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Die Finsternis

»Was macht Ihr da?«, fragte ich.

»Ich mauere dich im Kerker ein«, sagte der Senator, im Eingang zu der Kammer kauernd, an deren Wand ich gekettet war.

»Nein, tut Ihr nicht«, sagte ich.

In der Tat sah es ganz so aus, als würde er mich einmauern, aber ich wollte es nicht zugeben müssen, nur weil ich nackt und angekettet war und um meine Füße herum das Wasser unablässig stieg. Auf keinen Fall wollte ich das Selbstvertrauen meines Feindes stärken.

»Doch, das tue ich«, sagte er. »Stein für Stein. Das erste Mauerwerk, das ich errichte, seit ich ein Knabe war. Ich glaube, ich muss so etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als ich dem Maurer half, der das Haus meines Vaters baute. Nicht dieses natürlich. Dieses Haus befindet sich schon seit Jahrhunderten im Familienbesitz. Und ich glaube, ich war ihm weniger eine Hilfe als im Weg, aber dennoch habe ich etwas gelernt.«

»Nun, Ihr könnt unmöglich noch lästiger gewesen sein, als Ihr es heute seid, also seht zu, dass Ihr fertig werdet.«

Der Senator stach seine Kelle mit solchem Enthusiasmus in den Mörteleimer, als wollte er meine Leber aufspießen. Dann hielt er seine Lampe durch den Eingang in meine kleine Kammer, die er bereits bis über seine Knie zugemauert hatte. Im Lampenschein sah ich, dass ich mich in einem kaum zwei Meter breiten Gang befand, der hinab ins dunkle Wasser führte, welches bereits meine Knöchel umspülte. An der Mauer entdeckte ich eine Hochwassermarke, etwa auf Höhe meiner Brust.

»Du weißt, dass du hier sterben wirst, Fortunato?«

»Pocket«, korrigierte ich. »Ihr seid verrückt, Brabantio. Geisteskrank, paranoid und ein langweiliges Großmaul.«

»Du wirst sterben. Allein. In der Finsternis.« Mit dem Griff seiner Kelle klopfte er einen Mauerstein fest.

»Senil, vermutlich. Kinder aus Inzucht und Syphilitiker ereilt es früh.«

»Die Krebse werden nicht mal darauf warten, bis du dich nicht mehr rührst, um dir die Knochen abzunagen.«

»Ha!«, sagte ich.

»Was soll das heißen, ›ha‹?«, fragte Brabantio.

»Damit spielt Ihr mir direkt in die Hände!«

So gut es ging, zuckte ich angesichts der wollewürgenden Offensichtlichkeit seiner Torheit mit den Schultern. (Mein gestisches Repertoire beschränkte sich ohnehin aufs Schulterzucken, da meine Hände in einem schweren Eisenring steckten, der in der Mauer über mir befestigt war. Ich hing nicht, konnte aber auch nicht sitzen. Wenn ich die Kette lang genug zog, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, konnte ich zwar mit den Händen in den Eisenfesseln flattern, doch wollte mir nicht einfallen, welchen Nutzen ich aus diesem Flattern ziehen sollte.

Der Senator lachte leise und trug den Mörtel für die nächste Steinreihe auf. »Wir befinden uns hier unterhalb der Lagune. Ich könnte dich zu Tode foltern, ohne dass irgendwer deine Schreie hört. Ich ziehe es jedoch vor, zu Bett zu gehen und mit dem süßen Gedanken einzuschlummern, dass du hier im Dunkeln eines langsamen, qualvollen Todes stirbst.«

»Ha! Genau das meinte ich. Ich hielt mich schon für tot, nachdem man mich vergiftet hatte. Wenn man mich fragt, stehe ich eigentlich ganz gut da.«

»Du wurdest nicht vergiftet. Es war ein Trank aus dem fernen China – unter enormen Kosten über Land hierhergeschafft. Er befand sich bereits in deinem Glas.« Er griff in seinen Umhang und hielt eine kleine, rot lackierte Schatulle hoch.

»Nicht vergiftet?«, sagte ich. »Eine Schande. Gerade hatte ich mich auf meine Wiedergeburt gefreut. Ich hatte gehofft, ich könnte etwas größer wiedergeboren werden, aber vielleicht ist es doch allzu unbescheiden, auch noch größer sein zu wollen, wenn man schon auf so verwegene Weise attraktiv ist.«

»Möchtest du wetten, wie lange du hier unten durchhältst? Zwei … drei Tage vielleicht? Ach, stimmt. Du kannst ja gar nicht wetten. Du hast ja nichts.«

»Wohl wahr«, sagte ich. »Und doch seht Ihr einen Sieg in dem, was für jedermann eine schlichte Wahrheit ist, habe ich recht? Wir haben nichts, wir sind nichts.« Tatsächlich war ich ein Nichts gewesen, hatte nichts empfunden als Sehnsucht und Trauer, seit mich vor drei Monaten die Nachricht ereilt hatte, dass meine süße Cordelia einem Fieber erlegen war. Ich fürchtete den Tod nicht, nicht einmal den Schmerz. Sonst wäre ich auch niemals zu Brabantios Palazzo gekommen. Dieser letzte Augenblick, in dem ich mich vergiftet wähnte, hatte mich erlöst.

»Nun, du jedenfalls bist ein Nichts. Wäre dir das nur bewusst gewesen, bevor du meine Tochter verdorben hast.«

»Portia? Aber sie ist nicht verdorben. Etwas wund vielleicht – muss wegen der Schürfungen an den Knien möglicherweise ein, zwei Tage etwas behutsamer laufen, aber verdorben ist sie keinesfalls. Betrachtet Sie nicht als verdorben, sondern einfach nur als gut eingelaufen.«

Brabantio knurrte, dann steckte er seinen knallroten Kopf durch den Spalt über der Mauer. Er wirkte wie besessen. (Ich dachte schon, gleich würde an seiner steinalten Stirn eine Ader platzen.) Es schien, als wäre er nicht in der Lage, mehr als Dampf und Speichel von sich zu geben, was ich als Aufforderung nahm fortzufahren.

»Wie ein neues Paar Stiefel«, sagte ich, da mich Brabantios Trank ausgesprochen gesprächig machte. »Wie neue Stiefel, mit denen man ins Wasser geht, sodass man zwar eine Weile damit leben muss, dass sie quietschen und quatschen, sie dann aber eine perfekte Passform annehmen, geformt – wenn man so will – durch Erfahrung, um dich und nur dich zu empfangen. Und wenn sie dann so weit sind, sollte man sie über einen Stuhl legen und laut grölend von hinten nehmen!«

»Nein!«, brüllte der Senator und warf einen Stein nach mir, der mich eine Kniescheibe gekostet hätte, wäre ich nicht so geistesgegenwärtig gewesen, mich an den Ketten hochzuziehen. Der Stein knallte an die Wand und klatschte ins dunkle Wasser.

»Dann bringt Euch also die Metapher mit dem Stiefeldehnen auf die Palme?«, fragte ich, begleitet von einem fröhlichen Klirren meiner Ketten. »Wisst Ihr eigentlich, dass Euch jetzt ein Stein fehlt? Ihr gefährdet den ganzen Bau, nur weil ich mir eine klitzekleine dichterische Freiheit genommen habe? Was seid Ihr doch für ein wehleidiger, alter Pimmellutscher!«

»Meine Älteste, Desdemona, die ist verdorben«, sagte der Senator und untermauerte sein Argument mit einem Stein, den er oben auf die Mauer legte.

»Ach so. Nun ja, aber das kann ich mir leider nicht zugutehalten«, sagte ich. Und natürlich log ich, was seine jüngere Tochter betraf. Ich war mit Portia noch nie auch nur allein im selben Raum gewesen. »Nein, an Desdemonas Niedergang ist allein Othello schuld.«

Der nächste Stein legte sich zu seinen roten Brüdern in die Reihe. Inzwischen war darüber nur noch das Gesicht des Senators zu erkennen.

»Und ohne deine Einmischung wäre er längst weg … oder verbannt, wenn es nach mir gegangen wäre. Aber nein, du hast den Dogen umschwirrt wie eine Mücke und dich für deinen heiß geliebten Mohren eingesetzt, hobst hervor, wie sehr Venedig in seiner Schuld steht, sprühtest vor Reimen darüber, welch edler Held er doch sei, statt eines gemeinen Sklaven, der seine Befugnisse weit überschritt.«

»Weil für dich Courage und edle Gesinnung unbekannte Qualitäten sind, du beschissener Pfeffersack.« Der Senator war empfindlich, was seine edle Gesinnung anging oder gar einen Mangel daran. Venedig war der einzige Stadtstaat in Italien, ja sogar der einzige Staat auf dem gesamten Kontinent, in dem der Adel kein Land besaß, vor allem, weil es kein Land gab. Venedig war eine Republik, alle Befehlsgewalt wurde pflichtschuldig gewählt, und das wurmte ihn. Erst in den letzten Monaten hatte er den Dogen und den Rat dazu überreden können, dass ein Senatorensitz vererbbar sein sollte. Und da Brabantio keine Söhne hatte, würde sein Senatorensitz an den Ehemann seiner ältesten Tochter gehen. Genau – an den Mohren.

»Streng genommen, hat er sie eigentlich nicht verdorben. Ich meine, immerhin ist sie mit einem General verheiratet, der eines Tages Senator von Venedig sein wird, im Grunde eine ganze Stufe über ihrem Stand, der – wie Ihr zugeben müsst – kaum vornehmer als Katzenpisse ist.«

Er knurrte und warf den nächsten Stein nach mir. Dieser traf mich am Oberschenkel, was schmerzhafter hätte sein sollen, als es war. Wenn ich es recht bedenke, hätte ich mir mehr Sorgen um mein Schicksal machen sollen. Vielleicht war ich vom orientalischen Pulver berauscht.

»Das wird noch Folgen haben, Montressor.«

»Verdammt sollst du sein, Narr. Ich werde dich zum Schweigen bringen.« Und mit einem Furor, der ihn keuchen ließ, machte er sich wieder an sein Mauerwerk. Bald schon war er beim letzten Stein angekommen, und es war nur noch ein Rechteck von gelbem Licht in der Tür zu sehen.

»Fleh um Gnade, Narr!«, sagte er.

»Bestimmt nicht.«

»Du wirst nicht ertrinken, dafür habe ich gesorgt. Du sollst leiden, so wie du mich hast leiden lassen.«

»Ist mir egal. Mir ist alles egal. Bringt Euer klägliches Geschäft zu Ende und macht Euch von hinnen. Ich habe genug davon, mir Euer Gejammer anzuhören. Schickt mich ins große Nichts, dann werde ich endlich eins mit meinem Herzen, mit meiner Liebe, meiner Königin.« Ich ließ den Kopf hängen, schloss die Augen, wartete auf das Dunkel und die Träume, die es mir bringen mochte. Ich denke, mir kam wohl gar nicht in den Sinn, dass ich beides sein könnte, untröstlich und tot.

»Deine Königin starb nicht am Fieber, Narr«, sagte Brabantio, nur ein Flüstern in der Finsternis.

»Bitte?«

»Gift, Fortunato. Gemischt von einem der besten Apotheker Roms. Es ahmt ein Fieber nach, langsam und tödlich. An Ort und Stelle verbracht, kurz nachdem du hier als Emissär eintrafst und den entschlossenen Widerstand deiner Königin gegen unseren Kreuzzug zum Ausdruck brachtest. Mit einem von Antonios Schiffen in die Normandie geschickt und von einem Spion verabreicht, den Jago aus Cordelias Garde rekrutiert hat. Es mag sein, dass bei uns der Adel kein Land besitzt, doch wer das Meer beherrscht, beherrscht den Handel, und wer den Handel beherrscht, beherrscht die Welt.«

»Nein …«, sagte ich, als die Erkenntnis sich durch den Dunst des Trankes brannte und die Trauer in meiner Seele loderte. Hass hatte mich geweckt. »Nein, Montressor!«

»O doch. Geh nur zu deiner Königin, Fortunato, und wenn du sie siehst, sag ihr, es waren deine Worte, die sie getötet haben.« Er schabte mit der Kelle in der Öffnung herum, dann schob er den letzten Mauerstein hinein und klopfte ihn fest, was mich in tiefe Finsternis stürzte, während mir das Wasser bis zu den Knien reichte.

»Um Himmels willen, Montressor! Um des Himmels willen!«

Doch das Klopfen hatte aufgehört, und mein letzter Appell an das Gewissen des Senators ging in seinem Lachen unter, das leiser wurde und verklang.