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Bogotá war damals eine ferne und düstere Stadt, in der seit Anfang des 16. Jahrhunderts schlafloser Nieselregen fiel. Auffällig erschien mir, dass zu viele eilige Männer auf der Straße waren, alle wie ich in schwarzes Tuch gekleidet und mit steifen Hüten auf dem Kopf. Hingegen war keine einzige Frau zum Trost zu sehen, ihnen war ebenso wie Geistlichen in Soutane und Soldaten in Uniform das Betreten der schummrigen Cafés im Geschäftszentrum verboten. In den Straßenbahnen und öffentlichen Pissoirs hing ein trauriges Schild: »Wenn du Gott nicht fürchtest, fürchte die Syphilis.«
Ich war beeindruckt von den mächtigen Pferden vor den Bierkarren, vom Funkenstieben der Trambahnen, wenn sie um die Ecken bogen, und von den Verkehrsstockungen aufgrund der vielen Trauerzüge, bei denen die Menschen zu Fuß durch den Regen gingen. Es waren besonders trübsinnige Trauerzüge, mit luxuriösen Leichenwagen, gezogen von Pferden, die mit Samtschabracke, Sturmhaube und Federbusch ausstaffiert waren, und mit Leichen aus guter Familie, die sich aufführten, als hätten sie den Tod erfunden. Im Atrium von Las Nieves sah ich vom Taxi aus die erste Frau, sie war schlank und geschmeidig und hatte die Haltung einer Königin in Trauer, doch diese Illusion blieb für immer unvollkommen, da der Kopf mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt war.
Es war ein seelischer Absturz. Das Haus, in dem ich die Nacht verbrachte, war groß und komfortabel, mir aber erschien es gespenstisch, mit seinem düsteren Garten und den dunklen Rosen und dieser Kälte, die mir die Knochen zermalmte. Es gehörte den Torres Gamboa, die mit meinem Vater verwandt und mir bekannt waren, doch so, wie sie da in Decken gewickelt beim Abendessen saßen, fremd auf mich wirkten. Am heftigsten erschrak ich, als ich zwischen die Bettlaken glitt, ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus, denn es fühlte sich so an, als seien die Laken mit einer eisigen Flüssigkeit getränkt. Man erklärte mir, das sei beim ersten Mal so, ich werde mich aber nach und nach an die Besonderheiten des Klimas gewöhnen. Ich weinte mehrere Stunden lang still vor mich hin, bis ich endlich in einen unglücklichen Schlaf fiel.
So war auch meine Stimmung, als ich vier Tage nach der Ankunft wegen der Kälte und des Nieselregens sehr schnell in Richtung Erziehungsministerium lief, wo die Einschreibung für den landesweiten Stipendienwettbewerb begann. Die Schlange fing im dritten Stock des Ministeriums an, vor der Tür zum Einschreibungsbüro, und wand sich dann die Treppe hinab bis zum Haupteingang. Der Anblick war entmutigend. Als es gegen zehn Uhr vormittags aufklarte, ging die Schlange noch zwei Straßen weiter bis zur Avenida Jiménez de Quesada, dabei fehlten noch die Bewerber, die sich vor dem Regen unter die Torbögen geflüchtet hatten. Bei einem derartigen Andrang hielt ich es für aussichtslos, selbst irgendetwas zu erreichen.
Am frühen Nachmittag spürte ich, wie mir jemand auf die Schulter tippte. Es war der unersättliche Leser vom Schiff, der mich weit hinten in der Schlange entdeckt hatte, während ich ihn mit seiner Melone und in der Trauerkleidung der Cachacos kaum wieder erkannte. Auch er war verblüfft und fragte mich:
»Was zum Teufel machst du hier?«
Ich sagte es ihm.
»Das ist aber komisch!«, sagte er und lachte laut. »Komm mit«, und er nahm mich am Arm und führte mich ins Ministerium. Nun erfuhr ich, dass er Dr. Adolfo Gómez Tämara war, der Leiter der nationalen Stipendienabteilung im Erziehungsministerium.
Es war ein ganz unmöglicher Zufall und einer der glücklichsten in meinem Leben. Mit einem Scherz nach Studentenart stellte mich Gómez Tómara seinen Assistenten als den inspiriertesten Sänger romantischer Boleros vor. Sie servierten mir Kaffee und schrieben mich ohne weitere Umstände ein, nicht ohne mich vorher darauf hinzuweisen, dass sie keine Instanzen umgingen, sondern nur den unergründlichen Göttern des Zufalls Tribut zollten. Sie teilten mir mit, dass das allgemeine Examen am nächsten Montag in der Schule San Bartolomé stattfinde. Man rechnete mit rund tausend Bewerbern aus dem ganzen Land für die etwa dreihundertfünfzig Stipendien, die Schlacht würde also lang und schwierig werden, meinen Hoffnungen vielleicht den Todesstoß versetzen. Die Begünstigten würden die Ergebnisse eine Woche später erfahren und dann auch mitgeteilt bekommen, welcher Schule sie zugewiesen worden waren. Letzteres war neu und unerfreulich für mich, man konnte mich demnach ebenso gut nach Medellin wie nach Vichada schicken. Dieses geografische Lotteriespiel solle die kulturelle Mobilität unter den verschiedenen Regionen fördern, wurde mir erklärt. Als die Formalitäten erledigt waren, drückte Gómez Tómara mir ebenso energisch und enthusiastisch die Hand wie beim Dank für den Bolero.
»Pass gut auf«, sagte er, »dein Leben liegt jetzt in deiner Hand.«
Als ich aus dem Ministerium trat, erbot sich ein kleines Männchen, das wie ein Geistlicher aussah, mir für fünfzig Pesos ohne Prüfung ein sicheres Stipendium an der Schule meiner Wahl zu verschaffen. Das war für mich ein Vermögen, aber hätte ich das Geld gehabt, ich glaube, ich hätte es ausgegeben, um dem Grauen der Prüfung zu entgehen. Ein paar Tage später erkannte ich das Männlein auf einem Zeitungsfoto wieder, der Hochstapler war der Anführer einer Bande von Betrügern, die sich als Geistliche verkleideten, um in staatlichen Behörden illegale Geschäfte zu betreiben.
Ich packte den Koffer nicht aus, da ich mir gewiss war, man würde mich zum Teufel schicken. Mein Pessimismus saß so tief, dass ich am Vorabend der Prüfung mit den Musikern vom Schiff in eine gottverlassene Kneipe im anrüchigen Viertel Las Cruces ging. Dort sangen wir für Schnaps, ein Lied brachte ein Glas Chicha, das war ein barbarischer, aus Mais gebrannter Fusel, den genießeriche Trunkenbolde mit Schießpulver zu verfeinern pflegten. Also kam ich zu spät zum Examen, in meinem Kopf hämmerte es, und ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wo ich gewesen war und wer mich letzte Nacht heimgebracht hatte, doch barmherzigerweise wurde ich in den riesigen Saal, der voll gestopft mit Bewerbern war, eingelassen. Schon ein flüchtiger Blick auf den Fragebogen genügte, und ich sah die Niederlage vor mir. Nur um den Aufsehern nicht aufzufallen, beschäftigte ich mich mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Abschnitt, dessen Fragen mir am wenigsten grausam erschienen. Und plötzlich fühlte ich mich von einer Aura der Inspiration getragen, die mir erlaubte, glaubwürdige Antworten zu improvisieren und wundersame Glückstreffer zu landen. Nur nicht in Mathematik, sie verweigerte sich mir, selbst wenn Gott es anders gewollt hatte. Die Prüfung in Zeichnen, die ich hastig, aber gut erledigte, verschaffte mir einige Erleichterung. »Da muss die Chicha ein Wunder gewirkt haben«, sagten meine Musiker. Wie auch immer, ich beendete das Ganze jedenfalls in einem Zustand völliger Zerstörung und mit dem Entschluss, meinen Eltern einen Brief über die Rechte und Gründe zu schreiben, nicht nach Hause zurückzukehren.
Ich kam der Aufforderung nach, eine Woche später meine Noten abzuholen. Die Angestellte am Empfang musste wohl irgendein Zeichen auf meinen Unterlagen entdeckt haben, denn sie brachte mich ohne Begründung zum Direktor. Ich traf ihn gut gelaunt an, in Hemdsärmeln und mit rot gemusterten Hosenträgern. Er ging meine Prüfungsnoten mit professioneller Aufmerksamkeit durch, zögerte ein- oder zweimal und atmete schließlich durch.
»Nicht schlecht«, sagte er zu sich selbst. »Außer in Mathematik, aber du bist gerade noch einmal davongekommen, dank der Eins in Zeichnen.«
Er lehnte sich in seinem gefederten Stuhl zurück und fragte mich, an welche Schule ich gedacht hätte.
Das war eine meiner historischen Schrecksekunden, doch ich zögerte nicht:
»San Bartolomé in Bogotá.«
Er legte die Hand auf einen Stapel Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen.
»Das sind alles Briefe von hohen Tieren, die ihre Kinder, Verwandten oder Freunde für Schulen am Ort empfehlen«, sagte er. Ihm wurde bewusst, dass er das nicht hätte sagen sollen, und er fuhr fort: »Wenn du mir einen Ratschlag erlaubst, das Liceo Nacional de Zipaquirá, eine Stunde Zugfahrt von hier entfernt, wäre am geeignetsten für dich.«
Von dieser historischen Stadt wusste ich nur, dass es dort Salzbergwerke gab. Gómez Tómara erklärte mir, dass die Schule seit der Kolonialzeit von einem Orden geführt worden sei, man diesen jedoch im Zuge einer liberalen Reform kürzlich enteignet habe und die Schule nun über ein erstklassiges Lehrerkollegium aus jungen, modern gesinnten Pädagogen verfüge. Ich dachte, es sei meine Pflicht, etwas klarzustellen.
»Mein Vater ist Konservativer«, ließ ich ihn wissen.
Er lachte auf.
»Sei nicht so ernsthaft«, meinte er. »Ich meine liberal im Sinne einer weltoffenen Denkungsart.«
Woraufhin er sofort zu seinem persönlichen Stil zurückfand und kurzerhand entschied, mein Glück läge in diesem alten Kloster aus dem 17. Jahrhundert, das, in eine Schule für Ungläubige verwandelt, sich in einem verschlafenen Dorf befinde, wo es keine Zerstreuungen außer dem Lernen gebe. Der alte Klostergang verharrte in der Tat gleichmütig angesichts der Ewigkeit. In den frühen Zeiten hatte der steinerne Portikus die Inschrift getragen: »Der Anfang aller Weisheit ist die Gottesfurcht.« Doch diese Devise wurde durch das kolumbianische Wappen ersetzt, als die liberale Regierung unter Alfonso López Pumarejo das Schulwesen verstaatlichte. Von der Vorhalle aus, wo ich mich nach dem Schleppen des schweren Koffers von der Atemnot erholte, bedrückte mich der kleine Innenhof mit dem steingehauenen kolonialen Säulengang, den grün gestrichenen Hoizbalkonen und den Kästen mit melancholischen Blumen an den Geländern. Alles war einer religiösen Ordnung unterworfen, und jedem Ding war allzu deutlich anzumerken, dass es dreihundert Jahre lang nicht die Nachsicht von Frauenhänden erfahren hatte. Verwöhnt von den gesetzesfreien Räumen der Karibik, packte mich die Panik, vier entscheidende Jahre meiner Jugend in dieser erstarrten Zeit verleben zu müssen.
Noch heute erscheint es mir unmöglich, dass in zwei Stockwerken um einen düsteren Patio und einem zusätzlichen Ziegelgebäude, das im rückwärtigen Grundstück hochgezogen worden war, die Wohnung und das Büro des Rektors, die Verwaltung, die Küche, der Esssaal, die Bibliothek, die sechs Unterrichtsräume, der Physik- und Chemiesaal, das Lager, die Bäder und auch noch der Schlafsaal Platz fanden, in dem ein halbes Hundert Schüler, ein paar wenige aus der Hauptstadt und der Rest herangeschleppt aus den armseligsten Vororten des Landes, in batterieartig aufgereihten Eisenbetten schlief. Aber auch diesen Zustand der Verbannung hat mir mein guter Stern beschert. Denn so lernte ich früh und gründlich, wie das Land beschaffen ist, das mir bei der Verlosung der Welt zugefallen ist.
Das Dutzend karibischer Gefährten, die mich gleich von meiner Ankunft an zu sich zählten, und natürlich auch ich, sahen unüberbrückbare Unterschiede zwischen uns und den anderen: den Einheimischen und den Fremdlingen.
Die verschiedenen Gruppen, die sich in der Abendpause auf die Ecken des Innenhofs verteilten, stellten eine reichhaltige Musterkollektion dessen dar, was das Land zu bieten hatte. Es gab keine Rivalitäten, solange jeder sich auf sein Revier beschränkte. Die Kariben hatten den Ruf, geradezu fanatisch zusammenzuhalten, laut und tanzfreudig zu sein. Ich war da eine Ausnahme, doch Antonio Martínez Sierra, ein Rumbaprofi aus Cartagena, brachte mir in den Pausen am Abend bei, zur Modemusik zu tanzen. Ricardo González Ripoll, mein großer Komplize bei flüchtigen Liebeleien, wurde ein berühmter Architekt, unterbrach aber nie das eine Lied, das er stets kaum hörbar auf den Lippen hatte, und tanzte bis zum Ende seiner Tage allein vor sich hin.
Mincho Burgos, ein geborener Pianist, der es zum Dirigenten eines nationalen Tanzorchesters brachte, gründete mit denen, die ein Instrument lernen wollten, die Schulkapelle und führte mich in die Geheimnisse der zweiten Stimme bei Boleros und Vallenatos ein. Seine größte Tat war jedoch, dass er Guillermo López Guerra, einen waschechten Bogotáner, in der karibischen Kunst schulte, die Klanghölzer zu schlagen, und das ist eine Sache von drei zwei, drei zwei.
Humberto Jaimes aus El Banco war ein besessener Studiosus, der sich nichts aus dem Tanzen machte und seine Wochenenden opferte, um weiter in der Schule zu lernen. Ich glaube, er hatte noch nie einen Fußball gesehen oder einen Bericht über irgendein Spiel gelesen. Bis er sein Ingenieursdiplom machte und dann in Bogotá als Volontär in die Sportredaktion von El Tiempo kam und schließlich dort Ressortleiter und einer der guten Fußballchronisten des Landes wurde. Der merkwürdigste Fall, an den ich mich erinnere, war jedoch zweifelsohne Silvio Luna, ein sehr dunkelhäutiger Junge aus dem Choco, der erst Anwalt, dann Arzt wurde und, bevor ich ihn aus den Augen verlor, eine dritte akademische Laufbahn beginnen wollte.
Daniel Rozo - Pagocio - trat stets als Weiser aller menschlichen und göttlichen Wissenschaften auf und brüstete sich damit im Unterricht und in den Pausen. Wir wandten uns immer an ihn, wenn wir uns über den Zustand der Welt im Zweiten Weltkrieg informieren wollten, den wir nur über Gerächte verfolgten, da in der Schule der regelmäßige Bezug von Zeitungen und Zeitschriften verboten war und wir das Radio nur dafür nutzten, miteinander zu tanzen. Wir hatten nie Gelegenheit herauszubekommen, woher Pagocio von all den großen Schlachten erfuhr, in denen immer die Alliierten siegten.
Sergio Castro aus Quetame war vielleicht der beste Schüler in all den Jahren und bekam seit seinem Eintritt ins Liceo immer die besten Noten. Das Geheimnis war wahrscheinlich eben die Methode, die mir Martina Fonseca für das Colegio San José geraten hatte: Er hörte dem Lehrer und den Beiträgen semer Mitschüler genau zu, machte sich sogar über die Atmung der Lehrer Notizen und ordnete alles in einem perfekt geführten Heft. Wahrscheinlich musste er deshalb keine Zeit darauf verschwenden, sich auf Prüfungen vorzubereiten, und las am Wochenende, wenn wir über den Schulbüchern brüteten, Abenteuerromane.
In den Pausen war der echte Bogotáner Álvaro Ruiz Torres mein häufigster Gefährte, mit dem ich beim Abendrundgang die täglichen Neuigkeiten über die jeweiligen Bräute austauschte, während wir mit militärischem Schritt um den Hof marschierten. Auch Jaime Bravo, Humberto Guillén und Álvaro Vidal Baron waren mir in der Schule sehr nah, und wir pflegten uns noch Jahre lang im wirklichen Leben zu treffen. Álvaro Ruiz fuhr jedes Wochenende zu seiner Familie nach Bogotá und kam gut ausgerüstet mit Zigaretten und Nachrichten von den Mädchen zurück. Er hat mich, während wir zusammen zur Schule gingen, in beiden Lastern bestärkt und mir in den letzten zwei Jahren seine besten Erinnerungen ausgeliehen, die in diesen Memoiren wieder lebendig werden.
Ich weiß nicht, was ich während der Gefangenschaft im Liceo Nacional wirklich gelernt habe, doch durch die vier Jahre freundlichen Zusammenlebens mit all den anderen habe ich eine einheitliche Sicht auf die Nation gewonnen, ich entdeckte, wie unterschiedlich wir sind und zu was wir taugen, und lernte, um es nie wieder zu vergessen, dass in der Summe von uns allen das Land als Ganzes vertreten ist. Vielleicht war es das, was sie beim Ministerium mit der kulturellen Mobilität innerhalb der Regionen meinten, die von der Regierung gefördert wurde. Schon in reifem Alter, als ich bei einem Transatlantikflug ins Cockpit eingeladen wurde, fragte mich der Pilot zuallererst, woher ich käme. Es genügte mir, ihn zu hören, um zu antworten:
»Ich bin so eindeutig von der Küste wie Sie aus Sogamoso.«
Denn er hatte die gleiche Art, die gleiche Gestik und die gleiche Stimmlage wie Marco Fidel Bulla, mein Banknachbar im vierten Jahr Liceo. Solche intuitiven Eingebungen haben mich gelehrt, die sumpfigen Gewässer dieser unvorhersehbaren Gemeinschaft zu befahren, auch ohne Kompass und gegen den Strom, und das war vielleicht so etwas wie ein Dietrich für mein Handwerk als Schriftsteller.
Mir war, als ob ich einen Traum erlebte, denn ich hatte das Stipendium nicht angestrebt, weil ich weiter auf die Schule gehen wollte, sondern um meine Unabhängigkeit von anderen Verpflichtungen beizubehalten und zugleich auf gutem Fuß mit der Familie zu stehen. Schon die drei gesicherten Mahlzeiten pro Tag sprachen dafür, dass wir es in diesem Refugium für Arme besser hatten als daheim, und zwar unter einem System der überwachten Autonomie, das weniger offensichtlich war als die elterliche Herrschaft. Im Esssaal funktionierte eine Art Handel, der jedem erlaubte, sich seine Ration nach dem eigenen Geschmack zusammenzustellen. Geld war wertlos. Die zwei Frühstückseier waren die beliebteste Währung, da man mit ihnen jedes andere Gericht der drei Mahlzeiten vorteilhaft kaufen konnte. Alles hatte sein genaues Äquivalent, und nichts hat diesen legitimen Handel je gestört. Mehr noch: Ich kann mich nicht erinnern, dass es aus irgendeinem Grund in den vier Internatsjahren eine Schlägerei gegeben hätte.
Auch den Lehrern, die an einem anderen Tisch, aber im selben Saal aßen, war solcher Tauschhandel nicht fremd, denn sie hingen noch an Gewohnheiten aus ihren vorherigen Schulen. Die meisten von ihnen waren Junggesellen oder lebten ohne ihre Frauen in Zipaquira, und ihre Gehälter waren fast so jämmerlich wie das Monatsbudget unserer Familien. Die Lehrer klagten mit ebenso viel Grund über das Essen wie wir, und während einer gefährlichen Krise wurde die Möglichkeit erwogen, dass wir uns mit einigen von ihnen zu einem Hungerstreik verschworen. Nur wenn sie Geschenke bekamen oder Besuch von außerhalb, genehmigten sie sich einfallsreiche Menüs, die dann das Gleichheitsprinzip durchbrachen. Das trat ein, als uns im vierten Jahr der Arzt des Internats ein Ochsenherz für seinen Anatomiekurs versprach. Am Tag darauf ließ er das Herz, noch frisch und blutend, in den Eisschrank der Küche legen, als wir es aber dann für den Unterricht holen wollten, war es nicht mehr da. Wir erfuhren, dass der Arzt, da kein Ochsenherz zu haben war, das eines Maurers ohne Familie geschickt hatte, der ausgerutscht und vom vierten Stock zu Tode gestürzt war. Die Köche aber hatten, als sie feststellten, dass das Essen nicht für alle reichte, das Herz, in der Annahme, es handele sich um das für den Lehrertisch angekündigte Ochsenherz, mit köstlichen Saucen zubereitet. Ich glaube, das unangestrengte Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern hatte etwas mit der damaligen Erziehungsreform zu tun, die zwar kaum Spuren in der Geschichte hinterlassen, aber zumindest das Protokoll vereinfacht hat. Der Altersunterschied war nicht mehr so groß, der Krawattenzwang wurde gelockert, und keiner regte sich mehr darüber auf, wenn Lehrer und Schüler zusammen etwas trinken gingen oder am Sonnabend die gleichen Tanzfeste besuchten.
Eine solche Atmosphäre war wohl nur möglich mit dieser Art von Lehrern, die ungezwungene und angenehme persönliche Beziehungen zuließen. Unser Mathematiklehrer konnte mit seiner Weisheit und seinem rauen Sinn für Humor den Unterricht in ein Furcht erregendes Fest verwandeln. Er hieß Joaquín Giraldo Santa und war der erste Kolumbianer, der den Doktortitel in Mathematik erwarb. Zu meinem Unglück und trotz meiner und seiner großen Anstrengungen habe ich seinem Unterricht nie ganz folgen können. Damals hieß es, poetisches Talent vertrage sich nicht mit mathematischer Begabung, und schließlich glaubte man das auch und erlitt entsprechend Schiffbruch. Die Geometrie behandelte mich mitfühlender, vielleicht dank ihres poetischen Prestiges. Die Arithmetik hingegen verhielt sich schlicht feindselig. Noch heute muss ich beim Kopfrechnen die Zahlen in ihre einfachsten Komponenten zerlegen, besonders die Sieben und die Neun, die ich mir auch beim Einmaleins nie merken konnte. Will ich also sieben und vier addieren, nehme ich der Sieben zwei weg, addiere die Vier mit der verbliebenen Fünf und gebe am Ende wieder die Zwei, die ich mir gemerkt habe, hinzu: elf! Multiplizieren ging bei mir immer schief, weil ich dabei die Zahlen vergaß, die ich mir merken musste. Der Algebra habe ich meine besten Vorsätze gewidmet, nicht nur aus Respekt vor ihrer klassischen Herkunft, sondern auch, weil ich den Lehrer liebte und fürchtete. Es war zwecklos. Jedes Trimester fiel ich durch, holte es zweimal nach und versagte bei einem weiteren unerlaubten Versuch, den sie mir aus Barmherzigkeit gestatteten.
Selbstloser noch waren die drei Sprachlehrer. Der erste - für Englisch - war Mister Abella, ein waschechter Karibe mit einem perfekten Oxford-Akzent und einem geradezu religiösen Eifer, was Webster's Wörterbuch anging, aus dem er mit geschlossenen Augen zitierte. Sein Nachfolger war Héctor Figueroa, ein junger, guter Lehrer mit einer fiebrigen Leidenschaft für die Boleros, die wir mehrstimmig in den Pausen sangen. Ich gab mein Bestes im einschläfernden Unterricht und in der Schlussprüfung, glaube aber, dass ich meine gute Note weniger Shakespeare als vielmehr den Schnulzen von Leo Marini und Hugo Romani zu verdanken hatte, die für so viele Liebeswonnen und Liebestode verantwortlich zeichneten. Der Französischlehrer im vierten Jahr, Monsieur Antonio Yelá Alban, sah das Gift der Kriminalromane in mir wirken. Seine Unterrichtsstunden langweilten mich ebenso alle anderen, aber seine zweckdienlichen Abstecher ins Straßenfranzösisch halfen mir fünfzehn Jahre später dabei, in Paris nicht zu verhungern.
Die Mehrzahl der Lehrer war auf der Escuela Normal Supenor unter der Leitung von Dr. José Francisco Socarrás ausgebildet worden, einem Psychiater aus San Juan del César, der sich bemühte, die klerikale Pädagogik eines ganzen Jahrhunderts konservativer Regierungen durch einen humanistischen Rationalismus zu ersetzen. Der Zusammenprall dieser Richtungen war im Liceo zu erleben. Manuel Cuello del Rio war ein radikaler Marxist, der jedoch Lin Yutang bewunderte und an die Erscheinung der Toten glaubte. In der Bibliothek von Carlos Julio Calderón, in der sein Landsmann José Eustasio Rivera, Autor von Der Strudel, den Ehrenplatz einnahm, standen griechische Klassiker, einheimische Dichter von Piedra y Cielo und Romantiker aus aller Welt gleichberechtigt nebeneinander. Dank der verschiedenen Lehrer lasen wir, die wenigen Leseratten, sowohl den Barockdichter San Juan de la Cruz wie den populären Romancier José Maria Vargas Vila, aber auch die Apostel der proletarischen Revolution. Gonzalo Ocampo, der Gesellschaftswissenschaften lehrte, hatte in seinem Zimmer eine gut sortierte politische Bibliothek, die er ohne Hintergedanken in den Klassenräumen der älteren Schüler zirkulieren ließ, wobei ich allerdings nie begriff, warum Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates an den öden Nachmittagen für Politische Ökonomie studiert wurde und nicht im Literaturunterricht als wunderbare Epopóe eines Abenteuers der Menschheit. Guillermo López Guerra las in den Pausen den Anti-Dühring von Engels, den er sich von Gonzalo Ocampo ausgeliehen hatte. Als ich den jedoch um das Buch bat, weil ich mit López Guerra darüber diskutieren wollte, sagte er mir, diesen schlechten Gefallen wolle er mir nicht erweisen, da es sich zwar um einen Wälzer handele, der grundlegend für den Fortschritt der Menschheit sei, aber so dick und langweilig, dass er wohl kaum in die Geschichte eingehen werde. Solch ideologischer Austausch hat vielleicht dazu beigetragen, dass dem Liceo nachgesagt wurde, ein Labor politischer Perversionen zu sein. Ich brauchte ein halbes Leben, um zu begreifen, dass diese spontane Erfahrung wohl eher dazu gedient hat, die Schwachen abzuschrecken und die Starken gegen jede Art von Dogmatismus zu impfen.
Die unmittelbarste Beziehung hatte ich immer zu Carlos Luis Calderón, der in den ersten drei Klassen Spanisch unterrichtete, Weltliteratur in der vierten, spanische Literatur in der fünften und kolumbianische Literatur in der sechsten. Und noch ein weiteres, für seine Ausbildung und seinen Geschmack merkwürdiges Fach: Buchführung. Geboren war er in Neiva, der Hauptstadt des Bezirks Huila, und er wurde nicht müde, seine patriotische Begeisterung für José Eustasio Rivera kundzutun. Er hatte sein Medizin- und Chirurgie-Studium abbrechen müssen, was er als die Enttäuschung seines Lebens ansah, aber seine unwiderstehliche Leidenschaft für die Literatur und die Künste blieb davon unberührt. Er war mein erster wirklicher Lehrer und der einzige, der meine Entwürfe mit treffenden Anmerkungen zerpflückte.
Die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern waren jedenfalls von einer außerordentlichen Natürlichkeit, nicht nur im Unterricht, sondern erst recht auf dem Pausenhof nach dem Abendessen. Das erlaubte einen anderen Umgang, als wir ihn gewöhnt waren, was zweifellos das Klima des Respekts und der Kameradschaftlichkeit begünstigte, in dem wir lebten.
Ein Abenteuer voller Schrecken verdanke ich den Gesammelten Werken von Freud, die neu in die Bibliothek gekommen waren. Natürlich verstand ich nichts von seinen heiklen Analysen, aber seine Fallstudien las ich wie die Phantasien von Jules Verne atemlos zu Ende. Im Spanischunterricht forderte uns Lehrer Calderon auf, eine Geschichte zu schreiben, das Thema war freigestellt. Mir fiel die Geschichte einer geisteskranken Siebenjährigen ein, und der Titel, den ich wählte, lief der Poesie zuwider: Ein Fall von psychotischer Obsession. Der Lehrer ließ mich die Geschichte im Unterricht vorlesen. Mein Banknachbar Aurelio Prieto nahm kein Blatt vor den Mund, er tadelte die Anmaßung, die darin liege, ohne die geringste wissenschaftliche oder literarische Vorbildung über ein so abgelegenes Thema zu schreiben. Ich erklärte ihm mit mehr Verbitterung als Bescheidenheit, dass ich von einer Fallstudie in Freuds Memoiren ausgegangen sei, und zwar mit keinem anderen Anspruch, als sie für diese Aufgabe zu verwenden. Lehrer Calderón, der vielleicht glaubte, ich sei von der harschen Kritik einiger meiner Klassenkameraden getroffen, nahm mich in der Pause beiseite und ermunterte mich, auf eben dem Weg fortzufahren. Es sei meinem Text anzumerken, dass mir die Techniken moderner fiktionaler Prosa unbekannt seien, aber er vermittele meinen literarischen Instinkt und die Lust am Schreiben. Calderón fand die Erzählung gut geschrieben und wenigstens von der Absicht her originell. Zum ersten Mal sprach er mit mir über Rhetorik. Er verriet mir einige inhaltliche und metrische Tricks, um unprätentiöse Verse zu schmieden, und schloss mit dem Ratschlag, ich solle auf alle Fälle weiterschreiben, und sei es nur der geistigen Gesundheit zuliebe. Das war das erste von vielen langen Gesprächen, die wir in meinen Jahren am Liceo führten, in den Pausen und in anderen freien Stunden, und diesen Gesprächen schulde ich viel in meinem Schriftstellerleben.
Das Klima war für mich ideal. Seit dem Colegio San José war mir das Laster, alles und jedes zu lesen, so zur zweiten Natur geworden, dass ich meine Freizeit und fast die ganzen Unterrichtsstunden darauf verwendete. Mit meinen sechzehn Jahren - mit oder ohne gute Orthografie - konnte ich immer noch, ohne Luft zu holen, die Gedichte aufsagen, die ich im Colegio San José gelernt hatte. Ich las sie und las sie wieder, ohne Anleitung und ohne System und fast immer heimlich im Unterricht. Die unbeschreibliche Schulbibliothek habe ich, glaube ich, vollständig gelesen. Sie bestand aus den Resten anderer, weniger nützlichen Büchersammlungen: offiziellen Reihen, Hinterlassenschaften von resignierten Lehrern, unvermuteten Raritäten, die aus wer weiß welchen Schiffbrüchen dort gestrandet waren. Unvergesslich ist mir die Biblioteca Aldeana aus dem Minerva Verlag, eine Sammlung, die unter der Schirmherrschaft von Daniel Samper Ortega herausgegeben, vom Erziehungsministerium in den Schulen verteilt wurde. Es waren hundert Bände mit dem Guten und dem Allerschlimmsten, was bis dahin in Kolumbien geschrieben worden war, und ich nahm mir vor, alles der Reihe nach zu lesen, soweit die Seele trug. Bis heute beängstigt mich, dass ich dieses Pensum in den beiden letzten Schuljahren zwar fast geschafft habe, in meinem restlichen Leben aber nicht habe herausfinden können, ob die Lektüre zu etwas nutze war.
Der Tagesanbruch im Schlafsaal war der Glückseligkeit verdächtig ähnlich, wenn man von der tödlichen Glocke absah, die um sechs Uhr Mitternacht - wie wir zu sagen pflegten - Sturm läutete. Nur zwei oder drei geistig Minderbemittelte sprangen aus dem Bett, um im Bad hinter dem Schlafsaal unter den sechs Duschen mit eisigem Wasser die Ersten zu sein. Wir Übrigen nutzten die Zeit, um die letzten Tröpfchen Schlaf auszuwringen, bis der diensthabende Lehrer durch den Saal schritt und die Decken von den Schläfern riss. Es waren anderthalb Stunden zwangloser Intimität, in der man die Kleidung in Ordnung brachte, die Schuhe putzte, sich unter dem flüssigen Eis eines Rohrs ohne Duschkopf wusch, während jeder seine Frustrationen herausschrie und über die der anderen spottete, eine Zeit, in der Liebesgehei-mnisse gebrochen wurden, man über Verträge und Streitigkeiten verhandelte und die Tauschgeschäfte im Esssaal vereinbarte. Ein morgendliches Dauerthema war das am Abend vorgelesene Kapitel.
Guillermo Granados ließ mit einem unerschöpflichen Repertoire an Tangos seiner Sangesgabe als Tenor freien Lauf. Zusammen mit Ricardo González Ripoll, meinem Bettnachbarn, sang ich im Duett karibische Guarachas, im Rhythmus des Lappens, mit dem wir am Kopfende des Betts sitzend die Schuhe wienerten, während mein Gevatter Sabas Caravallo, der Zuchtbulle von La Guajira, nackt, wie seine Mutter ihn geboren hatte, von einem Ende des Schlafsaals zum anderen lief, das Handtuch über seine Betonlatte gehängt.
Wenn es denn möglich gewesen wäre, hätten sich eine große Anzahl der Internatszöglinge spätnachts davongemacht, um die an den Wochenenden vereinbarten Stelldicheins einzuhalten. Es gab keine Nachtwache und keine Schlafsaalaufsicht außer dem wöchentlich zuständigen Lehrer. Und den ewigen Portier des Liceos, Riverita, der eigentlich immer im Wachschlaf war, während er seinen täglichen Aufgaben nachging. Er wohnte in einem Zimmer am Eingang und genügte seinen Pflichten, doch nachts konnten wir die schweren Kirchentüren entriegeln und sie geräuschlos wieder anlehnen, die Nacht in einem fremden Haus genießen und kurz vor Morgengrauen über die eisigen Straßen zurückkehren. Wir erfuhren nie, ob Riverita tatsächlich wie ein Toter schlief, oder ob er nur so tat und sich auf taktvolle Weise zum Komplizen seiner Jungs machte. Nicht viele stahlen sich nachts davon, und ihre Geheimnisse vermoderten im Gedächtnis ihrer treuen Komplizen. Ich habe einige gekannt, die es routinemäßig machten, und andere, die es nur einmal mit dem Mut, den das Abenteuer verleiht, wagten und dann von Angst geschwächt heimkamen. Wir haben nie von einem erfahren, der erwischt worden wäre.
In der Gemeinschaft eckte ich eigentlich nur mit meinen von der Mutter geerbten finsteren Albträumen an, die wie ein Heulen aus dem Jenseits in die Träume der anderen einbrachen. Meine Bettnachbarn kannten das nur zu gut und fürchteten nur das erste Aufjaulen in der Stille der Nacht. Der Dienst habende Lehrer, der in einer Pappkabine schlief, lief dann schlafwandlerisch durch den Schlafsaal, bis wieder Ruhe eintrat. Diese Alb träume waren nicht nur unkontrollierbar, sie hatten auch etwas mit einem schlechten Gewissen zu tun, denn sie überfielen mich zweimal in unstatthaften Häusern. Sie pflegten undeutbar zu sein, weil sie sich nicht aus angstvollen Träumen entwickelten, sondern, ganz im Gegenteil, aus glücklichen Episoden mit gewohnten Personen an gewohnten Orten, mir jedoch plötzlich in aller Unschuld Unheilvolles offenbarten. Albträume, die kaum mit denen meiner Mutter zu vergleichen waren, die einmal ihren eigenen Kopf im Schoß liegen hatte, um ihn von den Nissen und Läusen zu befreien, die sie nicht schlafen ließen. Ich gab keine Angstschreie von mir, sondern Hilferufe, damit jemand so barmherzig wäre, mich aufzuwecken. Im Schlafsaal des Internats blieb keine Zeit für Weiteres, da ich beim ersten Klagelaut mit Kopfkissen aus den Nachbarbetten bombardiert wurde. Ich wachte keuchend, mit hämmerndem Herzen auf, war aber glücklich, lebendig zu sein.
Das Beste am Schlafsaal war zweifellos das laute Vorlesen vor dem Schlafen. Es begann durch eine Initiative von Lehrer Carlos Julio Calderón mit einer Geschichte von Mark Twain, die von den Schülern der vorletzten Klasse für eine überraschende Prüfung in der ersten Stunde vorbereitet werden musste. Er las die vier Seiten laut vor, damit die Schüler, die keine Zeit zum Lesen gehabt hatten, sich Notizen machen konnten. Das allgemeine Interesse war jedoch so groß, dass dann eingeführt wurde, jeden Abend vor dem Schlafen etwas vorzulesen. Am Anfang gab es Schwierigkeiten, weil irgendein bigotter Lehrer durchsetzen wollte, dass im Schlafsaal nur ausgesuchte und bereinigte Bücher vorgelesen wurden, doch eine drohende Rebellion führte dazu, dass die Auswahl den älteren Schülern überlassen blieb.
Zunächst dauerte die Lesung eine halbe Stunde. Der Lehrer, der Aufsicht hatte, las in seinem gut beleuchteten Alkoven am Eingang des Schlafsaals, und wir brachten ihn manchmal mit realen oder fingierten Schnarchern, die jedoch fast immer berechtigt waren, zum Schweigen. Später wurde dann bis zu einer Stunde vorgelesen, je nachdem, wie interessant die Handlung war, und die Lehrer wechselten sich im Wochenturnus mit Schülern ab. Die guten Zeiten begannen mit Nostradamus und dem Mann in der eisernen Maske, Büchern, die allen gefielen. Was ich mir heute noch nicht erklären kann, ist das lautstarke Interesse, das Thomas Manns Zauberberg entgegengebracht wurde und zu einer Intervention des Rektorats führte, die verhinderte, dass wir in Erwartung eines Kusses zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat die ganze Nacht wach blieben. Oder die unglaubliche Anspannung, mit der wir alle auf unseren Betten saßen, um kein Wort von den verzwickten philosophischen Gefechten zwischen Naphta und seinem Freund Settembrini zu verpassen. In jener Nacht dauerte die Lesung über eine Stunde und wurde im Saal mit donnerndem Applaus gefeiert.
Der einzige Lehrer meiner Jugend, der mir ein Rätsel blieb, war der Rektor, den ich bei meinem Eintritt ins Internat antraf. Er hieß Alejandro Ramos, war rau und einsam, trug so dicke Brillengläser wie ein Blinder und hatte eine Autorität, die er nicht zur Schau stellte, die aber wie eine eiserne Faust jedem seiner Worte Gewicht gab. Um sieben Uhr früh kam er aus seinem Refugium herunter, um zu überprüfen, ob wir sauber und ordentlich waren, bevor es in den Speisesaal ging. Er trug untadelige Anzüge in leuchtenden Farben, einen gestärkten Kragen wie aus Zelluloid mit fröhlichen Krawatten und glänzende Schuhe. Jeden Makel in unserer persönlichen Erscheinung quittierte er mit einem Knurren -das war der Befehl, zurück in den Schlafsaal zu gehen, um das Beanstandete in Ordnung zu bringen. Den Rest des Tages über schloss er sich in sein Büro im ersten Stock ein, und wir sahen ihn nicht wieder bis zum nächsten Morgen zur gleichen Uhrzeit, höchstens einmal zwischendurch, wenn er die zwölf Schritte von seinem Büro in den Raum der Abiturklasse ging, wo er dreimal die Woche Mathematik gab - seine einzige Lehrveranstaltung. Seine Schüler sagten, er sei ein Zahlengenie und witzig im Unterricht, und dass er sie mit seinem Wissen in Staunen versetze und ihnen den Horror vor dem Abschlussexamen einbrenne.
Kurz nach meiner Ankunft musste ich die Eröffnungsrede für irgendeine offizielle Veranstaltung im Liceo schreiben. Die Mehrzahl der Lehrer war mit dem Thema einverstanden, sie waren sich aber darin einig, dass der Rektor in solchen Fällen das letzte Wort habe. Er wohnte im ersten Stock, am Ende der Treppe, aber ich quälte mich auf der Strecke, als handele es sich um eine Bergbesteigung. Ich hatte in der Nacht zuvor schlecht geschlafen, band mir dann die Sonntagskrawatte um und konnte kaum das Frühstück genießen. Ich klopfte so leise an die Tür des Rektorats, dass er mir erst beim dritten Mal öffnete, dann ließ er mich ein, ohne mich zu begrüßen. Zum Glück, denn ich hätte keine Stimme gehabt, um den Gruß zu erwidern, nicht nur wegen seiner Sprödigkeit, sondern auch deshalb, weil das Büro so imponierend, so ordentlich und so schön war mit seinen samtbezogenen Möbeln aus edlen Hölzern und der staunenswerten Bibliothek, deren ledergebundene Bände die Wände bedeckten. Der Rektor wartete mit gemessener Förmlichkeit darauf, dass ich wieder zu Atem kam. Sodann zeigte er auf den zweiten Sessel vor dem Schreibtisch und setzte sich auf den eigenen.
Ich hatte die Begründung für meinen Besuch beinahe ebenso gut vorbereitet wie die Rede. Er hörte sie sich schweigend an, billigte jeden Satz mit einem Nicken, schaute aber immer noch nicht mich, sondern stattdessen das Papier an, das in meiner Hand zitterte. An irgendeinem Punkt, den ich für witzig hielt, versuchte ich, ihm ein Lächeln zu entlocken, doch vergeblich. Mehr noch: Ich bin sicher, er war schon auf dem Laufenden, was den Zweck meines Besuches anging, ließ mich aber den Ritus der Begründung erfüllen.
Als ich fertig war, streckte er die Hand über den Schreibtisch und nahm die Seiten entgegen. Er setzte die Brille ab, um den Text mit großer Aufmerksamkeit zu lesen, und hielt nur inne, um mit seiner Feder zwei Korrekturen einzutragen. Daraufhin setzte er die Brille wieder auf und sprach, ohne mir in die Augen zu blicken, mit einer steinernen Stimme, die mein Herz erschütterte:
»Hier gibt es zwei Probleme«, sagte er. »Sie haben geschrieben: >ln Harmonie mit der üpigen Flora unseres Landes, die der spanische Wissenschaftler José Celestino Mutis im 18. Jahrhundert der Welt bekannt gemacht hat, leben wir im Liceo Nacional in einer paradiesischen Umgebung.< Tatsache aber ist, dass üppig mit zwei p geschrieben wird und paradiesisch, paradisiaco, ohne Akzent.«
Ich fühlte mich gedemütigt. Ich hatte keine Erklärung für den ersten Fehler, aber im zweiten Fall war ich mir sicher und erwiderte sofort mit dem bisschen Stimme, das mir geblieben war:
»Verzeihen Sie, Herr Rektor, aber das Wörterbuch lässt paradisiaco mit und ohne Akzent zu, mir erschien es aber mit der Betonung auf der drittletzten Silbe klangvoller.«
Er muss sich ebenso angegriffen gefühlt haben wie ich, denn er sah mich immer noch nicht an, sondern nahm, ohne ein Wort zu sagen, das Wörterbuch aus dem Regal. Mein Herz verkrampfte sich, denn es war das gleiche Nachschlagewerk wie das meines Großvaters, nur neu und glänzend und vielleicht noch ungebraucht. Auf Anhieb öffnete er es auf der richtigen Seite, las den Eintrag und las ihn noch einmal und fragte mich, ohne den Blick von der Seite zu lösen:
»In welcher Klasse sind Sie?«
»In der dritten.«
Er schloss das Wörterbuch mit dem festen Schlag eines Fangeisens und sah mir zum ersten Mal in die Augen.
»Bravo«, sagte er, »weiter so.«
Seit jenem Tag fehlte nur noch, dass mich meine Klassenkameraden zum Helden erklärten, jedenfalls begannen sie mich höchst ironisch »der Karibe, der mit dem Rektor gesprochen hat« zu nennen. Am meisten hatte mich bei dem Gespräch getroffen, dass ich wieder einmal mit meinem persönlichen Drama, dem der Orthografie, konfrontiert worden war. Ich habe sie nie verstanden. Einer meiner Lehrer versuchte müden Gnadenstoß mit dem Hinweis zu geben, dass Simon Bolívar wegen seiner desaströsen Rechtschreibung seinen Ruhm nicht verdiene. Andere trösteten mich mit der Entschuldigung, es sei ein verbreitetes Leiden. Noch heute, nach siebzehn publizierten Büchern, sind die Korrektoren meiner Druckfahnen so galant, grobe Schnitzer wie einfache Tippfehler zu verbessern.
Die Geselligkeiten in Zipaquirá entsprachen im Allgemeinen jedermanns Neigung und Wesensart. Die Salzbergwerke, die schon die Spanier vorgefunden hatten, waren am Wochenende eine touristische Attraktion, die mit Bauchfleisch im Bratrohr und Schneekartoffeln in großen Salzpfannen vervollständigt wurde. Wir Internatsschüler von der Küstenregion, die wir den wohlverdienten Ruf genossen, laut und unmanierlich zu sein, zeigten uns wohlerzogen, indem wir wie die Artisten zu der Musik, die gerade Mode war, tanzten, und waren auch so stilvoll, uns unsterblich zu verlieben.
Ich entwickelte sogar ein solches Maß an Spontaneität, dass ich an dem Tag, als das Ende des Weltkriegs bekannt wurde, mit den anderen auf die Straße zog; es war eine Demonstration des Jubels, mit Fahnen, Transparenten und Siegesgeschrei. Man suchte nach einem Freiwilligen, der eine Rede halten sollte, und ich ging, ohne lang zu überlegen, auf den Balkon des Club Social an der Plaza Mayor und improvisierte mit vollmundigen Ausrufen eine Ansprache, die vielen wie auswendig gelernt erschien.
Es war die einzige Rede, die ich in meinen ersten siebzig Jahren improvisieren musste. Ich schloss mit einem lyrischen Lobgesang auf die Großen Vier, die Aufmerksamkeit der Plaza erregte ich jedoch mit der Ehrung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, der kurz zuvor gestorben war: »Franklin Delano Roosevelt, der wie der Cid auch nach seinem Tod Schlachten zu gewinnen wusste.« Dieser Satz schwebte noch einige Tage in der Stadt und wurde auf Straßenplakaten und unter den Porträts von Roosevelt in einigen Geschäften reproduziert. Also hatte ich meinen ersten öffentlichen Erfolg weder als Dichter noch als Romancier, sondern als Redner, schlimmer noch: als politischer Redner. Seitdem gab es keine öffentliche Veranstaltung des Liceo, bei der ich nicht auf den Balkon geführt wurde, nur handelte es sich dann immer um Reden, die schriftlich formuliert und bis zum letzten Zug verbessert worden waren.
Im Laufe der Zeit schlug diese freche Unbefangenheit jedoch in eine Angst vor öffentlichen Auftritten um, die mich fast zu völliger Stummheit verdammte, ob nun auf den großen Hochzeiten oder in den Kneipen der Indios in Poncho und Hanfschuhen, wo wir versumpften. Im Haus von Berenice, die schön und ohne Vorurteile war und das Glück hatte, mich nicht zu heiraten, weil sie für einen anderen in Liebe entbrannt war; oder beim Telegrafenamt, wo die unvergessliche Sarita mir auf Pump die ängstlichen Telegramme übermittelte, wenn meine Eltern sich mit den Überweisungen für meine persönlichen Ausgaben verspätet hatten, und die mir mehr als einmal das Geld vorschoss, um mich aus Schwierigkeiten zu erlösen. Die unvergesslichste Frau war jedoch keines Mannes Liebste, sondern die gute Fee der Poesiesüchtigen. Sie hieß Cecilia González Pizano und war von schnellem Verstand, hatte eine sympathische persönliche Ausstrahlung und trotz ihrer traditionell konservativen Familie einen freien Geist, und sie hatte ein übernatürliches Gedächtnis für alles Poetische. Sie wohnte bei einer ledigen aristokratischen Tante in einem kolonialen Herrenhaus, das, dem Portal des Liceo gegenüber, um einen Heliotropgarten gebaut war. Am Anfang war es eine Beziehung, die sich auf die lyrischen Wettbewerbe beschränkte, doch Cecilia, die oft und gerne lachte, wurde im Laufe der Zeit zu einer echten Kameradin unseres Lebens, die sich am Ende sogar, von allen gedeckt, in den Literaturunterricht von Lehrer Calderón stahl.
In Aracataca hatte ich von einem guten Leben geträumt, ich sah mich singend von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen, mit einem Akkordeon und einer guten Stimme, was mir noch immer die älteste und glücklichste Weise scheint, eine Geschichte zu erzählen. Wenn meine Mutter auf das Klavier verzichtet hatte, um Kinder zu bekommen, und mein Vater die Geige an den Nagel gehängt hatte, um diese Kinder ernähren zu können, war es aber kaum gerecht, dass ihr ältester Sohn den Präzedenzfall schuf, für die Musik zu verhungern. Meine gelegentliche Mitwirkung als Sänger und Tiplespieler in der Gruppe des Liceo bewies, dass ich das Gehör hatte, auch ein schwierigeres Instrument zu spielen, und dass ich singen konnte.
Es gab keine patriotische Feier oder feierlichen Akt im Liceo, bei dem ich nicht die Hand im Spiel hatte, immer dank Maestro Guillermo Quevedo Zornosa, Komponist und Lehrer und ein angesehener Mann der Stadt, der auf ewig Leiter der städtischen Kapelle war, zudem Autor von Amapola - die Mohnblume am Weg, rot wie das Herz -, eines Lieds für die Jugend, das zu jener Zeit das Herzstück vieler abendlicher Darbietungen und Serenaden war. Sonntags nach der Messe war ich einer der Ersten, der den Park durchquerte, um bei seinem Konzert dabei zu sein, das stets mit Die diebische Elster begann und mit dem Chor der Zigeuner in Der Troubador endete. Der Maestro erfuhr nie, und ich traute mich auch nicht, es ihm zu sagen, dass damals der Traum meines Lebens war, wie er zu sein.
Als im Liceo Freiwillige für einen Kurs zur Musikerziehung gesucht wurden, hoben Guillermo López Guerra und ich als Erste den Finger. Der Kurs sollte Samstagmorgens von Professor Andrés Pardo Tovar abgehalten werden, dem Leiter des ersten Programms mit klassischer Musik beim Sender La Voz de Bogotá. Wir füllten nicht einmal ein Viertel des Speisesaals, der für den Unterricht hergerichtet war, wurden aber sofort von der apostolischen Redegabe des Professors verführt. Erwar der perfekte Cachaco, mit einem Mitternachtsblazer, Atlasweste, geschmeidiger Stimme und sparsamen Gebärden. Was heute wieder neuartig in seiner Altertümlichkeit wäre, war der Phonograph mit Kurbel, den er mit der Meisterschaft und der Liebe eines Robbendompteurs handhabte. Er ging davon aus - was durchaus zutraf -, dass wir absolut ahnungslos waren. Also begann er mit dem Karneval der Tiere von Saint-Saens und beschrieb mit gelehrten Anmerkungen die Wesensart jedes Tieres. Daraufhin spielte er - was sonst! - Peter und der Wolf von Prokofjew. Das Schädliche an diesem samstäglichen Fest war, dass es mir das Gefühl vermittelte, die Musik der großen Meister sei ein geheimes Laster für Eingeweihte, und ich viele Jahre brauchte, um keine anmaßenden Unterscheidungen zwischen guter und schlechter Musik zu machen.
Mit dem Rektor hatte ich erst ein Jahr später wieder Kontakt, als er das Fach Geometrie in der vierten Klasse übernahm. Am ersten Dienstag kam er um zehn Uhr vormittags in den Unterrichtsraum, knurrte Guten Morgen, ohne jemanden anzusehen, und wischte die Tafel mit dem Schwamm ab, bis kein Stäubchen mehr zu sehen war. Dann drehte er sich zu uns um und fragte, noch bevor er die Anwesenheitsliste durchgegangen war, Álvaro Ruiz Torres:
»Was ist ein Punkt?«
Es gab keine Zeit für eine Antwort, da der Lehrer für Gesellschaftswissenschaften ohne anzuklopfen, die Tür öffnete und sagte, da sei ein dringender Anruf vom Erziehungsministerium für den Rektor. Der verließ hastig den Raum, um ans Telefon zu gehen, und kam nicht mehr in die Klasse zurück. Nie wieder, denn der Anruf hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass er nach fünf Jahren im Liceo und einem ganzen Leben guten Dienstes von seinem Posten als Rektor enthoben worden war.
Sein Nachfolger wurde der Dichter Carlos Martín, der jüngste von den guten Lyrikern der Gruppe Piedra y Cielo, die ich mit César del Valles Hilfe in Barranquilla entdeckt hatte. Carlos Martín war dreißig und hatte bereits drei Bücher veröffentlicht. Ich kannte einige seiner Gedichte, hatte ihn auch schon einmal in einer Buchhandlung in Bogotá gesehen, ihm aber nichts zu sagen gewusst, auch keines seiner Bücher dabeigehabt, um ihn zu bitten, es mir zu signieren. Eines Montags erschien er ohne Ankündigung in der Mittagspause. Wir hatten ihn nicht so früh erwartet. Er sah eher wie ein Rechtsanwalt aus als wie ein Lyriker, mit seinem Nadelstreifenanzug, der freigekämmten Stirn und einem schmalen Schnurrbart von einer formalen Strenge, die auch seinen Gedichten anzumerken war. Er ging mit wohlgemessenen Schritten auf die nächststehenden Grüppchen zu, gemächlich und ein wenig distanziert wie immer, und streckte die Hand aus:
»Hallo, ich bin Carlos Martin.«
Zu jener Zeit war ich fasziniert von der lyrischen Prosa, die Eduardo Carranza in der Literaturbeilage von El Tiempo und in der Zeitschrift Sábado veröffentlichte. Dieses Genre schien mir von Juan Ramón Jiménez' Platero und ich inspiriert, einem Buch, für das die jungen Dichter, die dem Mythos des parnassien Gullermo Valencia den Garaus machen wollten, schwärmten. Der Poet Jorge Rojas, Erbe eines kleinen Vermögens, förderte mit seinem Namen und seinem Geld die Publikation von originellen Bändchen, die in seiner Generation mit großem Interesse aufgenommen wurden und eine Gruppe bekannter guter Dichter zusammenführte.
In der Atmosphäre des Hauses fand ein grundlegender Wandel statt. Die geisterhafte Erscheinung des vorherigen Rektors wurde durch einen körperlich präsenten Menschen ersetzt, der zwar die nötige Distanz wahrte, aber immer ansprechbar war. Er verzichtete auf die routinemäßige Überprüfung der äußeren Erscheinung seiner Zöglinge und auf andere müßige Regeln, unterhielt sich auch zuweilen in der Abendpause mit den Schülern.
Der neue Stil brachte mich auf meine Bahn. Vielleicht hatte Calderón mit dem neuen Rektor über mich gesprochen, denn an einem der ersten Abende unterzog der mich einer eindringlichen Befragung über mein Verhältnis zur Poesie, woraufhin ich ihm alles offenbarte, was in mir gärte. Er fragte mich, ob ich Die literarische Erfahrung, ein allseits diskutiertes Buch von Alfonso Reyes, gelesen hätte. Ich gestand, das sei nicht der Fall, und er brachte es mir am nächsten Tag. Ich verschlang die Hälfte davon in drei aufeinander folgenden Unterrichtsstunden unter der Bank und den Rest in den Pausen auf dem Fußballplatz. Es freute mich, dass ein angesehener Essayist die Lieder von Agustín Lara ebenso ernsthaft wie Gedichte von Garcilaso de la Vega untersuchte, unter dem Vorwand einer geistreichen Sentenz: »Die beim Volk beliebten Lieder von Agustín Lara sind keine Volksmusik.« Für mich war es, als entdeckte ich die Poesie im täglichen Einerlei wieder.
Martín verzichtete auf den großartigen Rektoratsraum. Er richtete sein Büro der offenen Türen am Innenhof ein, und das brachte ihn unseren abendlichen Treffen nach dem Essen noch näher. Mit seiner Frau und seinen Kindern zog er für längere Zeit in ein gut erhaltenes Kolonialhaus an einer Ecke der Plaza Mayor und richtete sich ein Arbeitszimmer ein, dessen Wände mit all den Büchern bedeckt waren, von denen ein Leser, der die Erneuerungsbestrebungen jener Jahre verfolgte, nur träumen konnte. Dort besuchten ihn am Wochenende seine Freunde aus Bogotá, vor allem seine Kollegen von Piedra y Cielo. Irgendwann an einem Sonntag kam ich, weil es etwas Nebensächliches zu erledigen gab, mit Guillermo López Guerra in das Haus, wo gerade Eduarde Carranza und Jorge Rojas, die beiden Stars der Bewegung, zu Besuch waren. Um das Gespräch nicht zu unterbrechen, machte der Rektor uns ein Zeichen, dass wir uns setzen sollten, und da saßen wir dann eine halbe Stunde lang, ohne ein Wort zu verstehen, da sie über ein Buch von Paul Valéry sprachen, von dem wir noch nie gehört hatten. Ich hatte Carranza schon öfters in den Buchhandlungen und Cafés von Bogotá gesehen und hätte ihn allein am Timbre und an der Geschmeidigkeit seiner Stimme erkannt, die seiner Straßenkleidung und seinem Auftreten entsprachen: ein Dichter. Jorge Rojas hingegen, der wie ein höherer Beamter gekleidet war und sich auch so gab, war für mich nicht erkennbar, bis Carranza ihn mit Namen ansprach. Ich brannte darauf, Zeuge einer Diskussion über Poesie unter den drei Großen zu sein, aber es ergab sich nicht. Am Ende des Gesprächs legte der Rektor mir die Hand auf die Schulter und sagte zu seinen Gästen:
»Das hier ist ein großer Dichter.«
Er meinte es natürlich als schmeichelhaften Scherz, ich aber fühlte mich wie vom Blitz getroffen. Carlos Martín bestand darauf, ein Foto von mir und den beiden große Poeten zu knipsen, und er machte es tatsächlich, doch ich hörte erst ein halbes Jahrhundert später wieder davon, in Carlos Martins Haus an der Costa Brava, wohin er sich zurückgezogen hatte, um sein Alter zu genießen.
Das Liceo wurde von einem Geist der Erneuerung durchweht. Das Radio, das uns nur dazu gedient hatte, um unter Männern zu tanzen, wurde unter Carlos Martin zu einem Instrument gesellschaftlicher Kommunikation, und zum ersten Mal hörte und diskutierte man im Pausenhof die Abendnachrichten. Die kulturellen Aktivitäten nahmen zu, ein literarisches Zentrum wurde gegründet und eine Zeitschrift veröffentlicht. Als wir eine Liste mit den eindeutig literarisch Interessierten aufstellten, brachte uns die Zahl auf den Namen der Gruppe: Literarisches Zentrum der Dreizehn. Ein Glückstreffer, wie wir meinten, auch weil der Name eine Herausforderung an den Aberglauben war. Die Initiative ging von uns Schülern aus und bestand letztlich nur darin, dass wir uns einmal in der Woche versammelten, um über Literatur zu reden -, dabei taten wir in unseren freien Stunden innerhalb und außerhalb der Schule sowieso nichts anderes. Jeder brachte seine eigenen Texte mit, las sie vor und unterwarf sie dem Urteil der anderen. Beeindruckt durch diese Beispiele trug ich Sonette vor, die ich mit Javier Garcés unterschrieb, einem Pseudonym, hinter dem ich mich eigentlich nur verstecken wollte. Es waren einfache technische Übungen, ohne Ehrgeiz oder Inspiration, denen ich keinen großen poetischen Wert zumaß, da sie mir nicht aus dem Herzen kamen. Ich hatte mit Nachahmungen von Quevedo, Lope de Vega und sogar García Lorca begonnen, dessen achtsilbige Verse so spontan wirkten, dass man nur einmal damit beginnen musste, um wie von selbst weitergetragen zu werden. Mein Nachahmungsdrang ging so weit, dass ich mir vornahm, die vierzig Sonette des Garcilaso de la Vega in der vorgegebenen Reihenfolge zu imitieren. Nebenbei dichtete ich noch das, um was mich einige Internatsschüler baten, um es als Eigenes ihren Sonntagsbräuten zu überreichen. Eines dieser Mädchen las mir dann, unter dem Siegel der Verschwiegenheit und voller Rührung, die Verse vor, die ihr der Verehrer angeblich selbst gewidmet hatte.
Carlos Martin überließ uns im zweiten Hof des Liceo einen kleinen Lagerraum, dessen Fenster aus Sicherheitsgründen vernagelt waren. Wir waren etwa fünf und stellten uns für die jeweils nächste Sitzung Aufgaben. Keiner der anderen machte als Schriftsteller Karriere, doch darum ging es auch nicht, man wollte vielmehr die eigenen Fähigkeiten erproben. Wir stritten über die vorgelesenen Texte und erregten uns dabei so sehr wie bei einem Fußballspiel. Eines Tages musste Ricardo González Ripoll mitten in einer Debatte hinaus und ertappte den Rektor dabei, wie er mit dem Ohr an der Tür unserer Diskussion folgte. Seine Neugier war berechtigt, konnte er doch nicht so recht glauben, dass wir unsere freien Stunden der Literatur widmeten.
Ende März erreichte uns die Nachricht, dass Don Alejandro Ramos, der ehemalige Rektor, sich im Parque Nacional von Bogotá eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Keiner gab sich damit zufrieden, den Selbstmord auf sein einsames und vielleicht depressives Wesen zurückzuführen, und es fand sich auch keine vernünftige Erklärung dafür, dass er sich hinter dem Denkmal von General Rafael Uribe Uribe erschossen hatte, dem liberalen Politiker und Kämpfer in vier Bürgerkriegen, der im Atrium des Kapitols von zwei Fanatikern mit einer Axt ermordet worden war. Eine Delegation des Liceo, geführt von dem neuen Rektor, fuhr zu Alejandro Ramos' Beerdigung, und allen blieb das Ereignis als Abschied von einer Epoche in Erinnerung.
Das Interesse für die Landespolitik war im Internat nur gering. Im Haus meiner Großeltern hatte ich zu oft hören müssen, dass nach dem Krieg der Tausend Tage die beiden Parteien sich nur dadurch unterschieden, dass die Liberalen zur Fünf-Uhr-Messe gingen, damit sie nicht gesehen wurden, und die Konservativen zu der um acht Uhr, damit man sie für gläubig hielt. Die tatsächlichen Unterschiede wurden erst dreißig Jahre später wieder spürbar, als die Konservative Partei die Macht verlor und die ersten Präsidenten der Liberalen versuchten, das Land den neuen Strömungen aus aller Welt zu öffnen. Die Konservative Partei, gescheitert an ihrer dahinrostenden absoluten Macht, hatte im eigenen Haus für Sauberkeit und Ordnung gesorgt und am fernen Glanz Mussolinis in Italien und der Finsternis unter General Franco in Spanien teilgehabt, während die erste Regierung von Präsident Alfonso López Pumarejo mit einer Plejade junger gebildeter Männer bemüht war, die Voraussetzungen für einen modernen Liberalismus zu schaffen, wohl ohne zu wissen, dass sie damit das fatale historische Geschick bediente und sich dann auch in Kolumbien der Riss auftat, der die Welt in zwei Hälften teilte. Es war unvermeidlich. In einem der Bücher, die uns die Lehrer liehen, las ich einen Spruch, der Lenin zugeschrieben wurde: »Wenn du dich nicht mit Politik beschäftigst, wird die Politik sich am Ende mit dir beschäftigen.«
Nach sechsundvierzig Jahren einer steinzeitlichen Hegemonie konservativer Präsidenten schien jedoch der Frieden möglich zu werden. Drei junge Präsidenten mit moderner Geisteshaltung hatten eine liberale Perspektive eröffnet, mit der Absicht, die Nebel der Vergangenheit wegzufegen. Alfonso López Pumarejo, der bedeutendste von ihnen und ein risikofreudiger Reformer, ließ sich 1942 für eine zweite Periode wählen, und nichts schien den Rhythmus der Regierungswechsel zu bedrohen. So waren wir in meinem ersten Jahr am Liceo noch erfüllt von den Nachrichten vom Zweiten Weltkrieg, die uns in Atem hielten, wie es der nationalen Politik nie gelungen war. Zeitungen kamen nur in außergewöhnlichen Fällen in die Schule, da die Presse keinen Platz in unserer Gedankenwelt hatte. Es gab noch keine Kofferradios, und der einzige Rundfunkapparat war die alte Kiste im Lehrerzimmer, die wir um sieben Uhr abends auf volle Lautstärke drehten, aber nur, um zu tanzen. Uns lag der Gedanke fern, dass gerade zu jener Zeit der blutigste und irregulärste aller unserer Kriege ausgebrütet wurde.
Die Politik drang schubweise ins Internat. Wir teilten uns in liberale und konservative Gruppen auf und erfuhren erst dadurch, wer auf welcher Seite stand. Es entstand so etwas wie eine schulinterne Parteilichkeit, die am Anfang noch herzlich und etwas akademisch wirkte, aber zu eben der Stimmung degenerierte, die das Land zu vergiften begann. Die ersten Spannungen an der Schule waren kaum wahrnehmbar, doch niemand zweifelte am großen Einfluss von Carlos Martin, der einem Lehrerkollegium vorstand, das aus seiner ideologischen Einstellung nie ein Hehl gemacht hatte. Wenn der neue Rektor auch kein offensichtlicher Parteigänger war - laut einem unbestätigten Gerücht hatte er in seinem Büro ein Marx- oder Leninporträt hängen -, gab er doch die Erlaubnis, die Abendnachrichten im Radioapparat des Lehrerzimmers zu hören, und seitdem hatten die politischen Nachrichten Vorrang vor der Tanzmusik.
Der einzige Ansatz zu einer Meuterei in der Schule war wohl Folge der veränderteten Stimmung. Im Schlafsaal flogen Kopfkissen und Schuhe, was Lektüre und Schlaf abträglich war. Ich kann nicht mehr genau den Anlass rekonstruieren, glaube aber in Übereinstimmung mit einigen Mitschülern, dass es sich um irgendeine Episode in dem Buch handelte, das an jenem Abend vorgelesen wurde: Cantaclaro von Rómulo Gallegos. Eine merkwürdige Schlachtfanfare.
Carlos Martin, eilig herbeigerufen, betrat den Schlafsaal und lief mehrmals vom einen zum anderen Ende, inmitten des maßlosen Schweigens, das sein Auftauchen ausgelöst hatte. Daraufhin befahl er uns in einem Anfall von Autoritarismus, der für seinen Charakter ungewöhnlich war, den Schlafsaal in Pyjama und Pantoffeln zu verlassen und uns im eisigen Hof in Reih und Glied aufzustellen. Dort hielt er uns eine Standpauke im redundanten Stil des Catilina, und wir kehrten in perfekter Ordnung in den Saal zurück, um weiterzuschlafen. Es war der einzige Zwischenfall in unseren Internatsjahren, an den ich mich erinnern kann.
Mario Convers, ein Neuzugang in der Abschlussklasse, hielt uns damals mit dem Plan in Spannung, eine Schülerzeitung zu machen, die nicht so konventionell war wie die der anderen Schulen. Mit mir nahm er als einem der Ersten Kontakt auf, und ich fand Convers so überzeugend, dass ich mich geschmeichelt darauf einließ, sein Chefredakteur zu werden, obwohl ich keine klare Vorstellung von meinen Aufgaben hatte. Die letzten Vorbereitungen für die Zeitung fielen mit der Festnahme von Präsident López Pumarejo zusammen. Der Präsident weilte gerade zu einem offiziellen Besuch im Süden des Landes, als eine Gruppe hoher Offiziere zuschlug. Die Geschichte, von López Pumarejo selbst erzählt, war nicht zu verachten. Den Untersuchungsrichtern lieferte er, vielleicht unabsichtlich, einen vorzüglichen Bericht, dem zufolge er bis zu seiner Befreiung nichts von dem Ereignis mitbekommen hatte. Er hielt sich dabei so eng an die Realitäten des wirklichen Lebens, dass der Putsch von Pasto als eine weitere lächerliche Episode in die Geschichte des Landes einging.
In seiner Eigenschaft als designierter Stellvertreter versetzte Alberto Lleras Camargo das Land über Radio Nacional mit seiner Stimme und seiner perfekten Vortragsweise in Hypnose, viele Stunden lang, bis Präsident López Pumarejo befreit und die Ordnung wieder hergestellt war. Doch der verschärfte Ausnahmezustand und die Pressezensur blieben bestehen.
Die Prognosen waren ungewiss. Die Konservativen hatten das Land seit der Unabhängigkeit von Spanien im Jahr 1819 über eine lange Zeit regiert und zeigten keinerlei Bereitschaft zu einer Liberalisierung. Die Liberalen wiederum verfügten über eine Elite junger Intellektueller, die von den Lockspeisen der Macht angezogen wurden. Jorge Eliécer Gaitán stach als besonders radikal und geschickt unter diesen Politikern hervor. Er war einer der Helden meiner Kindheit wegen seiner Aktionen gegen die Repression in der Bananenregion gewesen, von der ich, noch ohne etwas davon zu begreifen, immer wieder gehört hatte. Mein Großvater bewunderte ihn, aber ich glaube, dass ihm die Übereinstimmungen mit den Kommunisten Sorgen bereiteten. Ich hatte hinter Gaitán gestanden, als er in Zipaquirá von einem Balkon an der Plaza eine donnernde Rede hielt, und mir war sein melonenförmiger Schädel aufgefallen, das harte, glatte Haar und die Haut eines richtigen Indios sowie seine durchdringende Stimme mit dem Tonfall eines Straßenjungen von Bogotá, den er vielleicht aus politischer Opportunität herausstrich. In seiner Rede sprach er nicht von Liberalen und Konservativen oder von Ausbeutern und Ausgebeuteten wie sonst alle Welt, sondern von den Armen und den Oligarchien, ein Begriff, den ich noch nie gehört hatte, der mir nun aber mit jedem Satz eingehämmert wurde, so dass ich mich beeilte, ihn im Wörterbuch nachzuschlagen.
Gaitán war ein glänzender Anwalt und in Rom ein hervorragender Schüler des großen italienischen Strafrechtlers Enrico Ferri gewesen. Dort hatte er auch die Redekunst von Mussolini studieren können, und an dessen theatralischen Stil auf der Tribüne erinnerten Gaitáns Auftritte ein wenig. Sein Parteigenosse und Rivale Gabriel Turbay war ein gebildeter und eleganter Mediziner mit einer fein gefassten Goldbrille, die ihm etwas von einem Filmschauspieler gab. Auf einem Kongress der Kommunisten hatte Turbay kurz zuvor unvorhergesehen eine Rede gehalten, die viele überraschte und einige seiner bürgerlichen Mitstreiter beunruhigte, doch er selbst meinte nicht, damit in Wort oder Tat gegen seine liberale Gesinnung und seine aristokratische Haltung verstoßen zu haben. Seine guten Beziehungen zur russischen Diplomatie gingen auf das Jahr 1936 zurück, als Turbay kolumbianischer Botschafter in Rom gewesen war und in dieser Eigenschaft Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen hatte. Sieben Jahre später, als Gesandter in Washington, formalisierte er diese Beziehungen.
Nun stand er auf sehr gutem Fuße mit der sowjetischen Botschaft in Bogotá und hatte auch einige Freunde unter den Führern der kommunistischen Partei Kolumbiens, die mit den Liberalen ein Wahlbündnis hätten eingehen können; davon wurde in jenen Tagen viel geredet, doch es kam nie dazu. Als er noch Botschafter in Washington gewesen war, gab es in Kolumbien das hartnäckige Gerücht, Turbay sei der heimliche Liebhaber eines Hollywoodstars - Joan Crawford vielleicht oder Paulette Goddard -, doch er gab nie seine Laufbahn eines unbestechlichen Junggesellen auf.
Die Wähler von Gaitán und die von Turbay hatten die Möglichkeit, eine liberale Mehrheit zu bilden und neue Wege innerhalb der Partei selbst einzuschlagen, keines der beiden Lager konnte jedoch die vereinten und bewaffneten Konservativen schlagen.
Unsere Gaceta Literaria erschien in dieser schlechten Zeit. Als wir die erste Nummer in der Hand hielten, waren wir selbst überrascht von ihrer professionellen Aufmachung, acht Seiten im Boulevardformat, gut gestaltet und sauber gedruckt. Carlos Martin und Carlos Julio Calderon waren besonders enthusiastisch, und beide gaben in den Pausen Kommentare Zu einigen Artikeln ab. Den wichtigsten Beitrag hatte Carlos Martin auf unsere Bitte hin geschrieben. Erforderte ein mutiges und bewusstes Engagement im Kampf gegen den krämerischen Umgang mit Staatsinteressen, gegen die opportunistischen Streber in der Politik und gegen die Spekulanten, die eine freie Entwicklung des Landes behinderten. Der Artikel stand neben einem großen Porträt von Martin auf der ersten Seite. Dann gab es noch einen Beitrag von Convers über die Hispanität und ein Stück lyrischer Prosa von Javier Garcés, also von mir. Convers berichtete uns von der Begeisterung seiner Freunde in Bogotá und von möglichen Subventionen, mit denen man die Gaceta Literaria als schulübergreifende Zeitung groß herausbringen könnte.
Die erste Nummer war noch nicht verteilt, als der Putsch von Pastos stattfand. An eben dem Tag, als der Ausnahmezustand erklärt wurde, fiel der Bürgermeister von Zipaquirá mit einem bewaffneten Trupp ins Liceo ein und beschlagnahmte die Exemplare, die zur Verteilung bereitlagen. Es war ein Überfall wie im Film und nur erklärlich durch irgendeine hinterhältige Denunziation, die Zeitung enthalte subversives Material. Am gleichen Tag noch kam eine Mitteilung des Pressebüros der Regierung, unsere Zeitung sei vor dem Druck nicht, wie der Ausnahmezustand es gebot, der Zensur vorgelegt worden, und Carlos Martin wurde ohne Vorankündigung als Rektor abgesetzt.
Für uns war das eine völlig unsinnige Entscheidung, wir fühlten uns gedemütigt und zugleich wichtig. Die Zeitung war nur in einer Auflage von zweihundert Exemplaren gedruckt worden, für eine Distribution im Freundeskreis, doch man erklärte uns, im Ausnahmezustand sei die Zensur un-umgehbar. Die Lizenz wurde bis zu einer neuen Anordnung gesperrt, und die kam nie.
Es vergingen mehr als fünfzig Jahre bis Carlos Martin mir - für diese Memoiren - das Geheimnis der absurden Episode enthüllte. Am Tag, an dem die Gaceta beschlagnahmt wurde, sei er zu Antonio Rocha, eben dem Erziehungsminister, der ihn ernannt hatte, zitiert worden, und dieser habe ihn um seine Demission gebeten. Carlos Martin traf ihn in seinem Arbeitszimmer mit einem Exemplar der Gaceta Literaria an, in dem der Minister mit Rotstift zahlreiche Sätze angestrichen hatte, die er für subversiv hielt. Ebenso war mit Martins Leitartikel verfahren worden, mit dem Beitrag von Convers und sogar mit dem Gedicht eines bekannten Autors, das der Erziehungsminister im Verdacht hatte, verschlüsselt geschrieben zu sein. »Selbst die Bibel könnte mit so böswilligen Unterstreichungen das Gegenteil von ihrem wirklichen Sinn ausdrücken«, tobte Carlos Martin erregt, worauf der Minister damit drohte, die Polizei zu rufen. Martin wurde dann zum Leiter der Zeitschrift Sábado berufen, was für einen Intellektuellen wie ihn als Aufstieg zu den Sternen betrachtet werden konnte. Dennoch blieb ihm stets das Gefühl, Opfer einer Verschwörung der Rechten gewesen zu sein. In einem Café von Bogotá wurde er tätlich angegriffen, und er hätte fast mit der Schusswaffe darauf reagiert. Ein neuer Minister ernannte ihn später zum Chefanwalt der Rechtsabteilung, und er machte eine brillante Karriere, die Erfüllung im Ruhestand fand, in dem er sich in seinem friedlichen Port in Tarragona von Büchern und nostalgischen Erinnerungen umgab.
Zu eben der Zeit von Martins Absetzung - und keineswegs in Zusammenhang damit - ging sowohl im Liceo wie in den Häusern und Kneipen der Stadt eine Deutung des Peru-Kriegs auf abgezogenen Blättern um, für die niemand verantwortlich zeichnete. Demnach war dieser Krieg eine List der liberalen Regierung, um sich 1932 gegen die wüste Opposition der Konservativen gewaltsam an der Macht zu halten. Es wurde behauptet, dass das Drama ohne jede politische Absicht begonnen hatte, als ein peruanischer Fähnrich den Amazonas mit einer Militärpatrouille überquerte und am kolumbianischen Ufer die heimliche Braut des Bürgermeisters von Leticia, eine betörende Mulattin, entführte, die man La Pila, als Diminutiv von Pilar, nannte. Als der kolumbianische Bürgermeister die Entführung entdeckte, mobilisierte er einen Trupp bewaffneter Landarbeiter, der über den Grenzfluss setzte und das Mädchen auf peruanischem Territorium befreite. General Luis Miguel Sánchez Cerro, absoluter Diktator Perus, wusste dieses Scharmützel zu nutzen, er fiel in Kolumbien ein und versuchte die Amazonasgrenze zu Gunsten seines Landes zu verschieben.
Präsident Enrique Olaya Herrera, dem von der konservativen Partei zugesetzt wurde, die nach einem halben Jahrhundert absoluter Herrschaft nun in der Opposition war, erklärte den Kriegszustand, ordnete die nationale Mobilmachung an, ließ das Heer durch Männer seines Vertrauens reinigen und setzte Truppen in Marsch, um die von den Peruanern besetzten Gebiete zu befreien. Ein Schlachtruf erschütterte das Land und heizte unsere Kindheit auf: »Es lebe Kolumbien, nieder mit Peru!« In der Erregung des Krieges gab es sogar das Gerücht, dass die zivilen Maschinen der SCADTA militärisch als Flugstaffel eingesetzt und mit Waffen ausgerüstet wurden und dass eines der Flugzeuge eine Osterprozession in der peruanischen Ortschaft Guepi in Ermangelung von Bomben mit einem Hagel von Kokosnüssen aufgelöst habe. Der große Schriftsteller Lozano y Lozano, den Präsident Olaya beauftragt hatte, ihn in diesem Krieg der wechselseitigen Lügen über die Wahrheit auf dem Laufenden zu halten, hat den Zwischenfall wahrheitsgemäß in seiner meisterhaften Prosa festgehalten, doch das Gerücht wurde noch lange für wahr gehalten. Dem peruanischen Diktator General Sánchez Cerro bot der Krieg natürlich eine glänzende Gelegenheit, sein Regime mit eiserner Hand zu festigen. Olaya Herrera ernannte seinerseits den konservativen General Alfredo Vásquez Cobo, der damals gerade in Paris war, zum Kommandeur der kolumbianischen Streitkräfte. Der General überquerte den Atlantik mit einem Panzerkreuzer und fuhr den Amazonas bis nach Leticia hinauf, als die Diplomaten beider Seiten den Krieg bereits eindämmten.
Carlos Martin wurde als Rektor von Oscar Espitia Brand, einem professionellen Pädagogen und anerkannten Physiker, ersetzt. Obwohl das weder im Zusammenhang mit dem Putsch von Pasto noch mit dem Verbot unserer Zeitung stand, weckte die Ablösung allerlei Argwohn im Internat. Meine Ablehnung von Espitia Brand ging auf die erste Begrüßung zurück, bei der er ein deutliches Staunen über meine Dichtermähne und meinen ungezähmten Schnurrbart zeigte. Er wirkte hart und blickte einem gerade und streng in die Augen. Die Nachricht, er werde uns in organischer Chemie unterrichten, erschreckte mich vollends.
An einem Sonnabend jenes Jahres saßen wir in der Nachmittagsvorstellung des Kinos, als plötzlich eine verstörte Stimme über Lautsprecher mitteilte, ein Schüler des Liceo sei tot. Die Nachricht war so beklemmend, dass ich nicht mehr weiß, welchen Film wir gerade sahen, aber ich werde nie die schauspielerische Intensität von Claudette Colbert vergessen, die sich vom Brückengeländer in einen reißenden Fluss stürzen wollte. Der Tote war ein sechzehnjähriger Schüler der zweiten Klasse, der gerade aus seiner fernen Heimatstadt Pasto, an der Grenze zu Ecuador, gekommen war. Er hatte während eines Dauerlaufs, den der Turnlehrer als Strafe für die Drückeberger am Wochenende angesetzt hatte, einen Atemstillstand erlitten. Es war der einzige Todesfall während meines Aufenthalts im Internat, und die Erschütterung war groß, nicht nur in der Schule, sondern in der ganzen Stadt. Meine Klassenkameraden erkoren mich dazu aus, ein paar Abschiedsworte bei der Beerdigung zu sagen. Am selben Abend noch bat ich um Audienz beim neuen Rektor, um ihm meine Trauerrede zu zeigen, und beim Eintreten in sein Büro schauderte es mich, war es doch wie eine übernatürliche Wiederholung meiner einzigen Begegnung mit dem inzwischen verstorbenen Rektor. Der Lehrer Espitia las mein Manuskript mit tragischer Miene und genehmigte es ohne weiteren Kommentar, als ich aber aufstand, um hinauszugehen, bedeutete er mir, mich wieder zu setzen. Er hatte Artikel und Gedichte von mir gelesen, die in den Pausen unter der Hand zirkulierten, und einige davon schienen ihm würdig, in einer Literaturbeilage veröffentlicht zu werden. Kaum hatte ich versucht, mich über meine gnadenlose Schüchternheit hinwegzusetzen, sagte er bereits das, was zweifellos seine eigentliche Absicht gewesen war. Er riet mir, die Dichterlocken abzuschneiden, die für einen ernsthaften Mann unschicklich seien, ich solle den Schnauzbart stutzen und nicht mehr die mit Vögeln und Blumen bedruckten Hemden tragen, die nach Karneval aussähen. So etwas hatte ich am allerwenigsten erwartet, ich behielt aber zum Glück die Nerven und gab keine unverschämte Antwort. Er merkte, wie ich mich zusammennahm, und erklärte mir nun in gesalbtem Ton, dass er befürchte, diese Mode könne sich wegen meiner Fama als Dichter unter den jüngeren Mitschülern durchsetzen. Ich verließ das Rektorat, beeindruckt von der Anerkennung meines eigenen Stils und meines poetischen Talents seitens einer so hohen Instanz, und war bereit, für diesen feierlichen Akt, dem Rektor gefällig zu sein und mein Aussehen zu verändern. Als die Familie dann darum bat, von postumen Ehrungen Abstand zu nehmen, war mir, als sei ich persönlich gescheitert.
Das Ende war gruselig. Irgendjemand hatte entdeckt, dass das Glas des in der Bibliothek aufgebahrten Sarges beschlagen wirkte. Alvaro Ruiz Torres öffnete den Sarg auf Bitte der Familie und stellte fest, dass er tatsächlich innen feucht war. Als er tastend nach der Ursache des Dunstes in dem hermetisch geschlossenen Sarg suchte, drückte er mit den Fingerspitzen leicht auf die Brust des Toten, und die Leiche gab einen herzzerreißenden Klagelaut von sich. Die Familie war wie von Sinnen und glaubte, der Sohn sei noch am Leben, bis der Arzt erklärte, die Lungen hätten durch den Atemstillstand Luft zurückgehalten, die nun durch den Druck auf die Brust entwichen sei. Trotz dieser einfachen Diagnose, oder vielleicht gerade deshalb, blieb bei einigen die Angst, man habe den Jungen lebendig begraben. In dieser Stimmung fuhr ich in die Ferien des vierten Jahres, mit dem festen Vorsatz, meine Eltern dahin gehend zu erweichen, dass ich nicht mehr zur Schule müsste.
In Sucre ging ich bei einem unsichtbaren Nieselregen an Land. Die Hafenmauer erschien mir anders als in meiner Erinnerung. Die Plaza wirkte Meiner und nackter, und die Kirche und die kleine Promenade unter den gestutzten Mandelbäumen lagen im Licht der Ungeborgenheit. Die bunten Girlanden in den Straßen kündigten das Weihnachtsfest an, aber ich war nicht gerührt darüber wie sonst, erkannte auch keinen einzigen der wenigen Männer, die mit Regenschirmen am Kai warteten, bis jemand, als ich vorbeiging, mit unverwechselbarem Akzent und Tonfall sagte:
»Wie steht's?«
Es war mein Vater, etwas abgezehrt durch den Gewichtsverlust. Er hatte nicht den weißen Drillichanzug an, an dem man ihn seit seinen jungen Jahren schon von fern erkennen konnte, sondern trug eine einfache Hose, ein kurzärmeliges Tropenhemd und einen merkwürdigen Vorarbeiterhut. Mein Bruder Gustavo, der dritte Sohn, begleitete hn, und den hatte ich wegen des Wachstumsschubs im neunten Lebensjahr nicht erkannt.
Zum Glück hatte sich die Familie den Schneid der Armen bewahrt, und das frühe Abendessen schien eigens zubereitet, um mir kundzutun, dies sei mein Zuhause und es gebe kein anderes. Die gute Nachricht am Tisch war, dass meine Schwester Ligia in der Lotterie gewonnen hatte. Die Geschichte -von ihr selbst erzählt - beginnt damit, dass unsere Mutter träumte, ihr Vater habe in die Luft geschossen, um einen Dieb, den er im alten Haus von Aracataca beim Stehlen ertappt hatte, zu verjagen. Der Familiensitte entsprechend erzählte meine Mutter den Traum beim Frühstück und schlug vor, ein Lotterielos zu kaufen, das auf sieben endete, weil diese Zahl genau wie der Revolver des Großvaters geformt sei. Sie hatten kein Glück mit dem Los, das meine Mutter auf Kredit gekauft hatte, um es später mit dem Preisgeld zu bezahlen. Ligia aber, die damals elf Jahre alt war, bat Papa um dreißig Centavos, um die Schulden für die Niete zu bezahlen, und noch einmal um dreißig Centavos, um es in der Folgewoche erneut mit derselben seltsamen Nummer, 0207, zu versuchen.
Unser Bruder Luis Enrique hatte das Los verschwinden lassen, um Ligia einen Schreck einzujagen, doch sein Schreck war größer, als die Schwester am Montag drauf laut schreiend ins Haus kam, sie habe in der Lotterie gewonnen. Denn er hatte im Eifer des Streichs vergessen, wo er das Los versteckt hatte, und die ganze Familie kramte bei der verzweifelten Suche in Schränken und Koffern und stellte das Haus auf den Kopf. Noch beunruhigender war jedoch die kabbalistische Summe des Gewinns: 770 Pesos.
Die schlechte Nachricht war, dass meine Eltern sich endlich den Traum erfüllt hatten, Luis Enrique in das Erziehungsheim Fontidueno in Medellin zu schicken, nach ihrer Überzeugung eine Schule für ungehorsame Kinder und nicht das, was es tatsächlich war: ein Gefängnis zur Rehabilitation junger Verbrecher der gefährlichsten Sorte.
Den endgültigen Entschluss fasste Papa eines Tages, als er den ungebärdigen Sohn losgeschickt hatte, Schulden für die Apotheke einzutreiben, und Luis Enrique, statt Papa die acht Pesos, die man ihm ausgezahlt hatte, zu übergeben, sich davon eine hoch gestimmte Gitarre, einen Tiple, kaufte, den er meisterlich zu spielen lernte. Als mein Vater zu Hause das Instrument entdeckte, gab er keinen Kommentar dazu ab, forderte aber weiter bei dem Sohn die eingetriebenen Schulden an, dieser antwortete jedoch immer, dass die Krämerin kein Geld gehabt habe, um zu bezahlen. Es waren etwa zwei Monate vergangen, als Luis Enrique hörte, wie mein Vater sich auf dem Tiple selbst zu einem improvisierten Lied begleitete: »Schau mich an, ich spiele nun den Tiple, der acht Pesos mich gekostet hat.«
Wir haben nie erfahren, wie er dahinter gekommen war und warum er so getan hatte, als ob ihn die Gaunerei des Sohnes nichts anginge, dieser verschwand jedenfalls aus dem Haus, bis meine Mutter ihren Mann beruhigt hatte. Zu jener Zeit waren die ersten Drohungen zu hören, dass Luis Enrique ins Erziehungsheim nach Medellin käme, aber wir achteten nicht weiter darauf, denn Papa hatte auch schon angekündigt, mich aufs Priesterseminar nach Ocana zu schicken, nicht als Strafe für irgendetwas, sondern der Ehre wegen, einen Priester im Haus zu haben - ein Plan, der schneller vergessen war, als es gedauert hatte, ihn auszuhecken. Der Tiple aber hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Über die Aufnahme musste ein Jugendrichter entscheiden, doch Papa überwand die fehlenden Voraussetzungen mit Hilfe gemeinsamer Freunde und einem Empfehlungsschreiben des Erzbischofs von Medellin, Monseñor Garcia Benitez. Luis Enrique seinerseits bewies wieder einmal seine Gutmütigkeit, er ließ sich dorthin bringen, als ginge es zu einem Fest.
Ohne ihn waren die Ferien nicht dasselbe. Er hatte sich immer wie ein berufsmäßiger Musiker mit dem wunderwirkenden Schneider und meisterhaften Tiple-Spieler Filadelfo Velilla zusammengetan und natürlich auch mit Maestro Valdés. Es war alles leicht gewesen. Wenn wir von den aufreizenden Bällen der Reichen kamen, überfielen uns im Schatten des Parks heimlich kleine Horden von Lehrmädchen mit allerlei Versuchungen. Einem Mädchen, das dort vorbeikam, aber nicht dazugehörte, schlug ich in Verkennung der Tatsachen vor, sie solle mit mir kommen, sie erwiderte jedoch mit beispielhafter Logik, das könne sie nicht, weil ihr Mann daheim schliefe. Zwei Nächte später ließ sie mich aber wissen, sie werde dreimal die Woche, wenn ihr Mann nicht zu Hause sei, die Tür zur Straße unverriegelt lassen, damit ich ohne Klopfen hereinkönne.
Ich weiß noch ihren Namen und Nachnamen, habe aber beschlossen, sie wie damals Nigromanta zu nennen. Weihnachten sollte sie zwanzig werden, und sie hatte ein abessinisches Profil und elfenbeinfarbene Haut. Sie war eine freudige Bettgenossin mit steinerweichenden Orgasmen und einem Instinkt für die Liebe, der weniger einem menschlichen Wesen als einem aufgewühlten Fluss zu gehören schien. Wir fielen im Bett übereinander her und verloren schon beim ersten Mal den Verstand. Ihr Mann hatte - wie Juan Breva - den Körper eines Riesen und die Stimme eines kleinen Mädchens. Er war Polizeioffizier im Süden des Landes gewesen, und ihm hing der schlechte Ruf an, Liberale abzuknallen, nur um seine Zielsicherheit zu üben. Sie wohnten in einem Raum, der durch eine Pappwand abgeteilt war, eine Tür ging zur Straße, die andere auf den Friedhof. Die Nachbarn klagten darüber, dass sie mit dem Gejaule einer glücklichen Hündin den Frieden der Toten störe, doch je lauter sie jaulte, desto glücklicher werden die Toten über die Störung gewesen sein.
In der ersten Woche hatte ich einmal um vier Uhr früh aus dem Raum flüchten müssen, weil wir uns im Datum geirrt hatten und der Polizist jeden Augenblick auftauchen konnte. Ich stahl mich aus der Tür zum Friedhof, der erfüllt war von Irrlichtern und dem Gebell nekrophiler Hunde. An der zweiten Kanalbrücke sah ich ein Trumm von Mann auf mich zukommen, den ich erst erkannte, als er auf meiner Höhe war. Es war der Sergeant persönlich, der mich in seinem Haus angetroffen hätte, wäre ich nur fünf Minuten später aufgebrochen.
»Guten Tag, Weißer«, sagte er durchaus herzlich im Vorübergehen.
Ich erwiderte wenig überzeugend:
»Gott schütze Sie, Sergeant.«
Da blieb er stehen und bat mich um Feuer. Ich gab es ihm, rückte nah an ihn heran, um das Streichholz vor dem frühen Morgenwind zu schützen. Als er mit der brennenden Zigarette beiseite trat, meinte er gut gelaunt:
»Du riechst aber nach Nutte, mein lieber Mann.«
Der Schrecken war nicht, wie ich erwartet hatte, von langer Dauer, denn am nächsten Mittwoch schlief ich wieder bei ihr ein, und als ich die Augen öffnete, sah ich den verletzten Rivalen vor mir, der mich schweigend vom Fußende aus betrachtete. Meine Panik war so groß, dass ich kaum weiter atmen konnte. Sie, die ebenfalls nackt war, versuchte sich zwischen uns zu werfen, doch ihr Mann schob sie mit dem Revolverlauf beiseite.
»Misch dich nicht ein«, sagte er. »Bettgeschichten werden mit Blei erledigt.«
Er öffnete eine Flasche Rum, stellte sie auf den Tisch, und wir setzten uns einander gegenüber und tranken, ohne zu sprechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er vorhatte, dachte mir aber, dass er, hätte er mich töten wollen, nicht so viele Umstände machen würde. Kurz darauf erschien Nigromanta in ein Laken gehüllt, wie zu einem Fest, doch er zielte mit dem Revolver auf sie.
»Das hier ist eine Sache unter Männern.«
Sie verschwand mit einem Sprung hinter der Pappwand.
Wir hatten die erste Flasche leer getrunken, als die Sintflut hereinbrach. Daraufhin öffnete er die zweite Flasche, hielt den
Lauf gegen seine Schläfe und sah mich starr mit eisigen Augen an und drückte den Abzug ganz durch. Es erfolgte jedoch nur ein trockener Schlag. Ich konnte kaum das Zittern meiner Hand beherrschen, als er mir den Revolver reichte.
»Du bist dran«, sagte er.
Es war das erste Mal, dass ich einen Revolver in der Hand hielt, und es überraschte mich, wie schwer und wie warm er war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war von eisigem Schweiß bedeckt, und in meinem Bauch brodelte es schaumig. Ich wollte etwas sagen, aber ich brachte nichts heraus. Es kam mir nicht in den Sinn, auf ihn zu feuern, ich gab ihm den Revolver zurück, ohne zu merken, dass ich damit meine einzige Chance vertan hatte.
»Was? Hast du dich voll geschissen?«, fragte er mit glücklicher Verachtung. »Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«
Ich hätte ihm sagen können, dass auch Machos sich mal in die Hosen scheißen, aber ich merkte, dass ich keinen Mumm für fatale Scherze hatte. Dann öffnete er die Trommel des Revolvers, zog die einzige Patrone heraus und warf sie auf den Tisch: Die Hülse war leer. Ich fühlte mich nicht erleichtert, sondern entsetzlich gedemütigt.
Der Platzregen verlor gegen vier Uhr früh an Kraft. Beide waren wir so erschöpft von der Anspannung, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann er mir den Befehl gab, mich anzuziehen, und ich gehorchte geradezu feierlich wie bei einem Duell. Erst als er sich wieder hinsetzte, merkte ich, dass er derjenige war, der weinte. Schamlos und in Strömen, mit seinen Tränen prunkend. Schließlich wischte er sie mit dem Handrücken weg, schnauzte sich in die Finger und stand auf.
»Weißt du, warum du so lebendig hier rauskommst?« Und antwortete sich selbst: »Weil dein Papa mir eine alte Hundegonorrhöe kuriert hat, mit der drei Jahre lang keiner fertig geworden war.«
Er schlug mir auf die Schulter wie ein Mann und stieß mich auf die Straße. Es regnete noch immer, und das Dorf war völlig verschlammt, so dass ich, das Wasser bis zu den Knien, durch einen Bach watete und mich wunderte, noch am Leben zu sein.
Ich weiß nicht, wie meine Mutter von dem Zwischenfall erfuhr, in den nächsten Tagen startete sie jedenfalls eine hartnäckige Kampagne, um mich daran zu hindern, abends aus dem Haus zu gehen. Und sie behandelte mich so, wie sie Papa behandelt hätte, mit Ablenkungsmanövern, die nicht viel nützten. Sie suchte nach Hinweisen, dass ich mich außer Hauses entkleidet hatte, entdeckte Parfümspuren, wo es keine gab, bereitete mir schwere Mahlzeiten, bevor ich ausging, weil sie dem Volksaberglauben anhing, dass weder ihr Mann noch ihre Söhne es wagen würden, sich in der Benommenheit des Verdauens der Liebe hinzugeben. Als sie schließlich eines Abends keinen Vorwand mehr hatte, mich zurückzuhalten, setzte sie sich vor mich hm und sagte:
»Man sagt, du hättest dich mit der Frau eines Polizisten eingelassen und dass er geschworen hat, dir eine Kugel zu verpassen.«
Es gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass das nicht stimmte, doch das Gerücht hielt sich. Die Wahrheit war, dass Nigromanta mir damals Nachrichten schickte, sie sei allein, ihr Mann sei auf Dienstreise, sie habe ihn seit langem aus den Augen verloren. In Wirklichkeit aber tauchte er an ungeahnten Orten auf. Ich tat immer mein Möglichstes, ihm nicht zu begegnen, er aber war stets darauf aus, mich aus der Ferne zu begrüßen, mit einem Zeichen, das ebenso Versöhnung wie Drohung bedeuten konnte. In den Ferien des darauf folgenden Schuljahrs sah ich ihn zjm letzten Mal bei einer Fandangonacht, in der er mir ein Glas einfachen Rum anbot, das ich nicht zurückzuweisen wagte.
Ich weiß nicht, durch welch illusionistischen Trick die Lehrer und Mitschüler, die mich immer für einen eher schüchternen Schüler gehalten hatten, mich im fünften Schuljahr als poète maudit zu sehen begannen, als Erben der lockeren Atmosphäre, die in der Zeit von Carlos Martín geherrscht hatte. War vielleicht der Wunsch, diesem Bild zu entsprechen, der Grund dafür, fünfzehnjährig an der Schule mit dem Rauchen zu beginnen? Der erste Versuch endete fürchterlich. Ich lag die halbe Nacht sterbenselend auf dem Badezimmerboden in meiner Kotze und begann völlig erschöpft den Tag, doch der Tabakkater weckte keinen Widerwillen in mir, sondern vielmehr die unwiderstehliche Lust weiterzurauchen. So begann mein Leben als eingefleischter Raucher, und es nahm so extreme Formen an, dass ich eine Zigarette an der anderen anzündete und keinen Satz denken konnte, wenn der Mund nicht voll Rauch war. Bei einem Interview habe ich einmal gesagt, ich würde lieber sterben als aufhören zu rauchen, und es kam mir aus der Seele. Im Liceo war Rauchen nur in den Pausen erlaubt, doch ich bat zwei-, dreimal in der Stunde, zum Abort gehen zu dürfen, nur um das Verlangen nach einer Zigarette zu stillen. So brachte ich es auf drei Päckchen a 20 Zigaretten pro Tag, und es konnten auch vier werden, wenn es nachts hoch herging. Als ich bereits die Schule beendet hatte, gab es eine Zeit, in der mich mein ausgetrockneter Hals und die schmerzenden Knochen fast verrückt machten. Ich beschloss, mit dem Rauchen aufzuhören, hielt es aber nicht länger als zwei Tage durch, so groß war das Verlangen.
Vielleicht war das Bild, das man sich von mir machte, auch dafür verantwortlich, dass ich eine lockere Hand für die Prosa bei den immer kühneren Aufgaben bekam, die mir Lehrer Calderon stellte, auch dank der literaturtheoretischen Bücher, die zu lesen er mich fast zwang. Wenn ich heute mein Leben Revue passieren lasse, erinnere ich mich, dass ich trotz der vielen Bücher, die ich seit meiner ersten staunenden Lektüre von Tausendundeine Nacht gelesen hatte, vom Erzählen eine reichlich naive Vorstellung hatte. Ich war so kühn zu glauben, dass die Wunder, von denen Scheherezade erzählt, zu ihrer Zeit wirklich im Alltag geschehen sind und nur wegen der Ungläubigkeit und des feigen Realismus der nachfolgenden Generationen nicht mehr geschehen. Aus eben dem Grund schien es mir unmöglich, dass jemand aus unserer Zeit wieder glauben könnte, dass man an Bord eines Teppichs über Städte und Berge fliegt oder dass ein Sklave aus Cartagena de Indias als Strafe zweihundert Jahre in einer Flasche verbringt, es sei denn, dem Autor der Geschichte gelänge es, dies seinen Lesern glaubhaft zu machen.
Mich langweilte der Unterricht, abgesehen von den Literaturstunden, in denen ich Texte auswendig lernte und eine besondere Rolle spielte. Das Pauken langweilte mich, und ich überließ alles dem Glück. Ich hatte einen eigenen Instinkt für die heiklen Punkte jedes Faches und erriet mehr oder weniger, was die Lehrer am meisten interessierte, um dann den Rest nicht zu lernen. In Wirklichkeit verstand ich nicht, warum ich Zeit und Geist auf Fächer verschwenden sollte, die mich nicht bewegten und mir deshalb in einem Leben, das nicht das meine war, überhaupt nicht nützen würden.
Ich war so verwegen zu denken, dass die meisten Lehrer mich eher nach meiner persönlichen Art als nach meinen Prüfungen benoteten. Meine unvorhergesehenen Antworten, meine abwegigen Einfalle und meine irrationalen Erfindungen retteten mich. Als aber das fünfte Jahr mit Schrecken zu Ende ging und ich mich nicht mehr in der Lage sah, meine Wissenslücken zu stopfen, wurden mir meine Grenzen bewusst. Die Oberschule war mir bis dahin ein mit Wundern gepflasterter Weg gewesen, doch mein Herz warnte mich, dass sich im letzten Schuljahr eine unüberwindbare Mauer vor mir auftürmen würde. Die ungeschminkte Wahrheit war, dass es mir damals bereits an Willen, an Berufung, an Ordnung, an Geld und an Orthografie mangelte, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Besser gesagt: Die Jahre flogen dahin, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, und es verging noch viel Zeit, bis mir klar wurde, dass auch dieser Zustand der Niederlage förderlich war, denn es gibt nichts in dieser oder einer anderen Welt, das einem Schriftsteller nicht nützlich sein kann.
Dem Land ging es nicht besser. In die Enge getrieben von der scharfen Opposition der konservativen Reaktion, dankte Präsident Alfonso López Pumarejo am 31. Juli 1945 ab. Sein Nachfolger war Alberto Lleras Camargo, vom Kongress designiert, das letzte Jahr der Amtsperiode zu Ende zu führen. Schon in seiner Antrittsrede, die er mit sedierender Stimme in seiner stilsicheren Prosa hielt, ging Lleras die illusorische Aufgabe an, die Gemüter im Lande bis zur Wahl eines neuen Amtsinhabers zu beruhigen.
Durch die Vermittlung von Monseñor López Lleras, einem Vetter des neuen Präsidenten, wurde dem Rektor des Liceo eine Sonderaudienz gewährt, auf der er um Unterstützung der Regierung für eine Studienfahrt an die Atlantikküste bitten wollte. Ich weiß auch nicht, warum der Rektor mich ausersah, ihn zu begleiten, vorausgesetzt, dass ich meine zerzauste Mähne und den wilden Schnauzbart etwas in Ordnung brächte. Die anderen Erwählten waren Guillermo López Guerra, der mit dem Präsidenten bekannt war, und Álvaro Ruiz Torres, ein Neffe von Laura Victoria, einer berühmten Dichterin kühner Verse aus der Generation der Los Nuevos, zu der Lleras Camargo gehörte. Ich hatte keine Alternative: Am Samstagabend, während Guillermo Granados im Schlafsaal einen Roman vorlas, der nichts mit meinem Fall zu tun hatte, verpasste mir ein Schüler der dritten Klasse und ehemaliger Friseurlehrling einen Rekrutenschnitt und schnitzte mir einen Tangoschnurrbart. Den Rest der Woche über ertrug ich das Gehänsel von Internen und Externen über meinen neuen Stil. Der bloße Gedanke, das Präsidentenpalais zu betreten, ließ mir das Blut gefrieren, aber das war eine Fehlmeldung des Herzens, denn der einzige Hinweis auf die Mysterien der Macht, den wir dort erhielten, war ein himmlisches Schweigen. Nach einer kurzen Wartezeit in einem mit Gobelins und Atlasvorhängen ausgestatteten Vorzimmer führte uns ein Soldat in Uniform in das Büro des Präsidenten.
Lleras Camargo sah seinen Porträts außergewöhnlich ähnlich. Ich war beeindruckt von seinen dreieckigen Schultern in einem makellosen Anzug aus englischem Gabardine, den vorstehenden Backenknochen, seiner pergamentenen Blässe, den Zähnen eines übermütigen Kindes, die das Entzücken der Karikaturisten waren, den langsamen Gebärden sowie seiner An, die Hand zu geben und einem dabei direkt in die Augen zu blicken. Ich weiß nicht, was für eine Vorstellung ich von Präsidenten hatte, ich meinte jedenfalls, dass nicht alle so waren wie er. Mit der Zeit, als ich ihn schon gut kannte, wurde mir klar, es würde ihm selbst wohl nie bewusst werden, dass er vor allem ein verhinderter Schriftsteller war.
Nachdem er die Worte des Rektors mit übertriebener Aufmerksamkeit angehört hatte, machte er ein paar Bemerkungen zur Sache, traf aber keine Entscheidung, bevor er nicht die drei Schüler angehört hatte. Das tat er mit der gleichen Aufmerksamkeit, und wir waren geschmeichelt, ebenso respektvoll und freundlich wie der Rektor behandelt zu werden. Die letzten zwei Minuten genügten, um zu der Gewissheit zu gelangen, dass er mehr von der Poesie als von der Flussschifffahrt verstand und dass Erstere ihn zweifellos mehr interessierte.
Er gewährte uns alles, worum wir gebeten hatten, und versprach außerdem, zur Feier des Jahresabschlusses in vier Monaten ins Liceo zu kommen. Das tat er dann auch, als handele es sich um einen wichtigen Staatsakt, und lachte am meisten von allen über die derbe Komödie, die wir ihm zu Ehren aufführten. Beim abschließenden Empfang amüsierte er sich wie ein Schüler unter Schülern, schlüpfte aus seiner Rolle und konnte es sich nicht verkneifen, dem, der die Gläser verteilte, bübisch ein Bein zu stellen, so dass dieser nur gerade noch ausweichen konnte.
Noch feierlich gestimmt von der Versetzung in die Abiturklasse fuhr ich in die Ferien heim, und die erste glückliche Nachricht war, dass mein Bruder Luis Enrique nach einem Jahr und sechs Monaten in Fontidueno, dem Erziehungsheim von Medellin, nach Hause zurückgekehrt war. Wieder einmal staunte ich über seine Gutmütigkeit. Ertrug keinem in irgendeiner Weise diese Strafe nach und erzählte mit unschlagbarem Humor von unglücklichen Begebenheiten. Bei seinen Grübeleien als Sträfling war er zu dem Schluss gekommen, dass unsere Eltern ihn guten Glaubens interniert hatten. Die bischöfliche Protektion hatte ihn allerdings nicht vor den harten Prüfungen des Gefängnisalltags geschützt, die ihn aber nicht verdorben, sondern seinen Charakter und seinen ausgeprägten Sinn für Humor bereichert hatten.
Nach der Rückkehr trat er seine erste Stelle als Sekretär im Gemeindeamt von Sucre an. Der Bürgermeister bekam kurz darauf plötzlich Magenbeschwerden, und man verordnete ihm ein Zaubermittel, das gerade neu auf den Markt gekommen war: Alkaseltzer. Der Bürgermeister löste es nicht in Wasser auf, sondern schluckte es wie eine konventionelle Pille, und wie durch ein Wunder erstickte er nicht an dem unaufhaltsamen Sprudeln im Magen. Da ihm der Schrecken noch in den Gliedern saß, verordnete er sich ein paar Tage Ruhe, hatte aber politische Gründe, keinen seiner rechtmäßigen Stellvertreter, sondern meinen Bruder in der Zwischenzeit mit dem Amt zu betrauen. Durch diesen merkwürdigen Zufall ging Luis Enrique - fünfzehnjährig, also weit unter dem vorgeschriebenen Alter - als jüngster Bürgermeister in die Stadtgeschichte ein.
Das Einzige, was mich in diesen Ferien wirklich verstörte, war die Gewissheit, dass die Familie tief innerlich ihre Zukunft auf das baute, was sie von mir erwartete, und ich als Einziger wusste, dass es sich um vergebliche Hoffnungen handelte. Zwei oder drei beiläufige Sätze meines Vaters beim Essen deuteten an, dass es viel über unser gemeinsames Schicksal zu reden gab, und meine Mutter beeilte sich, das zu bestätigen. »Wenn das so weitergeht«, sagte sie, »müssen wir früher oder später zurück nach Cataca.«
Doch ein schneller Blick meines Vaters veranlasste sie, sich zu korrigieren:
»Oder sonst wohin.«
Damit war klar, die Möglichkeit eines abermaligen Umzugs war in der Familie bereits ein Thema, und nicht aus Gründen der sittlichen Verhältnisse am Ort, sondern weil sie den Kindern breitere Möglichkeiten für die Zukunft bieten wollten. Bis zu dem Moment hatte ich mich damit getröstet, die Stadt, ihre Bewohner und sogar meine Familie für das Gefühl des Scheiterns, an dem ich selbst litt, verantwortlich zu machen. Doch die dramatische Art meines Vaters offenbarte einmal mehr, dass es immer möglich ist, einen Schuldigen zu finden, um nicht selbst als solcher dazustehen.
Meinem Empfinden nach lag noch etwas Ernsteres in der Luft. Meine Mutter schien nur mit der Gesundheit des jüngsten Sohnes Jaime beschäftigt, der sich in fast zwei Jahren nicht von den Gefährdungen eines Sechsmonatskinds erholt hatte. Matt von der Traurigkeit und der demütigenden Hitze verbrachte sie die meiste Zeit mit ihm in ihrer Hängematte im Schlafzimmer, und das Haus begann ihre Nachlässigkeit übel zu nehmen. Meine Geschwister wirkten durchgedreht. Die Ordnung der Mahlzeiten hatte sich derart gelockert, dass alle irgendwann, wenn sie gerade Hunger hatten, aßen. Mein Vater, der häuslichste der Ehemänner, verbrachte die Tage auf die Plaza starrend in der Apotheke und die Abende mit zwanghaften Partien im Billardklub. Eines Tages konnte ich die angespannte Atmosphäre nicht mehr aushaken. Ich legte mich zu meiner Mutter in die Hängematte, wie ich es als Kind nicht gekonnt hatte, und fragte sie, was für ein Geheimnis denn die Luft schwängere. Sie schluckte einen Seufzer hinunter, damit ihr die Stimme nicht zitterte, und öffnete mir ihr Herz:
»Dein Vater hat ein Kind auf der Straße.«
An der Erleichterung, die ich in ihrer Stimme wahrnahm, konnte ich die Unruhe ermessen, mit der sie auf meine Frage gewartet hatte. Mit der Hellsicht der Eifersucht war sie der Wahrheit auf die Spur gekommen, als ein Mädchen, das im Haushalt aushalf, aufgeregt mit der Nachricht heimgekommen war, sie habe Papa im Telegrafenamt telefonieren sehen. Mehr brauchte eine eifersüchtige Frau nicht zu wissen. Es war das einzige Telefon der Stadt und nur für Ferngespräche, die man im Voraus anmelden musste; die Wartezeiten waren lang und die Minuten derart teuer, dass man nur in äußersten Notfällen telefonierte. Jedes Telefonat, so harmlos es auch sein mochte, alarmierte die Gemeinschaft um die Plaza und sorgte für boshafte Vermutungen. Als Papa also heimkam, belauerte sie ihn, ohne etwas zu sagen, bis er einen Zettel, den er in der Tasche gehabt hatte, zerriss. Ein Gerichtsbescheid. Meine Mutter wartete eine günstige Gelegenheit ab und fragte ihn dann ohne Umschweife, mit wem er telefoniert habe. Die Frage war so verräterisch, dass er auf die Schnelle keine glaubhaftere Antwort als die Wahrheit fand:
»Mit einem Rechtsanwalt.«
»Das weiß ich bereits«, sagte meine Mutter. »Ich möchte aber, dass du es mir selbst erzählst, und zwar mit der Offenheit, die ich verdiene.«
Meine Mutter gestand mir später, ihr habe es daraufhin plötzlich gegraut vor dem womöglich fauligen Inhalt des Topfs, den sie da aufgedeckt hatte, denn wenn Papa wagte, ihr die Wahrheit zu sagen, musste er annehmen, dass sie schon alles wusste. Oder dass ihm nichts anderes übrig blieb, als es ihr zu erzählen.
Das tat er dann. Er habe den Bescheid über eine Anklage erhalten, der zurfolge er in seiner Praxis eine mit einer Morphiumspritze betäubte Kranke missbraucht habe, erzählte Papa. Der Vorfall hatte sich angeblich in einer abgelegenen Gemeinde ereignet, wo er zuweilen mittellose Kranke behandelte. Und sogleich stellte er seine Ehrlichkeit unter Beweis: Das Melodram der Betäubung und Vergewaltigung sei eine kriminelle Erfindung seiner Feinde, doch das Kind sei von ihm und unter normalen Umständen gezeugt.
Es war nicht leicht für meine Mutter, einen Skandal zu vermeiden, da eine gewichtige Persönlichkeit im Hintergrund die Fäden der Verschwörung zog. Es gab die Präzedenzfälle Abelardo und Carmen Rosa, die gelegentlich mit dem liebevollen Einverständnis aller bei uns gewohnt hatten, beide aber waren vor der Hochzeit unserer Eltern geboren. Dieser neue Sohn und die Untreue des Gatten waren eine bittere Pille für meine Mutter, doch sie überwand ihren Groll und kämpfte mit offenem Visier an der
Seite ihres Mannes, bis die Verleumdung von der Vergewaltigung widerlegt war.
Der Friede kehrte wieder in die Familie ein. Kurz darauf kamen jedoch vertrauliche Hinweise aus der gleichen Region über ein kleines Mädchen von einer anderen Mutter, das Papa als Tochter anerkannt hatte und das in erbärmlichen Umständen lebte. Meine Mutter verlor keine Zeit mit Prozessen und Nachforschungen, sondern kämpfte darum, das Kind aufzunehmen. »Mina hat das Gleiche mit all den verstreuten Kindern meines Vaters gemacht, und sie hat es nie bereut«, sagte sie bei dieser Gelegenheit. So erreichte sie auf eigene Faust und ohne großes Aufsehen, dass ihr das Mädchen geschickt wurde, und sie mengte es einfach unter die bereits kinderreiche Familie.
Das alles gehörte bereits der Vergangenheit an, als mein Bruder Jaime auf einem Fest in einem anderen Ort auf einen Jungen traf, der genau wie unser Bruder Gustavo aussah. Es war der Sohn, wegen dem der Prozess geführt worden war, und seine Mutter hatte ihn gut großgezogen und verhätschelt. Doch die unsere unternahm allerlei Schritte und holte ihn zu uns ins Haus - wo schon elf Kinder waren - und unterstützte ihn dabei, ein Handwerk zu erlernen und seinen Weg im Leben zu finden. Ich konnte meine Verwunderung darüber nicht verhehlen, dass eine Frau von halluzinierender Eifersucht zu solchen Handlungen fähig war, und sie selbst antwortete mir mit einem Satz, den ich wie einen Diamanten aufbewahre:
»Ich dulde nicht, dass das Blut meiner Kinder sich irgendwo herumtreibt.«
Meine Geschwister sah ich nur einmal im Jahr in den Ferien. Bei jedem Besuch wurde es für mich schwieriger, sie wiederzuerkennen und ein neues Kind im Gedächtnis zu behalten. Außer dem Taufnamen hatten wir alle noch einen anderen, den die Familie uns einfachheitshalber gab, und das war kein Diminutiv, sondern ein zufälliger Spitzname. Mich haben sie schon bei der Geburt Gabito - ein unregelmäßiger Diminutiv von Gabriel -genannt, und mir war immer so, als sei das mein Vorname und Gabriel die Verkleinerung. Einmal fragte uns jemand, der über diesen willkürlichen Heiligenkalender überrascht war, warum die
Eltern nicht vorgezogen hätten, all ihre Kinder gleich auf den Spitznamen zu taufen.
Die Großzügigkeit meiner Mutter in manchen Dingen stand im Gegensatz zu ihrer Haltung den zwei älteren Schwestern gegenüber. Mit Margot und Aida war sie ebenso streng wie ihre Mutter es wegen der hartnäckigen Liebe zu meinem Vater mit ihr selbst gewesen war. Sie wollte sogar an einen anderen Ort ziehen. Papa dagegen, dem man so etwas nicht zweimal sagen musste, damit er die Koffer packte und durch die Welt zog, zeigte sich diesmal unzugänglich. Es vergingen mehrere Tage, bis ich erfuhr, dass das Problem die Liebesbeziehung der zwei älteren Töchter zu zwei unterschiedlichen Männern war, die jedoch denselben Namen hatten: Rafael. Als die Eltern mir davon erzählten, musste ich das Lachen unterdrücken, dachte ich doch an den Schauerroman, den Papa und Mama durchlebt hatten, und ich sagte das meiner Mutter.
»Das ist nicht dasselbe«, meinte sie.
»Das ist dasselbe«, insistierte ich.
»Na gut«, räumte sie ein, »es ist das Gleiche, aber gleich zweimal zur gleichen Zeit.«
So wie einst bei ihr zählten auch jetzt weder Gründe noch Absichten. Es wurde nie bekannt, wie die Eltern davon erfahren hatten, weil beide Schwestern unabhängig voneinander Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatten, um nicht entdeckt zu werden. Doch plötzlich tauchten Zeugen auf, an die man nicht gedacht hatte, weil sich die Mädchen manchmal von ihren jüngeren Geschwistern hatten begleiten lassen, damit diese ihre Unschuld bezeugen konnten. Überraschend war, dass auch Papa bei dieser Hatz mitmachte, nicht direkt, aber durch eben den passiven Widerstand, den mein Großvater Nicolás seiner Tochter entgegengesetzt hatte.
»Wenn wir auf einen Ball gingen, tauchte mein Vater dort auf und schickte uns wieder heim, wenn er entdeckte, dass die beiden Rafaels auch da waren«, hat Aida Rosa in einem Zeitungsinterview erzählt. Man erlaubte ihnen keinen Ausflug aufs Land und keinen Kinobesuch oder schickte jemanden mit, der sie nicht aus den Augen ließ. Jede für sich dachte sich sinnlose Vorwände aus, um Rendezvous einhalten zu können, doch schon tauchte ein unsichtbarer Geist auf, der sie verpetzte. Ligia, die jünger war, erwarb sich den schlechten Ruf einer Spionin und Verräterin, doch sie entschuldigte sich mit dem Argument, dass die Eifersucht unter Geschwistern eine andere Form der Liebe sei.
In jenen Ferien versuchte ich, auf meine Eltern einzuwirken, damit sie nicht die Fehler wiederholten, die meine Großeltern bei meiner Mutter gemacht hatten, doch sie fanden immer seltsame Gründe, mich nicht verstehen zu müssen. Am meisten wurden die Schmähschriften gefürchtet, die schreckliche Geheimnisse -tatsächliche oder erfundene - aufdeckten. Da wurden verborgene Vaterschaften, beschämende Ehebrüche, sexuelle Abartigkeiten enthüllt, die irgendwie allgemein bekannt waren, wenn auch über kompliziertere Wege als Schmähschriften. Aber es tauchte nie eine Schrift auf, die etwas denunzierte, das man, so geheim es auch gehalten wurde, nicht irgendwie wusste oder das früher oder später geschehen musste. »Die Schmähschriften macht man selbst«, sagte eines der Opfer.
Was meine Eltern nicht vorausgesehen hatten, war, dass die Töchter sich mit eben den Mitteln wehren würden, die sie selbst benutzt hatten. Margot schickten sie auf die Schule nach Montería, und Aida ging auf eigenen Entschluss nach Santa Marta. Sie waren im Internat, und an den freien Tagen war für jemanden gesorgt, der sie begleiten sollte, doch die Mädchen bekamen es immer irgendwie hin, mit den fernen Rafaels in Verbindung zu bleiben. Dennoch hat meine Mutter das geschafft, was ihre Eltern bei ihr nicht geschafft hatten. Aida hat ihr halbes Leben in einem Kloster verbracht und lebte dort ohne Wonne oder Leid, bis sie sich vor den Männern sicher fühlte. Margot und ich sind immer durch die Erinnerungen an unsere gemeinsame Kindheit verbunden geblieben, als ich die Erwachsenen im Auge behalten musste, damit Margot nicht dabei ertappt wurde, wie sie Erde aß. Schließlich wurde sie zu einer Mutter für alle, insbesondere für meinen Bruder Alfredo - Cuqui -, der sie am meisten brauchte und den sie bis zu seinem letzten Atemzug bei sich hatte.
Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr die schlechte Gemütsverfassung meiner Mutter und die Spannungen zu Hause den tödlichen Widersprüchen im Land, die nicht ausgelebt wurden, aber dennoch existent waren, entsprachen. Präsident Lleras sollte im neuen Jahr Wahlen ausrufen, und die Zukunft sah trübe aus. Die
Konservativen, denen es gelungen war, López Pumarejo zu stürzen, spielten mit seinem Nachfolger ein doppeltes Spiel: Sie schmeichelten ihm wegen seiner mathematisch genauen Unparteilichkeit, schürten jedoch die Zwietracht in der Provinz, in der Hoffnung, die Macht zurückzuerobern - durch Vernunft oder Gewalt.
Sucre war der violencia gegenüber immun geblieben, und die wenigen bekannt gewordenen Fälle hatten nichts mit Politik zu tun. Da war einmal der Mord an Joaquín Vega, einem gefragten Musiker, der in der Kapelle des Orts die Basstuba spielte. Es war bei einem Auftritt um sieben Uhr abends vor dem Kinoeingang, als ein feindseliger Verwandter dem kraftvoll Musizierenden einen einzigen Schnitt in die geblähte Kehle verpasste und Vega dann am Boden verblutete. Täter und Opfer waren im Ort sehr beliebt und die einzige und unbestätigte Erklärung für den Vorfall war beleidigte Ehre. Zur selben Stunde wurde gerade der Geburtstag meiner Schwester Rita gefeiert, und die böse Nachricht zerstörte das Fest, das viele Stunden dauern sollte.
Ein anderer, weit zurückliegender, aber unauslöschlich im Gedächtnis der Stadt eingegrabener Fall war das Duell zwischen Plinio Balmaceda und Dionisiano Barrios. Ersterer kam aus einer alten und angesehenen Familie und war selbst ein riesiger, hinreißender Mann, zugleich aber streitsüchtig und ungenießbar, wenn Alkohol im Spiel war. War er bei klarem Verstand, zeichneten ihn die Haltung und der Geist eines Caballeros aus, wenn er aber über den Durst getrunken hatte, verwandelte er sich in einen Raufbold mit locker sitzendem Revolver und einer Reitpeitsche im Gürtel, mit der er diejenigen, die ihm missfielen, züchtigte. Die Polizei versuchte ihn dann von allen fern zu halten. Und in seiner guten Familie wurde man es müde, ihn jedes Mal, wenn er zu viel getrunken hatte, heimzuschleifen, und überließ ihn seinem Schicksal.
Dionisiano Barrios war das ganze Gegenteil: schüchtern und mickrig, war er jedem Streit abgeneigt und von Geburt an abstinent. Er hatte noch nie mit jemandem Schwierigkeiten gehabt, bis Plinio Balmaceda ihn zu provozieren begann, indem er sich auf gemeine Weise über seine Mickrigkeit lustig machte. Dionisiano versuchte, ihm auszuweichen, bis zu dem Tage, als er Balmaceda begegnete und dieser ihm die Peitsche übers Gesicht zog, weil ihm gerade so zu Mute war. Woraufhin Dionisio seine Schüchternheit, seinen Buckel und sein Pech vergaß und den Beleidiger auf eine saubere Kugel forderte. Das Duell fand sofort statt, beide wurden schwer verwundet, doch nur Dionisiano starb.
Bei dem historischen Duell von Sucre starben dann aber fast gleichzeitig eben dieser Plinio Balmaceda und Tasio Ananías, ein Polizeisergeant, der für seine propre Erscheinung berühmt und ein vorbildlicher Sohn von Mauricia Ananías war, zudem die Trommel in derselben Kapelle rührte, in der Joaquín Vega die Basstuba gespielt hatte. Es war ein förmliches Duell, das mitten auf der Straße ausgetragen wurde, bei dem beide schwer verletzt wurden und dann jeweils daheim einen langen Todeskampf ausfochten. Plinio war schnell wieder bei Bewusstsein und seine erste Sorge war, wie es Ananías ging. Dieser war seinerseits erschüttert über die Besorgnis, mit der Plinio um sein Leben betete. Beide flehten dann Gott an, den anderen nicht sterben zu lassen, und ihre Familien hielten sie auf dem Laufenden, solange ihr Herz schlug. Der ganze Ort lebte in Spannung, und es gab vielerlei Bemühungen, beider Leben zu verlängern.
Nach achtundvierzig Stunden Agonie schlugen in der Kirche die Totenglocken für eine Frau, die gerade verstorben war. Die beiden Sterbenden hörten es, und jeder dachte in seinem Bett, dass die Glocken für den Kontrahenten schlügen. Ananías beweinte Plinios Tod und starb fast augenblicklich. Plinio erfuhr davon und starb zwei Tage später, in Tränen aufgelöst über den Sergeanten Ananías.
In einer Ortschaft friedlicher Freunde wie Sucre äußerte sich die violencia weniger tödlich, aber nicht minder schädlich: durch besagte Schmähschriften. Die Angst war in die Häuser der vornehmen Familien eingezogen, die auf den nächsten Morgen wie auf eine Schicksalslotterie warteten. Dort, wo man am wenigsten damit rechnete, tauchte ein Strafzettelchen auf, das Erleichterung brachte, wenn es einen nicht selbst betraf, und das manchmal sogar heimlich gefeiert wurde, wegen dem, was es über andere sagte. Mein Vater, der wohl friedlichste Mann, den ich gekannt habe, ölte seinen ehrwürdigen Revolver, den er nie abgefeuert hatte, und machte sich im Billardsalon Luft.
»Wem es einfällt, eine meiner Töchter anzuschwärzen«, schrie er, »bekommt eine kräftige Kugel verpasst.«
Mehrere Familien wählten den Exodus aus Furcht, dass die Schmähschriften Vorboten der Polizeigewalt waren, die im Inneren des Landes ganze Dörfer verheerte, um die Opposition einzuschüchtern.
Die Anspannung wurde zu einer anderen Art von täglichem Brot. Zunächst organisierte man heimliche Zusammenkünfte, weniger um die Verfasser der Schmähschriften aufzuspüren, sondern mehr um zu wissen, was auf den Zetteln stand, bevor man sie bei Tagesanbruch vernichtete. Als ich einmal mit ein paar anderen Nachtschwärmern um drei Uhr morgens unterwegs war, sahen wir einen städtischen Beamten, der vor seiner Haustür frische Luft schnappte, in Wirklichkeit aber denen auflauerte, die Schmähschriften anbrachten. Mein Bruder sagte zu ihm, halb im Scherz, halb im Ernst, einige davon enthielten immerhin Wahres. Der Mann zog den Revolver, spannte ihn und zielte auf meinen Bruder:
»Sag das noch einmal!«
Da erfuhren wir, dass in der vergangenen Nacht eine wahrheitsgetreue Schmähschrift gegen seine ledige Tochter aufgehängt worden war. Doch die Fakten waren allgemein bekannt, auch in seiner Familie, nur der Vater wusste nichts davon. Am Anfang war offensichtlich, dass die Schmähschriften von ein und derselben Person geschrieben waren, mit demselben Pinsel auf das gleiche Papier, doch in einem kleinen Zentrum wie dem bei der Plaza kam nur ein Laden in Frage, wo man so etwas kaufen konnte, und der Besitzer beeilte sich, seine Unschuld nachzuweisen. Seitdem war mir klar, dass ich einmal einen Roman darüber schreiben würde, nicht wegen des Inhalts der Schmähschriften, denn dabei handelte es sich fast immer um weithin bekannte Gerüchte, sondern wegen der unerträglichen Anspannung, in die diese Zettel die Leute versetzten.
Zwanzig Jahre später schrieb ich Die böse Stunde, meinen dritten Roman, und es schien mir eine Frage des schlichten Anstands, keine konkret identifizierbaren Fälle zu verwenden, auch wenn einige der wirklichen Zettel die von mir erfundenen übertrafen. Die tatsächlichen Fälle zu nennen wäre im Übrigen auch nicht nötig gewesen, denn mich hat das soziale Phänomen immer mehr interessiert als das Privatleben der Opfer. Erst nach der Veröffentlichung des Buchs erfuhr ich, dass in den armen Außenvierteln, wo wir Bewohner der Plaza Mayor nicht beliebt waren, viele der Schmähschriften mit kleinen Festen begangen wurden. In Wahrheit haben mir die Schmähschriften nur als Ausgangspunkt für eine Handlung gedient, die zu konkretisieren mir nicht gelungen ist, da gerade das, was ich schrieb, bewies, dass es eigentlich um ein politisches Problem ging und nicht um ein moralisches, wie man glaubte. Ich kam auf den Gedanken, dass der Mann von Nigromanta ein gutes Vorbild für den Offizier war, der in Die böse Stunde als Bürgermeister fungiert, doch während ich die Figur entwickelte, begann er mich als Mensch zu faszinieren, und ich hatte keinen Grund mehr, ihn zu töten, denn ich entdeckte, dass ein ernsthafter Schriftsteller nicht eine seiner Figuren töten kann, wenn er nicht einen überzeugenden Grund dafür hat, und das war hier nicht der Fall.
Heute wird mir bewusst, dass der Roman auch hätte anders werden können. Ich schrieb ihn in einer Studentenpension in der Rue Cujas, im Pariser Quartier Latin, hundert Meter vom Boulevard Saint Michel entfernt, indes die Tage in Erwartung eines Schecks, der nie ankam, erbarmungslos vergingen. Als ich meinte, der Roman sei fertig, rollte ich die Seiten zusammen, band sie mit einer der drei Krawatten zusammen, die ich in besseren Zeiten mitgebracht hatte, und begrub die Rolle tief im Kleiderschrank.
Zwei Jahre später, als ich in unseren Hungerzeiten in Mexiko Stadt aufgefordert wurde, den Roman bei einem mit dreitausend Dollar dotierten Wettbewerb der kolumbianischen Esso einzureichen, wusste ich zunächst nicht einmal, wo das Manuskript geblieben war. Als Bote trat Guillermo Angulo auf, ein alter kolumbianischer Freund, der von der Existenz des Romans schon seit seiner Entstehungszeit in Paris wusste. Er nahm die Rolle, so wie sie war, noch mit der Krawatte zusammengebunden, und es reichte nicht einmal die Zeit, die Seiten unter Dampf glatt zu bügeln, weil die Frist ablief. Also reichte ich den Roman ein, ohne jede Hoffnung auf den Preis, mit dem man ein Haus hätte kaufen können. Doch in eben dem Zustand, in dem die illustre Jury ihn bekam, wurde er am 16. April 1962 zum Sieger des Wettbewerbs erklärt, fast zur selben Stunde, in der Gonzalo, unser zweiter Sohn, gewissermaßen mit einem Brot unter dem Arm, geboren wurde.
Wir hatten noch nicht einmal Zeit gehabt, uns an das Glück zu gewöhnen, als ich einen Brief von Pater Felix Restrepo, dem Präsidenten der kolumbianischen Akademie für Sprache, bekam. Der rechtschaffene Mann hatte der Jury vorgesessen, kannte aber den Titel des Romans nicht. Erst da bemerkte ich, dass ich in der Hast vergessen hatte, ihn auf die erste Seite zu schreiben: Dieses Scheißdorf.
Pater Restrepo war entsetzt und bat mich über Germán Vargas auf das Höflichste, den Titel doch durch einen zu ersetzen, der weniger brutal war und eher der Atmosphäre des Buchs entsprach. Nachdem ich mich mehrmals mit ihm ausgetauscht hatte, entschied ich mich für einen Titel, der vielleicht nicht viel über das Drama aussagte, unter dessen Flagge der Roman jedoch die Meere der Bigotterie befahren konnte: Die böse Stunde.
Eine Woche später ließ mich Dr. Carlos Arango Vélez, kolumbianischer Botschafter in Mexiko und Präsidentschaftskandidat, in sein Büro kommen, um mir mitzuteilen, dass Pater Restrepo mich flehentlich darum bitte, zwei Wörter auszutauschen, die in einem prämierten Text unvertretbar seien: »Präservativ« und »Masturbation«. Weder der Botschafter noch ich konnten unser Befremden verhehlen, waren uns aber darüber einig, dass man Pater Restrepo den Gefallen tun müsse, um den endlosen Wettbewerb mit einer gelassenen Lösung glücklich zu Ende bringen.
»Gut, Herr Botschafter«, sagte ich. »Ich werde eines der beiden Wörter streichen, aber Sie werden freundlicherweise entscheiden, welches.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung strich der Botschafter »Masturbation«. Der Konflikt war damit beigelegt, und das Buch wurde vom Verlag Iberoamericana in Madrid in hoher Auflage publiziert und groß herausgebracht. Es war in Leder gebunden und auf sehr gutem Papier tadellos gedruckt. Das Flitterwochengefühl war jedoch nur von kurzer Dauer, weil ich nicht der Versuchung widerstehen konnte, darin herumzustöbern, wobei ich entdeckte, dass der Roman, den ich in meinem Indio-Dialekt geschrieben hatte, in die reinste Madrider Sprache übertragen worden war, wie man es damals auch bei Filmen machte.
Mir standen die Haare zu Berge, als ich die Transkription des spanischen Lektors las. Ein besonders gravierendes Beispiel waren die Ermahnungen eines Priesters, bei denen der kolumbianische Leser nun denken musste, ich hätte den Geistlichen damit augenzwinkernd als Spanier charakterisieren wollen, was dessen Verhalten in ein anderes Licht getaucht und einen wesentlichen Aspekt des Dramas verzerrt hätte. Der Lektor hatte sich nicht damit zufrieden gegeben, die Grammatik der Dialoge zu frisieren, er hatte sich auch am Stil vergriffen und das Buch mit Madrider Flicken voll gekleistert, die nichts mit dem Original zu tun hatten. Also blieb mir nichts anderes übrig, als diese Fassung für nicht autorisiert zu erklären und zu fordern, dass die noch unverkauften Exemplare eingezogen und eingestampft würden. Die Antwort der Verantwortlichen war absolutes Schweigen.
Von dem Augenblick an habe ich den Roman als unveröffentlicht angesehen und mich der mühsamen Aufgabe gewidmet, ihn in meinen karibischen Dialekt zurückzuübersetzen, da es nur ein Originalmanuskript gegeben hatte, das ich zu dem Wettbewerb eingereicht hatte und das dann nach Madrid an den Verlag geschickt worden war. Nachdem der Originaltext wieder hergestellt und dabei noch einmal von mir überarbeitet worden war, wurde er von dem mexikanischen Verlag Era veröffentlicht, mit dem gedruckten und ausdrücklichen Hinweis, dass es sich um die Erstausgabe handele.
Ich habe nie gewusst, warum Die böse Stunde das einzige meiner Bücher ist, das mich in seine Zeit und an seinen Ort zurückversetzt, in eine Mondnacht mit frühlingshaften Winden.
Es war an einem Sonnabend, und es hatte aufgeklart, und am Himmel war für all die Sterne kaum Platz. Die Uhr hatte gerade elf geschlagen, als ich meine Mutter im Esszimmer ein Liebeslied summen hörte, mit dem sie das Kind, das sie in den Armen herumtrug, in den Schlaf wiegte. Ich fragte sie, woher die Musik käme, und sie antwortete mir nach ihrer Art:
»Aus den Häusern der Schlampen.«
Sie gab mir ungebeten fünf Pesos, als sie sah, dass ich mich für das Fest umzog. Bevor ich das Haus verließ, wies sie mich, vorausschauend wie immer, darauf hin, dass sie die Tür zum Patio unverriegelt lasse, damit ich auch spät zurückkommen konnte, ohne meinen Vater zu wecken. Ich kam nicht bis zu den Häusern der Schlampen, weil in der Schreinerei von Meister Valdes eine Musikprobe stattfand. Luis Enrique hatte sich gleich nach seiner Heimkehr der Gruppe um Valdes angeschlossen.
In jenem Jahr stieß ich dann zu ihnen, spielte Tiple und sang mit den sechs anonymen Meistern bis ins Morgengrauen. Ich hatte meinen Bruder immer für einen guten Gitarristen gehalten, doch schon in der ersten Nacht erfuhr ich, dass selbst seine grimmigsten Rivalen ihn für einen Virtuosen hielten. Es gab keine bessere Gruppe, und sie waren sich ihrer selbst so sicher, dass wenn jemand bei ihnen ein Versöhnungs- oder Sühne-Ständchen bestellte, Meister Valdes ihn schon im Voraus beruhigte:
»Keine Sorge, wir kriegen sie so weit, dass sie ins Kissen beißt.«
Ohne ihn wären die Ferien nicht dasselbe gewesen. Er verbreitete Festlaune, wohin er auch kam, und er, Luis Enrique und Filadelfo Velilla waren Profis in Liebesdingen. Damals entdeckte ich die Loyalität des Alkohols und lernte, richtig herum zu leben, schlief tagsüber und sang nachts. Wie meine Mutter sagte: Ich ließ die Sau raus.
Über mich wurde alles Mögliche geredet, und es gab das Gerücht, meine Post ginge nicht an die Adresse meiner Eltern, sondern in die Häuser der Schlampen. Ich wurde zum pünktlichsten Gast bei ihren legendären Sancocho-Töpfen mit Pumagalle und bei den Leguangerichten, die Schwung für drei ganze Nächte gaben. Ich las nicht mehr und kam nicht zu den Mahlzeiten nach Hause. Das entsprach der von meiner Mutter oft geäußerten Ansicht, dass ich auf meine Weise das machte, wozu ich Lust hatte, der schlechte Ruf aber an dem armen Luis Enrique kleben blieb. Obwohl er den Ausspruch meiner Mutter nicht kannte, meinte mein Bruder in jenen Tagen: »Jetzt fehlt nur noch, dass es heißt, ich verderbe dich, und man mich wieder in die Besserungsanstalt schickt.«
Um Weihnachten herum beschloss ich, vor dem alljährlichen Wettstreit der Kutschen zu fliehen, und setzte mich mit zwei Freunden und Komplizen in den Nachbarort Majagual ab. Zu Hause kündigte ich an, ich käme in drei Tagen wieder, blieb aber dann zehn Tage weg. Schuld daran war Maria Alejandrina Cervantes, eine unglaubliche Frau, die ich am ersten Abend kennen lernte und mit der ich auf dem rauschendsten Fest meines Lebens den Kopf verlor. Bis sie am Sonntagmorgen nicht mehr in meinem Bett lag und für immer verschwunden war. Jahre später rettete ich sie aus meinen sehnsüchtigen Erinnerungen, nicht so sehr wegen ihrer Gaben als wegen ihres klangvollen Namens, und ich ließ sie wieder auferstehen, um eine andere in einem meiner Romane zu schützen, als Herrin und Besitzerin eines Freudenhauses, das es nie gegeben hat.
Als ich nach Hause zurückkehrte, traf ich in der Küche meine Mutter an, die dort um fünf Uhr morgens Kaffee kochte. Sie wisperte mir komplizenhaft zu, ich solle bei ihr bleiben, weil mein Vater gerade aufgewacht sei und vorhabe, mir zu beweisen, dass ich nicht einmal in den Ferien so frei sei, wie ich zu sein glaubte. Sie schenkte mir eine große Tasse Hochlandkaffee ein, obwohl sie wusste, dass er mir nicht schmeckte, und ich setzte mich damit neben den Herd. Mein Vater kam im Pyjama herein, noch in schläfriger Laune, er war überrascht, mich dort mit der dampfenden Tasse zu sehen, stellte mir aber sofort eine scharfe Frage:
»Hast du nicht gesagt, dass du keinen Kaffee trinkst?«
Nicht wissend, was ich antworten sollte, sagte ich das Erste, was mir in den Sinn kam:
»Zu dieser Uhrzeit habe ich immer Durst.«
»Wie alle Säufer«, erwiderte er.
Er sah mich nicht mehr an, und es wurde auch nicht mehr von der Angelegenheit geredet. Doch meine Mutter teilte mir mit, dass mein Vater, seit jenem Tag deprimiert, mich inzwischen für einen hoffnungslosen Fall hielte, was er mich allerdings nie wissen ließ.
Meine Ausgaben hatten so zugenommen, dass ich meiner Mutter etwas aus ihrer Sparbüchse stehlen musste. Luis Enrique meinte, wenn das Geld, das man den Eltern stehle, fürs Kino und nicht fürs Bordell verwendet werde, dann sei es rechtmäßiges Geld. Ich litt unter der sorgenvollen Komplizenschaft meiner Mutter, die nicht wollte, dass mein Vater merkte, wie ich auf die schiefe Bahn geriet. Sie hatte allen Grund, denn es war allzu auffällig, dass ich manchmal einfach bis zum Mittagessen schlief, die Stimme eines heiseren Hahns hatte und so zerstreut war, dass ich einmal zwei Fragen meines Vaters überhörte, worauf er mit seiner härtesten Diagnose zuschlug:
»Du hast es an der Leber.«
Trotz allem gelang es mir, in Gesellschaft den Schein zu wahren. Ich ließ mich gut gekleidet und noch besser erzogen auf den Bällen und den gelegentlichen Mittagessen sehen, die von den Familien der Plaza Mayor ausgerichtet wurden, deren Häuser das ganze Jahr über geschlossen waren, sich aber öffneten, wenn die Schüler und Studenten zu Weihnachten heimkamen.
Diesmal war es das Jahr von Cayetano Gentile, der seine Ferien mit drei prächtigen Bällen feierte. Für mich waren es drei Glückstage, weil ich auf allen dreien immer mit der gleichen Partnerin tanzte. Ich forderte sie am ersten Abend auf, ohne mir die Mühe zu machen, danach zu fragen, wer sie war, wessen Tochter und woher sie kam. Sie erschien mir so geheimnisvoll, dass ich ihr beim zweiten Tanz allen Ernstes vorschlug, mich zu heiraten, und ihre Antwort war noch rätselhafter:
»Mein Papa sagt, der Prinz ist noch nicht geboren, der mich einmal heiraten wird.«
Tage später sah ich, wie sie unter der wilden Hitze um zwölf Uhr mittags auf der kleinen Promenade die Plaza in einem leuchtenden Organdykleid überquerte, ein Mädchen und einen Jungen von etwa sechs oder sieben Jahren an jeder Hand. »Das sind meine Kinder«, sagte sie lachend, ohne dass ich sie gefragt hätte. Und sie sagte es so hintersinnig, dass ich den Verdacht schöpfte, mein Heiratsantrag sei nicht vom Winde verweht worden.
Schon als Neugeborener hatte ich in Aracataca gelernt, in einer Hängematte zu schlafen, doch erst in Sucre wurde es mir zur zweiten Natur. Es gibt nichts Besseres, um Siesta zu halten, um die Stunde der Sterne zu erleben, um gemächlich zu denken und ohne Vorurteile zu lieben. Am Tag meiner Rückkehr von jener ausschweifenden Woche befestigte ich die Hängematte zwischen zwei Bäumen im Patio, wie es mein Vater früher gemacht hatte, und schlief mit ruhigem Gewissen ein. Aber meine Mutter, die immer von der Angst gequält wurde, ihre Kinder könnten im Schlaf sterben, weckte mich am späten Nachmittag auf, weil sie wissen musste, ob ich noch ebte. Dann legte sie sich neben mich und ging ohne Präliminarien das Problem an, das ihr das Leben schwer machte:
»Dein Papa und ich möchten gerne wissen, was mit dir los ist.«
Die Bemerkung traf mich. Ich wusste schon seit einiger Zeit, dass mein Vater und meine Mutter sich gemeinsam über die Veränderungen in meinem Verhalten Sorgen machten und dass sie sich banale Erklärungen ausdachte, um ihn zu beruhigen. Im Haus geschah nichts, was meine Mutter nicht wusste, und ihre Wutanfälle waren legendär. Doch ich brachte das Fass zum Überlaufen, als ich mitten in der Woche am helllichten Tage nach Hause kam und verdächtig nach Penner aussah. Ich wäre der Frage meiner Mutter natürlich am liebsten aus dem Weg gegangen oder hätte sie bis zu einer günstigeren Gelegenheit aufgeschoben, aber sie wusste es besser: Eine so ernste Angelegenheit erforderte eine sofortige Antwort.
Alle ihre Vorwürfe waren berechtigt: Ich verschwand, wenn es dunkel wurde, gekleidet wie für eine Hochzeit, kam nachts nicht heim, lag aber fast den ganzen nächsten Tag über schläfrig in der Hängematte. Ich las nicht mehr. Und wagte es, zum ersten Mal überhaupt, völlig benebelt nach Hause zu kommen. »Deine Geschwister schaust du nicht einmal an, du bringst ihre Namen und ihr Alter durcheinander, und neulich hast du einen Enkel von Clemencia Morales geküsst und geglaubt, es sei einer deiner Brüder«, sagte meine Mutter. Doch ihr wurde gleich bewusst, dass sie übertrieben hatte, und sie kompensierte das mit der schlichten Wahrheit:
»Kurzum, du bist ein Fremder in diesem Haus geworden.«
»Das stimmt alles«, meinte ich, »doch dafür gibt es einen einfachen Grund: Mir steht alles bis hier.«
»Wir alle?«
Ich hätte das bestätigen können, aber es wäre nicht gerecht gewesen.
»Alles«, sagte ich.
Und dann erzählte ich ihr von meiner Situation am Liceo. Die Eltern schätzten mich nach meinen Noten ein, Jahr für Jahr brüsteten sie sich mit den Ergebnissen, hielten mich nicht nur für einen tadellosen Schüler, sondern auch für einen vorbildlichen Freund, für den Intelligentesten und Schnellsten, der berühmt war für seinen Charme. »Der perfekte kleine Junge«, wie meine Großmutter sagte.
Um es schnell abzuschließen: Die Wahrheit sah ganz anders aus. Ich hatte diesen Eindruck erweckt, weil ich nicht so mutig und selbständig wie mein Bruder Luis Enrique war, der nur das tat, wozu er Lust hatte. Und der zweifellos eine
Art von Glück verwirklichen würde, nicht das, welches Eltern für ihre Kinder ersehnen, aber doch das Glück, das Kindern erlaubt, die unmäßige Zärtlichkeit, die irrationalen Ängste und die übermütigen Hoffnungen der Eltern zu überleben.
Meine Mutter war niedergeschmettert von dem Bild, das so gar nicht dem entsprach, was sie beide sich in ihren einsamen Träumen ausgemalt hatten.
»Ich weiß nicht, was wir tun sollen«, sagte sie nach einem tödlichen Schweigen, »wenn wir das alles deinem Vater erzählen, stirbt er auf der Stelle. Merkst du denn nicht, dass du der Stolz der Familie bist?«
Für die beiden war es ganz einfach: Da für mich nicht in Frage kam, dass ich der bedeutende Arzt wurde, der mein Vater mangels Geld nicht hatte werden können, träumten sie zumindest davon, dass ich irgendeinen anderen akademischen Beruf ergriff.
»Ich werde aber nichts von alledem«, schloss ich. »Ich lasse mich nicht zu etwas machen, was ich nicht sein will, nur weil ihr es euch wünscht oder gar, weil die Regierung es will.«
Der Disput zog sich wie ein Blindekuhspiel über den Rest der Woche hin. Ich glaube, dass meine Mutter sich Zeit nehmen wollte, um mit meinem Vater darüber zu sprechen, und das gab mir neuen Mut. Eines Tages kam sie wie zufällig mit einem überraschenden Vorschlag:
»Es heißt, du könntest ein guter Schriftsteller werden, wenn du dir das vornimmst.«
So etwas hatte ich in meiner Familie noch nie gehört. Meine Neigungen hatten seit meiner Kindheit vermuten lassen, dass ich Zeichner, Musiker, Kirchensänger und sogar Sonntagsdichter werden könnte. Inzwischen hatte auch die Mutter meinen allgemein bekannten Hang zum eher geschraubten und ätherischen Schreiben entdeckt, nun aber reagierte ich verblüfft.
»Schriftsteller? Da müsste man schon einer der Großen werden, und die werden heute nicht mehr gemacht«, antwortete ich meiner Mutter. »Zum Verhungern gibt es schließlich bessere Berufe.«
An einem jener Nachmittage redete sie nicht mehr mit mir, sondern weinte trockene Tränen. Heute hätten bei mir die Alarmglocken geschrillt, denn ich halte das unterdrückte Weinen für ein unfehlbares Mittel großer Frauen, um ihre Absichten durchzusetzen. Doch mit achtzehn wusste ich nicht, was ich meiner Mutter sagen sollte, und mein Schweigen störte ihre Tränen.
»Nun gut«, sagte sie daraufhin, »versprich mir wenigstens, dass du das Abitur so gut wie möglich schaffst, und ich übernehme es dann, den Rest mit deinem Vater zu regeln.«
Beide hatten wir gleichermaßen das erleichterte Gefühl, gewonnen zu haben. Ich ging auf den Vorschlag ein, sowohl ihr als auch meinem Vater zuliebe, denn ich fürchtete, die beiden könnten sterben, wenn wir nicht bald zu einem Einvernehmen kämen. So fanden wir die einfache Lösung, ich solle Jura und Politische Wissenschaften studieren, was nicht nur eine gute Bildungsbasis für jedweden Beruf war, sondern auch einen humanen Studienplan versprach, Vorlesungen am Vormittag und freie Zeit am Nachmittag, um zu arbeiten. Besorgt über die emotionale Last, die meine Mutter in jenen Tagen allein hatte tragen müssen, bat ich sie, das Terrain vorzubereiten, damit ich Aug' in Auge mit Papa sprechen konnte. Sie sperrte sich dagegen, da sie davon überzeugt war, dass es in einem Streit enden würde.
»Es gibt auf dieser Welt keine zwei Männer, die sich so sehr ähneln«, sagte sie. »Und das ist eine schlechte Voraussetzung für so ein Gespräch.«
Ich hatte immer das Gegenteil geglaubt. Erst jetzt, da ich bereits alle Altersstufen durchschritten habe, die mein Vater in seinem langen Leben hinter sich gelassen hat, sehe ich in den Spiegel und bin ihm ähnlicher als mir selbst.
Meine Mutter muss an jenem Abend die Feinarbeit eines Goldschmieds vollbracht haben, denn mein Vater versammelte die ganze Familie um den Esstisch und verkündete scheinbar gelassen: »Wir werden einen Rechtsanwalt im Haus haben.« Womöglich voller Angst, dass mein Vater die Debatte vor der ganzen Familie wieder eröffnen könnte, mischte sich meine Mutter geradezu unschuldig ein.
»In unserer Lage und mit unserer Kinderschar«, erklärte sie in meine Richtung, »halten wir dieses Studium - das einzige, das du dir selbst finanzieren kannst - für die beste Lösung.«
So einfach, wie sie es darstellte, war es nun auch wieder nicht, wahrlich nicht, aber für uns war es wohl das geringste Übel, und seine Verheerungen drohten nicht gar so blutig zu werden. Auf das Spiel eingehend bat ich also meinen Vater um seine Meinung, und die Antwort kam sofort und war von erschütternder Ehrlichkeit:
»Was soll ich sagen? Du brichst mir das Herz, aber du lässt mir wenigstens den Stolz, dir dabei helfen zu können, das zu werden, wozu du Lust hast.«
Der Gipfel des Luxus war in jenem Januar 1946 meine erste Flugreise, die ich José Palencia zu verdanken hatte, der seinerseits mit einem großen Problem in Sucre aufgetaucht war. Er hatte in Cartagena fünf Jahre Oberschule mehr oder weniger sprunghaft absolviert, war aber nun im sechsten gescheitert. Ich verpflichtete mich, ihm einen Platz am Liceo zu verschaffen, damit er endlich seine Urkunde bekam, und er lud mich daraufhin ein, gemeinsam mit ihm zu fliegen.
Zweimal in der Woche gab es einen Flug nach Bogotá mit einer DC-3 der LAN SA, und die größte Gefahr ging nicht von der Maschine selbst aus, sondern von den Kühen, die frei auf dem lehmigen Grund der improvisierten Landepiste herumliefen. Manchmal musste das Flugzeug mehrmals darüber kreisen, bis es die Tiere verscheucht hatte. Für mich war es das Initiationserlebnis für meine legendäre Flugangst, und das in einer Epoche, in der die Kirche das Verbot erlassen hatte, geweihte Hostien auf einen Flug mitzunehmen, weil man diese vor Katastrophen schützen wollte. Der Flug ohne Zwischenlandung dauerte fast vier Stunden bei einer Geschwindigkeit von dreihundertzwanzig Stundenkilometern und einer maximalen Höhe von 7.000 Metern. Wer schon mal die wunderbare Flussfahrt mitgemacht hatte, konnte sich vom Himmel aus an der lebendigen Karte des Rio Grande de la Magdalena orientieren. Wir erkannten die Miniaturdörfer, die Spielzeugschiffchen, die glücklichen Püppchen, die uns von den Schulhöfen aus zuwinkten. Die Stewardessen aus Fleisch und Blut verbrachten die Zeit damit, die betenden Passagiere zu beruhigen, den schwindeligen zu Hilfe zu eilen und die übrigen davon zu überzeugen, dass keine Gefahr bestehe, mit den Schwärmen von Hühnergeiern zusammenzustoßen, die nach dem fauligen Strandgut des Flusses spähten. Die erfahrenen Fluggäste hingegen erzählten wieder und wieder von historischen Flügen. Der Aufstieg zur Hochebene von Bogotá machte sich, ohne Druckausgleich und Sauerstoffmaske, als Trommel im Herzen bemerkbar, und das Schütteln und das Beben der Flügel verstärkte das Glücksgefühl nach der Landung. Die größte Überraschung war jedoch, vor unseren Telegrammen vom Vortag angekommen zu sein.
Auf dem Weg durch Bogotá kaufte José Palencia Instrumente für ein ganzes Orchester, ich weiß nicht, ob das aus Überlegung geschah oder aus Hellsicht, als Rektor Espitia ihn jedenfalls hereinkommen sah, mit festem Schritt und Gitarren, Trommeln, Rumbakugeln und Harmonikas, war mir klar, dass José angenommen war. Ich meinerseits spürte das Gewicht meiner neuen Position bereits, als ich in die Vorhalle trat: Ich war ein Schüler der sechsten Klasse. Bisher war mir nicht bewusst gewesen, dass das so war, als trüge man auf der Stirn den Stern, von dem alle träumten. Man merkte es den Schülern an, allein in der Art, wie sie uns begegneten, am Ton, mit dem sie sich an uns wandten, und es gehörte sogar eine gewisse Ehrfurcht dazu. Es war überhaupt ein Festjahr. Da der Schlafsaal Stipendiaten vorbehalten war, richtete sich José Palencia im besten Hotel an der Plaza ein, eine der Besitzerinnen spielte Klavier, und so wurde das Leben zum Sonntag, der das ganze Jahr für uns währte.
Es war wieder einmal ein Satz vorwärts in meinem Leben. Während ich heranwuchs, hatte mir meine Mutter Kleidung aus zweiter Hand gekauft, und wenn die mir nicht mehr passte, änderte sie die Sachen für meine jüngeren Brüder um. Am problematischsten waren die beiden ersten Jahre gewesen, denn die Wollkleidung für das kalte Klima war teuer und schwer zu bekommen. Obwohl mein Körper nicht mit allzu großem Enthusiasmus wuchs, war nicht genügend Zeit, einen Anzug in einem Jahr auf zwei verschiedene Größen umzuarbeiten. Zu allem Überfluss konnte sich die ursprüngliche Sitte, die Kleidung unter den Internatsschülern auszutauschen, nicht durchsetzen, weil die Garderobe so sehr mit jedem Einzelnen identifiziert wurde, dass der Spott für die neuen Besitzer unerträglich war. Das hatte sich zum Teil erledigt, als Espitia eine Uniform mit blauer Jacke und grauen Hosen vorschrieb, was das Erscheinungsbild vereinheitlichte und die Tauschgeschäfte vertuschte.
Im dritten und vierten Oberschuljahr trug ich den einzigen Anzug, den mir der Schneider in Sucre umgeändert hatte, aber für das fünfte Jahr musste ich dann einen anderen kaufen, der sehr gut erhalten war, aber nicht fürs sechste Jahr reichte. Doch mein Vater war von meinen Besserungsvorsätzen so begeistert, dass er mir das Geld für einen neuen Uniformanzug nach Maß gab, und José Palencia schenkte nur einen Anzug von ihm aus dem Vorjahr, einen kaum gebrauchten Kamelhaar-Dreiteiler. Bald merkte ich, wie wenig Kleider Leute machen. In dem neuen Anzug, den ich abwechselnd mit der neuen Uniform tragen konnte, ging ich zu den Bällen, auf denen die Kariben den Ton angaben, und bekam nur eine Braut ab, die mir kaum so lang wie eine Blume erhalten blieb.
Espitia empfing mich mit einem seltenen Enthusiasmus. Die zwei Chemiestunden in der Woche schien er nur für mich zu halten, mit einem Schnellfeuer von Fragen und Antworten.
Diese erzwungene Aufmerksamkeit offenbarte sich mir als guter Ansatz, um den würdigen Abschluss, den ich meinen Eltern versprochen hatte, zu erreichen. Das Übrige erledigte die einzige und einfache Methode von Martina Fonseca: Im Unterricht aufzupassen, um Nachtarbeit und ein Ende mit Schrecken zu vermeiden. Es war eine weise Lehre. Seitdem ich mich dazu entschlossen hatte, diese Methode im letzten Oberschuljahr anzuwenden, legte sich meine Unruhe. Es war mir ein Leichtes, auf die Fragen der Lehrer zu antworten, die mir allmählich vertrauter wurden, und ich merkte, wie leicht es war, das meinen Eltern gegebene Versprechen zu halten.
Das einzige Problem, das mich beunruhigte, waren immer noch meine Schreie bei den Albträumen. Ricardo González Ripoll zu meiner Linken und Rafael Rivas rechts von mir lösten es durch einen Schlag mit dem Kopfkissen beim ersten Klagelaut. Für die Disziplin an der Schule zuständig war damals der Lehrer Gonzalo Ocampo, der auf sehr gutem Fuße mit den Schülern stand. Im zweiten Semester schlich er sich eines Nachts auf Zehenspitzen in den dunklen Schlafsaal und wollte seine Schlüssel von mir haben, die ich vergessen hatte, ihm zurückzugeben. Er hatte mir kaum an die Schulter getippt, als ich ein wildes Heulen ausstieß, das den ganzen Saal weckte und in Schrecken versetzte. Am nächsten Tag ließen sie mich in einen Schlafraum für sechs Schüler umziehen, der im zweiten Stock provisorisch eingerichtet war.
Das war eine Lösung für meine nächtlichen Ängste, aber auch sehr verführerisch, weil der Raum über der Speisekammer lag und vier von uns sich in die Küche schlichen und sie nach Lust für ein Mitternachtssouper plünderten. Sergio Castro, der unverdächtig war, und ich, der am wenigsten Mut hatte, blieben in unseren Betten, um bei auftretenden Schwierigkeiten als Vermittler aufzutreten. Nach einer Stunde kamen die anderen mit der halben Speisekammer, servierfertig zusammengestellt, zurück. Das war das große Fressen unserer langen hternats jähre, es erwies sich jedoch als unverdaulich, da sie uns binnen vierundzwanzig Stunden auf die Schliche kamen. Ich dachte, nun sei alles zu Ende, und tatsächlich konnte uns nur das Verhandlungsgeschick von Espitia vor dem Rauswurf retten.
Es war eine gute Zeit für das Liceo und keine viel versprechende für das Land. Die unparteiische Art von Lleras steigerte ungewollt die Spannungen, die zum ersten Mal auch im Liceo zu spüren waren. Heute ist mir allerdings klar, dass ich diese Spannungen schon früh verinnerlicht hatte, aber erst damals ein Bewusstsein von dem Land bekam, in dem ich lebte. Einige Lehrer, die seit dem letzten Jahr versucht hatten, sich in der Öffentlichkeit unparteiisch zu geben, schafften das nicht im Unterricht und ließen unbekömmliche Suaden über ihre politischen Vorlieben los. Insbesondere nachdem der harte Wahlkampf um die Präsidentschaftsnachfolge begonnen hatte.
Mit jedem Tag wurde klarer, dass der Liberalismus mit Gaitan und Turbay die Macht nach sechzehn Regierungsjahren verlieren würde. Die beiden liberalen Kandidaten waren so gegensätzlich, dass sie zwei verschiedenen Parteien anzugehören schienen, nicht nur wegen der eigenen Sünden, sondern wegen der blutigen Entschlossenheit der Konservativen, die das von Anfang an erkannten. Statt Laureano Gómez stellten sie Mario Ospina Pérez auf, einen Ingenieur und Millionär mit dem wohlverdienten Ruf eines Patriarchen. Angesichts des gespaltenen Liberalismus und der Geschlossenheit der bewaffneten Konservativen gab es keine Alternative: Ospina Pérez siegte.
Laureano Gómez bereitete sich sogleich auf die Nachfolge vor, setzte Polizei und Streitkräfte für die violencia auf breiter Front ein. Das war die historische Situation des 19. Jahrhunderts, in dem wir keinen Frieden kannten, sondern nur kurze Waffenpausen zwischen acht landesweiten Bürgerkriegen und vierzehn lokalen, drei Militärputschen und schließlich dem Krieg der Tausend Tage, in dem auf beiden Seiten insgesamt achtzigtausend Kolumbianer starben, in einem Land von knapp vier Millionen Einwohnern. Auf eine einfache Formel gebracht: Ein gemeinsames Programm, um sich in die Zeit von vor hundert Jahren zurückzuversetzen.
Gegen Ende des Schuljahres machte der Lehrer Giraldo eine unzulässige Ausnahme mit mir, die mir immer noch peinlich ist. Er bereitete für mich einen einfachen Fragebogen vor, um meine Note im Fach Algebra, an dem ich seit dem vierten Jahr gescheitert war, auf den Stand des sechsten Schuljahrs zu bringen, und ließ mich allein im Lehrerzimmer, alle unerlaubten Hilfsmittel in Reichweite. Eine Stunde später kam er hoffnungsvoll zurück, sah das katastrophale Ergebnis, knurrte gefährlich und strich kreuzweise jedes einzelne Blatt von oben bis unten durch: »Dieses Hirn ist verfault.« Im Abschlusszeugnis tauchte Algebra jedoch als bestanden auf. Ich war so taktvoll, dem Lehrer nicht dafür zu danken, dass er mir zuliebe gegen seine Prinzipien und seine Pflichten verstoßen hatte.
Am Vortag des letzten Examens hatten Guillermo López Guerra und ich einen unseligen Zusammenstoß mit Ocampo, einen Streit im Rausch. José Palencia hatte uns zum Lernen ins Zimmer seines Hotels eingeladen, ein koloniales Schmuckstück, mit einem idyllischen Blick auf den blühenden Park und die Kathedrale im Hintergrund. Da nur noch die letzte Prüfung fehlte, blieben wir bis nachts und kehrten durch unsere ärmlichen Kneipen ins Internat zurück. Ocampo, für die Disziplin zuständig, tadelte streng die Uhrzeit und unseren Zustand, worauf wir zwei ihn im Chor mit Schmähungen bedachten. Seine zornige Reaktion und unser Geschrei weckten den ganzen Schlafsaal auf.
Der Beschluss des Lehrerkollegiums lautete, dass López Guerra und ich nicht zur letzten, noch ausstehenden Prüfung zugelassen waren. Das heißt: Wir hätten - zumindest in diesem Jahr - kein Abitur gemacht. Wir haben nie herausbekommen, wie die geheimen Verhandlungen zwischen den Lehrern verlaufen sind, weil sie in unüberwindlicher Solidarität die Reihen schlössen. Tatsache ist, dass sich Espitia auf eigene Faust und Risiko der Frage annahm und erreichte, dass wir die Prüfung im Erziehungsministerium in Bogotá ablegen konnten. Er selbst blieb während des schriftlichen Examens bei uns, das dann gleich dort benotet wurde, und zwar sehr gut.
Die Situation an der Schule muss kompliziert gewesen sein, jedenfalls nahm Ocampo an der Abschlussfeier nicht teil, vielleicht war er verärgert über die einfache Lösung, die Espitia gefunden hatte, über unsere guten Noten und nicht zuletzt über meine persönlichen Ergebnisse, für die ich mit einem unvergesslichen Buch als Preis belohnt wurde; Die größten Philosophen von Diogenes Laercio. Das war nicht nur viel mehr, als meine Eltern von mir erwartet hatten, sondern ich war auch der Erste des Abiturjahrgangs, obwohl meine Klassenkameraden wussten, vor allem ich wusste, dass ich nicht der Beste war.