Der 30. Januar 1997 war ein ganz besonderer Tag für den Evans-Clan. An diesem Tag feierten wir die Ankunft von Virginia, Kristins kleiner Schwester, der süßen Tochter von Bille und mir. Ich fand es schön, dass wieder einmal eine Evans in Sydney zur Welt gekommen war, nur wenige hundert Meter entfernt von der Underwood Street 32 in Paddington, wo mein Vater 1916 das Licht der Welt erblickt hatte. Das Leben war schön. Sehr, sehr schön.
Dave Tice und Mick Cocks hatten sich zu einem vom Blues beeinflussten Akustik-Duo zusammengetan, um ein paar Gigs im Tea Gardens Hotel von Bondi Junction zu geben. Gelegentlich stieß Micks früherer Rose-Tattoo-Kollege Ian Rilen zu ihnen. Ich bekam meine Feuertaufe mit dieser Band an einem Freitagnachmittag kurz nach Victorias Geburt.
Mick war mit einer ehemaligen Hotelbetreiberin befreundet, Karen, die nun ein Restaurant im Stadtteil Woolloomooloo eröffnen wollte, und sie wünschte sich dafür musikalische Untermalung von Dave und Mick. Das war in zweierlei Hinsicht etwas gewagt: Karen war englisch-australischer Abstammung, plante aber ein China-Restaurant, und sie war zudem aus irgendeinem Grund der festen Überzeugung, dass Akustik-Blues gut zu chinesischem Essen passte. Als sie Mick nirgendwo aufstöbern konnte (was wenig überraschend war), und Dave auch nicht, rief sie mich an, weil sie sich allmählich Sorgen machte — es waren nur noch vier Stunden bis zur Eröffnung.
Das war der erste Auftritt des Duos Dave Tice & Mark Evans, im Amazing Wok von Woolloomooloo. Die Idee eines chinesischen Restaurants mit Blues-Musik entpuppte sich zwar nicht wirklich als Renner, aber unser Duo entwickelte sich prächtig. Ich war gelegentlich einmal bei der Dave Tice Band eingesprungen, wenn Dave gerade keinen Bassisten hatte, aber das Duo mit ihm brachte mir richtig den Spaß an den Live-Auftritten zurück. Es dauerte nicht lange, und das Bridge Hotel in Rozelle, das Richard Keough, einem guten Freund, gehörte, und die Iguana Bar in Kings Cross boten uns regelmäßig Auftritte an.
Erst da wurde mir bewusst, wie sehr es mir gefehlt hatte, live zu spielen. Dazu kam noch, dass es mit Dave zusammen enorm viel Spaß machte, weil er eine großartige Stimme hat. Unser Akustik-Blues entwickelte sich von Gig zu Gig weiter. Die Arbeit als Duo hat deutliche Vorteile: Es gibt nur zwei Meinungen. Wenn man verschiedener Ansicht ist, dann kann man seine Meinung gleich äußern, ohne erst mit anderen Bandmitgliedern Rücksprache halten zu müssen. Eine sehr unmittelbare Herangehensweise. Außerdem waren unsere Familien inzwischen eng miteinander verbunden. Daves Frau Lesley war Billes beste Freundin, und seine Tochter Savannah und meine Virginia spielten viel zusammen, sodass schon darüber gewitzelt wurde, wer denn eigentlich die echten „Tice & Evans“ waren.
Hinter den Kulissen hatte sich ebenfalls einiges verändert. Wir hatten uns ein neues Haus in Lilyfield gekauft (nun ja, für uns war es neu, aber eigentlich war es über 120 Jahre alt). Ich spielte wieder viel, zumeist allerdings eine Gibson J 200 Akustikgitarre und keinen Fender Precision Bass. Ginnie wurde größer und lachte den ganzen Tag, Kristin war an die Goldküste gezogen, und ich hatte eine neue Geschäftsadresse für den Handel mit Traditionsgitarren bei Carlo Bova und seinem Team von Downtown Music. Das Leben war rosa. Was konnte da schief gehen?
Kristin wohnte wieder bei ihrer Mutter im Norden, um die Sonne und den entspannten Lebensstil an der Goldküste zu genießen, und eines Tages, kurz vor ihrem 18. Geburtstag, klagte sie, es ginge ihr nicht gut. Der Hausarzt diagnostizierte bei ihr Drüsenfieber, was für ein Teenagermädchen sicher nicht lustig ist, aber auch nicht dramatisch; schließlich waren wir sicher, dass es ihr nach etwas Ruhe bald besser gehen würde. Theoretisch. Wir telefonierten in der folgenden Woche öfters, und es war klar, dass es ihr überhaupt nicht besser ging; sie sagte, sie fühlte sich beschissen. Kobe pflegte sie mit aller mütterlichen Hingabe, aber auch mit zunehmender Sorge.
Als Kristin das nächste Mal ihren Hausarzt aufsuchte, war der ebenfalls beunruhigt über ihren sich verschlechternden Zustand und wies sie ins Pindari Hospital ein. Der dortige Spezialist für Infektionskrankheiten, John Gerrard, hatte vor 15 Jahren, als er noch am Royal Prince Albert Hospital in Sydney angestellt war, einmal bei der Behandlung eines Patienten mit Lemierre-Syndrom assistiert, und er kam nach Gesprächen mit Kobe und einer gründlichen Untersuchung zu dem Schluss, dass es sich tatsächlich um diese Krankheit handelte. Offenbar meinte es jemand da oben gut mit unserer Kristin, denn die Früherkennung war entscheidend.
Sie wurde auf die Intensivstation des Gold Coast Hospitals verlegt. Der dortige Chefarzt, Hugh Thomas, hatte noch nie zuvor selbst jemanden mit Lemierre-Syndrom behandelt, aber einen solchen Fall einmal als Assistenzarzt in Südafrika miterlebt. Wunder hören niemals auf – wären die Ärzte weiter von Drüsenfieber ausgegangen, hätte das tödliche Folgen haben können.
Kristin verbrachte ihren 18. Geburtstag im künstlichen Koma. Das Lemierre-Syndrom verursachte ein septisches Blutgerinnsel und führte dadurch zu einer Lungenentzündung – was jedoch tatsächlich die weniger gefährliche von zwei schrecklichen Möglichkeiten darstellte. Es war Glück, dass das Gerinnsel, das sich in Kristins Drosselvene gebildet hatte, zur Lunge gewandert war. Hätte es das Gehirn erreicht, hätte das zu einem schlimmen Hirnschlag führen können. Es war so unwirklich: Es war Kristins 18. Geburtstag, und sie kämpfte um ihr Leben. Wie konnte das nur sein?
Ich saß im Wartebereich, als mein Telefon klingelte. Es war Dave Tice.
„Danke, dass du anrufst, Alter. Wie sieht’s aus bei dir?“
„Ich bin im Krankenhaus“, antwortete Dave.
„Was für einem Krankenhaus?“
„Im Royal Prince Albert in Sydney. Nick hatte einen Motorradunfall. Es sieht ziemlich übel aus.“ Scheiße, was konnte denn noch alles passieren?
Nick war der älteste Sohn von Dave und Lesley. Ein Lkw hatte ihn beim Wenden übersehen, als er mit seinem Motorrad angefahren kam, und er war buchstäblich unter die Räder gekommen. Der Unfall ereignete sich ganz in der Nähe von Daves Haus, und natürlich war er sofort vor Ort gewesen und hatte versucht, irgendwie zu helfen. Nicks rechtes Bein war „abgezogen“ worden – die Haut seines Oberschenkels hatte sich gelöst, und Dave sagte, es sähe aus, als sei sie um seinen Knöchel zusammengeschoben „wie eine Football-Socke“. Aber glücklicherweise war er nicht in Lebensgefahr. Die Verletzungen waren furchtbar schmerzhaft, würden aber wieder heilen.
Solange Kristin noch auf der Intensivstation lag, pendelte ich zwischen der Goldküste und Sydney hin und her. Es war eine unvorstellbare Situation, irreal und nicht von dieser Welt. Als ich nach zwei Tagen zu Hause wieder ins Krankenhaus fuhr, lag da jemand anderer in Kristins Bett: ein aufgedunsener, farbloser Mensch, der ganz offensichtlich nicht mehr lange auf dieser Erde weilen würde. Was zur Hölle war passiert? Und wo war Kristin? Mein Gehirn schaltete in den nächsten Gang. Ich fürchtete das Allerschlimmste und bekam Panik. Die Schwestern erklärten mir allerdings, dass es tatsächlich Kristin war, die ich vor mir hatte. Es war ein schockierender, schlimmer Anblick, den ich nie vergessen werde. Seltsamerweise machte das alles die Situation erträglicher. Ich hatte das Gefühl, als wartete ich nur darauf, dass Kristin zurückkehrte und den Platz dieses fremdartigen Wesens im Bett wieder einnehmen würde. Das sagt wohl alles über den Zustand, in dem ich mich befand.
Kristins Lungen waren „hart“, von Flüssigkeit blockiert, und ihre lebenswichtigen Organe versagten allmählich, eines nach dem anderen. Daraufhin wurde beschlossen, ihre Lungen durch eine Operation zu entwässern. Die Ärzte hatten zwar Bedenken, sie auch nur zu bewegen, aber sie hatten keine andere Wahl. Ein Hubschrauber wurde auf Abruf angefordert, um sie nach Brisbane zu fliegen, falls etwas schief gehen sollte. Konnte es denn noch schlimmer kommen? Da wollten die Ärzte sie eigentlich überhaupt nicht bewegen, und dann bereiteten sie einen Hubschrauberflug für sie vor? Scheiße, bitte, nur das nicht – sie war doch gerade erst 18 geworden.
Mehr als ein Liter Flüssigkeit wurde aus jedem Lungenflügel geholt, und glücklicherweise war in der Flüssigkeit kein Anzeichen einer Infektion zu entdecken. Kristin kam zurück auf die Intensivstation, und der Hubschrauber wurde nicht gebraucht. Man sagte uns, dass nun nichts weiter getan werden könnte, als sie mit hohen Dosen Antibiotika zu behandeln, während sie weiterhin an die lebenserhaltenden Systeme angeschlossen blieb. Ganz, ganz langsam erholte sie sich, obwohl sie immer noch an den ganzen Maschinen hing. Als Kristin eine winzige Menge Urin ausschied, war das ein kleines, aber positives Zeichen dafür, dass ihr Körper allmählich wieder zu funktionieren begann.
Peter Steele, Kristins Großvater, sprach aus, was wir alle dachten.
„Noch nie hat ein kleiner Beutel Pipi so viele Leute so glücklich gemacht.“
Kristin überlebte und nahm ihr ganz normales Leben wieder auf. Sie war phantastisch, eine richtige Inspiration. Unsere wunderbare, lustige Tochter war wieder da. Ich war mir sicher, dass sie nun ihr Leben erst so richtig genoss, und sie sah es sicher auch so. Ich hätte nicht stolzer sein können – auf dieses wundervolle Mädchen mit einer großartigen, warmherzigen Seele, einem großen Bewusstsein und viel mehr Weisheit, als ihren Jahren eigentlich zukam. Die Krankheit hatte ihren Charakter geprägt. Sie arbeitete im Hard Rock Café, beendete ihr Studium, reiste durch die Welt. Mit viel Optimismus, Hoffnung und ein paar Tränen verabschiedeten wir sie am Flughafen Sydney, als sie über Japan nach London flog, ihrer Zukunft entgegen.
Von Kristin lernte ich etwas ganz Entscheidendes. Sie hatte sich einem fast aussichtslosen Kampf gestellt und ihn gewonnen, hatte sich den Staub von den Kleidern geschüttelt und sich wieder mit dem Kopf voran ins pralle Leben gestürzt. Warum einen Tag, warum auch nur einen einzigen Moment verschwenden? Das erschien mir sehr richtig.
Als ich noch klein war, musste man sich entscheiden – entweder für die Beatles, oder für die Rolling Stones. Ich hielt immer zu den Stones, die mich begeistert hatten, seit ich zum ersten Mal „Not Fade Away“ im Radio gehört hatte. Vielleicht war es der große Blues-Einfluss, der mich so packte, aber ich denke, mir gefiel auch ihr Bad-Boy-Image.
Bei meinen ersten noch holprigen Versuchen, eigene Bands auf die Beine zu stellen, war stets sehr viel Stones-Material mit im Programm. Ein paar dieser Songs spiele ich heute noch bei den Akustik-Gigs mit Dave: „Little Red Rooster“, „Not Fade Away“ und „Under My Thumb“ gehören zu unserem aktuellen Programm. Als ich 1975 zu AC/DC stieß, hatte ich sehr erfreut festgestellt, dass in ihrer Setlist ein paar Stones-Songs auftauchten – sie verschwanden zwar kurz darauf, aber der Einfluss blieb erhalten.
Fast 30 Jahre später, am 20. Februar 2003, war ich mit Dave Tice, Graham Kennedy und Bille voller Vorfreude auf dem Weg zum Enmore Theatre in Sydney, wo die Stones im Rahmen ihrer 40 Licks-Tournee auftraten. Das Enmore fasst nur 1.500 Zuschauer, es ist eine coole, kleine Halle, die für eine so großartige Band wie die Stones wie geschaffen ist. Es ist ein richtig altmodisches Theater, mit ansteigendem Hallenboden, kleiner Bühne und eben jener speziellen Atmosphäre, die man nur dann erfährt, wenn man eine Band wirklich aus nächster Nähe sieht – wie eine kleine Zeitreise, weg von den aktuellen Betonburgen und Superdomes.
Auf dem Weg dorthin musste ich unwillkürlich an jenen Abend im Mai 1976 denken, als wir uns die Stones im Londoner Earls Court ansahen, nachdem Atlantic uns Pässe besorgt hatte. Michael Browning war damals auch mit dabei, und wir waren offenbar alle sehr aufgedreht, weil er sagte, ihm sei gar nicht klar gewesen, dass wir alle so schnell rennen konnten. Es lag eine gewisse Aufregung in der Luft, was natürlich niemand von uns zugegeben hätte, dazu waren wir ja alle viel zu cool, und ich hatte damals auch das Gefühl, dass sich die anderen Jungs über einen begeisterten Kommentar gnadenlos lustig gemacht hätten. Also hielt ich die Klappe und ging weiter. Schnell. Angus war allerdings nicht bei uns.
„Wieso sollte ich denn da hin?“, hatte er in der Band-Unterkunft vor sich hin gegrummelt. „Interessiert mich nicht.“
Mir war das wurscht, ich war völlig hin und weg.
Die Stones-Konzerte in jener Zeit waren enorm aufwändig. Das Licht ging aus, und es erschallte die pompöse „Fanfare To The Common Man“. Die Bühne war wie eine Lotosblüte gestaltet, in deren Mitte die Band stand, während sich die Seiten wie Blütenblätter öffnen oder schließen konnten. Es war alles im großen Stil gehalten und erschien mir fürchterlich übertrieben. Für mich hatte das nichts mehr mit Rock’n’Roll zu tun. Der eigentliche Set der Stones begann mit „Honky Tonk Women“, und danach spielten sie viele Songs von Black And Blue, dem damals aktuellen Album. Es war die erste Tour mit Ron Wood von den Faces an der Gitarre.
Auf der Platte sind einige ziemlich Funk-beeinflusste Titel, die mir als eine radikale Abkehr vom traditionellen Stones-Sound erschienen und überhaupt nicht gefielen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die anderen AC/DC-Jungs das irgendwie gut fanden. Ich persönlich war jedenfalls enttäuscht; damals dachte ich, wenn das da die „größte Rockband der Welt“ ist, dann sind wir von diesem Titel auch nicht mehr allzu weit entfernt. Wenn das die Konkurrenz war, sah es für uns nicht übel aus.
Fast 30 Jahre später war ich dann wieder auf dem Weg zu einem Stones-Konzert. Inzwischen zählten sie zu den letzten wahren Überlebenden im Rockgeschäft. In einem Pub in der Nähe des Theaters kippte ich noch ein paar Scotch, dann war ich bereit. Ich hatte ein paar sehr seltsame Wochen hinter mir und brauchte dringend einen schönen Abend, damit das Leben wieder etwas freundlicher erschien.
Inzwischen lag meine Zeit bei AC/DC Jahre zurück, aber ich versuchte trotzdem immer, auf dem Laufenden zu bleiben, was die Band betraf. Sie sollte in die Rock And Roll Hall Of Fame eingeführt werden, und das war auch an der Zeit. Dabei ging ich davon aus, dass man die gegenwärtige Besetzung berücksichtigen würde, und natürlich auch Bon. Überrascht erfuhr ich dann, dass auch ich zu den Geehrten zählen sollte. Mehr noch, ich war überwältigt, als mein Freund, der Autor Murray Engleheart, mich anrief und mir sagte, dass ich auf der Webseite der Hall Of Fame mit den anderen genannt wurde. Murray wusste besser als irgendjemand sonst, wie die Dinge zwischen mir und der Band standen – es gab keinerlei Kontakt mehr. Die letzten Berührungspunkte waren rein juristisch gewesen und hatten die Lage eher verschlimmert als verbessert.
„Ich kann das gar nicht glauben“, sagte ich zu Murray.
„Wer weiß, vielleicht schmilzt das Eis ja ein wenig“, meinte er.
Das hielt ich zwar für verdammt unwahrscheinlich, aber egal – der Gedanke an die Rock’n’Roll Hall Of Fame an sich war ziemlich aufregend. Ich war stets stolz auf meine Arbeit mit der Band, trotz unserer Streitereien, und das war zweifelsohne eine wirklich große Sache.
Dennoch war meine erste Reaktion, die Nominierung abzulehnen, obwohl ich mich so sehr darüber freute. So, dachte ich, würde ich am ehesten meine Würde bewahren können. Denn es war unwahrscheinlich, dass mich die Band mit offenen Armen begrüßen würde – nicht nach all dem, was zuletzt an rechtlichem Ärger gelaufen war. Viele Bekannte aus dem Musikbusiness gratulierten mir zur Nominierung, meinten aber auch: „Abwarten, was passiert.“ Angenehm überrascht, aber zurückhaltend – so reagierten die meisten.
Schließlich rang ich mich dazu durch, die Sache auszusitzen, ohne meinem ersten Instinkt zu folgen. Ich war eigentlich überzeugt, dass noch irgendwas dazwischen kommen würde. Aber trotzdem – wenn ich ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass ich hoffte, der Staub hätte sich gelegt, wir könnten alle gemeinsam in die Kameras lächeln und dann mal sehen, wie es weiterging. Roly McAdam, der mir in dieser Zeit ein guter Freund und Ratgeber war, war zudem der Meinung, dass die Hall Of Fame die Liste der Nominierten sicherlich mit den Bands abgesprochen haben würde, wenn auch vermutlich mit dem Hinweis, dass es nur eine Nominierung war. Roly hatte Kontakte zu Suzanne Evans von der Hall Of Fame – was lag also näher, als zu fragen?
Zuerst gab es einige positive Zeichen: Man teilte mir die Termine mit und erläuterte die Einzelheiten zur Einführungszeremonie im Waldorf Astoria und die dazugehörigen Arrangements. Und es hieß, man würde in Kontakt bleiben und mich über alles Wichtige informieren. Dann ging die Temperatur in den Keller. Nach der ersten Woche meldete sich niemand mehr auf Rolys Anrufe. War das der Rückschlag, den ich befürchtet hatte? Aber klar doch. Als wir endlich wieder etwas hörten, war es die knappe Mitteilung, die Hall Of Fame habe die Nominierung überdacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass ich doch nicht der Aufnahme würdig sei. Ich war draußen.
„Okay, wenn das so ist, dann ist es ja in Ordnung“, sagte Roly. „Nach welchen Kriterien hat man denn das entschieden?“ Das konnte Roly niemand sagen. Ich habe mich immer gefragt, was zu dieser Meinungsänderung geführt hat. Und das tue ich immer noch.
Auf alle Fälle möchte ich sagen, dass AC/DC die Einführung in die Hall Of Fame unbedingt verdienten, und sie war lange überfällig. Bon war natürlich mit aufgenommen worden, und ansonsten hatte man die bestehende Besetzung gewürdigt. Ich hatte absolut kein Problem damit, dass ich nicht dabei war. Gemessen an der langen Karriere war ich schließlich nur für kurze Zeit dabei gewesen. Zwar war es meiner Meinung nach eine wichtige Zeit gewesen, aber verglichen mit den mehr als 30 Jahren, die Cliff als Bassist bei AC/DC spielte, war es natürlich nur ein Herzschlag. Gegen den Strich ging mir allerdings die Herangehensweise der Hall Of Fame. Wenn es einen Fehler gegeben hatte, na gut, dann hätte man das auch zugeben müssen. Eine kurze Entschuldigung oder zumindest eine Erklärung hätte ich schon erwartet.
Tja, und so lag wirklich eine ziemlich verrückte Zeit hinter mir, als wir uns die Stones im Enmore Theatre ansahen. Und an diesem Tag zählte nichts außer der Tatsache, dass sie mit „Midnight Rambler“ loslegten und dann gleich mit „Tumblin’ Dice“ noch einen draufsetzten. Besser ging’s nicht. Wie sie es selbst einmal so schön ausgedrückt hatten: „The joint was rockin’.“
Als langjähriger Stones-Fan war ich begeistert, die ganzen alten Sachen zu hören, die ich mit meinen allerersten Bands verhackstückt hatte, um sie dann in den Anfangstagen von AC/DC mit ein bisschen mehr Können zu spielen. Und dann wurde ich mit einem Knall wieder in die Gegenwart transportiert. Mal und Angus kamen auf die Bühne und brachten gemeinsam mit den Stones eine energiegeladene Fassung von „Rock Me Baby“. Ich muss schon sagen, ich war ein bisschen grün im Gesicht, aber es war ein großartiger Augenblick. Meine alten Kumpels, alle beide schwer einzuschätzende Persönlichkeiten, aber dessen ungeachtet hervorragende Musiker, standen da oben und spielten mit den scheinbar unverwüstlichen Rolling Stones, eben jener Band, die Angus damals im Earls Court gar nicht hatte sehen wollen. Im Licht der gerade zurückliegenden Pleite mit der Hall Of Fame erschien mir das noch schmerzlicher. Während ich den Musikern auf der Bühne zusah, fragte ich mich erneut: „Was zur Hölle ist da gelaufen?“
Vielleicht werde ich die wahren Hintergründe nie erfahren, aber wie ich da in diesem herrlichen Theater saß, mit meiner Frau und meinen Kumpels an der Seite, und meinen alten Bandkollegen zusah, wie sie mit Mick und Keith und den anderen abrockten, da konnte ich nicht anders, ich war beeindruckt. Mein Leben hatte ein paar seltsame Wendungen genommen, und es gab sicher einige Dinge, die ich bedauerte, aber an diesem Abend fühlte es sich einfach nur gut an, in diesem Raum zu sein und diese zeitlosen Songs zu hören.
Mein 50. Geburtstag fiel auf einen Samstag, den 4. März 2006 – ein Tag, an dem ein ganz normaler Gig von Tice & Evans in unserer neuen Wirkungsstätte angesetzt war, dem Sandringham Hotel in Newtown. Es sollte auch bei mir in Lilyfield eine Party geben, aber als alter Kämpe konnte ich mich nicht dazu durchringen, einen Auftritt abzusagen. Zumindest spielte ich den ersten Set, während dann mein guter Freund Ian Miller beim zweiten für mich einsprang. Ich hatte einen Haufen Leute aus Melbourne eingeladen und wollte zu Hause sein, um sie bei ihrem Eintreffen zu begrüßen.
Aber dann konnte ich kein Taxi erwischen. Es wurde spät, und ich fing schon an, mir Sorgen zu machen, da entdeckte ich eins, das etwa hundert Meter entfernt am Straßenrand parkte. Der Fahrer holte sich wahrscheinlich gerade einen Burger, dachte ich. Ich lief die Straße hinunter, schwang mich auf den Beifahrersitz und stellte überrascht fest, dass der Fahrer tatsächlich am Steuer saß und eine Frau auf dem Rücksitz Platz genommen hatte. Gerade wollte ich mich wortreich entschuldigen, da hielt ich inne – hey, das war doch meine Schwester Judy. Sie hatte mich überraschen wollen und war mit einem guten Freund, Dean Barclay, nach Sydney geflogen. Sie hatten kurz angehalten, um einen weiteren Freund einzusammeln, als ich in ihr Taxi sprang. Auch eine Fünf-Millionen-Stadt ist offenbar ein Dorf. Judys Überraschung war natürlich verdorben, aber es war ein toller Anfang für den Rest des Abends – und außerdem wollten wir ja auf dieselbe Party, und so sparte ich mir das Taxigeld.
Die üblichen Verdächtigen, um die 120 Personen, hatten sich inzwischen bei mir zu Hause versammelt, darunter meine Mädchen Bille und Virginia (Kristin war in Europa), natürlich Graham Kennedy, seine Frau Josette und ihr Sohn Tobi, viele andere gute Freunde aus Melbourne, meine Mutter Norma und meine „zweite Mutter“ Rose Kennedy, Grahams Mum. Dave Tice, Mick Cocks, Brian Todd und Owen Orford, der ehemalige Sänger von Contraband (den Bon für einen „supergeilen Sänger“ gehalten hatte) waren ebenfalls da. Die Jungs von den East Sydney Bulldogs guckten vorbei, und wenn diese massigen Typen nebeneinander standen, dann reichte es schon, damit es so aussah, als ob hinterm Haus dichtes Gedränge herrschte. Wir hatten eine Musikanlage aufgebaut und außerdem ein paar schöne Gibson-Akustikgitarren bereitgestellt, falls jemand Lust zu spielen hatte. Die Party sollte richtig großartig werden.
Vor diesem Abend hatte ich zwei wichtige Entscheidungen getroffen. Die erste war, dass ich mich zusammenreißen wollte: Anstatt darauf zu bestehen, dass man mir die Hymne des Carlton Football Clubs vorsang, wollte ich mich meinen Ängsten stellen und mir von meinen Gästen ein launiges „Happy Birthday“-Ständchen bringen lassen. Und ich hatte beschlossen, mir eine Tätowierung auf der Brust machen zu lassen: B K V, die Initialen meiner Mädchen. Aber es reichte fürs Erste, mich einer alten Phobie zu stellen – erst einmal wollte ich „Happy Birthday“ aushalten.
Es wurde reichlich Whisky-Cola ausgeschenkt und so manches andere, und meine Gäste schafften es auch, mich so weit zu beruhigen, dass ich meinem Schicksal einigermaßen gefasst entgegensah. Bei meinem 21. Geburtstag in London mit AC/DC war ich noch geflüchtet, aber dieses Mal gab es kein Entrinnen. Ich wurde für den „offziellen“ Teil des Abends auf den Rasen gerufen. Bille bedankte sich bei allen Anwesenden fürs Kommen, und in mir machte sich allmählich die Überzeugung breit, dass eine Tätowierung vielleicht doch die weniger schmerzhafte Wahl gewesen wäre.
Bille fuhr fort: „Ich habe für Mark ein Geschenk aus London kommen lassen.“
„Cool“, dachte ich, „bestimmt eine Gitarre.“
Am Ende unseres Gartens führt eine kleine Pforte zum Grundstück unseres Nachbarn, Chris Turner. Chris war ursprünglich einmal mit Dave zusammen Gitarrist bei Buffalo gewesen und gelegentlich bei Rose Tattoo eingesprungen. Es sind übrigens Chris’ Finger, die auf dem Original-Cover der australischen Pressung der LP Let There Be Rock zu sehen sind.
Ich wusste noch immer nicht, was los war, als plötzlich Kristin durch dieses Tor geschritten kam. Sie hatte ich nun am allerwenigsten erwartet, und ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich kapierte, was Sache war. Seit Kristin anderthalb Jahre zuvor nach London gegangen war, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Die Gäste dachten wahrscheinlich, dass ich lediglich in einer innigen Umarmung mit meinen zwei schönen Töchtern verharrte, aber damit tarnte ich vor allem die Tatsache (hoffe ich wenigstens), dass ich völlig aufgelöst war. Es war ein so wunderbarer Augenblick, aber es war komisch – ich war so verdammt glücklich, dass ich heulen musste. Wir standen da, wir drei, als gäbe es niemanden außer uns auf der ganzen Welt, und es war mit Abstand die großartigste Umarmung, die ich jemals erlebte; eine Umarmung, die ich mein ganzes Leben lang in Erinnerung behalten werde. Schließlich war ich immer schon überzeugt, dass Väter-Töchter-Beziehungen eine ganz spezielle Dynamik haben.
Dann endlich bekam ich den Kopf wieder frei, und mir wurde klar, dass Kristin tapfer versuchte, mir ihren Freund vorzustellen, Chris Nicholson, der mit ihr angereist war und den ich noch nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte. Als ich mich ihm dann endlich zuwandte, stellte ich fest, dass es sich beim Auserwählten meiner Tochter um einen ausgesprochen hochgewachsenen jungen Mann aus Trondheim handelte, dessen Mutter Norwegerin und dessen Vater ein englischer Akademiker war.
„Ich habe gehört, du magst Glenfiddich“, waren seine ersten Worte an mich, während er mir eine Literflasche des guten Single Malts in die Hand drückte. „Herzlichen Glückwunsch, Mark.“
Ich bedankte mich und grinste Kristin an. „Er gefällt mir schon jetzt!“
Der großartige Abend wurde immer großartiger.
Es war Bille gewesen, die schon vor Monaten heimlich geplant hatte, Kristin und Chris zu meinem großen Tag einzufliegen. Als ich ein paar Tage vor der Party mit Kristin telefoniert hatte, hatte sie kein Wort davon erwähnt; die beiden hatten dichtgehalten, um mich zu überraschen. Kristin zu meinem 50. ins Land zu schmuggeln, war eine wundervolle, warmherzige und aufmerksame Geste. Dafür werde ich auf ewig dankbar sein, wobei dieser Ausdruck noch viel zu schwach ist für das, was ich empfand.
Ach so – ich kann mich absolut nicht mehr an mein „Happy Birthday“ erinnern, aber man hat mir berichtet, es sei mit sehr viel Schwung und Inbrunst vorgetragen worden.
Am nächsten Tag wachte ich natürlich irgendwann mit einem richtig dicken Kater auf. Ich sage irgendwann, denn ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wann ich aus meinem Suffkoma wieder zu mir kam. Was mich weckte, das weiß ich allerdings: die übelsten Kopfschmerzen aller Zeiten. Wenn es eine Kopfschmerz-Olympiade gäbe, dann hatte diese Attacke eindeutig Chancen auf die Goldmedaille. Sie durch Untertauchen in einem Swimmingpool zu neutralisieren, wie damals, 1977 in Perth, kam nicht in Frage. Viel zu riskant. Schließlich war ich kein junger Kerl mehr. Ich war 50. Scheiße, ich war tatsächlich 50 Jahre alt – wie war das bloß passiert?
Die nächsten Tage verbrachte ich damit, mich zu erholen, schöne Stunden mit Kristin zu verbringen und Chris näher kennen zu lernen. Die beiden gingen auf Entdeckungsfahrt durch Sydney, begleitet von Virginia, die ihre große Schwester nicht aus den Augen ließ. Das Leben in Lilyfield war schön. So konnte es bleiben, dachte ich damals. Und wenn der große alte Mann da oben es dann vielleicht auch noch so einrichten konnte, dass die Kater nicht mehr ganz so heftig ausfielen, dann wäre das auch sehr nett.
Nach einiger Zeit verabschiedeten wir uns wieder von Kristin, die zusammen mit Chris zu einer Tour die Ostküste hinauf aufbrach, wo ihre Familie in Mission Beach, Queensland, noch ein Haus hatte. Der wundervolle Überraschungsbesuch war vorbei, aber ich war glücklich und zufrieden. Kristin in meiner Nähe zuhaben und zu erleben, wie verliebt sie in ihren Chris war, das allein war wunderbar gewesen.
Geschäftlich lief auch alles gut; der Gitarrenhandel bei Downtown Music florierte. Gelegentlich verirrte sich eine Les Paul Standard von 1960 oder eine Custom Colour Fender Stratocaster aus den frühen Sechzigern in unseren Laden, die Gitarrenfetischisten wie Carlo und mir stets ein breites Lächeln entlockten. Dave und ich waren außerdem weiter als Duo unterwegs und spielten überall im ganzen Land.
Unser Akustik-Blues-Duo hatte inzwischen richtig an Profil gewonnen, nicht nur durch Daves großartige Stimme, sondern auch durch viele eigene Songs und ein paar lustige Einlagen zwischen den einzelnen Titeln. Ich betrachtete es als meine persönliche Aufgabe, Dave während und zwischen den Songs zum Lachen zu bringen. Wir nahmen unsere Arbeit sehr ernst, aber ebenso ernst war es uns damit, viel Spaß zu haben und das Publikum darin einzubeziehen.
Das Leben hatte einen gewissen Rhythmus und surrte wie eine geölte Maschine vor sich hin. Zwar hätte ich gern ein bisschen mehr freie Zeit zum Golfspielen gehabt, aber ich wusste, dass ich dafür eines Tages noch genug Muße haben würde. Ginnie wurde schnell groß, eine wunderbare kleine Seele, die viele neue Freundschaften an der Annandale North Public School schloss. Kristin begleitete sie an ihrem ersten Tag in die Schule, ebenso wie Oma Norma, wodurch dieser schwere Schritt für sie ein bisschen leichter wurde.
Kristin und Chris lebten inzwischen in Amsterdam. Kristin peilte eine Karriere als Kostüm- und Bühnendesignerin fürs Theater an, einen Beruf, in dem sie ihren Hang zu Überschwänglichkeit und Pomp bestens würde einsetzen können, und während der Ausbildung arbeitete sie nebenbei im Hard Rock Café und als DJ. Bei einem Gig in Oslo trat sie in einem Kleid auf, das aus Luftballons bestand, und nach den Songs ließ sie immer mal wieder einen Ballon an der richtigen Stelle platzen, bis sie nur noch mit ein paar Streifen Klebeband bekleidet war. Ich habe die Bilder gesehen – als Vater war es nicht ganz einfach, damit zurechtzukommen.
Am 6. Juni 2007 klingelte bei uns um drei Uhr morgens das Telefon. Bille und ich schreckten hoch. „Da ist was passiert“, dachte ich sofort. Billes Mutter Virginia, nach der wir unsere Tochter benannt hatten, war zuletzt nicht bei guter Gesundheit gewesen. Aber Bille reichte mir den Hörer.
Es war Kobe.
„Mark, Kristin ist tot.“
„Wie bitte?“
Schweigen.
Während sich meine Gedanken überschlugen, erzählte mir Kobe, was geschehen war. Kristin war auf dem Weg zu ihrer Schicht im Hard Rock Café, die um zehn Uhr morgens begann, und war spät dran. Sie war mit ihrem rosa Mountainbike unterwegs und hielt an einer Ecke der Overtoom, einer der meistbefahrenen Straßen in Amsterdam, um im Club anzurufen und zu sagen, dass sie gleich da sein würde. Ein riesiger Betonmischer nahm die Kurve zu eng und erfasste Kristin. Sie geriet und unter die Doppelreifen und starb noch am Unfallort.
Fassungslos hörte ich zu, bis Kobes Stimme erstarb. In mir machte etwas Klick. Es war komisch; ich dachte nicht „das kann nicht sein“ oder „das ist ein Traum“, ich wusste, dass Kristin nicht mehr da war. Ich fühlte es. Das ganze Leben hielt an, alles, und aus mir kam nur ein Wort: „Nein. Nein.“
„Kobe“, fragte ich, „ist jemand bei dir?“ (Hoffentlich ist sie nicht allein, dachte ich nur.)
„Dad ist hier.“
„Lass mich kurz mit ihm sprechen, bitte.“
Noch einmal ließ ich mir von Peter erzählen, was ich doch schon längst als Tatsache akzeptiert hatte. Es bestand nicht der Hauch einer Chance, dass hier ein Fehler vorlag, dessen war ich mir sicher. Ich wusste, dass sie von uns gegangen war. Peter erklärte, dass sie mit der Polizei in Amsterdam gesprochen hatten und nun die australische Polizei auf dem Weg zu ihnen war, um zu tun, was in diesen Fällen eben getan werden musste. Es gab nichts mehr zu sagen. Was hätte ich sagen können? Ich musste diesen Anruf beenden und weg von dem Telefon. Ich hasste das verdammte Telefon.
„Ich melde mich bald wieder“, stieß ich hervor. Mehr brachte ich nicht heraus.
Dann ging ich nach unten, wo mir plötzlich der Küchenfußboden entgegen kam und mir ins Gesicht schlug.
Kurz darauf saßen Bille und ich im Wohnzimmer, am Boden zerstört. Wie konnte das nur möglich sein? Wie konnte Kristin nicht mehr da sein? Kobe und Kristin hatten eine so enge Verbindung zueinander, wie es sie nur zwischen Müttern und Töchtern gibt; sie waren beste Freundinnen, und Kristins Erkrankung hatte das Band zwischen ihnen nur gestärkt. Kristin hatte diesen ganzen Scheiß überstanden, hatte sich durchgekämpft, nur damit nun das hier passierte?
Es war noch immer mitten in der Nacht. Die nächste, die es erfahren musste, war Virginia, aber wir beschlossen, dass wir sie ganz normal bis sieben schlafen lassen und es ihr dann erzählen wollten. Aber wie? Wie bringt man einem zehnjährigen Mädchen bei, dass die große Schwester ums Leben gekommen ist? Wir saßen still da und warteten, erfüllt von ungläubigem Schmerz und Verzweiflung. Das Leben, wie wir es gelebt und geliebt hatten, war vorbei. Was hatte nun noch einen Sinn? Nur ein einziges Wort ging mir immer wieder durch den Kopf: „Warum?“ Alles war so verdammt still. Ruhig. Einsam.
Der Zeiger der Uhr rückte unbarmherzig auf sieben vor. Dann ertönte das gefürchtete Weckerklingeln. Wir gingen beide in Virginias Zimmer und setzten uns zu ihr aufs Bett.
„Virginia“, sagte ich leise. „Wach auf, Schätzchen. Es gab einen schrecklichen Unfall.“
Kobe und Peter Steele flogen unverzüglich nach Amsterdam, um alles Notwendige zu arrangieren und Chris beizustehen. Bille, Virginia, Graham Kennedy und ich trafen uns mit ihnen, als sie in Sydney in den nächsten Flieger umstiegen. Es war unmöglich mit Worten zu beschreiben, was ich fühlte, als ich Kobe sah. Sie war unglaublich tapfer, aber doch gebrochen und völlig verzweifelt.
Die folgenden Tage vergingen wie im Nebel. Freunde und Familie waren bei uns, unterstützten uns, gaben uns Kraft. Graham, Dave und Lesley Tice wichen nicht von unserer Seite. Unsere Tür stand allen offen: Man kann die Kraft von Freundschaft und Herzlichkeit nicht zu gering einschätzen. Ich merkte, wie viel Mitgefühl, Freundlichkeit und Unterstützung man durch andere Menschen erfahren kann. Manchmal denkt man ja, wenn man mit jemandem spricht oder jemanden umarmt, der einen fürchterlichen Verlust erlitten hat, dass es kein bisschen hilft, was man da tut. Ich kann euch versichern: Es hilft. Es hilft so sehr, das glaubt man nicht. Zu wissen, dass andere Menschen mit dir fühlen und dich nicht allein lassen, das ist sehr tröstlich, und ich brauchte jedes Bisschen Trost, das ich bekommen konnte.
In harten Zeiten zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen, davon bin ich überzeugt, und ich habe das große Glück, dass viele meiner Freunde wirklich großartig sind und sich wundervoll um uns kümmerten. John Swan und Jim Barnes standen ständig mit uns in Kontakt, guckten bei uns rein, fragten, wie es uns ging, obwohl sie selbst noch den Tod ihres Vaters Big Jim überwinden mussten. Sie zeigten wahre Freundschaft, die ich ihnen nie vergessen werde.
Meine Trauer war unbeschreiblich und ging so tief. Der große Verlust führte dazu, dass ich mich selbstsüchtig und schuldig fühlte. Ich war innerlich taub und stand unter Schock. Es wäre ein Leichtes gewesen, mich in meiner Trauer zu verlieren, aber was war mit Kristin? Sie hatte alles verloren, ihre Zukunft mit Chris, ihr Leben. Wie kommt man damit zurecht?
Peter teilte mir am Telefon mit, dass sie beschlossen hatten, Kristin in Amsterdam zu beerdigen, und so nahm ich den nächsten Flug Richtung Europa. Die einsamen 22 Stunden an Bord der Qantas-Maschine waren ein unerwarteter Segen; ich hatte Zeit, meine Gedanken zu sammeln und an Kristin zu denken. Allmählich versuchten die guten Erinnerungen, den schrecklichen Nebel zu durchdringen. Glücklicherweise saß ich allein in meiner Dreier-Sitzreihe. Vermutlich sah ich schrecklich aus, denn eine Stewardess kam zu mir und setzte sich kurz.
„Stimmt etwas nicht, Mr. Evans? Kann ich Ihnen helfen?“
Ich sagte ihr den Grund meiner Reise nach Amsterdam. Eigentlich dachte ich, ich hätte mich gut im Griff gehabt, aber als ich meine neue Freundin ansah, liefen ihr die Tränen über die Wangen.
„Das tut mir schrecklich leid, Mr. Evans.“
Sie ging wieder zum hinteren Ausgang zurück und informierte vermutlich den Rest der Crew. Wenig später kam sie wieder und legte mir die Hand auf die Schulter.
„Kann ich Ihnen etwas bringen, Mr. Evans?“
„Whisky-Cola, bitte“, sagte ich. Aber das erste Wort, das mir auf der Zunge gelegen hatte, war: „Kristin.“
In London hatte ich sechs Stunden Aufenthalt, bevor es nach Amsterdam weiterging. Die Qantas-Crew machte es netterweise möglich, dass ich mich in der Business-Lounge von British Airways frisch machen und mich entspannen konnte. Dort setzte ich mich in einen der plüschigen Clubsessel und nahm mir eine Zeitung.
„Tee, Sir?“, fragte jemand, und eine andere Stimme antwortete:
„Im Augenblick nicht, vielen Dank.“
Ich kannte diese Stimme. Als ich meine Times senkte, guckte ich in das Gesicht von Clive James, der sich ebenfalls hinter einer Times versteckt hatte. Nun hatte ich den australischen Autor und Kritiker immer schon kennen lernen wollen, aber bitte, doch nicht jetzt. Ich kannte seine Lebensgeschichte aus seinen großartigen Autobiografien; er stammte aus Kogarah bei Sydney.
„Es ist ein ziemlich langer Weg von Kogarah, nicht wahr, Clive?“, sagte ich also.
„Das ist wahr, gut beobachtet“, gab er zurück.
Wir wandten uns beide wieder unserer Times zu, aber ich dachte, da wir uns schon begrüßt hatten, könnte ich vielleicht doch ein kleines Gespräch in Gang bringen. Also, mal nachdenken, was haben wir gemeinsam? Oh ja, wir beide haben zwei Töchter. Hatten. Scheiße.
Ich musste mir ein wenig die Beine vertreten, landete schließlich in einem Souvenir-Shop und beschloss, ein paar Kleinigkeiten für Ginnie und ihre Freundinnen zu besorgen. Eine Weile suchte ich zwischen den Kühlschrankmagneten, Bleistiften und Miniatur-Doppeldeckerbussen herum. Damals konnte man am Flughafen keinen Schritt tun, ohne dass einen das unschuldige, lächelnde Gesicht der dreijährigen Madeline McCann verfolgte, die einen Monat zuvor in Portugal verschwunden war.
Die Verkäuferin, eine Frau mittleren Alters, packte meine Mitbringsel in eine Tüte, auf der ebenfalls Madelines Foto prangte. Ich sah das Kindergesicht nachdenklich an, als mich die Verkäuferin ansprach.
„Schlimme Sache, das. Können Sie sich vorstellen, wie es sein muss, wenn man seine Tochter verliert?“
Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass dieser Albtraum aufhörte. Sofort.
„Eigentlich sollte ich Amsterdam hassen“, dachte ich, als ich auf dem Weg vom Hauptbahnhof zu meinem Hotel eine Kanalbrücke überquerte. Verdammt, und wie ich diese Stadt eigentlich hätte hassen müssen; hier hatte man mir Kristin für immer genommen. Aber es dauerte nur Minuten, da verstand ich, wieso sie Amsterdam geliebt hatte. Die Stadt war schön, gemütlich und doch lebendig und weltoffen, mit Häusern wie aus einem Märchen und unglaublich vielen Fahrradfahrern. Zwar war ich schon früher einmal in Amsterdam gewesen, aber damals war es nur eine weitere Etappe des AC/DC-Tourneeplans gewesen. Aber das war nun anders.
Mir wurde schwer ums Herz, als ich daran dachte, dass ich Kristin und Chris eigentlich ja hier hatte besuchen wollen. Das wäre so schön geworden. Ich blieb auf einer Brücke stehen und ließ die Szenerie auf mich wirken. Bunt bemalte Kähne tuckerten über den Kanal, und ein bärtiger Kapitän winkte fröhlich zu mir hoch. Ich winkte zurück. Mit Macht wurde mir klar, wie schnell sich das Leben ändern kann; das Rad der Welt dreht sich weiter, während deine eigene kleine Welt ausgelöscht worden ist.
Nach Kristins Beerdigung begingen wir die Trauerfeier an einem ihrer Lieblingsplätze, dem Amsterdamer Filmmuseum. Es ist das holländische Zentrum für Filmkunst und befindet sich in einer riesigen alten Villa im pittoresken Vondelpark. Es ist eine beeindruckende Kulisse. Kristins Freunde hatten die Trauerfeier organisiert, und ich begriff, dass die Stadt allmählich zu ihrem Zuhause geworden war, so viele holländische Freunde, wie sie gehabt hatte. Allmählich bekam ich den Eindruck, dass sie kurz vor ihrem Tod so glücklich gewesen war wie vielleicht nie zuvor in ihrem Leben, hier, mit Chris, in dieser Stadt. Es war tröstlich, diese wundervollen Menschen kennen zu lernen und mit ihnen zu sprechen, aber sie waren zu jung, um so etwas durchmachen zu müssen. Wir alle waren zu jung. Ich sah mich in dem Café mit den roh gemauerten Wänden um, mit seinen Schwaden von Zigarettenrauch, den Weinflaschen und den Rudeln kleiner, kläffender Hunde. Nur Kristin fehlte.
Es tat mir gut, auf dem Flug zurück nach Sydney wieder allein zu sein. Ich hatte Zeit, über alles nachzudenken, und um – ja, um was zu tun? Kristin war nicht mehr da. Würde das Leben denn je wieder gut werden?
Die Zeit vergeht, erst Stunde um Stunde, dann Tag um Tag, schließlich gehen Monate vorüber, und man kommt durch und findet einen Weg, um weiterzuleben. Immer wieder hört man die selten dämlichen Sprüche: „Du musst dein Leben weiterleben.“ – „Zeit heilt alle Wunden.“ Aber die Wahrheit ist, Leute, die so einen Scheiß erzählen, die wissen nicht, wie das ist. Ich habe festgestellt, dass der Schmerz nie ganz vergeht, dass man aber lernt, ihn zu ertragen, ihn zuzulassen, ihn als das zu nehmen, was er ist. Die Trauer und der Schmerz, die ich fühlte, waren ganz normal. Wenn sie nicht da gewesen wären, hätte das nicht bedeutet, dass Kristin mir egal gewesen wäre? Die Erinnerung an wundervolle, lustige Augenblicke, an die schönen Zeiten kam schließlich immer öfter zurück, und ich begann zu lernen. Ich lernte, wer ich wirklich war, und ich lernte, dass ich Freunde und Verwandte von so großartigem Format habe, wie ich sie mir nur wünschen kann. Wenn die Trauer mich überkam, wie es oft der Fall war und noch immer geschieht, dann dachte ich an die schönen Zeiten, und dass Kristin gewollt hätte, dass wir weiterlebten und dabei unser Leben in vollen Zügen genossen.
Mir fehlt Kristin mehr, als ich mit Worten ausdrücken kann. Oft begegnen mir Dinge, die mich an sie erinnern, und dann muss ich stets unwillkürlich lächeln: grüne Samt-Doc-Martens, Toast mit gegrilltem Speck und Käse, Postkarten aus Disneyland, Schokolade, Faster Pussycat, Pommes fressende Vögel, Betty Page, Krebsangeln. All diese Dinge sorgen dafür, dass ich mich besser fühle – es ist, als ob mir Kristin kleine Botschaften schickt. Mach weiter. Genieß das Leben. Gib niemals auf.