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Nach einer Tagereise tödlichen gerumpels auf einer Landstraße für Huftiere hauchte der Postlaster seine Seele aus, wie er es verdiente: gestrandet in einem Mangrovengestrüpp, das nach fauligem Fisch roch, eine halbe Meile von Cartagena de Indias entfernt. »Wer im Lastwagen fährt, weiß nicht, wo er stirbt«, erinnerte ich mich an einen Ausspruch meines Großvaters. Die Passagiere, durch sechs Stunden nackter Sonne und den Gestank des Salzmorasts abgebrüht, warteten nicht darauf, dass die Leiter heruntergelassen wurde, sondern warfen hastig die Körbe mit Hühnern, die Bananenbündel und allerlei Verkäufliches oder Unverkäufliches über Bord, das ihnen auf dem Wagendach als Sitz gedient hatte. Der Fahrer sprang vom Trittbrett und rief mit beißendem Spott:

»La Heroica!«

Unter diesem emblematischen Namen war Cartagena de indias wegen seiner ruhmreichen Vergangenheit bekannt, und irgendwo musste die Stadt wohl liegen. Aber ich sah nichts, konnte auch in dem Anzug aus schwarzem Tuch, den ich seit dem 9. April trug, kaum mehr atmen. Die anderen beiden Anzüge aus meinem Kleiderschrank waren wie die Schreibmaschine im Pfandhaus gelandet, die ehrenrettende Version für meine Eltern lautete aber, dass die Maschine und andere Gegenstände persönlichen Missbrauchs zusammen mit der Kleidung im Chaos des Brands verschwunden waren. Der unverschämte Fahrer, der sich während der Reise über meinen Aufzug eines Wegelagerers lustig gemacht hatte, wäre fast vor Vergnügen geplatzt, als er sah, wie ich mich weiter um mich selbst drehte, ohne die Stadt zu finden.

»Sie steckt in deinem Hintern!«, schrie er für alle hörbar. »Und pass ja auf, denn da werden die Arschlöcher ausgezeichnet.«

Cartagena de Indias lag tatsächlich hinter mir, und dort schon seit vierhundert Jahren, aber inmitten des Mangrovengestrüpps fiel es schwer, sich vorzustellen, dass die Stadt nur eine halbe Meile entfernt hinter der legendären Festungsmauer versteckt war, die sie in ihren großen Jahren vor Edelleuten und Piraten geschützt hatte und die mit der Zeit unter einem verholzten Dickicht und langen Girlanden gelber Glockenblumen verschwunden war. Also stürzte ich mich ins Gewühl der Fahrgäste und schleifte den Koffer durchs Gestrüpp, in dem die Panzer lebender Krebse wie Knallkörper unter den Schuhsohlen knackten. Es war unmöglich, unter diesen Umständen nicht an den Petate zu denken, das Notgepäck, das meine Gefährten der ersten Reise in den Rio Magdalena geworfen hatten, oder an den sargähnlichen Koffer, den ich in meinen ersten Oberschuljahren mit Tränen der Wut durch das halbe Land geschleppt und am Ende, zur Feier meines Abiturs, in einen Abgrund der Anden gestoßen hatte. Diesen übermäßigen und unverdienten Lasten hatte stets etwas von einem fremden Schicksal angehaftet, und die langen Jahre meines Lebens haben nicht genügt, das zu widerlegen.

Die Silhouetten einiger Kirchenkuppeln und Klöster waren gerade erst im Abenddunst zu erahnen, als uns ein Sturmwind von Fledermäusen entgegenbrauste, sie schwirrten knapp über unsere Köpfe hinweg, und nur ihrer Klugheit war zu verdanken, dass wir nicht von ihnen niedergemäht wurden. Ihre Flügel dröhnten wie Trommelwirbel und hinterließen tödlichen Gestank. Von Panik überwältigt, ließ ich den Koffer fallen, verschränkte die Arme über dem Kopf und kauerte mich hin, bis eine ältere Frau, die neben mir lief, mir zurief:

»Bete La Magnifical«

Das Geheimgebet also, um den Teufel zu bannen, von der Kirche abgelehnt, aber von den großen Gottlosen zur Weihe erhoben, wenn sie mit Blasphemien nicht weiterkamen. Als die Frau merkte, dass ich nicht beten konnte, packte sie meinen Koffer an dem anderen Riemen und half mir beim Tragen.

»Bete mit mir«, sagte sie, »aber recht fromm, bitte schön.«

Dann sagte sie mir La Magnifica vor, Vers für Vers, und ich wiederholte jeden einzelnen mit einer Inbrunst, die ich nie wieder verspürt habe. Auch wenn ich es heute kaum glauben kann: Noch bevor wir das Gebet beendet hatten, verschwand der Schwärm von Fledermäusen vom Himmel. Zurück blieb nur die endlose Wucht des Meeres an den Klippen.

Wir erreichten die Puerta del Reloj, das große Stadttor. Hundert Jahre lang hatte dort eine Hebebrücke die Altstadt mit dem Getsemaní-Viertel und den dicht gedrängten Hütten der Armen in den Mangrovenwäldern verbunden, die Brücke wurde jedoch um neun Uhr abends hochgezogen, und die Bewohner dieser Vororte blieben dann bis Tagesanbruch vom Rest der Welt und auch von der Geschichte abgeschnitten. Es hieß, die spanischen Siedler hätten die Brücke aus Angst davor errichtet, dass die Habenichtse sich um Mitternacht in die Stadt schlichen, um ihnen im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Cartagena musste jedoch etwas von seiner himmlischen Anmut geblieben sein, denn kaum war ich innerhalb der Festungsmauern, lag die Stadt im malvenfarbenen Sechs-Uhr-Abendlicht in alter Pracht vor mir, und das Gefühl überkam mich, wiedergeboren zu sein.

Kein Wunder. Am Anfang der Woche hatte ich, durch einen Sumpf aus Blut und Schlamm watend, Bogotá verlassen, wo zwischen rauchendem Schutt immer noch Berge von Leichen lagen, nach denen niemand fragte. In Cartagena war die Welt plötzlich eine andere. Ich sah keine Spuren des Krieges, der das Land überzog, und es fiel mir schwer zu glauben, dass diese Einsamkeit ohne Schmerz, dieses unermüdliche Meer, dieses maßlose Gefühl, angekommen zu sein, mir kaum eine Woche später im selben Leben widerfuhr.

Ich hatte von Kindheit an so oft davon gehört, dass ich die kleine Plaza, wo die Droschken und die von Eseln gezogenen Lastkarren standen, sofort wiedererkannte, ebenso die Arkaden dahinter, in denen das Marktgetümmel noch dichter und lauter wurde. Obwohl es offiziell nicht eingestanden wurde, war dies der letzte noch pulsierende Kern der alten Stadt. In der Kolonialzeit hieß dieser Platz Portal de los Mercaderes. Von dort aus waren die unsichtbaren Fäden im Sklavenhandel gezogen und die Gemüter gegen die spanische Herrschaft aufgeheizt worden. Später hieß er Portal de los Escribanos, wegen der mürrischen Schönschreiber, die in Tuchjacken und Ärmelschonern Liebesbriefe und alle möglichen Dokumente für die schreibunkundigen Armen verfassten. Viele der Schreiber verkauften unter der Hand auch Bücher, besonders solche, die das Heilige Offizium verdammt hatte, und waren auf diese Weise, so glaubt man, Orakel der kreolischen Verschwörung gegen die spanische Herrschaft. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte mein Vater unter diesen Arkaden seinen poetischen Drang mit dem Schreiben kunstvoller Liebesbriefe zu befrieden. Er hatte allerdings weder mit dem einen noch mit dem anderen Erfolg, da einige gewitzte oder tatsächlich mittellose Kunden ihn nicht nur darum baten, den Brief umsonst zu schreiben, sondern außerdem noch die fünf Reales für die Post von ihm wollten.

Seit einigen Jahren hieß der Platz Portal de los Dulces, die Zeltplanen der Stände waren verrottet, und die Bettler kamen, um dort die Abfälle vom Markt zu essen, und man hörte die Rufe der wahrsagenden Indios, die den Kunden teuer dafür zahlen ließen, dass sie ihm nicht den Tag und die Stunde seines Todes voraussagten. Die Karibik-Schoner blieben länger im Hafen, damit die Passagiere die süßen Plätzchen kaufen konnte, deren Namen von den Frauen, die sie herstellten, selbst erfunden und von den Marktschreiern in Reime gebracht wurden: »Süße Kurien für die Furien, Teufelchen fürs Beutelchen, Kokosschnitten bei Kinderbitten, Panelas für die Manuelas.« Denn die Arkaden waren, im Guten wie im Bösen, immer noch ein lebendiges Zentrum der Stadt, wo hinter dem Rücken der Regierung Staatsangelegenheiten verhandelt wurden; zudem waren sie der einzige Ort der Welt, an dem die Verkäuferinnen von Frittiertem schon vor dem Präsidenten der Republik wussten, wen er zum nächsten Gouverneur ernennen würde.

Ich war von dem Durcheinander sofort fasziniert und bahnte mir mühsam mit dem Koffer, den ich hinter mir herschleifte, meinen Weg durch das Menschengewimmel um sechs Uhr abends. Ein zerlumpter alter Mann, nur Haut und Knochen, blickte von der Plattform der Schuhputzer mit eisigem Sperberblick auf mich herab. Das ließ mich abrupt anhalten. Kaum hatte er gesehen, dass ich ihn gesehen hatte, bot er sich an, mir den Koffer zu tragen. Ich bedankte mich, doch dann erklärte er in seiner Muttersprache:

»Das macht dreißig Chivos.«

Unmöglich. Dreißig Centavos für einmal Kofferschleppen, das war eine Attacke auf die vier Pesos, die mir reichen mussten, bis meine Eltern nächste Woche Nachschub schickten.

»So viel ist ja der ganze Koffer samt Inhalt wert«, sagte ich.

Außerdem war die Pension Sabana, wo die Clique aus Bogotá schon warten würde, nicht weit. Der Alte fand sich mit drei Chivos ab, zog seine Holzschuhe aus und hängte sie sich um den Hals, wuchtete sich mit einer für seine alten Knochen unglaublichen Kraft den Koffer auf die Schultern und rannte wie ein barfüßiger Athlet durch einen Hohlweg zwischen den Kolonialbauten, die von Jahrhunderten der Nachlässigkeit angefressen waren. Mein einundzwanzigjähriges Herz schlug mir im Hals, ich musste mich anstrengen, um den greisen Olympioniken, der sicher nur noch wenige Stunden zu leben hatte, nicht aus den Augen zu verlieren. Fünf Straßen weiter eilte er durch das breite Tor des Hotels und strebte, je zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch.

Mit nach wie vor ruhigem Atem stellte er den Koffer auf den Boden und streckte mir die Handfläche entgegen:

»Dreißig Chivos.«

Ich erinnerte ihn daran, dass ich schon gezahlt hatte, aber er versteifte sich darauf, dass bei den drei Centavos von den Arkaden die Treppe nicht inbegriffen gewesen sei. Die Wirtin, die herauskam und uns empfing, gab ihm Recht: Die Treppe sei gesondert zu bezahlen. Und ihre Prophezeiung sollte für mein ganzes Leben gültig bleiben:

»Du wirst schon sehen, in Cartagena ist alles anders.«

Ich wurde dann auch noch mit der schlechten Nachricht konfrontiert, dass bislang keiner meiner Pensionsgefährten aus Bogotá eingetroffen war, allerdings sei für vier Personen, mich eingeschlossen, reserviert. Wir hatten abgemacht, uns an diesem Tag vor sechs Uhr abends im Hotel zu treffen. Das Umsteigen vom Linienbus auf das riskante Gefährt der Post hatte mir drei Stunden Verspätung eingebracht, doch nun stand ich da, pünktlicher als die anderen, und konnte mit meinen vier Pesos minus dreiunddreißig Centavos nichts anfangen. Denn die Wirtin war eine reizende Pensionsmutter, ihren eigenen Normen aber sklavisch Untertan, was sie in den zwei langen Monaten, die ich bei ihr wohnte, unter Beweis stellen sollte. Sie wollte mich nicht registrieren, solange ich nicht für einen Monat im Voraus gezahlt hatte: achtzehn Pesos für ein Bett im Sechserzimmer und drei Mahlzeiten täglich.

Unterstützung von meinen Eltern erwartete ich nicht vor einer Woche, also würde mein Koffer nicht über den Treppenabsatz hinauskommen, bis meine Freunde erschienen, die mir aushelfen konnten. Ich setzte mich zum Warten auf einen bischöflichen Sessel mit großen aufgemalten Blumen, den ich nach dem langen Sonnentag auf dem Laster meines Unglücks als Geschenk des Himmels empfand. Tatsächlich gab es in jenen Tagen nichts, was sicher war. Die Verabredung, uns dort an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit zu treffen, zeugte von mangelndem Realitätsbewusstsein, wir wagten einfach nicht, uns einzugestehen, dass im halben Land ein blutiger Krieg tobte, der in der Provinz schon seit Jahren verdeckt geführt wurde und vor einer Woche offen und tödlich in den Städten ausgebrochen war.

Nach acht Stunden Fahrt war ich im Hotel in Cartagena gestrandet und konnte mir nicht erklären, was mit José Palencia und seinen Freunden geschehen war. Nach einer weiteren Stunde des Wartens ohne Nachricht ging ich hinaus und streunte durch die leeren Straßen. Im April wird es früh dunkel. Die Straßenlaternen brannten schon, doch ihr Licht war so schwach, dass man es mit dem der Sterne zwischen den Bäumen verwechseln konnte. Eine erste zufällige Runde von einer Viertelstunde durch die Winkel der Altstadt reichte aus, um mit einem Gefühl der Erleichterung in der Brust feststellen zu können, dass diese seltsame Stadt nichts mit dem musealen Fossil zu tun hatte, das man uns in der Schule beschrieben hatte.

Keine Menschenseele war auf den Straßen. Die Mengen, die bei Tagesanbruch aus den Vororten zum Arbeiten oder zum Handeln in die Stadt strömten, kehrten um fünf Uhr nachmittags fluchtartig in ihre Viertel zurück, und die Bewohner des Innenbereichs verschwanden in ihre Häuser, um zu Abend zu essen und bis Mitternacht Domino zu spielen. Private Autos waren noch nicht üblich, und die wenigen Dienstfahrzeuge blieben außerhalb der Stadtmauer. Selbst die Beamten, die etwas auf sich hielten, fuhren noch in den einfachen Bussen aus der lokalen Produktion zur Plaza de los Coches und bahnten sich von da aus per Ellbogen den Weg zu ihren Büros oder sprangen über den auf den Gehsteigen ausgelegten Ramsch. Einer der vornehmsten Gouverneure in jenen tragischen Zeiten brüstete sich damit, von seinem Viertel der Erwählten zur Plaza de los Coches noch mit dem gleichen Bus zu fahren, den er schon als Schüler benutzt hatte.

Die Erleichterungen durch das Aufkommen der Automobile wurden von der historischen Realität konterkariert: Autos passten nicht in die engen und gewundenen Straßen, in denen nachts die unbeschlagenen Hufe der rachitischen Pferde widerhallten. In Zeiten großer Hitze, wenn man die Balkontüren für die Kühle aus den Parks öffnete, hörte man mit einem gespenstischen Echo Fetzen von intimen Gesprächen. Schläfrige Großeltern vernahmen flüchtige Schritte auf dem Steinpflaster, merkten auf, ohne die Augen zu öffnen, und sagten dann enttäuscht: »Da geht José Antonio, der will zu Cha-bela.« Das Einzige, was die Schlaflosen wirklich verrückt machte, war das Knallen der Dominosteine auf den Tischen, das durch die ganze Altstadt hallte.

Für mich war es eine historische Nacht. Es gelang mir kaum, in der Realität die schon vom Leben besiegte fiktive Welt aus den Schulbüchern wiederzuerkennen. Es rührte mich zu Tränen, dass die Gebäude, die ich so heruntergekommen vor mir sah, die alten Paläste der Marqueses waren, in deren Eingängen nun die Bettler schliefen. Ich sah die Kathedrale, deren Glocken der Pirat Francis Drake hatte wegschleppen lassen, um Kanonen daraus zu gießen. Die wenigen Glocken, die den Überfall überstanden hatten, unterzog man einem Exorzismus, nachdem sie wegen bösartiger Nebenklänge, die den Teufel herbeiriefen, von den Hexenmeistern des Bischofs eigentlich zum Scheiterhaufen verurteilt worden waren. Ich sah die welken Bäume und die Heldenstatuen, die nicht in vergänglichen Marmor geschlagen schienen, sondern wie tote Leiber wirkten. Denn in Cartagena wurden sie nicht gegen den Zahn der Zeit konserviert, ganz im Gegenteil: Die Zeit wurde für die Dinge konserviert, die jung blieben, während die Jahrhunderte alterten. Bei jedem Schritt, den ich in der Nacht meiner Ankunft tat, enthüllte mir die Stadt ihr Eigenleben, sie war nicht das Pappmachéfossil der Geschichtsschreiber, sondern ein Gebilde aus Fleisch und Blut, das nicht mehr von seinem martialischen Ruhm, sondern von der Würde seiner Ruinen zehrte.

Mit neuem Mut kehrte ich in die Pension zurück, als es von der Torre del Reloj zehn schlug. Der verschlafene Wächter teilte mir mit, dass keiner meiner Freunde eingetroffen, mein Koffer aber im Depot des Hotels in Sicherheit sei. Erst da wurde mir bewusst, dass ich seit dem schlechten Frühstück in Barranquilla nichts mehr gegessen oder getrunken hatte. Meine Beine waren schwach vor Hunger, aber ich wäre schon zufrieden gewesen, wenn die Wirtin meinen Koffer angenommen hätte und mich diese einzige Nacht im Hotel hätte schlafen lassen, und sei es im Sessel in der Halle. Der Wächter lachte über meine Naivität:

»Sei keine Schwuchtel«, sagte er in krudem Karibisch zu mir. »Bei so einem Haufen Geld geht diese Madame um sieben Uhr schlafen und steht am nächsten Tag erst um elf wieder auf.«

Das schien mir so einleuchtend, dass ich über die Straße ging und mich auf eine Bank im Parque de Bolívar setzte, um dort auf meine Freunde zu warten und niemanden zu stören. Die welken Bäume waren im Licht von der Straße kaum zu sehen, denn die Laternen im Park wurden nur an Sonntagen und an großen Feiertagen angezündet. Die Marmorbänke trugen Spuren von Inschriften, die oft entfernt und von frechen Poeten erneuert worden waren. Aus dem Palast der Inquisition mit seiner kolonialen Fassade aus behauenem Stein und dem Tor einer bischöflichen Basilika war das untröstliche Klagen eines kranken Vogels zu hören, der nicht von dieser Welt sein konnte. Plötzlich überkam mich das Verlangen zu rauchen und zugleich das Verlangen zu lesen, zwei Laster, die sich mir in meiner Jugend ob ihrer Dreistigkeit und Zähigkeit vermengten. Huxleys Roman Kontrapunkt des Lebens, den ich im Flugzeug wegen meiner physischen Angst nicht hatte weiterlesen können, schlummerte in meinem weggeschlossenen Koffer. Also zündete ich die letzte Zigarette mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Schrecken an und rauchte sie nur halb, um eine Reserve für diese Nacht ohne Morgen zu haben.

Als ich schon in der Verfassung war, auf meiner Bank schlafen zu wollen, kam es mir plötzlich so vor, als ob sich etwas zwischen den dichten Schatten der Bäume versteckte. Es war das Reiterstandbild von Simon Bolívar. Kein Geringerer: General Simon Antonio de la Santísima Trinidad Bolívar y Palacios, mein Heros, seitdem der Großvater es mir verordnet hatte, in glänzender Galauniform und mit dem Kopf eines römischen Imperators, auf den die Schwalben geschissen hatten.

Er war weiterhin mein Held, unvergessbar, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner unverbesserlichen Inkonsequenz. Schließlich war sie kaum mit der zu vergleichen, mit der mein Großvater sich den Rang eines Obersts erkämpft und dabei so oft sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, in Kriegen, die von den Liberalen gegen eben jene konservative Partei geführt wurden, die Bolívar gegründet und gefördert hatte. In solchen Sternennebeln bewegte ich mich, als hinter mir eine schneidende Stimme ertönte, die mich zurück auf den Boden brachte:

»Hände hoch!«

Ich hob sie erleichtert, in der Gewissheit, dass endlich meine Freunde da waren, sah mich aber dann zwei ungeschlachten und eher zerlumpten Polizisten gegenüber, die mit ihren neuen Gewehren auf mich zielten. Sie wollten wissen, warum ich mich nicht an die Ausgangssperre hielt, die zwei Stunden zuvor begonnen hatte. Ich wusste gar nicht, dass sie, wie die Polizisten mir mitteilten, am Sonntag zuvor erlassen worden war, hatte auch kein Signalhorn oder Glocken gehört, noch hatte es irgendeinen Hinweis gegeben, der mich darauf gebracht hätte, warum niemand auf der Straße war. Die Beamten wirkten eher träge als verständnisvoll, als sie meine Ausweispapiere entgegennahmen, während ich ihnen erklärte, warum ich mich hier aufhielt. Sie gaben mir die Papiere unbesehen zurück. Sie fragten mich, wie viel Geld ich bei mir hätte, und ich sagte ihnen, nicht ganz vier Pesos. Der Entschlossenere von den beiden bat mich um eine Zigarette, und ich zeigte den angerauchten Stummel, den ich vor dem Schlafen anzünden wollte. Er nahm ihn mir ab und rauchte ihn bis zu den Nägeln. Nach einer Weile packten sie mich am Arm und führten mich die Straße entlang, weniger wegen der gesetzlichen Bestimmung als wegen ihrer Lust zu rauchen, denn sie waren auf der Suche nach einem offenen Lokal, wo man die Zigaretten einzeln für einen Centavo kaufen konnte. Die Nacht war nun klar und frisch unter dem vollen Mond, und die Stille war wie eine unsichtbare Substanz, die man mit der Luft einatmen konnte. Da verstand ich, was mein Vater uns so oft erzählt und wir nie geglaubt hatten, dass er nämlich nach Mitternacht in der Stille des Friedhofs Geige übte, um das Gefühl zu haben, seine Liebeswalzer würden im ganzen Karibikraum zu hören sein.

Der vergeblichen Suche nach losen Zigaretten überdrüssig, verließen wir die Stadtmauern und gingen zu einem Kai der Küstenschiffe hinter dem öffentlichen Markt, ein belebter Platz, wo die Schoner aus Cura9ao, Aruba und anderen kleinen Antilleninseln festmachten. Dort amüsierten sich nachts sehr lustige und nützliche Menschen, die aufgrund ihres Berufs trotz der Ausgangssperre ein Recht auf einen Passierschein hatten. Sie aßen bis in die Früh unter freiem Himmel in einer Gaststätte mit guten Preisen und noch besserer Gesellschaft, weil dort nicht nur die Nachtarbeiter landeten, sondern alle, die etwas essen wollten, wenn es nirgendwo mehr etwas gab. Das Lokal hatte keinen richtigen Namen und war unter einem bekannt, der überhaupt nicht passte: La Cueva - die Höhle.

Die Polizisten waren hier wie zu Hause. Offensichtlich kannten sich die an den Tischen sitzenden Gäste schon seit eh und je und waren froh, zusammen zu sein. Es war unmöglich, einen Nachnamen aufzuschnappen, denn alle nannten sich bei den Spitznamen aus der Schulzeit und redeten laut schreiend gleichzeitig, ohne einander zu verstehen oder anzusehen. Alle trugen Arbeitskleidung, außer einem adonishaften Sechzigjährigen mit schneeigem Haupt, der in einem Smoking aus anderen Zeiten und in Begleitung einer reifen, noch sehr schönen Frau in einem abgetragenen Paillettenkleid mit zu viel echtem Schmuck erschienen war. Ihre Anwesenheit konnte ein klarer Hinweis auf ihren Status sein, denn es gab kaum Frauen, denen die Ehemänner erlaubten, an solch übel beleumdeten Orten aufzutauchen. Ich hätte die beiden für Touristen gehalten, wäre da nicht der kreolische Akzent gewesen, auch gaben sie sich locker und schienen mit allen anderen vertraut zu sein. Später erfuhr ich, dass sie nichts von dem waren, wonach sie aussahen, sondern ein weltfremdes Ehepaar aus Cartagena, das sich unter irgendeinem Vorwand festlich kleidete, um auswärts essen zu gehen, aber diesmal wegen der Ausgangssperre die Gastgeber schlafend und die Restaurants geschlossen vorgefunden hatte.

Sie luden uns denn auch zum Essen ein. Die anderen rückten an dem langen Tisch zusammen, und wir drei setzten uns etwas beengt und verlegen dazu. Auch die Polizisten wurden von dem Ehepaar so vertraulich wie Dienstboten behandelt. Der eine von ihnen war ernst und gewandt bei Tisch und reagierte wie ein Junge aus guter Familie. Der andere schien aus dem Lot zu sein, außer beim Essen und Rauchen. Eher aus Schüchternheit denn aus Anstand bestellte ich weniger als sie, und als ich merkte, dass ich bei meinem Hunger gut doppelt so viel hätte essen können, waren die anderen schon fertig.

Der Besitzer und einzige Kellner von La Cueva hieß Juan de las Nieves, war ein junger Schwarzer von einer beklemmenden Schönheit, der sich wie ein Muselmann in blütenweiße Tücher wickelte und immer eine frische Nelke hinter dem Ohr trug. Am auffälligsten war jedoch seine übermäßige Intelligenz, die er ganz dafür einsetzte, selbst glücklich zu sein und andere glücklich zu machen. Offensichtlich fehlte ihm nicht viel, um eine Frau zu sein, und er hatte den wohl begründeten Ruf, nur mit seinem Gatten zu schlafen. Niemand machte je einen schlechten Scherz über seine Eigenart, denn er war so geistreich und schlagfertig, dass keine Gefälligkeit ohne Dank und keine Beleidigung ungesühnt blieb. Er machte alles allein, kochte genau das, was jedem Gast schmeckte, briet die grünen Bananenscheiben mit der einen Hand, während er mit der anderen die Rechnungen schrieb, und hatte nur die kümmerliche Hilfe eines etwa sechsjährigen Jungen, der ihn Mama nannte. Als wir uns von dort verabschiedeten, war ich bewegt über diese Entdeckung, aber es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass dieser Ort der ausgelassenen Nachtbummler einer der unvergesslichsten in meinem Leben sein würde.

Nach dem Essen begleitete ich die Polizisten auf ihren verspäteten Rundgängen. Der Mond war ein goldener Teller am Himmel. Ein leichter Wind kam auf und trug aus der Ferne Fetzen von Musik und das Geschrei eines großen Festes herüber. Doch die Beamten wussten, dass wegen der Ausgangssperre keiner in den Armenvierteln ins Bett ging, stattdessen organisierten die Leute Feste, zu denen alle beitrugen, jede Nacht in einem anderen Haus, und gingen dann bis zum Tagesanbruch nicht auf die Straße.

Als es zwei Uhr schlug, klopften wir bei meinem Hotel, denn die Freunde mussten ja inzwischen angekommen sein, doch diesmal schickte der unfreundliche Wächter uns zum Teufel, weil wir ihn für nichts und wieder nichts geweckt hatten. Da merkten die Beamten, dass ich keinen Platz zum Schlafen hatte, und beschlossen, mich in die Kaserne abzuführen. Ich dachte, sie nähmen mich auf den Arm, und fand das so dreist, dass mir die gute Laune verging und ich unflätig wurde. Überrascht von meiner kindischen Reaktion, drückte mir einer der beiden den Gewehrlauf in den Magen und wies mich in meine Schranken:

»Reiß dich zusammen und vergiss nicht, du bist immer noch wegen Verstoßes gegen die Ausgangssperre festgenommen«, sagte er und lachte sich halb tot.

So schlief ich - in einer Sechserzelle und auf einer von fremdem Schweiß getränkten Matte - meine erste glückliche Nacht in Cartagena.

In die Seele der Stadt einzudringen war sehr viel leichter, als den ersten Tag zu überleben. Nach knapp zwei Wochen hatte ich die Angelegenheit mit den Eltern geklärt, die meinen Ent-schluss, in einer Stadt ohne Krieg zu leben, bedenkenlos billigten. Die Hotelbesitzerin, der es Leid tat, mich zu einer Nacht Gefängnis verdammt zu haben, brachte mich mit zwanzig anderen Studenten in einem Schuppen unter, der gerade erst auf der Dachterrasse ihres wunderschönen Hauses aus der Kolonialzeit errichtet worden war. Ich hatte keinen Grund zur Klage, denn der Raum war eine karibische Version des Schlafsaals im Liceo und, alles inbegriffen, zahlte ich weniger als für die Pension in Bogotá.

Der Eintritt in die juristische Fakultät war in einer Stunde mit einer Aufnahmeprüfung erledigt, die der Dekan der Fakultät, Ignacio Vélez Dante, zusammen mit einem Professor für Politische Ökonomie abnahm, dessen Name mir aus dem Gedächtnis entschwunden ist. Wie üblich fand die Aufnahmeprüfung vor den versammelten Studenten des jeweiligen Studienjahrs, in meinem Fall also des zweiten, statt. Von Anfang an fiel mir die Klarheit des Urteils und die sprachliche Präzision der beiden Professoren auf, und das in einer Region, die im Landesinneren für ihre sprachliche Lässlichkeit bekannt war. Das erste Thema, das ausgelost wurde, war der Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten, über den ich so gut wie nichts wusste. Leider hatte ich noch nicht die neuen amerikanischen Romanciers gelesen, die uns gerade erst erreichten, aber ich hatte das Glück, dass Dr. Valdés zufällig mit der Erwähnung von Onkel Toms Hütte begann, einem Roman, den ich aus der Oberschule gut kannte. Ich packte die Gelegenheit beim Schöpf. Die beiden Professoren waren wohl einem Anfall von Gefühlsseligkeit erlegen, denn die sechzig Minuten, die für die Prüfung vorgesehen waren, gingen ganz und gar in einer emotionalen Analyse der Schändlichkeit des Sklavenregimes in den Südstaaten dahin. Weiter kamen wir nicht. Damit erwies sich das, was ich als russisches Roulette vorausgesehen hatte, als anregende Unterhaltung, die mir eine gute Note und herzlichen Applaus einbrachte.

So kam ich an die Universität, um mein zweites Jahr Jura zu beenden, allerdings unter der nie erfüllten Bedingung, dass ich in ein oder zwei Fächern, die ich noch aus dem ersten Jahr in Bogotá mitschleppte, eine Ergänzungsprüfung ablegte. Einige meiner Kommilitonen begeisterten sich für meine Art, die Themen zu domestizieren, weil sie sich an einer im strengen Akademismus verharrenden Universität für kreative Freiheit engagierten. Das entsprach meinen einsamen Wünschen seit der Zeit am Liceo, nicht weil ich einem billigen Widerspruchsgeist huldigte, sondern weil darin meine einzige Hoffnung lag, die Prüfungen ohne Büffeln zu bestehen. Doch eben denjenigen, die sich für eine Unabhängigkeit des Urteils einsetzten, blieb dann doch nichts anderes übrig, als sich ins Unabänderliche zu fügen, und sie bestiegen das Prüfungsschafott mit dem auswendig gelernten Wissen aus den atavistischen Wälzern der Kolonialzeit. Im wirklichen Leben waren sie zum Glück gewieft darin, die beitragspflichtigen Bälle freitagabends aufrechtzuerhalten, obwohl die mit dem Belagerungszustand verbundene Repression immer dreister und gefährlicher wurde. Solange es die Sperrstunde gab, wurden die Bälle durch dunkle Abmachungen mit den Ordnungshütern gewährleistet, und als die Sperrstunde aufgehoben wurde, lebten sie mit erneuerter Kraft wieder aus der Agonie auf. Vor allem in Torices, Getsemaní und Pie de la Popa, den fidelsten Vierteln in jener düsteren Zeit. Man musste sich nur aus dem Fenster lehnen und sich das Fest aussuchen, das einem am meisten zusagte, und dann konnte man für fünfzig Centavos bis zum Morgengrauen zur heißesten karibischen Musik tanzen, die durch dröhnende Lautsprecher verstärkt wurde. Die Partnerinnen, die wir gratis mitbringen konnten, waren eben die Schülerinnen, die wir die Woche über nach Schulschluss sahen, nur waren sie jetzt für die Sonntagsmesse gekleidet und tanzten wie unschuldige Lebemädchen unter dem aufmerksamen Auge von Anstandstanten oder freigelassenen Müttern. In einer jener Jagdnächte lief ich gerade durch Getsemaní, das Sklavenviertel der Kolonialzeit, als ich an einem kräftigen Schlag auf die Schulter, verbunden mit einer dröhnenden Stimme, eine Losung erkannte:

»Alter Gauner!«

Es war Manuel Zapata Olivella, eingefleischter Bewohner der Galle de la Mala Crianza, wo einst schon die Großeltern seiner afrikanischen Ururgroßeltern gewohnt hatten. Wir hatten uns inmitten des Aufruhrs vom 9. Juli in Bogotá getroffen und staunten nun darüber, uns in Cartagena lebendig wiederzusehen. Manuel war nicht nur Armenarzt, sondern auch Romancier, politischer Aktivist und Förderer der karibischen Musik, vor allem aber hatte er die Berufung, sich um die Probleme seiner Mitmenschen zu kümmern. Kaum hatten wir uns über unsere Erlebnisse an dem unheilvollen Freitag und über unsere Zukunftspläne ausgetauscht, schlug er mir vor, mein Glück mit dem Journalismus zu versuchen. Einen Monat zuvor hatte der Liberale Domingo López Escauriaza die Zeitung El Universal gegründet, deren Chefredakteur Clemente Manuel Zabala war. Von ihm hatte ich schon gehört, allerdings nicht in seiner Eigenschaft als Journalist, sondern als Musikgelehrter und Kommunist im Ruhestand. Zapata Olivella drängte darauf, dass wir ihn aufsuchen sollten, da er wusste, dass Zabala nach neuen Leuten Ausschau hielt, um ein Beispiel von kreativem Journalismus zu setzen, das sich von dem routinemäßig kniefälligen Schreiben unterschied, das im Land üblich war, vor allem in Cartagena, damals rückwärtsgewandt wie kaum eine andere Stadt.

Mir war völlig klar, dass Journalismus nicht meine Sache war. Ich wollte ein anderer Schriftsteller sein, versuchte das aber durch die Imitation von Autoren zu erreichen, die nichts mit mir zu tun hatten. In jener Zeit hatte ich eine Denkpause eingelegt, da ich mich nach den ersten drei in Bogotá veröffentlichten Erzählungen, die von Eduardo Zalamea und anderen Kritikern sowie von guten und schlechten Freunden gepriesen worden waren, in einer Sackgasse befand. Gegen meine Einwände beharrte Zapata Olivella darauf, dass Literatur und Journalismus letztlich auf dasselbe hinausliefen und dass eine Verbindung zu El Universal mir gleich dreierlei bieten könne: auf würdige und nützliche Weise meinen Lebensunterhalt zu sichern, mich in einen Betrieb einzugliedern, der einen wichtigen Berufszweig repräsentierte, und mit Cle-mente Manuel Zabala zusammenzuarbeiten, dem denkbar besten Lehrer, was Journalismus anging. Diese einfache Argumentation traf auf meine Schüchternheit und damit auf eine Sperre, die mich vor einem Unglück hätte retten können. Doch Zapata Olivella konnte sich mit einer Niederlage nicht zufrieden geben und vergatterte mich darauf, am nächsten Tag um fünf Uhr nachmittags im Haus Nummer 381 der Galle San Juan de Dios anzutreten, dem Sitz der Zeitung.

In der Nacht schlief ich unruhig. Am nächsten Tag fragte ich beim Frühstück die Wirtin, wo die Galle San Juan de Dios liege, und sie zeigte sie mir vorn Fenster aus.

»Da drüben«, sagte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger, »nur zwei Straßen weiter.«

Don waren die Büros von El Universal, sie lagen der riesigen goldgelben Kirchenmauer von San Pedro Claver gegenüber, dem ersten Heiligen aus der Neuen Welt, dessen unverwester Körper seit mehr als hundert Jahren unter dem Hauptaltar ausgestellt ist. Das Zeitungsgebäude stammte aus der Kolonialzeit und war in der Republik renoviert und verziert worden, hatte zwei große Türen und einige Fenster, durch die man alles sah, was zu El Universal gehörte. Wahren Schrecken flößte mir ein, was ich etwa drei Meter vom Fenster entfernt hinter einer Balustrade aus unbearbeitetem Holz entdeckte: Ein einsamer, reifer Mann, gekleidet in weißen Drillich, dunkelhäutig und mit hartem schwarzen Indiohaar, saß dort an einem alten Schreibtisch, auf dem sich die Papiere stapelten, und schrieb etwas mit Bleistift. Ich lief noch einmal in umgekehrter Richtung an den Fenstern vorbei, fasziniert und beklommen, und noch mal hin und zurück, und auch beim vierten Mal hatte ich keinen Zweifel, dieser Mann musste Clemente Manuel Zabala sein; er sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, nur noch furchterregender. Verschreckt beschloss ich einfach, nachmittags nicht zu der Verabredung mit diesem Mann zu gehen, dessen Anblick schon durchs Fenster verriet, dass er zu viel über das Leben und sein Handwerk wusste. Ich ging zurück ins Hotel und schenkte mir wieder einmal einen meiner typischen Tage ohne Gewissensbisse, lag pausenlos rauchend mit Andre Gides Die Falschmünzer auf dem Bett. Um fünf Uhr nachmittags erbebte, wie bei einem Gewehrschuss, die Zimmertür von einem trockenen Knall.

»Jetzt aber los, Scheiße!«, schrie Zapata Olivella vom Eingang her. »Zabala wartet auf dich, und niemand in diesem Land kann sich den Luxus leisten, ihn zu versetzen.«

Der Anfang war mühsamer, als ich es mir in einem Albtraum vorgestellt hätte. Zabala empfing mich und wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte. Er rauchte ununterbrochen und war von einer Ruhelosigkeit, die durch die Hitze anscheinend noch gesteigert wurde. Er zeigte uns alles. Auf der einen Seite lagen die Büros des Direktors und der Geschäftsführung. Auf der anderen Seite der Redaktionssaal und ein Raum mit drei Arbeitstischen, die zu dieser frühen Stunde noch nicht besetzt waren, dazu eine Druckmaschine, die einen Putsch überlebt hatte, und nur zwei Setzmaschinen.

Eine große Überraschung war, dass Zabala meine drei Erzählungen gelesen hatte und ihm der Begleittext von Zalamea gerechtfertigt erschien.

»Mir nicht«, sagte ich. »Mir gefallen die Geschichten nicht. Ich habe sie aus einem eher unbewussten Impuls heraus geschrieben, und als ich sie dann gedruckt las, wusste ich nicht mehr weiter.«

Zabala sog den Rauch tief ein und sagte zu Manuel Zapata Olivella:

»Das ist ein gutes Zeichen.«

Manuel packte die Gelegenheit am Schopf und sagte zu ihm, ich könnte ihm vielleicht in der freien Zeit, die mir die Universität ließ, in der Zeitung nützlich sein. Worauf Zabala meinte, daran habe er auch schon gedacht, als Manuel um den Termin gebeten habe. Dr. López Escauriaza, dem Direktor, stellte er mich als den möglichen Mitarbeiter vor, von dem er am Abend zuvor gesprochen hatte.

»Das wäre wunderbar«, sagte der Direktor mit seinem ewigen Lächeln eines Gentlemans alter Schule.

Es kam nichts weiter dabei heraus, doch Zabala bat mich, am nächsten Tag noch einmal vorbeizuschauen, da er mich Héctor Rojas Herazo vorstellen wolle, der ein guter Lyriker und Maler sei und zudem sein Starkolumnist. Aus einer Schüchternheit heraus, die ich mir heute nicht mehr erklären kann, sagte ich ihm nicht, dass Rojas Herazo am Colegio San José mein Zeichenlehrer gewesen war. Kaum hatten wir die Zeitung verlassen, machte Manuel vor der imposanten Fassade von San Pedro Claver auf der Plaza de la Aduana einen Luftsprung und rief in vorzeitigem Jubel:

»Siehst du, Tiger, alles unter Dach und Fach!«

Ich umarmte ihn herzlich, um ihn nicht zu enttäuschen, hatte aber ernsthafte Zweifel, was meine Zukunft betraf. Dann fragte mich Manuel, wie mir denn Zabala gefallen habe, und ich sagte die Wahrheit. Ich hielt ihn für einen Seelenfischer. Das war vielleicht der ausschlaggebende Grund dafür, dass sich die jungen Leute seine Vernunft und seine Sorgfalt zunutze machten. Ich kam zu dem altklugen und zweifellos falschen Schluss, dass es vielleicht diese Art war, die Zabala daran gehindert hatte, eine entscheidende Rolle im öffentlichen Leben zu spielen.

Manuel rief mich abends an und wollte sich vor Lachen über ein Gespräch ausschütten, das er mit Zabala geführt hatte. Dieser hatte sehr begeistert über mich gesprochen und noch einmal bekräftigt, dass ich eine wichtige Akquisition für die Meinungsseite darstelle und der Direktor derselben Ansicht sei. Der wahre Grund von Manuels Anruf war jedoch, dass er mir erzählen wollte, Zabala habe sich nur über meine krankhafte Schüchternheit besorgt gezeigt, weil diese sich in meinem Leben als großes Hindernis erweisen könne.

Im letzten Augenblick entschied ich mich doch noch dafür, wieder in der Zeitung aufzutauchen, und zwar nur deshalb, weil am Morgen ein Zimmergenosse die Tür zum Duschraum geöffnet und mir de Meinungsseite von El Universal unter die Nase gehalten hatte. Da gab es eine beängstigende Meldung über meine Ankunft in der Stadt; man erklärte mich darin zum Schriftsteller, bevor ich es war, sowie zum künftigen Journalisten, und das keine vierundzwanzig Stunden nachdem ich zum ersten Mal ein Zeitungsgebäude von innen gesehen hatte. Manuel, der mich gleich darauf anrief, um zu gratulieren, warf ich mit unverhohlener Wut vor, er habe etwas Unverantwortliches verfasst, ohne sich mit mir abzusprechen. Als ich dann aber erfuhr, dass Maestro Zabala die Notiz eigenhändig geschrieben hatte, veränderte sich etwas in mir, vielleicht für immer. Ich gab mir jedenfalls einen Ruck und ging in die Redaktion, um ihm zu danken. Er schenkte mir kaum Beachtung, stellte mich aber Héctor Rojas Herazo vor, einem Mann in Khakihosen und einem Hemd mit Amazonasblüten, der große Worte herausdonnerte und im Gespräch nicht lockerließ, bis er seine Beute am Wickel hatte. Rojas Herazo konnte sich natürlich nicht an mich als an einen seiner vielen Schüler im Colegio San José erinnern.

Maestro Zabala - wie ihn alle nannten - brachte uns in Schwung, indem er zwei, drei gemeinsame Freunde und andere, die ich kennen lernen musste, erwähnte. Dann ließ er uns allein, kehrte, als hätte er nie etwas mit uns zu tun gehabt, in den erbitterten Krieg zurück, den er mit seinem feuerroten Stift gegen eilige Manuskripte führte. Héctor redete im leichten Regengeräusch der Setzmaschinen weiter, als habe auch er nichts mit Zabala zu tun. Er war ein unermüdlich eloquenter Gesprächspartner, von einem blendenden Sprachwitz, ein Abenteurer der Phantasie, der unglaubliche Wirklichkeiten erfand, an die er schließlich selber glaubte. Wir unterhielten uns stundenlang über andere lebende oder bereits gestorbene Freunde, über Bücher, die nie hätten geschrieben werden dürfen, über Frauen, die uns vergessen hatten und die wir nicht vergessen konnten, über die paradiesischen Strande der Karibik in Tolú - seinem Geburtsort -sowie über die unschlagbaren Hexer und die biblischen Katastrophen in Aracataca. Über alles Gehabte und Gewünschte, tranken nichts dabei, atmeten kaum und rauchten bis zum Gehtnichtmehr in der Angst, unser Leben könnte für all das nicht langen, was wir noch zu besprechen hatten.

Um zehn Uhr nachts, als die Zeitung schloss, zog Maestro Zabala sein Jackett über, band die Krawatte um und lud uns mit einem Ballettschritt, der nicht mehr sehr jugendlich wirkte, zum Essen ein. Ins La Cueva, wie voraussehbar, wo die beiden davon überrascht wurden, dass Juan de las Nieves und ein paar späte Gäste mich als alten Kunden wiedererkannten. Die Überraschung steigerte sich, als einer der Polizisten aus meiner ersten Nacht auftauchte, einen zweideutigen Scherz über meinen nächtlichen Aufenthalt in der Kaserne machte und mein eben erst angebrochenes Päckchen Zigaretten beschlagnahmte. Héctor seinerseits forderte Juan de las Nieves zu einem Turnier der Doppeldeutigkeiten, bei dem die Tischgäste fast vor Lachen platzten, während Maestro Zabala wohlgefällig schwieg. Ich wagte es, eine kleine Replik beizusteuern, die zwar nicht besonders geistreich war, mir jedoch immerhin dazu verhalf, in den kleinen Kreis der Gäste aufgenommen zu werden, die Juan de las Nieves bis zu viermal im Monat anschreiben ließ.

Nach dem Essen setzten Héctor und ich das Gespräch vom Nachmittag auf dem Paseo de los Märtires fort, gingen an der übel riechenden Bucht entlang, in der die republikanischen Abfälle des städtischen Marktes landeten. Es war eine wunderbare Nacht in der Mitte der Welt, und wir sahen, wie die ersten Schoner nach Curacao verstohlen ablegten. Im Morgengrauen steckte mir Héctor die ersten Lichter über die versunkene Geschichte von Cartagena auf, die, mit tränennassen Tüchern zugedeckt, vielleicht mehr den Tatsachen entsprach als die gefällige Version der Akademiker. Er belehrte mich über das Leben der zehn Märtyrer, an deren Heldentum die Marmorbüsten zu beiden Seiten der Promenade erinnerten. Die folkloristische Version - die seine, wie es schien -besagte, dass die Bildhauer die Namen und Jahreszahlen in die Sockel eingehauen hatten. Als die Büsten dann anlässlich der Hundertjahresfeier ihrer Aufstellung zum Säubern abgenommen wurden, habe man danach nicht mehr gewusst, welche Büste zu welchem Namen und Datum gehörte, so dass sie nach Gutdünken wieder auf die Sockel gesetzt werden mussten, weil niemand sich auskannte. Die Geschichte ging seit vielen Jahren als Witz um, ich dachte jedoch, dass es sich ganz im Gegenteil um einen Akt historischer Gerechtigkeit handelte, wenn diese namenlosen Heroen nicht so sehr wegen ihres gelebten Lebens als wegen ihres gemeinsamen Schicksals gewürdigt wurden.

Zu solchen schlaflosen Nächten kam es in meinen Jahren in Cartagena fast täglich, doch schon nach den ersten zwei oder drei nächtlichen Touren war mir klar, dass Héctor über eine unmittelbare Verführungskraft verfügte, verbunden mit einem komplizierten Sinn für Freundschaft, den man nur vorbehaltlos akzeptieren konnte, wenn man Héctor sehr liebte. Denn er war ein zartes Gemüt, das aber zu lauten und manchmal katastrophalen Wutausbrüchen neigte, nach denen er sich selbst als göttliches Gnadengeschenk feiern konnte. Dann verstand man, wie er war und warum Maestro Zabala sein Möglichstes tat, damit wir Héctor ebenso liebten wie er. Als Journalisten von der Ausgangssperre verschont, blieben wir in der ersten Nacht, wie in so vielen anderen Nächten, bis zum Tagesanbruch auf dem Paseo de los Märtires. Hectors Stimme und sein Gedächtnis waren nicht getrübt, als er den Widerschein des neuen Tages am Meereshorizont sah und sagte:

»Möge diese Nacht doch wie Casablanca enden.«

Er sagte nichts weiter, aber seine Stimme erweckte in mir in all seinem Glanz das Bild von Humphrey Bogart und Claude Rains, die Schulter an Schulter durch den Morgendunst auf den leuchtenden Horizont zugehen, und den schon damals legendären Satz des tragischen Happyends: »Dies ist der Anfang einer wunderbaren Freundschaft.«

Drei Stunden später weckte mich Maestro Zabala mit einem weniger glücklichen Satz am Telefon:

»Na, was macht das Meisterwerk?«

Es dauerte einige Minuten, bis ich begriff, dass er meinen Beitrag für den nächsten Tag meinte. Ich kann mich weder daran erinnern, dass wir irgendetwas Genaueres verabredet hatten, noch ob ich auf seine Aufforderung hin, einen ersten Beitrag zu schreiben, zu- oder abgesagt hatte, aber nach der verbalen Olympiade der vergangenen Nacht fühlte ich mich zu allem fähig. So sah es wohl auch Zabala, denn er zählte einige Themen des Tages auf, woraufhin ich ihm ein anderes vorschlug, das mir aktueller schien: die Sperrstunde.

Er gab mir keinerlei Richtlinien. Ich wollte das Abenteuer meiner ersten Nacht in Cartagena erzählen, und das tat ich auch, schrieb mit der Hand, weil ich mit den steinzeitlichen Maschinen in der Redaktion nicht zurechtkam. Es war eine schwere Geburt, die fast vier Stunden dauerte, und der Maestro ging das Manuskript in meiner Gegenwart durch, ohne dass seine Miene mir erlaubt hätte, seine Gedanken zu erraten, bis er dann eine sehr schonende Form fand, es mir zu sagen:

»Das ist nicht schlecht, aber man kann es unmöglich drucken.«

Das überraschte mich nicht. Im Gegenteil, ich hatte es vorausgesehen und war ein paar Minuten lang von der unangenehmen Last, Journalist zu sein, befreit. Aber Zabalas tatsächliche Gründe, die ich nicht kannte, waren entscheidend:

Seit dem 9. April gab es in jeder Zeitung des Landes einen Zensor der Regierung, der sich um sechs Uhr abends an einen Redaktionsschreibtisch setzte, als sei es sein eigener, und die Aufgabe hatte, keinen einzigen Buchstaben zu genehmigen, der auch nur entfernt die öffentliche Ordnung stören könnte.

Zabalas Beweggründe belasteten mich jedoch mehr als die der Regierung, denn ich hatte keinen Zeitungskommentar geschrieben, sondern einen subjektiven Bericht über ein persönliches Erlebnis, ohne jeden journalistisch-politischen Anspruch. Ich hatte die Sperrstunde auch nicht als legitimes Instrument des Staates behandelt, sondern vielmehr als List grober Polizisten, um sich Zigaretten zu einem Centavo zu verschaffen. Bevor Zabala mich zum Tode verurteilte, gab er mir zum Glück meinen Text zurück, den ich ganz umschreiben sollte, nicht für ihn, sondern für den Zensor, und war dann so barmherzig, ein zweischneidiges Urteil zu fällen.

»Der Text hat seine literarischen Meriten, ohne Frage«, sagte er. »Aber darüber sprechen wir später.«

So war er. Schon am ersten Tag in der Zeitung, als Zabala sich mit Zapata Olivella und mir unterhalten hatte, war mir seine merkwürdige Angewohnheit aufgefallen, mit dem einen zu sprechen und dabei dem anderen ins Gesicht zu sehen, während die Glut seiner Zigarette ihm die Finger versengte. Das machte mich zunächst unangenehm unsicher. Das Schlaueste, was mir aus reiner Schüchternheit dazu einfiel, war, ihm sehr aufmerksam und hoch interessiert zuzuhören, dabei aber nicht ihn, sondern Manuel anzuschauen, um dann meine eigenen Schlussfolgerungen aus dem Verhalten von beiden zu ziehen. Später, als wir uns mit Rojas Herazo unterhielten und dann mit Direktor López Escauriaza und noch vielen anderen, wurde mir klar, dass es sich um eine Eigenart Zabalas bei Gesprächen in einer Gruppe handelte. So verstand ich es, und er und ich konnten auf diese Weise über unvorsichtige Komplizen und unschuldige Mittelsmänner Gedanken und Gefühle austauschen. Nachdem mit den Jahren das Vertrauen gewachsen war, traute ich mich, ihm diesen Eindruck mitzuteilen, woraufhin er mir keineswegs überrascht erklärte, er wende dem Gesprächspartner fast das Profil zu, um ihm nicht den Zigarettenrauch ins Gesicht zu blasen. Er war so: Ich habe nie jemanden gekannt, der so liebenswürdig und vorsichtig war und ein so ziviles Wesen hatte wie er, denn es gelang ihm, immer das zu sein, was er sein wollte: ein weiser Mann im Hintergrund.

Bis dahin hatte ich eigentlich nur Reden und unreife Verse in Zipaquira geschrieben, dazu patriotische Aufrufe und Protesteingaben wegen des schlechten Essens; das war schon fast alles, wenn man von den Briefen an die Familie absah, die mir meine Mutter sogar dann noch korrigiert zurückschickte, als man mich schon für einen Schriftsteller hielt. Der Text, der schließlich auf der Meinungsseite veröffentlicht wurde, hatte nichts mehr mit dem zu tun, den ich geschrieben hatte. Nach den Korrekturen von Maestro Zabala und denen des Zensors waren von mir nur noch ein paar Fetzen lyrischer Prosa übrig geblieben, ohne Maß noch Stil, denen das grammatikalische Sektierertum des Korrektors den Rest gegeben hatte. Am Ende einigten wir uns auf eine tägliche Kolumne, die, vielleicht um die Verantwortung klein zu halten, unter meinem vollständigen Namen und einem feststehenden Titel erscheinen sollte: »Punto y aparte« - Punkt und Absatz.

Zabala und Rojas Herazo, von der täglichen Routine abgehärtet, trösteten mich über die Mühen meines ersten Textes hinweg, so dass ich mich an die zweite und dritte Kolumne wagte, die nicht besser wurden. Fast zwei Jahre lang blieb ich in der Redaktion, veröffentlichte einen oder sogar zwei Beiträge pro Tag, die ich der Zensur abtrotzte, namentlich gezeichnet oder ungezeichnet, und hätte fast die Nichte des Zensors geheiratet.

Ich frage mich noch heute, wie mein Leben ohne den Rotstift von Maestro Zabala verlaufen wäre und ohne die Daumenschrauben der Zensur, deren bloße Existenz schon eine schöpferische Herausforderung war. Doch der Zensor, getrieben von Verfolgungswahn, lebte in größerer Wachsamkeit als wir. Zitate von berühmten Autoren schienen ihm verdächtige Fallen, was sie oft auch waren. Er sah Gespenster. Er war der Abklatsch einer cervantinischen Figur, vermutete allenthalben versteckte Bedeutungen. An einem Abend seines schlechten Sterns, als er jede Viertelstunde auf die Toilette musste, wagte er sogar den Vorwurf, er sei drauf und dran, wegen all der Aufregung, die wir ihm besehenen, durchzudrehen.

»Scheiße!«, schrie er uns an. »Mein Arsch ist bald im Eimer!«

Die Polizei war militärisch organisiert worden, ein weiterer Beweis für die Zielstrebigkeit der Regierung, durch den Einsatz von politischer Gewalt das Land auszubluten, was an der Atlantikküste nur etwas milder ablief. Anfang Mai beschoss die Polizei jedoch ohne jeden Grund eine Prozession in den Straßen von Carmen de Bolívar, etwa zwanzig Meilen von Cartagena entfernt. Ich hatte eine sentimentale Schwäche für diesen Ort, in dem Tante Mama aufgewachsen war und Großvater Nicolás seine berühmten Goldfischlein erfunden hatte. Maestro Zabala, der in dem Nachbardorf San Jacinto geboren war, gab mir mit seltener Entschiedenheit den Auftrag, diese Nachricht zu kommentieren, ohne mich um die Zensur und die möglichen Folgen zu scheren. In meinem ersten unsignierten Artikel auf der Meinungsseite forderte ich von der Regierung eine gründliche Untersuchung des Übergriffs sowie eine Bestrafung der Verantwortlichen. Er hörte mit der Frage auf: »Was ist in Carmen de Bolívar geschehen?« Angesichts der Nichtbeachtung von offizieller Seite und schon im offenen Krieg mit der Zensur wiederholten wir die Frage in einer täglichen Notiz auf der gleichen Seite und mit wachsendem Nachdruck und waren durchaus bereit, die Regierung noch stärker in Verlegenheit zu bringen, als sie es ohnehin schon war. Nach drei Tagen ließ sich der Direktor der Zeitung von Zabala bestätigen, dass dieser sich mit der ganzen Redaktion abgesprochen hatte, und war einer Meinung mit uns, dass man das Thema nicht fallen lassen sollte. Also stellten wir weiterhin die Frage. Von Regierungsseite hörten wir inzwischen nur durch eine Indiskretion etwas: Es gab die Anweisung, uns versprengte Irre mit unserem Fragen allein zu lassen, bis uns die Puste ausginge. Das aber war nicht abzusehen, da sich unsere tägliche Frage schon als Grußformel auf der Straße eingebürgert hatte: »Hallo, Freund! Was ist in Carmen de Bolívar geschehen?«

Unerwartet und unangekündigt sperrte dann eines Abends eine Patrouille des Heeres mit großem Geschrei und Waffengetöse die Galle San Juan de Dios ab, und Oberst Jaime Polanía Puyo, Kommandant der Militärpolizei, betrat festen Schritts das Gebäude von El Universal. Er trug die schneeweiße Uniform der großen Tage mit den Lackledergamaschen, den Säbel an einer Seidenkordel, und die Knöpfe und Abzeichen glänzten so sehr, dass sie aus Gold zu sein schienen. Er genügte voll und ganz seinem Ruf, elegant und charmant zu sein, auch wenn wir wussten, dass er im Frieden wie im Kriege als Falke galt, was er Jahre später als Kommandant des kolumbianischen Bataillons in Korea beweisen sollte. Niemand rührte sich in den zwei angespannten Stunden, die der Oberst hinter verschlossenen Türen mit dem Direktor sprach. Sie tranken zweiundzwanzig Tassen schwarzen Kaffees, es gab aber keine Zigarette und keinen Alkohol, weil beide frei von Lastern waren. Als der Oberst herauskam, war er noch lockerer und verabschiedete sich von jedem von uns. Bei mir verweilte er ein bisschen länger, schaute mir mit seinen Luchsaugen scharf in die Augen und sagte:

»Sie werden es weit bringen.«

Mein Herz tat einen Angstsprung, weil ich dachte, er wisse womöglich schon alles über mich, und weil das Weiteste für ihn wohl der Tod war. In dem vertraulichen Bericht, den der Direktor Zabala gab, offenbarte er ihm, dass der Oberst jeden Autor der täglichen Beiträge bei Namen und Nachnamen kannte. Der Direktor hatte ihm daraufhin in einer für ihn typischen Haltung gesagt, dass der jeweilige Verfasser auf seinen Befehl hin handle und dass wie in den Kasernen auch in den Zeitungen Befehle befolgt würden. Der Oberst gab jedenfalls den Ratschlag, man solle sich bei dieser Kampagne etwas mäßigen, damit nicht am Ende irgendein Barbar aus seiner Höhle krieche, um im Namen der Regierung Ordnung zu schaffen. Der Direktor hatte verstanden, und wir alle verstanden auch das, was er nicht sagte. Am meisten hatte den Direktor überrascht, dass der Oberst das Innenleben der Zeitung so gut kannte, wie jemand, der dazugehörte. Keiner zweifelte daran, dass der Zensor sein Geheimagent war, obwohl dieser bei den sterblichen Überresten seiner Mutter schwor, er sei es nicht. Das Einzige, worauf der Oberst bei seinem Besuch nicht einging, war die täglich neu gestellte Frage. Der Direktor, der als weiser Mann galt, gab uns den Rat, alles zu glauben, was uns gesagt worden war, da die Wahrheit schlimmer sein konnte.

Seitdem ich mich im Kampf gegen die Zensur engagiert hatte, waren mir die Universität und auch meine Erzählungen ferngerückt. Zum Glück gingen die meisten Professoren nicht die Anwesenheitsliste durch, was das Schwänzen begünstigte. Zudem litten die liberalen Professoren, die meine Scharmützel mit der Zensur kannten, mehr als ich bei den Prüfungen und bemühten sich, mir Hilfestellung zu geben. Heute, da ich versuche, über jene Tage zu erzählen, finde ich sie in meiner Erinnerung nicht, und so glaube ich inzwischen dem Vergessen mehr als dem Gedächtnis.

Meine Eltern schliefen wieder ruhig, nachdem ich sie hatte wissen lassen, dass ich bei der Zeitung genügend verdiente, um zu überleben. Das stimmte nicht. Das Monatsgehalt eines Volontärs reichte mir kaum für eine Woche. Nach knapp drei Monaten verließ ich das Hotel mit unbezahlbaren Schulden, die mir die Wirtin später für eine Meldung auf der Gesellschaftsseite über den fünfzehnten Geburtstag ihrer Enkelin erließ. Aber auf so ein Geschäft ließ sie sich nur einmal ein.

Der belebteste und kühlste Schlafsaal der Stadt war immer noch der Paseo de los Mártires, sogar zu Zeiten der Sperrstunde. Wenn sich die fröhlichen Runden spät in der Nacht auflösten, dämmerte ich dort auf einer Bank sitzend vor mich hin. Oft schlief ich auch im Lager der Zeitung auf den Papierrollen oder erschien, meine Zirkushängematte unterm Arm, in den Zimmern anderer, vernünftiger Studenten und blieb, solange sie meine Albträume und meine schlechte Angewohnheit, im Schlaf zu reden, aushielten. Auf diese Weise überlebte ich, dem Glück und dem Zufall überlassen, aß, was es gerade gab, und schlief, wo Gott es wollte, bis die humanitär gesinnte Sippe der Franco Münera mir zwei Essen pro Tag für einen Mitleidspreis anbot. Der Vater der Sippe - Bolívar Franco Pareja - war ein denkwürdiges Exemplar eines Volksschullehrers, und er hatte eine fröhliche Familie, die für Künstler und Schriftsteller schwärmte und mich zwang, mehr zu essen, als ich zahlte, damit mir das Hirn nicht verdorrte. Oft hatte ich nicht einmal das bisschen Geld, aber sie gaben sich mit Rezitationen nach Tisch zufrieden. Jorge Manriques Verse zum Tod seines Vaters und die Zigeunerromanzen von García Lorca waren häufige Unkostenbeiträge bei diesem ermutigenden Geschäft.

Die Bordelle unter offenem Himmel auf den Sandbänken von Tesca, fern ab von der verstörenden Stille innerhalb der Stadtmauern, waren gastfreundlicher als die Touristenhotels am Strand. Ein halbes Dutzend Studenten ließ sich in El Cisne häuslich nieder, um sich nach Einbruch der Nacht im gleißenden Licht der Tanzfläche auf die Schlussprüfungen vorzubereiten. Die Meeresbrise und das Tuten der Schiffe im Morgengrauen halfen uns über das Dröhnen der karibischen Blechmusik und das provozierende Verhalten der Nutten hinweg, wenn sie ohne Höschen in sehr weiten Röcken tanzten, die der Wind bis zur Taille hob. Ab und zu lud uns eins der Mädchen, die vielleicht Sehnsucht nach ihrem Papa hatte, mit dem bisschen Liebe, das ihr bei Morgengrauen noch übrig blieb, zum Schlafen ein. Eine von ihnen, an deren Namen und Maße ich mich genau erinnere, ließ sich von den Träumereien verführen, die ich ihr im Schlaf erzählte. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich Römisches Recht ohne Tricks bestand und mehreren Razzien der Polizei entging, als es verboten wurde, in den Anlagen zu schlafen. Wir verstanden uns wie in einer zweckmäßigen Ehe, nicht nur im Bett, sondern auch weil ich am frühen Morgen allerlei häusliche Dinge für sie erledigte, damit sie ein paar Stunden länger schlafen konnte.

Zu der Zeit hatte ich mich in der Zeitungsarbeit gut zurechtgefunden, die ich allerdings stets eher als literarische denn als journalistische Aufgabe betrachtete. Bogotá war ein Albtraum der Vergangenheit, über tausend Kilometer entfernt und mehr als zweitausend Meter über dem Meeresspiegel, und nur der Gestank der Asche vom 9. April war mir davon in der Erinnerung geblieben. Ich konnte mich immer noch für Kunst und Literatur entflammen, besonders bei den mitternächtlichen Runden, verlor aber allmählich etwas von meinem Enthusiasmus, Schriftsteller zu werden. Das ging so weit, dass ich nach den drei Erzählungen in El Espectador keine weitere mehr schrieb, bis Eduarde Zalamea mich Anfang Juli aufstöberte und mir durch Maestro Zabala ausrichten ließ, ich solle ihm nach sechsmonatigem Schweigen wieder eine Geschichte für seine Zeitung schicken. Angesichts der Person, von der die Bitte kam, nahm ich lose Gedankenfäden aus meinen Kladden wieder auf und schrieb Die andere Rippe des Todes, die nur wenig mehr als das Bisherige bot. Ich weiß noch genau, dass ich keine Vorstellung von einer Handlung hatte und mir diese erst beim Schreiben ausdachte. Die Geschichte wurde am 25. Juli 1948 wie die vorherigen in der Beilage »Fin de Semana« veröffentlicht, und bis zum neuen Jahr, als mein Leben schon ein anderes war, schrieb ich dann keine Erzählungen mehr. Es fehlte nur noch, dass ich die wenigen Juravorlesungen aufgab, in die ich ab und zu mal ging - das letzte Alibi, das die Träume meiner Eltern nährte.

Ich hätte kaum vermutet, dass ich schon bald ein sehr viel besserer Student als je zuvor sein würde, und zwar in der Bibliothek von Gustavo Ibarra Merlano, einem neuen Freund, den Zabala und Rojas Herazo mir enthusiastisch vorgestellt hatten. Er war gerade mit einem Diplom der Escuela Normal Superior aus Bogotá heimgekehrt und schloss sich sofort den Runden im El Universal und den Diskussionen im Morgengrauen auf dem Paseo de los Mártires an. Neben Héctors vulkanischer Rhetorik und Zabalas kreativem Skeptizismus hat mich Gustavo mit der strengen Systematik bekannt gemacht, die meinen improvisierten und diffusen Vorstellungen, aber auch meinem leichtsinnigen Herzen bitter Not tat. Und all das mit einer großen Zärtlichkeit und einem eisernen Charakter.

Schon am nächsten Tag lud er mich an den Strand von Marbella ins Haus seiner Eltern ein, dessen Hinterhof das unermessliche Meer war und das über eine Bibliothek verfügte, die sich über eine zwölf Meter lange Wand erstreckte und in der Gustavo nur Bücher verwahrte, die man lesen musste, um ohne Gewissensbisse leben zu können. Seine Ausgaben der griechischen, lateinischen und spanischen Klassiker befanden sich in so gutem Zustand, dass sie ungelesen wirkten, auf die Seitenränder waren jedoch weise Anmerkungen gekritzelt, manchmal in Latein. Gustavo machte solche Bemerkungen auch laut, errötete dabei aber bis zu den Haarwurzeln und versuchte das mit beißendem Humor zu überspielen. Bevor ich ihn kennen lernte, hatte ich von einem Freund gehört: »Der Kerl ist ein Priester.« Ich begriff schnell, weshalb man so etwas glauben konnte; es nicht zu glauben wurde aber fast unmöglich, wenn man ihn erst mal gut kannte.

Bei diesem ersten Mal redeten wir ohne Unterbrechung bis zum Morgengrauen, und ich stellte fest, dass er sehr vieles und Unterschiedliches gelesen hatte, seine ganze Bildung aber auf der gründlichen Kenntnis der Werke der katholischen Intellektuellen jener Zeit fußte, Bücher, von denen ich noch nie gehört hatte. Er wusste alles, was man über die Dichtung wissen sollte, besonders über die griechischen und römischen Klassiker, die er im Original las. Er hatte ein wohl begründetes Urteil über die gemeinsamen Freunde und lieferte mir wertvolle Hinweise, die meine Zuneigung zu ihnen noch steigerte. Er bestätigte mir, wie wichtig es für mich sei, Cepeda, Vargas und Fuenmayor kennen zu lernen, die drei Journalisten aus Barranquilla, von denen mir Rojas Herazo und Maestro Zabala schon so viel erzählt hatten. Mir fiel auf, dass Gustavo neben all seiner intellektuellen und bürgerlichen Tugenden auch noch wie ein Olympiasieger schwamm und einen Körper hatte, der genau dafür geschaffen und trainiert schien. Am meisten Sorge machte ihm meine gefährliche Geringschätzung der griechischen und römischen Klassiker, die mir langweilig und nutzlos erschienen, mit Ausnahme der Odyssee, die ich im Liceo gelesen und passagenweise wieder und wieder gelesen hatte. Bevor ich mich verabschiedete, wählte er in der Bibliothek ein ledergebundenes Buch aus und übergab es mir mit einer gewissen Feierlichkeit: »Du kannst ein guter Schriftsteller werden«, sagte er, »aber du wirst nie ein sehr guter werden, wenn du die griechischen Klassiker nicht kennst.« Der Band enthielt die gesammelten Werke von Sophokles. In diesem Augenblick wurde Gustavo zu einem der entscheidenden Menschen in meinem Leben, denn schon bei der ersten Lektüre offenbarte König Ödipus sich mir als das vollkommene Werk schlechthin.

Für mich war es eine historische Nacht, weil ich zugleich Gustavo Ibarra und Sophokles entdeckt hatte und weil ich ein paar Stunden später fast eines schlimmen Todes im Zimmer meiner heimlichen Braut in El Cisne gestorben wäre. Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich daran, wie ein ehemaliger Zuhälter des Mädchens, den sie seit einem Jahr tot wähnte, tobend und fluchend die Zimmertür eintrat. Ich erkannte in dem Mann sofort einen guten Klassenkameraden aus der Volksschule in Aracataca wieder, der nun zornentbrannt zurückkam, um von seinem Bett Besitz zu ergreifen. Wir hatten uns seit der Schulzeit nicht mehr gesehen, und er war so taktvoll, sich dumm zu stellen, als er mich auf dem Bett erkannte, nackt und vor Angst besudelt.

In jenem Jahr lernte ich auch Ramiro und Oscar de la Espriella kennen, zwei Meister des endlosen Gesprächs, vor allem in Häusern, die von der christlichen Moral geächtet waren. Beide lebten mit ihren Eltern in Turbaco, sechzehn Kilometer von Cartagena entfernt, aber sie erschienen fast täglich bei den Treffen der Schriftsteller und Künstler im Eiscafe Americana, und sie lasen zu jener Zeit dasselbe wie ich. Ramiro, der sein Studium an der juristischen Fakultät in Bogotá absolviert hatte, stand der Gruppe um El Universal sehr nahe und veröffentlichte dort auch ab und zu eine Glosse. Sein Vater war ein harter Anwalt und ein unabhängiger Liberaler, und seine Mutter war bezaubernd und hatte eine lockere Zunge. Beide pflegten die gute Angewohnheit, sich mit jungen Leuten zu unterhalten. In unseren langen Gesprächen unter den üppigen Eschen in Turbaco verhalfen sie mir zu unschätzbaren Informationen über den Krieg der Tausend Tage, die literarische Quelle, die für mich mit dem Tod des Großvaters versiegt war. Von der Dame des Hauses habe ich das, wie mir scheint, verlässlichste Bild von General Rafael Uribe Uribe vermittelt bekommen, bis hin zu seiner ansehnlichen Erscheinung und dem Kaliber seiner Handgelenke.

Den besten Beleg dafür, wie Ramiro und ich zu jener Zeit wirkten, hat Cecilia Porras mit Öl auf Leinwand gebannt, eine Malerin, die sich trotz der Vorbehalte ihrer sozialen Schicht in Männerrunden wie zu Hause fühlte. Das Bild stellt uns beide an dem Cafétisch dar, wo wir uns mit ihr und anderen Freunden zweimal am Tag trafen. Als Ramiros und meine Wege sich trennten, entbrannte ein unversöhnlicher Streit darüber, wem das Bild gehöre. Cecilia löste das Problem salomonisch, sie schnitt die Leinwand mit der Gartenschere entzwei und gab jedem von uns seinen Teil. Jahre später ist meine zusammengerollte Hälfte im Schrank einer Wohnung in Caracas zurückgeblieben, und ich habe sie nicht wiederbekommen.

Anders als im Rest des Landes hatte die staatliche violencia in Cartagena noch keine Spuren der Zerstörung hinterlassen. Das änderte sich Anfang jenes Jahres, als unser Freund Carlos Alemán im vornehmen Kreis Mompox zum Abgeordneten des Bezirksrats gewählt wurde. Carlos war ein frisch gebacke-ner Rechtsanwalt und ein fröhliches Gemüt, doch der Teufel spielte ihm den bösen Streich, dass sich in der Eröffnungssitzung die beiden gegnerischen Parteien einen Schusswechsel lieferten und eine verirrte Kugel sein Schulterpolster versengte. Alemän muss sich nicht ohne Grund gedacht haben, dass eine so unnütze Legislative wie die unsere es nicht verdiente, sein Leben für sie zu opfern, und zog es vor, seine Diäten im Voraus in der guten Gesellschaft seiner Freunde auszugeben.

Oscar de la Espriella war ein mit allen Wassern gewaschener Nachtschwärmer und meinte mit William Faulkner, dass für einen Schriftsteller das Bordell der beste Wohnort sei: Ruhe am Vormittag, nachts immer Betrieb, und außerdem noch gute Beziehungen zur Polizei. Der Abgeordnete Alemán nahm das wörtlich und bewährte sich rund um die Uhr als unser Gastgeber. In einer jener Nächte bereute ich jedoch, Faulkners Illusionen aufgesessen zu sein, als ein ehemaliger Zuhälter von Mary Reyes, der Hausherrin, die Tür aufbrach, um den etwa fünfjährigen gemeinsamen Sohn zu entführen, der bei Mary lebte. Der aktuelle Beschützer, der Polizeioffizier gewesen war, kam in Unterhosen aus dem Schlafzimmer, um die Ehre und die Güter des Hauses mit seinem Dienstrevolver zu verteidigen, doch der Eindringling empfing ihn mit einer Kugelsalve, die wie Kanonendonner im Tanzsaal widerhallte. Der Sergeant versteckte sich verängstigt in seinem Zimmer. Als ich halb bekleidet aus dem meinen kam, betrachteten die Kurzzeitmieter von ihren Zimmern aus alle den kleinen Jungen, der am Ende des Gangs pinkelte, während ihn sein Vater, der in der Rechten den noch rauchenden Revolver hielt, mit der linken Hand kämmte. Zu hören waren nur die Schimpftiraden Marys, die dem Sergeanten vorwarf, ein Weichei zu sein.

In jenen Tagen kam einmal unangemeldet ein riesenhafter Mann in die Büros der Zeitung, zog sich mit großem Sinn für Theatralik das Hemd aus und spazierte durch die Redaktionsräume, um uns mit seinem Rücken und seinen Armen zu beeindrucken, die von steinharten Narben übersät waren. Bewegt davon, dass er uns so in Staunen versetzt hatte, erklärte er uns die Verheerungen auf seinem Leib mit Donnerstimme :

» Löwenkratzer!«

Das war Emilio Razzore, gerade in Cartagena angekommen, um alles für die Ankunft seines berühmten Familienzirkus vorzubereiten, eines der großen der Welt, der in der Woche zuvor mit dem Ozeandampfer Euskera unter spanischer Flagge Havanna verlassen hatte und am nächsten Samstag erwartet wurde. Razzore brüstete sich damit, schon vor seiner Geburt dem Zirkus angehört zu haben, und man musste ihn nicht in Aktion gesehen haben, um zu erkennen, dass er Dompteur für Raubtiere war. Er rief sie bei ihren Namen, als seien sie Familienmitglieder, und sie revanchierten sich mit einem ebenso innigen wie brutalen Verhalten. Er ging unbewaffnet in die Käfige der Tiger und Löwen, um sie mit der Hand zu futtern. Sein verhätschelter Bär hatte ihn so liebevoll umarmt, dass Razzore einen Frühling lang im Krankenhaus liegen musste. Die große Attraktion des Zirkus waren aber weder er noch der Feuerschlucker, sondern der Mann, der sich den Kopf abschraubte, diesen unter den Arm klemmte und um die Manege lief. Unvergesslich an Emilio Razzore war seine Standhaftigkeit. Nachdem ich ihm stundenlang fasziniert zugehört hatte, veröffentlichte ich in El Universal eine Glosse, in der ich die Aussage wagte, Razzore sei »auf eine ungeheuerliche Weise der humanste Mensch«, den ich je kennen gelernt hätte. Das waren in meinen einundzwanzig Jahren zwar noch nicht so viele gewesen, aber ich glaube, der Satz ist heute noch gültig. Wir aßen mit den Zeitungsleuten in La Cueva, und auch dort gewann er die Herzen mit den Geschichten über Raubtiere, die durch Liebe humanisiert wurden. Nachdem ich es mir lange überlegt hatte, traute ich mich in einer jener Nächte, ihn um Aufnahme in seinen Zirkus zu bitten, und sei es nur, um die Tigerkäfige zu putzen, wenn die Tiger nicht drin waren. Er sagte nichts, drückte mir aber schweigend die Hand. Ich verstand das als ein Erkennungszeichen des Zirkus und hielt die Sache für abgemacht. Der Einzige, dem ich es beichtete, war Salvador Mesa Nicholls, ein Dichter aus Bogotá, der eine verrückte Leidenschaft für die Zirkuswelt hatte und gerade als lokaler Teilhaber der Razzores nach Cartagena gekommen war. Auch er war in meinem Alter mit einem Zirkus herumgezogen, warnte mich aber: Wer zum ersten Mal die Clowns weinen sieht, möchte mit ihnen ziehen, bereut es aber am nächsten Tag. Dennoch billigte er meine Entscheidung nicht nur, sondern legte auch ein gutes Wort bei dem Dompteur für mich ein, stellte aber die Bedingung, dass wir es absolut geheim hielten, damit es nicht vor der Zeit bekannt würde. Das Warten auf den Zirkus, bis dahin schon aufregend genug, wurde für mich nun kaum erträglich.

Die Euskera kam nicht am vorgesehenen Tag, und es war unmöglich, eine Verbindung zu dem Schiff herzustellen. Nach einer weiteren Woche brachten wir von der Zeitung aus ein Netz von Funkamateuren zustande, das die Wetterbedingungen in der Karibik auskundschaften sollte, konnten aber nicht verhindern, dass man in Presse und Rundfunk über eine eventuell schreck-liche Nachricht zu spekulieren begann. Mesa Nicholls und ich sind in jenen fürchterlichen Tagen bei Emilio Razzore in seinem Hotelzimmer geblieben, ohne Schlaf und Essen. Wir sahen, wie er in sich versank und bei dem endlosen Warten an Fülle und Größe verlor, bis das Herz uns allen sagte, dass die Euskera nie mehr irgendwo vor Anker gehen würde und auch keinerlei Nachricht über ihr Schicksal zu erwarten war. Der Dompteur schloss sich noch einen Tag allein in sein Zimmer ein und besuchte mich dann am nächsten Tag in der Zeitung, um mir zu sagen, dass hundert Jahre täglichen Kampfs nicht an einem Tag zunichte gemacht werden könnten. Er fuhr also nach Miami, ohne Familie, ohne alles, um Stück für Stück aus dem Nichts den untergegangenen Zirkus wiederaufzubauen. Seine Entschlossenheit, der Tragödie zu trotzen, beeindruckte mich so stark, dass ich ihn nach Barranquilla begleitete, um mich am Flugzeug nach Florida von ihm zu verabschieden. Bevor er an Bord ging, dankte er mir für meine Entscheidung, mich seinem Zirkus anzuschließen, und versprach mir, dass er mich holen würde, sobald es etwas Konkretes gebe. Er verabschiedete sich mit einer so herzzerreißenden Umarmung, dass ich zutiefst die Liebe seiner Löwen verstand. Man hörte nie wieder von ihm.

Das Flugzeug nach Miami startete um zehn Uhr morgens am 16. September 1948, am selben Tag, an dem mein Bericht über Razzore erschien. Ich wollte noch am Nachmittag nach Cartagena zurückfahren, als mir einfiel, bei El Nacional vorbeizuschauen, einem Abendblatt, für das Germán Vargas und Álvaro Cepeda schrieben, die Freunde meiner Freunde aus Cartagena. Die Redaktion war in einem verwitterten Gebäude der Altstadt untergebracht und hatte eine lange Halle, die durch eine Holzbalustrade abgeteilt war. Hinten in der Halle schrieb ein junger blonder Mann in Hemdsärmeln an einer Maschine, deren Tasten wie Knaller in dem leeren Raum widerhallten. Ich näherte mich ihm fast auf Zehenspitzen, weil mich das schwermütige Knarren des Bodens einschüchterte, und wartete an der Balustrade, bis er sich zu mir umwandte und mich mit der klangvollen Stimme eines professionellen Rundfunksprechers, jedoch kurz angebunden fragte:

»Was ist los?«

Er hatte kurz geschnittenes Haar, scharfe Backenknochen und klare, intensiv blickende Augen, die von der Unterbrechung irritiert zu sein schienen. Ich antwortete, so gut ich konnte, Buchstaben für Buchstaben:

»Ich bin García Márquez.«

Erst als ich mich mit solcher Überzeugung meinen eigenen Namen aussprechen hörte, fiel mir ein, dass Germán Vargas unter Umständen gar nicht wusste, wer ich war, auch wenn meine Leute in Cartagena behaupteten, dass sie seit meiner ersten Erzählung oft mit den Freunden aus Barranquilla über mich gesprochen hätten. El National hatte zudem eine enthusiastische Notiz von Germán Vargas gedruckt, dem man bei literarischen Neuerscheinungen nichts vormachen konnte. Die Begeisterung, mit der er mich nun empfing, bestätigte mir, dass er sehr wohl wusste, wer ich war, und dass seine tatsächliche Wertschätzung noch größer war, als man mir gesagt hatte. Ein paar Stunden später lernte ich Alfonso Fuenmayor und Álvaro Cepeda in der Librería Mundo kennen, und wir gingen dann zum Aperitif ins Café Colombia. Don Ramón Vinyes, der weise Katalane, den ich so gerne kennen lernen wollte und den ich zugleich fürchtete, kam an diesem Abend nicht zu dem Sechs-Uhr-Treffen. Als wir mit fünf Gläsern hinter der Binde aus dem Café Colombia kamen, waren wir schon seit Jahren befreundet.

Es war eine lange Nacht der Unschuld. Álvaro, ein genialer Chauffeur, der umso sicherer und umsichtiger fuhr, je mehr er getrunken hatte, ließ keine der erinnerungswürdigen Orte auf seiner Route aus. Im Los Almendros, einem Gartenlokal unter blühenden Bäumen, das nur Fanatikern des Deportivo Junior Zutritt gewährte, gerieten sich mehrere Gäste derart in die Haare, dass es fast zu einer Schlägerei gekommen wäre. Ich versuchte, sie zu beruhigen, bis mir Alfonso riet, mich nicht einzumischen, weil es Pazifisten an den Orten der Fußballspezialisten schlecht ergehe. Ich verbrachte also die Nacht in einem Barranquilla, das für mich nicht dieselbe Stadt wie zuvor war, weder die meiner Eltern in ihren ersten Ehejahren, noch die, in der meine Mutter mit uns gegen die Armut gekämpft hatte, auch nicht die des Colegio San José, es war vielmehr mein erstes Barranquilla als Erwachsener, das ich im Paradies seiner Bordelle erlebte.

Der Barrio Chino erstreckte sich über vier Häuserkarrees, in denen Blechmusik die Erde zum Beben brachte, es gab aber auch häusliche Winkel, die wohltätigen Einrichtungen sehr nahe kamen, etwa die familiären Bordelle, deren Besitzer mit ihren Ehefrauen und Kindern den alten Kunden nach allen Regeln der christlichen Moral und der Höflichkeit eines Manuel Antonio Carreno aufwarteten. Manche Wine dienten auch als Bürgen, damit die Lehrmädchen mit Stammkunden auf Kredit schliefen. Bei Martina Alvarado, der ältesten Puffmutter, gab es eine heimliche Hintertür und humane Tarife für reuige Geistliche. Mit den Getränken wurde nicht getrickst, noch hatte man unverschämte Rechnungen oder böse Überraschungen mit Geschlechtskrankheiten zu fürchten. Die letzten französischen Mütterchen aus dem Ersten Weltkrieg, kränklich und traurig, setzten sich abends unter dem Stigma der roten Lampen vor die Haustür und erwarteten eine dritte Generation, die noch an ihre luststeigernden Kondome glaubte. Es gab auch Häuser mit klimatisierten Salons für die Zusammenkünfte von Verschwörern und Refugien für Bürgermeister, die vor ihren Frauen flohen.

Das Gato Negro mit seiner Tanzfläche unter einer Astromelienpergola war das Paradies der Handelsmarine, seitdem es von einer wasserstoffblonden Guajira-India gekauft worden war, die auf Englisch sang und unter der Theke halluzinogene Salben für Damen und Herren verkaufte. In einer Nacht, die in die Annalen einging, konnten Alvaro Cepeda und Quique Scopell den Rassismus von einem Dutzend norwegischer Matrosen nicht länger ertragen, die vor dem Zimmer der einzigen Schwarzen anstanden, während sechzehn weiße Mädchen schnarchend im Hof saßen, und sie forderten die Matrosen zum Kampf heraus. Zwei gegen zwölf schlugen sie die Norweger mit der blanken Faust in die Flucht, unterstützt von den weißen Mädchen, die aufwachten und glücklich mit ihren Stühlen nachhalfen. Zum Schluss, als absurder Akt der Entschädigung, wurde die splitternackte Schwarze zur Königin von Norwegen gekrönt.

Außerhalb des Barrio Chino gab es noch andere legale oder geheime Häuser, die alle gute Beziehungen zur Polizei unterhielten. Eines davon, in einem Armenviertel gelegen, bestand nur aus einem Patio mit riesigen blühenden Mandelbäumen, einem schäbigen Lädchen und einem Schlafzimmer mit zwei Feldbetten zum Vermieten. Als Ware dienten die blutarmen Mädchen der Nachbarschaft, die pro Nummer mit hoffnungslosen Säufern einen Peso verdienten. Álvaro Cepeda hatte den Ort zufällig entdeckt, als er sich bei einem Oktoberplatzregen verirrt und in dem Laden Zuflucht gesucht hatte. Die Wirtin lud ihn auf ein Bier ein und bot ihm statt einem gleich zwei Mädchen an sowie das Recht zur Wiederholung, solange der Regen anhielt. Von da an lud Álvaro Cepeda seine Freunde zu einem kalten Bier unter Mandelbäumen ein, nicht damit sie die kleinen Mädchen vögelten, sondern damit sie ihnen Lesen beibrachten. Den Fleißigsten verschaffte er Stipendien an den Staatsschulen, und eines dieser Mädchen war dann jahrelang Krankenschwester am Hospital de la Caridad. Der Wirtin schenkte Álvaro das Haus, und der erbärmliche Kinderhort behielt bis zu seinem natürlichen Untergang einen verlockenden Namen: »Das Haus der kleinen Mädchen, die sich vor Hunger verkaufen«.

Für meine erste historische Nacht in Barranquilla entschieden sie sich jedoch für das Haus der Negra Eufemia, das einen riesigen zementierten Hof zum Tanzen hatte. Rundherum, versteckt zwischen üppigen Tamarinden, lagen die kleinen Hütten für fünf Pesos die Stunde, vor denen bunt gestrichene Tischchen und Stühle standen, auf denen die Rohrdommeln nach Lust herumspazierten. Die monumentale und fast hundertjährige Eufemia empfing und teilte die Kunden persönlich am Eingang zu, wo sie hinter einem Büroschreibtisch mit dem einzigen unerklärlichen Requisit eines riesigen Kirchennagels saß. Die Mädchen wählte sie selbst nach guten Manieren und natürlichen Gaben aus. Jede gab sich den Namen, der ihr gefiel, manche zogen dann aber den Namen vor, auf den sie Álvaro Cepeda, der für den mexikanischen Film schwärmte, taufte: Irma die Böse, Susana die Perverse, Jungfrau der Mitternacht.

Beim Klang einer karibischen Kapelle, deren Bläser sich ekstatisch und mit voller Lunge den neuen Mambos von Pérez Prado hingaben, und dem Gesang einer Bolerogruppe, bei der man schlechte Erinnerungen vergaß, schien ein Gespräch unmöglich, wir waren jedoch alle darin geübt, uns schreiend zu unterhalten. Das Thema des Abends hatten Germán und Álvaro zur Sprache gebracht, es ging um die Gemeinsamkeiten zwischen Roman und Reportage. Sie waren überwältigt von der Reportage, die John Hershey gerade über die Atombombe von Hiroshima veröffentlicht hatte. Als unmittelbares journalistisches Zeugnis zog ich Die Pest zu London vor, bis mich die anderen darüber aufklärten, dass Daniel Defoe höchstens fünf oder sechs Jahre alt war, als in London die Pest wütete, die ihm als Vorbild diente.

Auf diesem Weg stießen wir zum Geheimnis des Grafen von Monte Christo vor, ein Thema, das die drei schon aus früheren Diskussionen mitschleppten. Es ging um ein Rätsel für Romanciers: Wie hat es Alexandre Dumas geschafft, dass ein naiver, ungebildeter Matrose, arm und zu Unrecht eingekerkert, als der reichste und gebildetste Mann seiner Zeit aus einer ausbruchsicheren Festung fliehen konnte? Die Antwort lautete: Edmond Dantés trug, als er in das Schloss If kam, bereits den Abt Paria in sich. Dieser hatte ihm in der Gefangenschaft die Essenz seiner Weisheit vermittelt und ihm enthüllt, was er für sein neues Leben wissen musste: den Ort, an dem ein märchenhafter Schatz verborgen lag, und den Fluchtweg. Das heißt: Dumas hatte zwei unterschiedliche Figuren entworfen und deren Schicksale dann vertauscht. Also war Dantés bei seiner Flucht bereits eine Figur in einer anderen, und von seinem ursprünglichen Selbst blieb ihm nicht mehr als der Körper eines guten Schwimmers.

Germán war klar, dass Dumas einen Matrosen als Helden gewählt hatte, damit der sich, nachdem man ihn ins Meer geworfen hatte, aus dem Leinensack befreien und zur Küste schwimmen konnte. Der gelehrte Alfonso, für seine scharfe spöttische Art bekannt, warf ein, das sei kein Beweis, da sechzig Prozent der Mannschaft von Christoph Kolumbus nicht hätten schwimmen können. Es befriedigte ihn besonders, wenn er solche Pfefferkörnchen in den Eintopf werfen konnte, um ihm jeden pedantischen Beigeschmack zu nehmen. Ich begeisterte mich derart bei dem literarischen Rätselraten, dass ich begann, den Rum mit Zitrone, den die anderen in genießerischen Schlückchen tranken, in mich hineinzuschütten. Die drei kamen dann zu dem Schluss, dass Dumas' Talent und sein Umgang mit den Fakten in diesem Roman und vielleicht auch in seinem ganzen Werk eher einem Reporter als einem Romancier entsprachen.

Am Ende war mir klar, dass meine neuen Freunde mit ebenso viel Nutzen Quevedo und James Joyce wie Conan Doyle lasen. Sie hatten einen unerschöpflichen Sinn für Humor und konnten ganze Nächte damit verbringen, Boleros und Vallenatos zu singen, oder sie sagten, ohne ins Stottern zu geraten, die besten Gedichte des Siglo de Oro auf. Über unterschiedliche Pfade gelangten wir zu einem Einvernehmen darüber, dass Jorge Manriques Verse zum Tod seines Vaters den Gipfel aller Dichtung darstellten. Die Nacht wurde zu einer köstlichen Erquickungspause für mich und räumte mit den letzten Vorurteilen auf, die meiner Freundschaft mit dieser Clique literarisch Fiebernder im Weg stehen konnten. Ich fühlte mich so wohl mit ihnen und dem barbarischen Rum, dass ich die Zwangsjacke der Schüchternheit abstreifte. Susana, die Perverse, die im März den Tanzwettbewerb beim Karneval gewonnen hatte, forderte mich zum Tanzen auf. Man scheuchte die Hühner und die Rohrdommeln von der Tanzfläche und stellte sich zum Anfeuern in einen Kreis um uns.

Wir tanzten die Serie des Mambo número 5 von Dámaso Pérez Prado. Mit dem wenigen Atem, der mir noch blieb, sprang ich auf das Podium, bemächtigte mich der Rumbakugeln der Musikgruppe und sang über eine Stunde lang ohne Unterbrechung Boleros von Daniel Santos, Agustín Lara und Bienvenido Granda. Während ich sang, fühlte ich mich nach und nach wie von einem Wind der Befreiung erfasst und erlöst. Ich habe nie erfahren, ob die drei stolz auf mich waren oder sich für mich schämten, aber als ich an den Tisch zurückkam, empfingen sie mich wie einen der ihren.

Álvaro war inzwischen bei einem Thema angelangt, das die anderen ihm nie streitig machten: Kino. Ich wurde dabei auf etwas Neues gestoßen, hatte ich doch den Film immer für eine untergeordnete Kunst gehalten, die sich stärker vom Theater als vom Roman nährte. Álvaro hingegen sah den Film so wie ich die Musik: als eine Kunst, die allen anderen Künsten nützte.

Kurz vor Tagesanbruch dann lenkte Álvaro, halb im Schlaf und halb im Rausch, das mit literarischen Neuerscheinungen und den Literaturbeilagen der New York Times voll gestopfte Auto wie ein professioneller Taxifahrer durch die Straßen. Wir brachten Germán und Alfonso heim, und dann bestand Álvaro darauf, mich mit zu sich nach Hause zu nehmen; ich sollte seine Bibliothek sehen, die drei Wände seines Schlafzimmers bis zur Decke ausfüllte. Er wies mit einer schwungvollen Armbewegung auf die vielen Bücher und sagte zu mir:

»Das hier sind die einzigen Schriftsteller der Welt, die schreiben können.«

Ich befand mich in einem Zustand der Erregung, der mich vergessen ließ, was gestern Hunger und Müdigkeit gewesen waren. Der Alkohol wirkte noch, und ich fühlte mich wie in einem Zustand der Gnade. Alvaro zeigte mir seine Lieblingsbücher in Spanisch und Englisch und sprach über jedes einzelne mit rostiger Stimme, zerwühltem Haar und Augen, die noch irrer waren als sonst. Er sprach über Azorin und Saroyan - zwei Autoren, für die er eine Schwäche hatte - und von anderen, deren öffentliches und privates Leben er bis hin zur Unterhose kannte. Ich hörte zum ersten Mal den Namen Virginia Woolf, die er die alte Woolf nannte, so wie er Faulkner als den alten Faulkner bezeichnete. Mein Staunen regte ihn bis zum Delirium auf. Er packte den Stapel der Bücher, die er mir als seine Lieblingswerke gezeigt hatte, und übergab ihn mir.

»Seien Sie nicht albern«, sagte er zu mir, »nehmen Sie doch alle mit, und wenn Sie die Bücher gelesen haben, werden wir sie wo auch immer wieder zusammensuchen.«

Für mich war es ein unvorstellbares Vermögen, das ich nicht in Gefahr bringen wollte, solange ich nicht mal ein erbärmliches Zimmer hatte, wo ich die Bücher aufbewahren konnte. Schließlich begnügte er sich damit, mir die spanische Ausgabe von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway zu schenken, mit der unanfechtbaren Prognose, ich würde das Buch auswendig lernen.

Es wurde allmählich hell, und ich wollte mit dem ersten Bus nach Cartagena zurückfahren, aber Alvaro bestand darauf, dass ich in dem zweiten Bett in seinem Zimmer schlief.

»Ach, Scheiße noch mal!«, sagte er mit letzter Kraft. »Bleiben Sie einfach hier, und morgen finden wir eine tolle Anstellung für Sie.«

Ich legte mich angekleidet aufs Bett, und erst da spürte ich das enorme Gewicht des Lebens in meinem Körper. Auch Alvaro legte sich hin, und wir schliefen bis elf Uhr vormittags, als seine Mutter, die angebetete und gefürchtete Sara Samudio, mit der Faust an die Tür klopfte, weil sie glaubte, der einzige Sohn ihres Lebens sei tot.

»Achten Sie nicht auf sie, Großmeister«, sagte Álvaro aus der Tiefe des Schlafs zu mir herüber. »Sie sagt jeden Morgen dasselbe, und das Schlimme ist, dass es eines Tages wahr sein wird.«

Ich kehrte nach Cartagena zurück, als hätte ich die Welt entdeckt. Zum Nachtisch im Haus der Franco Muneras gab es jetzt nicht mehr Gedichte des Siglo de Oro oder die Zwanzig Liebesgedichte von Neruda, sondern Abschnitte aus Mrs. Dal-loway über die Delirien des erschütternden Helden Septimus Warren Smith. Ich wurde ein anderer, unruhig und schwierig, und das ging so weit, dass Héctor und Maestro Zabala meinten, ich imitiere bewusst Álvaro Cepeda. Gustavo Ibarra mit seiner mitfühlenden Einsicht in das karibische Herz amüsierte sich über meinen Bericht von der Nacht in Barranquilla, während er mir jedes Mal löffelweise die Vernunft der griechischen Dichter einflößte, mit einer einzigen und nie erklärten Ausnahme: Euripides. Er entdeckte mir Melville: Moby Dick als literarische Großtat, die grandiose Jonas-Predigt unter der riesigen, aus Walrippen erbauten Kuppel für die auf allen Weltmeeren gegerbten Walfänger. Er lieh mir Das Haus der sieben Dächer von Nathaniel Hawthorne, das mich fürs ganze Leben prägte. Gemeinsam versuchten wir uns an einer Theorie über das Schicksalhafte der Sehnsucht bei den Irrfahrten des Odysseus und verirrten uns dabei ausweglos. Ein halbes Jahrhundert später habe ich diese Frage in einem meisterhaften Text von Milan Kundera gelöst gefunden.

In eben der Zeit hatte ich die einzige Begegnung mit dem großen Lyriker Luis Carlos López, der als der Einäugige bekannt war und eine bequeme Art und Weise gefunden hatte,

tot zu sein, ohne zu sterben, und begraben ohne Begräbnis, vor allem ohne Trauerreden. Er wohnte in der historischen Altstadt in einem historischen Haus in der historischen Galle del Tablón, wo er geboren wurde und lebte, ohne irgend-jemanden zu stören. Er traf sich nur mit ein paar alten Freunden, während sein Ruhm als großer Dichter weiter wuchs, wie es sonst nur postum der Fall ist.

Man nannte ihn den Einäugigen, obwohl er das nicht war, sondern nur schielte, aber auch das auf besondere, schwer beschreibbare Weise. Sein Bruder, Domingo López Escaunaza, der Direktor von El Universal, sagte immer das Gleiche, wenn er nach ihm gefragt wurde:

»Er ist da.«

Das hörte sich nach einer ausweichenden Antwort an, war aber die reine Wahrheit: Er war da. Lebendiger als jeder andere, aber mit dem Vorteil, dass dies nicht allzu bekannt war; er bekam alles mit und war entschlossen, sich bei lebendigem Leibe zu begraben. Man sprach von ihm wie von einer historischen Reliquie, besonders dann, wenn man ihn nicht gelesen hatten. Das ging so weit, dass ich seit meiner Ankunft in Cartagena nicht versucht hatte, ihn kennen zu lernen, weil ich die Vorrechte eines unsichtbaren Menschen achtete. Damals war er achtundsechzig Jahre alt, und niemand hatte je bezweifelt, dass er ein großer, zeitloser Meister der Sprache war, obwohl nur wenige wussten, wie und warum, was angesichts der ungewöhnlichen Qualität seines Werkes kaum zu glauben war.

Zabala, Rojas Herazo, Gustave Ibarra, wir alle kannten Gedichte von ihm auswendig und zitierten sie spontan und passend, um unseren Gesprächen Glanzlichter aufzusetzen. Luis Carlos López war nicht abweisend, sondern schüchtern. Auch heute kann ich mich nicht daran erinnern, je ein Bild von ihm gesehen zu haben, nur ein paar schlichte Karikaturen, die stattdessen gedruckt wurden. Weil wir ihn nicht sahen, glaube ich, hatten wir ganz vergessen, dass er noch lebte, und dann hörte ich eines Abends, ich beendete eben meine tägliche Glosse, den erstickten Ausruf von Zabala:

»Verdammt, der Einäugige!«

Ich hob den Blick von der Maschine und sah den seltsamsten Mann, den ich je sehen sollte. Er war viel kleiner, als wir ihn uns vorgestellt hatten, und sein Haar war so weiß, dass es blau wirkte, und so widerspenstig, dass es wie ausgeliehen schien. Das linke Auge fehlte ihm nicht, sondern war vielmehr schief eingesetzt. Er trug Hauskleidung, dunkle Drillichhosen und ein gestreiftes Hemd, in der rechten Hand hielt er auf Schulterhöhe eine silberne Zigarettenspitze, rauchte aber die brennende Zigarette nicht, und die Asche fiel, ohne dass er sie abschüttelte, zu Boden, wenn sie sich nicht mehr halten konnte.

Er ging an uns vorbei zum Büro seines Bruders und kam nach zwei Stunden wieder heraus, als nur noch Zabala und ich in der Redaktion waren und darauf warteten, ihn zu begrüßen. Er starb zwei Jahre später, und die Erschütterung unter seinen Getreuen war so groß, als sei er nicht gestorben, sondern wieder auferstanden. Als er aufgebahrt im Sarg lag, wirkte er nicht so tot wie im Leben.

Etwa zur gleichen Zeit hielten der spanische Schriftsteller Dámaso Alonso und seine Frau, die Romanautorin Eulalia Galvarriato, zwei Vorträge in der Aula der Universität. Maestro Zabala, der nur ungern andere Leute störte, überwand dieses eine Mal seine Zurückhaltung und bat sie um ein Treffen. Gustavo Ibarra, Héctor Rojas Herazo und ich begleiteten ihn. Die Chemie stimmte sofort. Wir blieben etwa vier Stunden bei ihnen in einem Privatsalon des Hotel del Caribe und unterhielten uns über ihre Eindrücke von ihrer ersten Lateinamerika-Reise und unsere Anfängerträume als Schriftsteller. Héctor brachte ihnen einen eigenen Gedichtband mit und ich eine Fotokopie von einer meiner in El Espectador veröffentlichten Erzählungen. Beide waren wir vor allem an ihren ehrlichen Einwänden interessiert, die sie als verkappte Bestätigung ihres Lobes vorbrachten.

Im Oktober erreichte mich bei El Universal eine Nachricht von Gonzalo Mallarino: Der Dichter Álvaro Mutis und er erwarteten mich in der Villa Tulipán, einer unvergesslichen Pension in dem Ferienort Bocagrande, wenige Meter von dem Platz entfernt, wo Charles Lindbergh vor etwa zwanzig Jahren gelandet war. Gonzalo, mein Kumpan bei den privaten Rezitationen in der Universität, war bereits als Anwalt tätig, und Mutis hatte ihn eingeladen, das Meer kennen zu lernen, da er der Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit bei LAN SA war, einer einheimischen Luftlinie, die die Piloten selbst gegründet hatten.

Gedichte von Mutis waren mindestens einmal gleichzeitig mit einer Erzählung von mir in der Beilage »Fin de Semana« veröffentlicht worden, und als wir uns begegneten, begannen wir sogleich ein Gespräch, das wir an unzähligen Orten der Welt fortgeführt haben und das nach einem halben Jahrhundert noch nicht beendet ist. Unsere Kinder und später unsere Enkel haben uns oft gefragt, über was wir denn mit solch erbitterter Leidenschaft sprächen, und wir haben wahrheitsgemäß geantwortet: Wir reden immer über dasselbe.

Meine wundersamen Freundschaften mit Erwachsenen in Sachen Kunst gaben mir die Kraft, jene Jahre zu überstehen, die ich noch heute als die unsichersten meines Lebens in Erinnerung habe. Am 10. Juli hatte ich meine letzte Kolumne »Punto y aparte« geschrieben, nachdem es mir in drei harten Monaten nicht gelungen war, die Barrieren zu überwinden, die sich vor dem Anfänger erhoben, und so zog ich es vor, diese Arbeit zu unterbrechen, wobei mein einziger Verdienst darin bestand, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen. Ich suchte Unterschlupf in der Straflosigkeit der Kommentare auf der Meinungsseite, die nicht signiert waren, es sei denn, sie sollten einen persönlichen Ton haben. Das machte ich als einfache Routinesache weiter bis zum September 1950, als ich über Edgar Allan Poe einen schwülstigen Beitrag schrieb, der nur dadurch auffiel, dass er besonders schlecht war.

Das ganze Jahr über hatte ich versucht, Maestro Zabala dazu zu bringen, mich in die Geheimnisse der Reportage einzuweihen. Doch er konnte sich in seiner mysteriösen Art nicht dazu entschließen, machte mich aber unruhig mit der rätselhaften Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens, das im Kloster Santa Clara begraben lag und dem nach dem Tod in zweihundert Jahren das Haar um zweiundzwanzig Meter gewachsen war. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich vierzig Jahre später auf das Thema zurückkommen würde, um davon in einem romantischen Roman mit unseligen Verwicklungen zu erzählen. Es waren für mich damals nicht die besten Zeiten zum Nachdenken. Ich wurde grundlos bockig, verschwand ohne Erklärungen aus der Redaktion, bis Maestro Zabala jemanden ausschickte, um mich zu zähmen. Bei den Abschlussprüfungen bestand ich durch einen glücklichen Zufall das zweite Studienjahr Jura, mit Ausnahme von zwei Fächern, die ich nachholen musste, und konnte mich fürs dritte Jahr einschreiben, doch ging das Gerücht um, das sei mir nur durch politische Pressionen von Seiten der Zeitung gelungen. Der Direktor musste intervenieren, als man mich nach dem Kino mit einem gefälschten Wehrpass festnahm, und ich stand von da an auf der Einberufungsliste für die Strafkommandos.

In meiner damaligen politischen Verwirrung hatte ich nicht einmal mitbekommen, dass wegen des Verfalls der öffentlichen Ordnung erneut der Ausnahmezustand erklärt worden war. Man zog die Daumenschrauben der Pressezensur an. Die Atmosphäre war vergiftet wie in den schlimmsten Zeiten, und eine mit gewöhnlichen Verbrechern aufgestockte politische Polizei säte Panik auf dem Land. Die violencia zwang die Liberalen Haus und Hof zu verlassen. Ihr möglicher Kandidat, Darío Echandía, ein Professor für Zivilrecht, der von Natur aus Skeptiker war und geradezu süchtig die alten Griechen und Römer las, sprach sich für eine Wahlenthaltung der Liberalen aus. Das machte den Weg für Laureano Gómez frei, der die Regierung an unsichtbaren Fäden von New York aus zu lenken schien.

Mir war damals nicht richtig bewusst, dass solche Widrigkeiten nicht nur auf die Infamie der Konservativen zurückzuführen waren, sondern auch mit unguten Veränderungen in unserem Leben zu tun hatten, bis zu einer der vielen Nächte im La Cueva, als ich mich damit brüstete, dass ich frei sei, genau das zu tun, wozu ich Lust hätte. Maestro Zabala hielt den Suppenlöffel, den er sich gerade zum Mund führen wollte, still in der Luft, während er mich über den Rand seiner Brille ansah, und schnitt mir das Wort ab.

»Sag mir mal eins, Gabriel: Hast du bei all den Albernheiten, die du anstellst, eigentlich bemerkt, dass dieses Land vor dem Untergang steht?«

Die Frage traf ins Schwarze. Volltrunken legte ich mich im Morgengrauen auf eine Bank am Paseo de los Märtires schlafen, bis ein babylonischer Platzregen Knochenbrühe aus mir machte. Ich lag zwei Wochen lang mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus; sie zeigte sich resistent gegen die ersten erhältlichen Antibiotika, denen der schlechte Ruf anhing, so gefährliche Folgeerscheinungen wie vorzeitige Impotenz zu haben.

Ich wirkte wie ein Skelett und war noch bleicher als sonst, als meine Eltern mich nach Sucre holten, damit ich mich dort von der übermäßigen Arbeit - wie sie in ihrem Brief schrieben - erholte. El Universal ging noch einen Schritt weiter, man erklärte mich in einem Abschiedsartikel zu einem meisterhaften Journalisten und Schriftsteller und in einem anderen Beitrag zum Autor eines Romans, den es nie gegeben hat und dessen Titel nicht von mir stammte: Ya cortamos el heno - Wir haben das Gras schon gemäht. Da ich damals keinerlei Absicht hegte, mich wieder dem fiktionalen Erzählen zuzuwenden, war das besonders merkwürdig. Diesen Titel, der mir so gar nicht entsprach, hatte sich in Wirklichkeit Héctor Rojas Herazo beim Tippen ausgedacht und ihn wie so vieles César Guerra Valdés zugeschrieben, einem fiktiven, zutiefst lateinamerikanischen Schriftsteller, den wir uns ausgedacht hatten, um unsere Polemiken zu würzen. Héctor hatte in El Universal Guerras Ankunft in Cartagena gemeldet, und ich hatte ihn in meiner Kolumne »Punto y Aparte« begrüßt, in der Hoffnung, die schlafenden Geister einer eigenständigen Erzählkunst des Subkontinents wachzurütteln. Wie auch immer, der imaginäre Roman mit dem schönen, von Héctor erfundenen Titel wurde Jahre später in einem Essay über meine Bücher als ein Hauptwerk der neuen Literatur erwähnt.

Die Atmosphäre, die ich in Sucre vorfand, war für meine damaligen Vorstellungen durchaus förderlich. Ich schrieb Germán Vargas mit der Bitte, er möge mir Bücher schicken, viele Bücher, so viele, wie nötig, um eine auf sechs Monate angelegte Rekonvaleszenz in Meisterwerken zu ertränken. Sucre war überschwemmt. Papa hatte die Sklaverei in der Apotheke aufgegeben und am Eingang des Ortes ein Haus gebaut, das den Kindern gewachsen war, deren Zahl sich seit der Geburt von Eligio sechzehn Monate zuvor auf elf erhöht hatte. Es war ein großes und helles Haus, mit einer Terrasse für Besucher über einem dunkel strömenden Fluss und offenen Fenstern für die Januarwinde. Es gab sechs luftige Schlafzimmer und für jeden ein Bett, anders als früher, wo man zu zweit in einem schlief, und überall, sogar in den Gängen, Ringe für Hängematten auf unterschiedlichen Höhen. Der nicht eingezäunte Hof, in dem gemeinschaftliche Obstbäume standen und eigene und fremde Tiere herumliefen, auch einmal bis in die Schlafzimmer kamen, ging in die Wildnis über. Meine Mutter, die sich nach den Patios ihrer Kindheit in Barrancas und Aracataca sehnte, behandelte das neue Haus wie einen kleinen Gutshof mit frei laufenden Hühnern und Enten und unbändigen Schweinen, die in der Küche auftauchten, um die Vorräte fürs Mittagessen zu fressen. Es war noch möglich, im Sommer bei offenen Fenstern zu schlafen, durch die das asthmatische Krächzen der Hühner auf ihren Stangen und der Geruch der reifen Flaschenbaumfrüchte kam, die im Morgengrauen mit einem kurzen, dumpfen Aufprall zu Boden fielen. »Das klingt so, als wären es Kinder«, sagte meine Mutter. Mein Vater hielt am Vormittag nur noch für einige treue Anhänger der Homöopathie Sprechstunde, sonst las er, zwischen den Bäumen in einer Hängematte liegend, immer noch alles Gedruckte, was ihm in die Hände fiel, und begegnete den Traurigkeiten des Abends mit den müßigen Aufregungen des Billardspiels. Er hatte auch seine weißen Drillichanzüge mit Krawatte abgelegt und lief in jugendlichen Hemden mit kurzen Ärmeln auf der Straße herum.

Großmutter Tranquilina Iguaran war zwei Monate zuvor blind und schwachsinnig gestorben, hatte aber die Geistesklarheit der Agonie dazu genutzt, noch einmal mit ihrer strahlenden Stimme und ihrer perfekten Aussprache Familiengeheimnisse zu verkünden. Ihr ewiges Thema war bis zum letzten Atemzug die Pension des Großvaters gewesen. Mein Vater präparierte den Leichnam mit konservierenden Aloesäften und bedeckte ihn im Sarg mit Kalk, um eine sanfte Verwesung zu sichern. Luisa Santiaga hatte immer die Leidenschaft ihrer Mutter für rote Rosen bewundert und legte hinten im Hof ein Beet mit Rosen an, damit nie welche auf Minas Grab fehlten. Sie blühten so prachtvoll, dass die Zeit nicht langte, um höflich auf all die Fremden einzugehen, die von weither kamen und wissen wollten, ob bei einer solchen Menge herrlicher Rosen Gott oder der Teufel die Hand im Spiel habe.

Die damaligen Veränderungen in meinem Leben und in meinem Verhalten entsprachen den Veränderungen des Hauses. Bei jedem Besuch erschien es mir anders, weil meine Eltern umgebaut und umgeräumt hatten und neue Geschwister geboren waren, die so ähnlich heranwuchsen, dass es leichter war, sie zu verwechseln, als sie zu erkennen. Jaime war nun schon zehn und hatte als Sechsmonatskind am längsten gebraucht, um sich vom mütterlichen Schoß zu lösen, und meine Mutter hatte ihn noch nicht abgestillt, als mein Bruder Hernando (Nanchi) geboren wurde. Drei Jahre später kam Alfredo Ricardo (Cuqui) auf die Welt und nach anderthalb Jahren dann Eligio (Yiyo), der Allerletzte, der in jenen Ferien gerade die wunderbaren Möglichkeiten des Krabbeins entdeckte.

Wir zählten auch die außerehelichen Kinder meines Vaters vor und nach seiner Heirat dazu: Carmen Rosa in San Marcos und Abelardo, die beide zeitweilig in Sucre lebten, Germaine Hanai (Emi), von meiner Mutter mit Billigung der Geschwister als eigenes Kind aufgenommen, und Antonio Maria Claret (Tono), den seine Mutter in Sincé großgezogen hatte und der häufig auf Besuch kam. Fünfzehn an der Zahl, die für dreißig aßen, wenn denn genug da war, und sich dazu hinsetzten, wo gerade Platz war.

Die Erzählungen meiner älteren Schwestern über diese Jahre geben eine angemessene Vorstellung davon, wie es zu Hause zuging, wo ein Kind noch nicht aus den Windeln war, wenn das nächste geboren wurde. Meine Mutter flehte schuldbewusst die Töchter an, sich um die Kleinen zu kümmern. Margot bekam einen tödlichen Schrecken, als sie entdeckte, dass Mama wieder schwanger war, weil sie wusste, dass die Mutter nicht Zeit genug hatte, sich alleine um alle zu kümmern. Als Margot also ins Internat nach Montería aufbrach, sprach sie ihr ernsthaft ins Gewissen, diese Schwangerschaft müsse die letzte sein. Meine Mutter versprach es ihr wie immer, auch wenn es nur geschah, um sie zu beruhigen, denn sie war sich sicher, dass Gott in seiner endlosen Weisheit das Problem schon aufs Bestmögliche lösen werde.

Die Mahlzeiten waren ein einziges Durcheinander, denn es war nicht möglich, alle gemeinsam um den Tisch zu versammeln. Meine Mutter und die älteren Schwestern trugen das Essen für die jeweils neu Hinzukommenden auf, doch es geschah häufig, dass beim Nachtisch noch mal einer auftauchte, der seine Ration einforderte. Im Lauf der Nacht krochen die Kleinen, die nicht schlafen konnten, ins Bett der Eltern, weil es zu heiß oder zu kalt war, weil sie Zahnschmerzen oder Angst vor den Toten hatten, aus Liebe zu den Eltern oder aus Eifersucht auf die Geschwister, und morgens wachten dann alle dicht gedrängt im Ehebett auf. Wenn nach Eligio kein weiteres Kind geboren wurde, ist es nur Margot zu verdanken, die, nachdem sie aus dem Internat heimgekehrt war, ihre Autorität geltend machte, worauf meine Mutter das Versprechen, kein Kind mehr zu bekommen, einhielt.

Unglücklicherweise sorgte die Realität dafür, die Pläne der beiden ältesten Schwestern zu durchkreuzen; sie blieben ihr Lebtag ledig. Aida begab sich wie in einem Kitschroman in die Gefangenschaft eines Klosters, das sie allen Vorschriften genügend nach zweiundzwanzig Jahren wieder verließ, als weder ihr Rafael noch sonst irgendein anderer mehr zu finden war. Margot, die von schroffer Gemütsart sein konnte, verlor ihren Rafael durch einen beiderseitigen Fehler. Solch traurigen Präzedenzfällen zum Trotz heiratete Rita den ersten Mann, der ihr gefiel, und wurde mit fünf Kindern und neun Enkeln glücklich. Die anderen beiden - Ligia und Emi - heirateten, wen sie wollten, als die Eltern müde geworden waren, gegen das wirkliche Leben anzukämpfen.

Die Sorgen in der Familie schienen Teil der Krise zu sein, die das Land wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit erfuhr, verstärkt noch vom Aderlass beim Einsatz staatlicher Gewalt. Die violencia hatte Sucre wie eine finstere Jahreszeit erreicht und schlich sich auf Zehenspitzen, jedoch zielbewusst ins Haus. Wir hatten damals schon die wenigen Reserven verknuspert und waren wieder so arm wie vor unserem Umzug von Barranquilla nach Sucre. Meine Mutter aber ließ sich nicht beirren, war sie doch der Überzeugung, dass jedes Kind mit seinem Laib Brot zur Welt kommt. Das war die Lage, als ich, noch erholungsbedürftig von der Lungenentzündung, aus Cartagena heimkam, aber die Familie hatte sich beizeiten verschworen, dass ich nichts davon merken sollte.

Der neueste Klatsch im Ort war eine angebliche Beziehung unseres Freundes Cayetano Gentile zu der Lehrerin aus der nahen Siedlung Chaparral, einem schönen Mädchen, das zwar nicht zur selben Gesellschaftsschicht gehörte, aber anständig war und aus einer rechtschaffenen Familie stammte. Das Gerücht war nicht überraschend: Cayetano war schon immer ein Schürzenjäger gewesen, nicht nur in Sucre, sondern auch in Cartagena, wo er die Oberschule besucht und das Medizinstudium begonnen hatte. Aber bisher hatte man nichts von einer festen Freundin in Sucre oder von bevorzugten Tanzpartnerinnen gewusst.

Eines Abends sahen wir ihn auf seinem besten Pferd von seiner Finca kommen, die Lehrerin saß, die Zügel in der Faust, im Sattel und er dahinter, die Arme um ihre Taille gelegt. Wir waren nicht nur über den Grad der Vertrautheit zwischen den beiden überrascht, sondern auch über ihre Kühnheit, sich in einem Ort, der immer nur das Schlechteste dachte, auf der Promenade der großen Plaza sehen zu lassen. Cayetano erklärte jedem, der es hören wollte, er habe sie am Eingang ihrer Schule gesehen, wo sie auf jemanden wartete, der so nett wäre, sie zu dieser Abendzeit in den Ort mitzunehmen. Ich machte einen Scherz, warnte ihn, es werde demnächst einmal eine Schmähschrift an seiner Türe geben, doch er zog nur mit einer typischen Geste die Schultern hoch und ließ seine Lieblingswendung los:

»Bei den Reichen trauen sie sich nicht.«

Die Schmähzettel waren tatsächlich ebenso schnell, wie sie aufgetaucht waren, wieder aus der Mode gekommen, und man dachte, dass sie nur ein Symptom für die üble politische Laune im Lande gewesen seien. Diejenigen, die sie gefürchtet hatten, konnten wieder ruhig schlafen. Wenige Tage nach meiner Ankunft spürte ich jedoch, dass sich die Haltung einiger Parteifreunde meines Vaters mir gegenüber geändert hatte; sie sahen in mir den Verfasser regierungsfeindlicher Artikel in El Universal. Das stimmte nicht. Wenn ich irgendwann einmal politische Beiträge hatte schreiben müssen, dann immer ohne Namen und unter Verantwortung der Leitung, seitdem diese beschlossen hatte, nicht mehr die Frage zu stellen, was in Carmen del Bolívar geschehen sei. Die Kolumnen unter meinem Namen bezogen zweifellos klar Position zu den Schändlichkeiten der violencia und der allgemeinen Ungerechtigkeit, ergriffen jedoch für keines der politischen Lager Partei. Tatsächlich bin ich weder damals noch später je Mitglied einer Partei gewesen. Die Beschuldigung alarmierte jedenfalls meine Eltern, und meine Mutter begann Kerzen für die Heiligen anzuzünden, vor allem wenn ich bis spätnachts unterwegs war. Zum ersten Mal spürte ich um mich herum eine bedrohliche Atmosphäre, so dass ich beschloss, so wenig wie möglich aus dem Haus zu gehen.

In jenen schlechten Zeiten tauchte im Sprechzimmer meines Vaters ein riesiger Mann auf, der wie ein Gespenst seiner selbst aussah, denn seine Haut war so dünn, dass man die Farbe der Knochen erkennen konnte, und sein Bauch war aufgeschwollen und stramm wie eine Trommel. Mit einem einzigen Satz machte er sich für immerdar unvergesslich:

»Doktor, ich komme, damit sie mir einen Affen herausnehmen, den man mir im Bauch hat wachsen lassen.«

Nachdem er den Mann untersucht hatte, stellte mein Vater fest, dass dieser Fall sich seiner Wissenschaft entzog, und schickte ihn zu einem Chirurgen, der zwar nicht den Affen fand, den der Patient vermutete, wohl aber ein formloses Wesen mit Eigenleben. Mich interessierte jedoch weniger die Bestie im Bauch des Mannes als der Bericht des Kranken über die magische Welt von La Sierpe, einen legendären Landstrich im Gebiet von Sucre, wohin man nur über dampfende Sümpfe gelangen konnte und wo es völlig normal war, jemandem als Rache für eine Beleidigung eine Teufelsbrut in den Bauch zu hexen.

Die Bewohner von La Sierpe waren überzeugte Katholiken, sie lebten ihren Glauben jedoch nach ihrer Art und hatten für jede Gelegenheit ein Zaubergebet. Sie glaubten an Gott, an die Jungfrau und an die Heilige Dreieinigkeit, verehrten sie aber in jedwedem Gegenstand, in dem sie göttliche Eigenschaften zu entdecken meinten. Unvorstellbar wäre für sie gewesen, dass jemand, dem eine satanische Bestie im Bauch wuchs, so rational handelte, das ketzerische Handwerk eines Chirurgen in Anspruch zu nehmen.

Bald erfuhr ich zu meiner Überraschung, dass jedermann in Sucre von der Existenz La Sierpes wusste: ein realer Ort, bei dem es nur das Problem gab, dass der Weg dahin durch allerlei geografische und mentale Hindernisse erschwert wurde. Schließlich entdeckte ich durch Zufall, dass es einen Fachmann für das Thema La Sierpe gab, und zwar meinen Freund Angel Casij, den ich zum letzten Mal in Bogotá gesehen hatte, als er uns durch den stinkenden Schutt des 9. April geleitete, damit wir eine Nachricht an unsere Familien aufgeben konnten. Als ich ihn nun traf, war er vernünftiger als seinerzeit und hatte von seinen Reisen nach La Sierpe Unglaubliches zu berichten. Ich erfuhr alles Wissenswerte über die Marquesita, die Herrin und Besitzerin jenes ausgedehnten Reiches, in dem man geheime Gebete kannte, mit denen man Gutes oder Böses bewirken und einen Todkranken wieder auf die Beine bringen konnte, wenn man nur eine Beschreibung seines Körpers hatte und seinen genauen Aufenthaltsort wusste. Es war auch möglich, eine Schlange durch die Sümpfe zu schicken, damit sie nach sechs Tagen einen Feind tötete.

Verboten war der Marquesita einzig und allem, Tote auferstehen zu lassen, da diese Macht Gott vorbehalten war. Sie lebte, solange sie wollte, zweihundertdreiunddreißig Jahre nimmt man an, und von ihrem sechsundsechzigsten Geburtstag an wurde sie keinen Tag mehr älter. Bevor sie starb, trieb sie ihre fabelhaften Schafherden zusammen und ließ sie zwei Tage und zwei Nächte im Kreis um ihr Haus laufen, bis der morastige See von La Sierpe entstand, ein unermessliches Gewässer, das mit phosphoreszierenden Anemonen überzogen ist.

Es heißt, dass mitten darin ein Baum mit goldenen Kürbissen steht, an dessen Stamm ein Kanu gebunden ist. Immer am 2. November, an Allerseelen, fährt es führerlos zum anderen Ufer, das von weißen Kaimanen und Schlangen mit goldenen Schellen bewacht wird; dort hat die Marquesita ihr ungeheures Vermögen vergraben.

Seitdem mir Angel Casij diese phantastische Geschichte erzählt hatte, trieb mich das Verlangen, jenes in der Wirklichkeit gestrandete Paradies von La Sierpe zu besuchen. Wir dachten an alles, Reittiere, die mit vorbeugenden Gebeten immunisiert waren, unsichtbare Kanus, magische Führer und was sonst noch nötig war, um die Chronik eines übernatürlichen Realismus zu schreiben.

Die Maultiere blieben jedoch gesattelt stehen. Die nur schleppende Erholung von der Lungenentzündung, der Spott der Freunde auf den Bällen an der Plaza und die erschreckenden Warnungen der älteren Bekannten brachten mich dazu, die Reise auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, der niemals kam. Heute erinnere ich mich aber als glücklichen Zwischenfall daran, denn weil es nichts mit der phantastischen Marquesita wurde, vertiefte ich mich schon am nächsten Tag ins Schreiben meines ersten Romans, von dem nur der Titel übrig geblieben ist: La casa - Das Haus.

Der Roman sollte eine dramatische Geschichte aus dem Krieg der Tausend Tage an der kolumbianischen Karibikküste erzählen, über den ich bei einem früheren Aufenthalt in Carta-gena mit Manuel Zapata Olivella gesprochen hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er mir, ohne jeden Bezug zu meinem Projekt, ein Heftchen geschenkt, das sein Vater über einen Kriegsveteranen verfasst hatte; dessen Porträt auf der Vorderseite - im weißen liquilique und mit pulverversengtem Schnurrbart -erinnerte mich irgendwie an meinen Großvater. Den Vornamen habe ich vergessen, aber der Nachname sollte mich für immer begleiten: Buendía. Seitdem dachte ich daran, einen Roman mit dem Titel La casa über die Geschichte einer Familie zu schreiben, die zur Zeit der vergeblichen Kriege des Obersts Márquez viel mit der unseren zu tun hatte.

Der Titel gründete auf der Absicht, die Einheit des Orts zu wahren, die Handlung sollte das Haus nicht verlassen. Ich schrieb mehrere Anfänge und entwarf Charaktere, denen ich Familiennamen gab, die mir später für andere Bücher nützlich waren. Ich bin sehr empfindlich, was die Schwachstelle eines Satzes angeht, in dem sich etwa zwei nah beieinander stehende Worte reimen, selbst wenn es sich nur um einen unreinen Reim handelt, und veröffentliche den Text lieber nicht, bis ich nicht eine andere Lösung gefunden habe. Deshalb war ich oft drauf und dran, auf den Namen Buendía zu verzichten, wegen des unvermeidlichen Reims mit der Endung ía beim Imperfekt im Spanischen. Dennoch hat sich dieser Nachname am Ende durchgesetzt, weil es mir gelungen war, ihn mit einer überzeugenden Identität zu verbinden.

Mit solchen Dingen beschäftigte ich mich gerade, als in unserem Haus in Sucre eine Holzkiste ankam, auf der weder ein Name stand noch sonst etwas aufgemalt war. Meine Schwester Margot hatte sie angenommen, wusste nicht von wem und war überzeugt, dass es sich dabei um Überbleibsel aus der verkauften Apotheke handelte. Ich glaubte das auch und frühstückte seelenruhig mit der Familie. Mein Vater stellte klar, dass er die Kiste nicht geöffnet habe, weil er der Überzeugung gewesen sei, es handele sich um mein restliches Gepäck, und bedachte dabei nicht, dass mir in dieser Welt nicht einmal die Reste von irgendetwas geblieben waren. Mein Bruder Gustavo, der mit dreizehn Jahren bereits reichlich Übung darin hatte, alles Mögliche zu vernageln oder aufzubrechen, beschloss, die Kiste ohne Erlaubnis zu öffnen. Minuten später hörten wir seinen Schrei:

»Es sind Bücher!«

Mein Herz machte zuerst einen Satz, dann ich. Tatsächlich, es waren Bücher, doch es gab keine Spur vom Absender der Kiste, die bis oben hin fachmännisch gepackt war, es fand sich dann aber ein Brief, der sich wegen Germán Vargas' hieroglyphischer Schrift und seinem hermetischen lyrischen Stil schwer entziffern ließ: »Hier kommt die ganze Chose, Meister, mal sehn, ob Sie endlich was dazulernen.« Auch Alfonso Fuenmayor hatte unterschrieben, daneben ein Gekritzel, das ich als die Unterschrift von Don Ramon Vinyes identifizierte, den ich noch nicht kannte. Als Einziges empfahlen sie mir, kein allzu offensichtliches Plagiat zu begehen. In einem der Bücher von Faulkner lag ein Zettel von Alvaro Cepeda, auf dem in seiner verschnörkelten Schrift eilig geschrieben stand, er fahre in der kommenden Woche nach New York zu einem Spezialkurs an der Journalistenschule der Columbia University.

Ich stellte zunächst die Bücher auf dem Esszimmertisch aus, während meine Mutter noch das Frühstücksgeschirr wegräumte. Sie musste sich mit einem Besen bewaffnen, um die kleineren Geschwister zu verscheuchen, die mit der Gartenschere die Illustrationen aus den Büchern schneiden wollten, und die Straßenköter, die an den Büchern schnupperten, als wäre es etwas zum Fressen. Auch ich roch daran, wie ich es bei jedem neuen Buch tue, und blätterte dann, las zufällig einen Absatz und sprang zum nächsten. Nachts wechselte ich drei- oder viermal den Platz, weil ich keine Ruhe fand oder mich das matte Licht auf der Patioveranda ermüdete, und ich wachte mit steifem Rücken auf und hatte noch immer keine Ahnung, welchen Nutzen ich aus diesem Wunder ziehen konnte.

Es waren dreiundzwanzig ausgewählte Werke zeitgenössischer Autoren, alle auf Spanisch, und sie waren eindeutig zu dem Zweck ausgewählt worden, dass ich sie las, damit ich schreiben lernte. Ganz neue Übersetzungen befanden sich dabei, wie Schall und Wahn von William Faulkner. Fünfzig Jahre später kann ich mich nicht mehr an die vollständige Liste erinnern, und die drei ewigen Freunde, die es gewusst hätten, sind nicht mehr da, um sich daran zu erinnern. Ich hatte nur zwei der Bücher schon gelesen: Mrs. Dalloway von der alten Woolf und Kontrapunkt des Lebens von Aldous Huxley. Am besten kann ich mich an die Bücher von William Faulkner erinnern: Das Dorf, Schall und Wahn, Als ich im Sterben lag und Wilde Palmen. Auch an Manhattan Transfer und vielleicht noch ein anderes Werk von John Dos Passos; Orlando von Virginia Woolf; Von Mäusen und Menschen und Die Früchte des Zorns von John Steinbeck, Jenny von Robert Nathan und Die Tabakstraße von Erskine Caldwell. Unter den Titeln, an die ich mich aus dem Abstand von einem halben Jahrhundert nicht mehr erinnere, war zumindest einer von Hemingway, wahrscheinlich Kurzgeschichten, die den dreien aus Barranquilla am besten gefielen; ein Buch von Jorge Luis Borges, bestimmt auch Erzählungen, und vielleicht noch eins von Felisberto Hernández, dem merkwürdigen uruguayischen Erzähler, den meine Freunde gerade unter Begeisterungsschreien entdeckt hatten. In den folgenden zwei Monaten habe ich all diese Bücher mehr oder weniger gründlich gelesen, und ihnen verdanke ich es, dass es mir gelang, aus dem unproduktiven Abseits herauszukommen, in dem ich gestrandet war.

Wegen der Lungenentzündung war mir verboten zu rauchen, doch ich rauchte im Badezimmer, gewissermaßen vor mir selbst versteckt. Der Arzt merkte es und redete mir ins Gewissen, aber es gelang mir nicht, ihm zu gehorchen. Hier in Sucre zündete ich, während ich pausenlos die zugeschickten Bücher las, eine Zigarette an der Glut der vorherigen an, bis ich nicht mehr konnte, und je mehr ich mich bemühte aufzuhören, desto mehr rauchte ich. Ich brachte es auf vier Päckchen am Tag, rauchte bei den Mahlzeiten und versengte die Bettlaken, weil ich mit brennender Zigarette einschlief. Die Angst vor dem Tod weckte mich irgendwann in der Nacht, und nur rauchend konnte ich sie überwinden, bis ich entschied, dass ich lieber sterben wollte, als mit dem Rauchen aufzuhören.

Über zwanzig Jahre später, ich war bereits verheiratet und hatte Kinder, rauchte ich immer noch. Ein Arzt, der meine Lunge auf dem Röntgenschirm sah, sagte entsetzt, dass ich in zwei oder drei Jahren nicht mehr atmen könnte. Von Angst gepackt saß ich dann stundenlang irgendwo herum und tat nichts, weil es mir nicht gelang zu lesen, Musik zu hören oder mich mit Freunden oder Feinden zu unterhalten, wenn ich nicht rauchte. An irgendeinem Abend während eines lockeren Essens in Barcelona erklärte ein Freund, der Psychiater war, den anderen, dass das Rauchen vielleicht die Sucht sei, die am schwierigsten zu überwinden sei. Ich wagte ihn zu fragen, was der tiefere Grund dafür sei, und seine Antwort war so einfach, dass man eine Gänsehaut bekam.

»Mit dem Rauchen aufzuhören wäre für dich so, als brächtest du einen geliebten Menschen um.«

Es war ein Aufflammen der Einsicht. Ich habe nie gewusst warum, wollte es auch nicht wissen, ich drückte jedenfalls die Zigarette, die ich gerade angezündet hatte, im Aschenbecher aus und rauchte für den Rest meines Lebens keine einzige mehr, und kein Verlangen, keine Reue plagte mich.

Die andere Sucht war nicht weniger hartnäckig. Eines Nachmittags erschien eins der Dienstmädchen aus dem Nachbarhaus, plauderte mit allen, kam dann auf die Terrasse und bat sehr respektvoll darum, mit mir sprechen zu dürfen. Ich las weiter, bis sie mich fragte:

»Erinnern Sie sich an Matilde?«

Ich wusste nicht mehr, wer das war, aber sie glaubte mir nicht.

»Stellen Sie sich nicht dumm, Herr Gabito«, sagte sie und fügte mit buchstabierender Emphase hinzu: »Ni-gro-man-ta.«

Und mit Recht. Nigromanta war inzwischen eine freie Frau, hatte ein Kind von dem verstorbenen Polizisten und lebte allein mit ihrer Mutter und anderen Verwandten noch im selben Haus, doch abseits in einem Zimmer mit eigenem Ausgang zum hinteren Teil des Friedhofs. Ich ging sie besuchen, und die Wiederbegegnung dauerte über einen Monat. Ich verschob immer wieder die Rückkehr nach Cartagena und wollte auf ewig in Sucre bleiben. Bis zu einer Nacht, als mich bei Nigromanta ein Unwetter mit Blitz und Donner überraschte, wie in der Nacht des russischen Roulettes. Auf dem Heimweg suchte ich Schutz unter den Vordächern, doch als das nicht mehr ging, lief ich mitten auf der Straße weiter, bis zu den Knien im Wasser. Ich hatte das Glück, dass meine Mutter allein in der Küche war und mich über den Gartenpfad in mein Zimmer brachte, damit mein Vater es nicht mitbekam. Nachdem sie mir geholfen hatte, das klatschnasse Hemd auszuziehen, hielt sie es mit spitzen Fingern auf Armeslänge von sich weg und warf es in einem Anfall von Ekel in die Ecke.

»Du warst mit dieser Schlampe zusammen«, sagte sie.

Ich erstarrte.

»Woher weißt du das?«

»Weil es derselbe Geruch ist wie damals«, sagte sie ungerührt. »Ein Glück nur, dass der Mann tot ist.«

Ich war überrascht über einen solchen Mangel an Mitgefühl, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben zeigte. Sie musste das bemerkt haben, bestärkte aber noch meinen Eindruck, ohne weiter nachzudenken:

»Das ist der einzige Todesfall, über den ich mich gefreut habe, als ich davon hörte.«

Perplex fragte ich sie:

»Woher hast du erfahren, wer sie ist?«

»Ach, Kind«, seufzte meine Mutter, »Gott sagt mir alles, was mit euch zu tun hat.«

Am Ende half sie mir noch die durchgeweichten Hosen auszuziehen und warf sie zum Rest der Kleider in die Ecke. »Ihr werdet alle genau wie dein Vater«, sagte sie plötzlich mit einem tiefen Seufzer, während sie mir den Rücken mit einem rauen Handtuch abtrocknete. Und schloss aus ganzer Seele:

»Gebe Gott, dass ihr auch so gute Ehemänner werdet wie er.«

Die dramatische Fürsorge, die mir meine Mutter angedeihen ließ, hatte wohl ihre Wirkung und verhinderte, dass ich nach der Lungenentzündung einen Rückfall erlitt. Bis mir klar wurde, dass sie ihre Sorge grundlos übertrieb, weil sie verhindern wollte, dass ich in jenes Bett der Donner und Blitze zurückkehrte. Ich sah Nigromanta nie wieder.

Wiederhergestellt und fröhlich kam ich mit der Neuigkeit nach Cartagena zurück, dass ich an La casa schrieb, und ich sprach von dem Roman wie von einer abgeschlossenen Sache, obwohl ich gerade erst beim Anfangskapitel war. Zabala und Héctor empfingen mich wie den verlorenen Sohn. An der Universität schienen sich meine lieben Professoren damit abgefunden zu haben, dass sie mich nehmen mussten, wie ich war. Weiterhin schrieb ich gelegentlich kleine Beiträge für El Universal, für die ich übermäßig bezahlt wurde. Meine Laufbahn als Erzähler setzte ich mit dem wenigen fort, was ich, fast um Maestro Zabala nicht zu enttäuschen, aufs Papier brachte: Zwiesprache des Spiegels und Bitterkeit für drei Schlafwandler. Beide Erzählungen wurden von El Espectador veröffentlicht. Obwohl in ihnen die unausgegorene Rhetorik der ersten vier Erzählungen sichtlich zurückgedrängt ist, hatte ich mich noch nicht aus dem Sumpf befreit.

Die politischen Spannungen im Land hatten inzwischen auch Cartagena verpestet, und das musste als Vorzeichen für Schlimmes angesehen werden. Am Ende des Jahres hatten die Liberalen wegen der grausamen politischen Verfolgung jede Zusammenarbeit aufgekündigt, nicht aber ihre geheimen Pläne zum Sturz der Regierung aufgegeben. Auf dem Lande verschärfte sich die violencia, und die Menschen flohen in die Städte, doch die Zensur verhinderte eine klare Berichterstattung. Es war allerdings allgemein bekannt, dass die in die Enge getriebenen Liberalen an mehreren Stellen des Landes Guerrillaeinheiten gebildet hatten. In den Llanos im Osten einer riesigen Graslandschaft, die ein gutes Viertel des nationalen Territoriums ausmacht - wurden diese Guerrillas zur Legende. Ihr Kommandeur, Guadalupe Salcedo, galt, sogar beim Heer, bereits als mythische Größe, und Fotos von ihm wurden heimlich verteilt, hundertfach vervielfältigt und mit brennenden Kerzen auf die Altäre gestellt.

Die De la Espnella wussten anscheinend mehr, als sie sagten, und innerhalb der Stadtmauern wurde ganz selbstverständlich von einem bevorstehenden Staatsstreich der Liberalen gegen die konservative Regierung gesprochen. Ich kannte keine Einzelheiten, Maestro Zabala hatte mir aber gesagt, ich solle sofort in die Zeitung kommen, sobald ich auf der Straße Anzeichen für einen Aufruhr bemerkte. Die Spannung war mit Händen zu greifen, als ich um drei Uhr nachmittags zu einer Verabredung ins Eiscafe Americana ging. Ich setzte mich an einen abgelegenen Tisch, um dort, während ich auf meinen Gesprächspartner wartete, zu lesen, als einer meiner ehemaligen Schulkameraden, mit dem ich nie über Politik geredet hatte, bei mir vorbeikam und ohne mich anzublicken sagte:

»Lauf schnell zur Zeitung, es geht gleich los.«

Ich tat das Gegenteil: Ich wollte wissen, was sich mitten in der Stadt abspielte, statt mich in der Redaktion einzuschließen. Ein paar Minuten später setzte sich ein Presseoffizier der Bezirksregierung an meinen Tisch; ich kannte ihn gut und kam nicht auf den Gedanken, dass er auf mich angesetzt sein könnte, um mich zu neutralisieren. Ich hatte mich in aller Unschuld über eine halbe Stunde lang mit ihm unterhalten, als er aufstand, um zu gehen, und ich entdeckte, dass der große Saal des Eiscafes sich geleert hatte, ohne dass es mir aufgefallen war. Erfolgte meinem Blick und schaute auf die Uhr: ein Uhr zehn.

»Keine Sorge«, sagte er mit verhohlener Erleichterung, »es ist nichts passiert.«

Tatsächlich aber hatte eine Gruppe der wichtigsten liberalen Führer sich in ihrer Verzweiflung über die offizielle Gewalt mit demokratisch gesinnten ranghohen Militärs abgesprochen. Sie wollten das Gemetzel beenden, das die konservative Regierung in ihrer Entschlossenheit, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, im ganzen Land in Gang gesetzt hatte. Die meisten dieser Liberalen hatten an den Verhandlungen vom 9. April mit Präsident Ospina Pérez teilgenommen, um eine friedliche Lösung zu erreichen; kaum zwanzig Monate später hatten sie - zu spät - gemerkt, dass sie Opfer eines kolossalen Betrugs geworden waren. Die gescheiterte Aktion jenes Tages war von Carlos Lleras Restrepo, dem Präsidenten des liberalen Parteipräsidiums, persönlich genehmigt worden und durch Vermittlung von Plinio Mendoza Neira zustande gekommen, der noch aus seiner Zeit als Verteidigungsminister der Liberalen ausgezeichnete Verbindungen zu den Streitkräften hatte. Die Aktion wurde von Mendoza koordiniert, von prominenten Parteigenossen im ganzen Land heimlich unterstützt und sollte bei Tagesanbruch mit der Bombardierung des Präsidentenpalastes durch die Luftwaffe starten. Marinebasen in Cartagena und Apiay, die meisten Militärgarnisonen des Landes und gewerkschaftliche Organisationen unterstützten die Aktion und wollten die Macht ergreifen, um eine Zivilregierung der nationalen Versöhnung bilden zu können.

Erst nach dem Scheitern wurde bekannt, dass zwei Tage vor dem vereinbarten Datum Expräsident Eduarde Santos die Würdenträger der Liberalen und die Anführer des Putsches zu einer letzten Besprechung des Plans in seinem Haus in Bogotá versammelt hatte. Mitten in der Debatte stellte jemand die rituelle Frage:

»Wird es zu Blutvergießen kommen?«

Keiner war so naiv oder so zynisch, die Frage zu verneinen. Andere Führer erklärten, alle Maßnahmen seien getroffen worden, damit es nicht dazu käme, man aber kein Zauberrezept habe, Unvorhersehbares zu verhindern. Erschreckt von dem Ausmaß der eigenen Verschwörung erließ der Parteivorstand ohne vorherige Diskussion den Gegenbefehl. Viele der Mitverschwörer, die diesen Befehl nicht rechtzeitig erhielten, wurden beim Putschversuch festgenommen oder getötet. Andere rieten Mendoza, alleine bis zur Machtübernahme weiterzumachen, was er eher aus ethischen denn aus politischen Gründen nicht tat, doch auch er hatte weder die Zeit noch die Mittel, alle in die Aktion Verwickelten zu warnen. Es gelang ihm, in die Botschaft von Venezuela zu flüchten, und er lebte dann vier Jahre im Exil in Caracas, in Sicherheit vor dem Kriegsgericht, das ihn in Abwesenheit zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis wegen Meuterei verurteilte. Zweiundfünfzig Jahre später zittert mir nicht die Hand, wenn ich - ohne seine Autorisation -schreibe, dass Mendoza sich bis an sein Lebensende im Exil Vorwürfe gemacht hat, weil er sich für die trostlose Bilanz der konservativen Macht mitverantwortlich fühlte: mindestens dreihunderttausend Tote.

Auch für mich war es in gewisser Weise ein entscheidender Moment. Zwei Monate zuvor war ich am Ende des dritten Jurajahrs durchgefallen, und nun beendete ich auch meine Tätigkeit für El Universal, da ich weder im einen noch im anderen eine Zukunft sah. Der Vorwand war, dass ich für meinen gerade erst begonnenen Roman Zeit brauchte, obwohl ich im Grunde meines Herzens wusste, dass das weder stimmte noch gelogen war, weil ich das Projekt plötzlich als rhetorisches Konstrukt sah, das wenig von dem Guten, das ich bei Faulkner gelernt hatte, aber viel von meiner mangelnden Erfahrung offenbarte. Bald lernte ich, dass es wertvoll für die Konzeption und die Ausführung eines Werks ist, wenn man parallele Geschichten zum gerade Geschriebenen erzählt. Damals war das aber nicht der Fall, ich hatte mir vielmehr, da ich nichts vorzeigen konnte, einen gesprochenen Roman ausgedacht, mit dem ich die Zuhörer unterhielt und mich selbst betrog.

Als mir das bewusst wurde, war ich gezwungen, das Projekt von vorne bis hinten neu zu überdenken, ein Buch, vondem es nie mehr als vierzig unzusammenhängende Seiten gegeben hat und das dennoch in Zeitschriften und Zeitungen erwähnt wurde - auch von mir selbst - und über das sogar einige tief schürfende Vorabkritiken von phantasievollen Lesern veröffentlicht wurden. Im Grunde verdient diese Angewohnheit, über Parallelprojekte zu reden, nicht Tadel, sondern Mitgefühl: Die Angst beim Schreiben kann genauso unerträglich sein wie die vor dem Nichtschreiben. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass es Unglück bringt, wenn man die Geschichte, die man wirklich schreibt, erzählt. Es tröstet mich jedoch, dass die mündlich erzählte Geschichte unter Umständen besser als die niedergeschriebene sein könnte und dass wir, ohne es zu wissen, dabei sind, eine neue Gattung zu erfinden, die der Literatur bereits zu fehlen scheint: die Fiktion der Fiktion.

Die nackte Wahrheit aber war, dass ich nicht wusste, wie ich weiterleben sollte. Meine Rekonvaleszenz in Sucre hatte mir zwar zu der Erkenntnis verholfen, dass ich nicht wusste, welchen Weg ich im Leben gehen sollte, mir aber keinen Hinweis darauf gegeben, welches Ziel ich ansteuern sollte, und mir auch nicht zu irgendeinem neuen Argument verholfen, mit dem ich meine Eltern davon überzeugen konnte, dass sie nicht zu sterben brauchten, wenn ich mir die Freiheit nahm, selbst über meine Zukunft zu entscheiden. Also machte ich mich mit zweihundert Pesos, die meine Mutter vor meiner Rückkehr nach Cartagena vom Haushaltsgeld für mich abgezweigt hatte, nach Barranquilla auf.

Am 15. Dezember 1949 betrat ich um fünf Uhr nachmittags die Librería Mundo in Barranquilla, um dort auf die Freunde zu warten, die ich seit jener Nacht im Mai, als ich mit dem unvergesslichen Serior Razzore in die Stadt gekommen war, nicht mehr gesehen hatte. Ich hatte nur eine Strandtasche mit einmal Wäsche zum Wechseln, ein paar Bücher und die Ledermappe mit meinen Entwürfen dabei. Ein paar Minuten später kamen sie alle, einer nach dem anderen, in die Buchhandlung.

Es gab eine lärmende Begrüßung, nur Álvaro Cepeda, der noch in New York war, fehlte. Als die Gruppe vollständig war, gingen wir zu den Aperitifs über, die nicht mehr neben der Buchhandlung im Café Colombia eingenommen wurden, sondern in einem neu eröffneten Lokal naher Bekannter auf der anderen Straßenseite: dem Café Japy.

Ich hatte kein Ziel, weder für diese Nacht noch für den Rest meines Lebens. Merkwürdig ist, dass ich nie auf den Gedanken gekommen war, dass dieses Ziel in Barranquilla liegen könnte, ich war nur dorthin gefahren, um über Literatur zu reden und persönlich für die Bücher zu danken, die sie mir nach Sucre geschickt hatten. Ersteres konnte ich mehr als genug, Letzteres gelang mir trotz mehrmaliger Versuche nicht, denn die Sitte, für etwas zu danken oder gedankt zu bekommen, löste innerhalb der Gruppe heiligen Schrecken aus.

Germán Vargas improvisierte an jenem Abend ein Essen für zwölf Personen, bunt zusammengewürfelt, Journalisten, Maler, Notare, sogar der Bezirksgouverneuer war dabei, ein typischer Barranquillero, der als Konservativer seine eigene Art zu urteilen und zu regieren hatte. Einige Gäste gingen nach Mitternacht, und der Rest verkrümelte sich allmählich, bis nur Alfonso, Germán und ich mit dem Gouverneur zurückblieben, in einer Verfassung, die etwa so klar und vernünftig war wie die bei nächtlichen Feiern unserer frühen Jugend.

In den langen Gesprächen des Abends erhielt ich eine überraschende Lektion über Wesen und Haltung jener, die in den blutigen Jahren die Stadt regierten. Der Gouverneur meinte, eine besonders beunruhigende Folge dieser barbarischen Politik sei die ungeheure Zahl von Flüchtlingen, die in den Städten weder Bett noch Brot hatten.

»Bei dieser Gangart«, schloss er, »wird unsere Partei mit Unterstützung der Armee bei den nächsten Wahlen keine Gegner mehr haben und damit die absolute Macht.«

Barranquilla war die einzige Ausnahme, weil es hier eine Kultur des politischen Zusammenlebens gab, von der auch die Konservativen geprägt waren, was die Stadt zu einem friedlichen Zufluchtsort im Auge des Hurrikans gemacht hatte. Ich wollte ethische Argumente vorbringen, doch er stoppte mich mit einer Handbewegung.

»Pardon«, sagte er, »das bedeutet nicht, dass wir außen vor sind. Ganz im Gegenteil, gerade unser Pazifismus hat dazu geführt, dass sich das soziale Drama des Landes bei uns durch die Hintertür eingeschlichen hat. Es ist mitten unter uns.«

So erfuhr ich, dass fünftausend Flüchtlinge aus dem Landesinneren im größten Elend in die Stadt gekommen waren und man nicht wusste, wie man sie eingliedern oder verstecken sollte, damit das Problem nicht öffentlich wurde. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt gab es Militärpatrouillen, die an den kritischen Stellen Wache hielten, und jedermann sah sie, doch die Stadtoberen stritten ihre Präsenz ab, und die Zensur verhinderte, dass die Presse darüber schrieb.

Bei Tagesanbruch, nachdem wir den Herrn Gouverneur ins Auto hatten schleppen müssen, gingen wir ins Chop Suey, den Frühstücksladen der großen Übernächtigten. Alfonso kaufte an der Ecke drei Exemplare des Heraldo, auf dessen Kommentarseite ein mit Puck signierter Beitrag stand; das war Alfonsos Pseudonym für seine Kolumne, die jeden zweiten Tag erschien. Es handelte sich um einen Willkommensgruß, doch Germán machte sich über Alfonso lustig, weil in dem Beitrag stand, dass ich inoffiziell auf Urlaub gekommen sei.

»Du hättest besser geschrieben, dass er hierher gezogen ist, damit du nicht auch noch einen Abschiedsartikel schreiben musst«, spottete Germán. »Das wäre billiger für eine so geizige Zeitung wie den Heraldo gewesen.«

Wieder ernst geworden meinte dann Alfonso, dass ein weiterer Kolumnist der Kommentarseite nicht schaden könnte. Doch Germán war im ersten Tageslicht nicht zu bremsen:

»Das wird ein Fünftkolumnist, immerhin habt ihr schon vier.«

Keiner von ihnen fragte mich, ob ich dazu bereit sei, und so konnte ich nicht Ja sagen, wie ich es mir gewünscht hätte. Das Thema wurde nicht mehr erwähnt. Und das war auch nicht nötig, da Alfonso mir dann am Abend sagte, dass er mit den Leitern der Zeitung gesprochen habe, man dort die Idee eines neuen Kolumnisten begrüße, vorausgesetzt er sei gut und habe keine großen Ansprüche. Wie auch immer, vor den Neujahrsfeiern konnten sie nichts in die Wege leiten. Also blieb ich mit dem Vorwand dieser Anstellung, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich im Februar ablehnen würden.