er mir später erzählte.
Glück oder Pech, meine Maschine war eine nach frischer Farbe und Schmiermittel riechende DC~3, die keine Lampen für die einzelnen Passagiere und auch keine regulierte Belüftung hatte. Das Flugzeug war für Truppentransporte umgerüstet worden, so dass es statt Dreiersitzreihen wie bei Touristenflügen zwei fest im Boden verankerte lange Bretterbänke gab. Mein ganzes Gepäck bestand aus einem Rupfenkoffer mit zwei oder drei Garnituren schmutziger Wäsche, Gedichtbänden und Ausschnitten aus den Literaturbeilagen, die mein Bruder Luis Enrique noch hatte retten können. Die Passagiere saßen vom Cockpit bis zum Ende des Flugzeugs einander gegenüber. Statt Sicherheitsgurt gab es zwei Hanftaue, wie zum Festmachen von Schiffen, gewissermaßen zwei lange, kollektive Sicherheitsgurte. Am härtesten war für mich jedoch, dass, sobald ich die einzige Zigarette angezündet hatte, die ich mir, um den Flug zu überleben, aufbewahrt hatte, der Pilot im Overall vom Cockpit aus bekannt gab, das Rauchen sei verboten, weil die Treibstofftanks des Flugzeugs sich unter dem Bretterboden zu unseren Füßen befänden. Es waren drei endlose Flugstunden.
Als wir in Barranquilla landeten, hatte es gerade so geregnet, wie es nur im April regnet, wenn entwurzelte Häuser durch die überschwemmten Straßen treiben und einsame Kranke in ihren Betten ertrinken. Ich musste in dem von der Sintflut verwüsteten Flughafen darauf warten, dass der Regen ganz aufhörte, und konnte gerade einmal herausfinden, dass das Flugzeug mit meinem Bruder und seinen zwei Begleitern pünktlich gelandet war, die drei sich aber beeilt hatten, vor dem ersten Donner eines ersten Wolkenbruchs den Terminal zu verlassen.
Ich brauchte fast drei Stunden, um bis zum Fahrkartenbüro vorzudringen, und verpasste den letzten Bus nach Cartagena, da er wegen des bevorstehenden Gewitters vorzeitig abgefahren war. Ich machte mir keine weiteren Sorgen um meinen Bruder, da ich sicher war, dass er in der Stadt war, wohl aber um mich, da mir der Gedanke, eine Nacht ohne Geld in Barranquilla zu verbringen, Angst machte. Dank José Palencia fand ich schließlich im Haus der schönen Schwestern Ilse und Lila Albarracin ein Notasyl und fuhr drei Tage später mit dem lahmen Postbus nach Cartagena. Mein Bruder Luis Enrique wollte in Barranquilla bleiben, bis er dort eine Arbeit fand. Ich hatte nur noch acht Pesos, doch José Palencia versprach, mit dem Abendbus nachzukommen und mir etwas mehr mitzubringen. Ich fand keinen freien Platz mehr, nicht einmal einen Stehplatz, doch der Fahrer ließ sich darauf ein, drei Passagiere, die sich auf ihr Gepäck setzen müssten, für ein Viertel des regulären Fahrpreises auf dem Dach mitzunehmen. In einer so seltsamen Lage und unter brennender Sonne ist mir, glaube ich, bewusst geworden, dass an jenem 9. April 1948 in Kolumbien das 20. Jahrhundert begonnen hatte.