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Wie viel für den Affen?

Jago war ein Standbild aus Leder und Stahl inmitten all der Seidentücher und dem prunkvollen Brokat der Händler auf dem Rialto. Sie schwebten umher wie Anemonen im Flutsaum – stritten, schacherten, logen höflich und ausgiebig – und schöpften Profit aus dem vielfältigen Angebot an Waren und Diensten. Hier auf dem Rialto gab es alles zu kaufen, vom Granatapfel bis zur Schiffspassage. Zwischen den Buden hatten Notare ihre Tische aufgestellt, um Transaktionen festzuschreiben. Huren ließen ihre rouge-benippelten Titten von den Balkonen wippen.

Jago stand da, die Hand am Heft seines Schwertes, während man um ihn herum Handel trieb und der eine oder andere Kaufmann erschrocken aufblickte, sobald ihn der finstere Blick des Soldaten traf. Bald schon war um Jago eine freie Fläche entstanden, ein Strudel in der Strömung.

Eine der Huren sah herab und rief: »Der da unten muss wohl ziemlich stinken, wenn alle einen Bogen um ihn machen.«

Als Antonio aus dem Getümmel hervortrat, flankiert von zwei jungen Gecken in prächtigem Staat, der zu schwer war für die Hitze, reichte Jago ihm nicht die Hand.

»Ihr kommt spät«, sagte der Soldat.

»Das Geschäft rief. Ihr habt mir nicht viel Zeit gelassen«, sagte Antonio. »Jago, das sind meine Freunde Gratiano und Salarino – sie sind darum bemüht, mich mit ihrer guten Laune aus meiner Melancholie zu locken.«

Jago nickte den Männern zu, die beide größer und stämmiger waren als der Soldat. Wohlgenährt und wohlbehütet, dachte er. Weich, dachte er. »Edle Herren, seid so freundlich und verpisst Euch.«

»Pardon?«, fragte Gratiano ungläubig, und sein Schlapphut klappte übers Auge.

»Nur ganz kurz«, sagte Jago.

Antonio trat zwischen Jago und die beiden Jünglinge. »Augenblick mal, Jago, diese edlen Herren hier …«

»Geschäftlich«, unterbrach Jago.

»Antonios Angelegenheiten sind auch die unseren«, erklärte Salarino.

Jago zuckte mit den Schultern. »Brabantio ist tot«, sagte er zu Antonio.

»Oh«, sagte Antonio. Zu seinen Freunden: »Ihr solltet euch doch lieber verpissen.«

»Nur ganz kurz«, meinte Jago, woraufhin sich die beiden unter die Menge mischten, eher befreit als beleidigt.

Antonio nahm Jago beim Hemd und führte ihn in einen Winkel zwischen den Buden zweier Gewürzhändler. »Brabantio ist tot? Seit wann?«

»Sein halb verwester Leichnam wurde heute früh gefunden. Diener folgten einem fauligen Gestank in den Keller hinab. Ich bekam Nachricht von meinem Informanten auf der Insel. Er bedient sich hin und wieder einer von Portias Mägden.«

»Dann ist Portia aus Florenz zurück?«

»Seit gestern. Der Montressor wurde schon seit Wochen vermisst – seit Mariä Himmelfahrt. Die Diener in der Villa Belmont glaubten, er sei zu Portia nach Florenz gefahren, oder vielleicht nach Korsika, um Desdemona vom Mohren heimzuholen. Man fand ihn so tief unten im Gewölbe, dass der Gestank noch nicht mal bis zum Weinkeller aufgestiegen war.«

»Tief unten im Gewölbe? Ich hatte mich schon gewundert, wieso ich nichts von ihm höre. Dann muss er bereits seit jenem Abend mit dem Narren dort gelegen haben.«

»Zweifellos.«

»Meint Ihr, der Narr ist aufgewacht und über ihn hergefallen?«

»Nein. Ich war in Belmont, sobald ich davon erfuhr, kurz nachdem ich Euch Nachricht gegeben hatte, dass wir uns treffen müssten. Bei der Leiche lag Maurerwerkzeug, daneben stand ein Eimer mit hartem Mörtel, in dem noch die Kelle steckte. Der Montressor hat kurz vor seinem Tod eine Mauer errichtet. Er muss wohl schon gewusst haben, was er vorhatte, bevor er uns in seinen Plan einweihte. Ich glaube, er hat den Narren in der Kammer eingemauert, in die wir ihn getragen hatten. In der wir ihn zum Sterben zurückließen.«

»Und beim Mauern ist Brabantio zusammengebrochen. Er war schon alt – wenn nicht geistig, so doch körperlich geschwächt.«

»Er wurde gefressen«, sagte Jago und lächelte angesichts des Entsetzens, das des Kaufmanns Miene ergriff.

»Ratten?«, fragte Antonio. »Wenn er schon so lange tot war, sollte es mich nicht überraschen, dass …«

»Ja, Ratten, später, aber irgendetwas hat ihm den Kopf vom Leib gerissen, seine Hände, seine Leber und sein Herz gefressen.«

»Also keine Ratten?«

»Die Armknochen waren gesplittert. Ich habe einmal die Hand eines Mannes gesehen, die von einer Ankerkette verdreht wurde. Genauso sahen die Knochen aus.« Jago griff in seinen Gürtel und hielt einen schwarzen, gebogenen Zahn hoch, halb so lang wie sein Daumen. »Nein, Antonio, das waren keine Ratten. Das hier steckte in dem, was von seinem Hintern übrig war.«

»Irgendwas hat ihm in den Arsch gebissen?«

»Quasi.«

»Und Portia hat das alles gesehen?«

»Die Diener hatten ihr davon abgeraten. Sie fürchteten, was dort im Dunkeln lauern mochte. Ich war der Erste, der ihn aus nächster Nähe sah. Ich habe ihn in seine Robe gewickelt, bevor andere ihn zu Gesicht bekamen. Denen sagte ich, er sei gestürzt und von Ratten angefressen. Das Maurerwerkzeug habe ich dort unten versteckt. Niemand wird meine Worte in Zweifel ziehen.«

»Dann glaubt Ihr, der Narr ist immer noch in diesem Keller eingemauert?«

»Die Mauer war unversehrt. Ihr habt den tumben Riesen doch fortgeschickt, der dem Narren zur Hand ging, oder?«

»Ich ließ ihm am nächsten Tag im Namen des Narren eine gefälschte Nachricht zukommen. Bassanio, mein Protegé, hat den Riesen und den Affen des Narren auf ein Schiff nach Marseille verfrachtet und für deren Überfahrt bezahlt. Glaubst du, das Naturtalent1 könnte den Montressor ermordet haben?«

Jago strich sich über den Bart. »Nein, er wäre zwar stark genug, doch für das, was dem Senator angetan wurde, ist eine Barbarei vonnöten, die den Zorn eines Simpels weit übersteigt, selbst wenn er eine Waffe aus Zähnen und Knochen gehabt hätte. Es muss ein Tier gewesen sein.«

»Dann der Affe?«

»Gewiss, Antonio. Ein beschissenes kleines Äffchen im Narrenrock hat dem Senator den Kopf abgebissen. Und dann seine Leber gefressen.«

»Jeff«, sagte Antonio.

»Bitte?«

»Das Äffchen heißt Jeff.«

»Vergesst den Affen! Wie kommt es nur, dass Ihr von diesem Äffchen so besessen seid? Warum habt Ihr das Vieh nicht einfach behalten?«

»Ich musste doch dafür sorgen, dass die Abreise des Narren echt wirkte, oder etwa nicht?«, sagte Antonio. »Niemand würde ohne seinen Affen reisen. Außerdem bin ich in Venedig ein angesehener Mann. Ich darf kein Äffchen halten. Das würde frivol wirken.«

»Psssst, ich bitte um Verzeihung, Signor«, sagte einer der Gewürzhändler und beugte sich aus seiner Bude. »Aber möglicherweise könnte ich Euch ein Äffchen beschaffen.«

»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte Jago.

»Sehr diskret, Signor«, flüsterte der Gewürzhändler verschwörerisch. »Ihr könnt ihn behalten oder nur für eine Nacht haben, ganz wie Ihr wollt. Mein Vertrauensmann kommt dann am Morgen, um ihn abzuholen.«

»Nein«, sagte Antonio, »ich habe keinerlei Bedürfnis …«

»Was hast du sonst noch gehört?«, fragte Jago den Gewürzmann.

»Ich weiß nichts davon, dass Antonio gern mal ein Äffchen ficken will.« Jungfräuliche Unschuld sprach aus der Miene des Gewürzhändlers, segensreiche Ahnungslosigkeit leuchtete in seinen Augen.

»Will ich gar nicht …« Antonio hatte seinen seidenen Schlapphut abgenommen und wedelte sich damit Luft zu, da ihm plötzlich der Schweiß auf der Stirn stand.

»Abgesehen vom Affenficken – was hast du sonst noch gehört?«

»Nichts von einem kopflosen Senator«, sagte der Gewürzmann.

»Bezahlt ihn«, sagte Jago zu Antonio.

»Aber ich will doch gar nicht …«

»Zwanzig Dukaten?« Jago zog seine vernarbte Augenbraue hoch und sah den Kaufmann an.

Der Gewürzhändler zuckte mit den Schultern, als könnten irgendwo in einem fernen Land, in dem seine Kinder keinen Hunger litten und seine Frau nicht so fordernd war, zwanzig Dukaten möglicherweise genügen, damit er vergaß, was er eigentlich gar nicht gehört hatte, doch hier und jetzt in Venedig, nun, Signor, man hat schließlich seine Ausgaben, und …

»Oder ich töte dich gleich hier und jetzt«, sagte Jago und ließ die Hand auf das Heft seines Schwertes sinken.

»Nie gab es einen angemesseneren Preis als zwanzig Dukaten«, sagte der Gewürzmann.

»Bezahlt ihn.« Jago behielt seine Klinge in der Hand und den Gewürzhändler im Auge, während Antonio in seiner Börse nach Münzen suchte.

»Und sollte dir auch nur ein Wort zu dem, was hier gesprochen wurde, über die Lippen kommen, ist dein Leben verwirkt – und auch das Leben deiner Familie.«

»Woher soll ich wissen, dass Ihr mich nicht sowieso tötet?«, fragte der Gewürzmann.

»Weil Antonio dir zwanzig Dukaten gibt«, sagte Jago. »Und Antonio ist ein ehrenhafter Mann.«

»Das bin ich«, sagte Antonio. Er zählte dem Gewürzhändler die Münzen in die Hand. »Ein ehrenhafter Mann ohne jedes Interesse an Äffchen.«

Jago legte seinen Arm um Antonio und führte ihn in eine stillere Ecke des Platzes.

»Möglicherweise muss er trotzdem getötet werden.«

»Wenn Ihr ihn sowieso töten wollt, hätte ich mir die zwanzig Dukaten auch sparen können.«

»Zwanzig Dukaten ist Eure Strafe dafür, dass Ihr ein lausiger Verschwörer seid. Es war dumm, sich auf dem Rialto zu treffen.«

»Woher sollte ich wissen, dass Ihr über einen Mord sprechen wolltet? Und wieso bin ich eigentlich immer derjenige, der zahlen muss?«

»Geld ist Euer Trumpf, Antonio, und möglicherweise werden wir einiges davon brauchen, um uns die Macht zu erkaufen, die wir mit Brabantio verloren haben. Einen neuen Senator aus dem Rat der Sechs.«

»Wenn ich so reich wäre, dass ich mir einen Senator kaufen könnte, müsste ich keinen Krieg anzetteln, um mir ein finanzielles Polster zuzulegen. Und keiner der noch lebenden fünf Ratsmitglieder ist unserer Sache wohlgesinnt. Die Niederlage gegen Genua hat sie tief getroffen. Ich fürchte, unser Plan ist somit gescheitert.«

»Nicht, wenn wir Brabantios Sitz behalten.«

»Vor einem Jahr hätten wir vielleicht einen Kandidaten zur Wahl aufstellen können, doch nachdem der Doge Senatssitze für vererbbar erklärt hat, sind unsere Chancen dahin. Brabantios Sitz würde an seinen ältesten Sohn fallen, doch da er keinen Sohn hat, fällt er an den Ehemann seiner ältesten … ach, herrje.« Antonio löste sich aus der Umarmung des Soldaten und wich zurück.

»Der Sitz geht an den Mohren«, sagte Jago. »Brabantios Senatssitz geht an Othello.«

Antonio sah sich um, hoffte, seine Freunde würden sich auf magische Weise aus der Menge lösen, um ihn vor Jagos Zorn zu retten, der aus der düsteren Miene des Soldaten sprach. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr den Gewürzhändler jetzt töten. Zwar bin ich kein Freund des Tötens, doch wäre ich ein fabelhafter Zeuge.«

Jago hob einen Finger, und Antonio schwieg. »Wenn der Ehemann der ersten Tochter nicht der Richtige ist, müssen wir die zweite Tochter zur Ersten machen.«

»Portia?«

»Sie kennt uns. Sie vertraut uns. Sie wird sich unserem Willen beugen.«

»Aber sie ist nicht verheiratet, und Othello und Desdemona weilen momentan auf Korsika. Sicher wird der Doge sie herbestellen.«

»Seinen General aus dem Feld holen? Wir werden sehen. Aber ein vertrauenswürdiger Leutnant wird ihnen die Nachricht überbringen. Könnt Ihr einen Freier für Portia beschaffen, der unser Senator wird?«

»Ich wüsste tatsächlich jemanden. Der junge Mann, von dem ich sprach – Bassanio. Der wäre perfekt. Er hat ohnehin ein Auge auf Portia geworfen. Er sieht gut aus und ist lenkbar, und er steht in meiner Schuld.«

»Gut. Arrangiert es. Ich kümmere mich um Desdemona und den Mohren. Ich mache mich auf zum Dogen, dann regle ich die Reise nach Korsika.«

»Aber woher wollt Ihr wissen, dass der Doge Euch auch schickt?«

»Hatte ich Euch denn nicht erzählt, Antonio, dass meine Frau eine von Desdemonas Hofdamen ist?«

»Nein. Ihr habt sie selbst dorthin geschickt?«

»Als der Mohr Michael Cassio statt meiner zum stellvertretenden Befehlshaber machte, musste ich die beiden im Auge behalten.«

»Wohlgeplant, Jago. Was wollt Ihr auf Korsika tun?«

»Fragt nicht, guter Kaufmann, wenn Ihr ein sauberer und ehrenhafter Mensch bleiben wollt.«

»Oh, das will ich. Das will ich.«

»Dann mach ich mich auf zum Senat, um die Nachricht zu überbringen«, sagte der Soldat.

»Wartet, Jago.«

»Ja?«

»Wenn mein Einsatz Geld ist, welches Euch abgeht, und Brabantio Macht zu bieten hatte, welche Euch ebenfalls abgeht, was tragt Ihr zu dieser Unternehmung bei, das ein Drittel des Profits rechtfertigen würde?«

»Unerschrockenheit«, sagte Jago.

»Jetzt mach schon, du güllehauchende Eiterbeule! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

Wenn man erst anfängt, im Dunkeln irgendwelche Erscheinungen anzuschreien, hat man im Grunde schon aufgegeben, oder? Mehr oder weniger sagt man damit doch: »Ich weiß, ich steck hier bis über beide Augenbrauen in der Scheiße und raste gleich aus vor Angst, also würde ich es vorziehen, wenn wir es so schnell und schmerzlos wie möglich hinter uns bringen könnten.«

Doch das Ding im Wasser biss mir nicht den Kopf ab, und meine Arme fingen an zu zittern, bis ich mich nicht mehr halten konnte. Ich stieß einen gewaltigen Schrei aus, entspannte meine Arme und ließ mich in die Ketten fallen, wie eine baumelnde Marionette, was mir fast die Schultern auskugelte.

Ich schrie und schrie, bis meine Stimme sich überschlug. Was ich noch an Atem hatte, kam mit animalischem Geheul heraus, erfüllte die Kammer, die Finsternis, jeden Winkel meiner Phantasie. Alles Leben wurde zu dem Augenblick kurz vor dem Biss, dem Hieb, dem Stich von diesem namenlosen Untier.

Nichts.

Ich hing schlaff in meinen Ketten, das Wasser beruhigte sich, und ein tiefes Klagen sabberte aus meinen Lungen – wispernd verflüchtigte sich alle Hoffnung. Ich würde sterben.

Wasser tropfte auf den Mauervorsprung neben meiner Hand und hallte wie ferner, langsamer Applaus – Fährmann Charon applaudierte den kläglichen Bemühungen seiner nächsten Fuhre in die Unterwelt.

Irgendetwas – eine Flosse vielleicht – streifte meinen Fuß, und ich fing wieder an zu schreien, trat nach dem Biest, das meine Beine umschlang, mich festhielt, umschlängelte, an meinen Knien hoch, den Oberschenkeln …

Meine Blase gab nach, und zum ersten Mal seit Kindertagen betete ich: »Gott, du aufgeblasener Riesenpimmel, rette mich!« (Hatte ich erwähnt, dass Gott und ich schon eine Weile nicht mehr miteinander sprachen? Der Anstand jedoch gebietet die Achtung gegenseitiger Vorbehalte, oder nicht?)

Die Kreatur mochte stark sein wie ein Bärenficker, doch war sie nicht stachlig, und die Haut war auch nicht rau wie bei den Haien, die ich vom Rialto-Fischmarkt kannte, sondern sie umschlang mich weich und glatt, als würde ich von einem dicken, glitschigen Tau erdrosselt. Langsam verlor ich das Bewusstsein, mein Verstand flüchtete sich vor dem Schrecken in Träume – Traumbilder vielleicht vom Gift der Kreatur. Schon trieb ich davon, machte mich für die Ewigkeit bereit, als sich mir Stacheln in die Hüfte bohrten und das Monstrum sich an meinem Gemächt festsog.

1 Ein Naturtalent war ein Narr, der durch ein körperliches Gebrechen oder eine Anomalie zu seinem Beruf kam: ein Zwerg, ein Riese, Downsyndrom etc. Man glaubte, solche Narren seien von Gott berührt.