21
Fünf Minuten später trat Lucy auf die rechte Kufe des Helikopters hinaus und dachte: Das finde ich gar nicht gut. Im Geiste entschuldigte sie sich bei Bryce dafür, dass sie ihn für einen Feigling gehalten hatte.
»Bei unserer nächsten Verabredung«, schrie sie zu J. T. hinüber, der auf der anderen Kufe stand, »will ich nirgendwohin, wo es Sumpf oder Schießprügel gibt.«
Er schrie zurück: »Und ich hab jetzt eine Schwäche für Zimmerservice.«
LaFavre lachte. »Das find ich wirklich irgendwie romantisch.«
»Dein Glück«, schrie Lucy zurück. Schau nicht nach unten, dachte sie. Boden: tief unter dir, Geschwindigkeit: viel zu schnell, blicke nicht da runter.
»Zehn Sekunden!«, schrie LaFavre.
J. T. blickte hinunter in den Sumpf. »Fertig?«
Lucy schluckte. Vor ihnen tauchte eine niedrige Brücke auf, und sie blinzelte, als sie erkannte, dass es die Brücke war, auf der Stephanie ihren Unfall gehabt hatte. Der Helikopter neigte sich leicht nach rechts. Sie holte tief Luft und blickte hinab und versuchte, den Würgereiz zu überwinden. Direkt unter ihnen flitzte eine Schotterstraße dahin – dieselbe Stra ße, auf der Bryce erst zwei Tage zuvor beinahe zerschellt wäre. Oh Gott.
»Fünf!«, rief LaFavre.
Ich hasse das.
»Vier!«
»Du kannst das!«, rief J. T.
»Drei!«
Sie waren weniger als drei Meter über der Straße und sanken für ihren Geschmack immer noch viel zu rasch. Da erbebte der Helikopter und begann, seine Nase zu heben.
»Zwei!«
»Folge mir«, schrie J. T. und verschwand.
»Jetzt!«
»Ah, Hölle und Teufel«, stieß Lucy hervor und tat einen Schritt ins Leere.
Sie fiel weniger als zwei Meter von der Kufe auf die Kieselsteine hinunter, stolperte in eine Hockstellung, während die Rotoren über ihr flappten und der Motor kurz darauf protestierend aufheulte, als LaFavre den Helikopter mit maximaler Drehzahl nach oben zog und der Vogel donnernd in den Nachthimmel verschwand. J. T. fing sie auf und zog sie ins Gras seitlich des Damms, so dass sie versteckt lagen. Dankbar schmiegte sie sich an ihn.
»Ich vermisse meine Nachtsichtbrille«, flüsterte er ihr zu.
»Ich vermisse die Hunde«, flüsterte sie zurück.
»Ich hätte nicht gedacht, dass wir in den Sumpf müssen«, erklärte er. »Brücke mit Beleuchtung, ja. Schiff mit Beleuchtung, ja. Aber Sumpf, nein.«
»Okay«, hauchte Lucy. »Das nächste Mal pack ich die Nachtbrille ein.«
»Das nächste Mal?«, wiederholte er und lachte leise. »Oh Gott, ich liebe dich.«
»Was?«, stieß Lucy hervor.
Er schwieg eine Minute lang, dann wiederholte er: »Ich liebe dich«, und küsste sie auf den Nasenrücken. Dann, während Lucy noch immer atemlos war, deutete er nach rechts. »Dort drüben ist das Schnellboot. Ich habe gesehen, wie es anlandete. Näher als …«
»Warte mal«, fiel Lucy ihm ins Wort. »Willst du damit …«
»Verfluchtes Aas!«, hallte Nashs Stimme ganz nah, und Lucy vergaß alles andere, während J. T. erstarrte und dann über den Damm hinweg zur anderen Seite deutete.
»Die glücklichen Leutchen sind da drüben«, wisperte er. Dann wies er mit dem Kinn zur Straße in Richtung der Talmadge-Brücke. »Der Verrückte kommt mit Pepper wahrscheinlich von dort, wenn sie nicht schon hier sind.« Er griff in ihre Tasche und zog ihr Handy hervor. Aber noch bevor er die Nummer des Sumpfgeists eintippen konnte, sah Lucy in der Dunkelheit eine Bewegung und zischte J. T. eine Warnung zu. Er blickte nach rechts und nickte, als auch er es sah: Eine Gestalt stolperte auf die Straße und ließ eine der schweren Plastikkisten auf die Kieselsteine fallen.
Als die Gestalt sich aufrichtete, erkannte Lucy Bryce. Der Schauspieler wandte sich um und verschwand jenseits des Damms. »Bryce?«, flüsterte sie verblüfft.
»Tja, ich war auch überrascht«, flüsterte J. T. zurück und drückte die Kurzwahltaste.
»Ja?«, meldete sich der Sumpfgeist, laut genug, dass ihn Lucy, neben J. T. hockend, hören konnte.
»Wir sind an der Übergabestelle«, sprach J. T. leise in den Hörer. »Wo ist das Mädchen?«
»Wo ist der Vogel? Sie sollten ihn landen, nicht einfach abspringen.«
»Er ist in der Nähe. Ich sage Ihnen, wo er ist, wenn wir das Mädchen haben.«
Pepper, dachte Lucy. Wenn wir Pepper haben. Es schauderte sie. Pepper war so nahe. Und es konnte so vieles schiefgehen.
»Das Mädchen ist auch in der Nähe. Ich sage Ihnen, wo, wenn ich den Vogel kriege. Außerdem sehe ich Sie nicht. Ich sehe nur drei Leute beim Boot. Aber weder Sie noch Ihre Lady. Also zeigen Sie sich gefälligst.« Die Verbindung brach ab.
J. T. zog den schwarzen Kasten aus der Seitentasche seines Rucksacks, und als er ihn öffnete, enthüllte er die in Schaumstoff gebetteten Einzelteile eines Scharfschützengewehrs. Er nahm den Schaft heraus.
»Wo ist Pepper?«, fragte Lucy.
»In der Nähe.«
»In der Nähe, welche Richtung?«
»Da er diese Stelle hier wahrscheinlich mit einem Gewehr im Visier hat, nehme ich an, in dieser Richtung.« J. T. wies mit dem Kinn nach links. »Ich glaube, wir müssen uns aufteilen. Ich übernehme den Sumpfgeist und Pepper, und du bleibst hier und beobachtest, ob bei unseren Freunden im Boot irgendetwas geschieht.«
»Nein«, widersprach Lucy. »Wir sind ein Team. Wir teilen uns nicht auf.«
Wilder schwieg einige Augenblicke lang. Es gab ein deutliches Klicken, als er den Lauf in den Schaft steckte und verriegelte. »Gut. Hast du deine Pistole?«
Sie nestelte am Halfter und zog die Beretta heraus. Dabei kam sie sich fast so dumm vor wie beim ersten Mal, als sie sie in der Hand gehalten hatte. »Ja.«
»Kammer geladen?«
»Woher soll ich das wissen? Es ist so dunkel.« Herrje. Schließlich tat sie das nicht jeden Tag. Nur wenn sie Pepper zurückbringen musste. Halt durch, Schätzchen, dachte sie.
»Hier.« J. T. nahm die Waffe, tat irgendetwas damit und reichte sie ihr dann zurück. »Die Kammer ist geladen, und sie ist entsichert. Also Vorsicht.«
»Jawohl.«
»Steck sie in das Halfter, ganz vorsichtig, und nimm das hier.« J. T. hielt ihr seine kleine Maschinenpistole hin. »Sie hat auch eine Patrone in der Kammer, ist entsichert und steht auf Automatik. Wenn du den Abzug berührst, spuckt sie eine Menge Patronen aus, also pass auf, dass in der Richtung, in die du zielst, auch eine Menge Leute stehen, die du erschie ßen willst.«
»Danke«, flüsterte Lucy und dachte: Wahrscheinlich stolpere ich und radiere den halben Sumpf aus. »Aber brauchst du sie nicht …«
»Ich habe die da.« J. T. hob das Gewehr, das er gerade zusammengesetzt hatte.
»Ah, gut, deine ist größer.« Lucy wog die Maschinenpistole in der Hand. »Weißt du, es ist hier verdammt dunkel.« Sie vernahm die Stimmen von Nash und Bryce und Althea, aber sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, sie erkannte nur, dass Nash wütend war und Althea meckerte. Sie mussten sie als Geisel genommen haben. Das hättet ihr euch besser überlegen sollen, Jungs. Sie konnte sich vorstellen, dass der Sumpf Altheas Ansprüchen nicht entsprach.
Und der Geist, der verfluchte Sumpfgeist, hatte Pepper in diese Hölle gebracht, in diese Dunkelheit. »Pepper …«
»Sumpfgeist will uns drüben beim Boot haben.«
»Bei Nash?«
»Jawohl.« J. T. erhob sich langsam, das lange Gewehr in der Hand. Lucy kam ebenfalls sehr vorsichtig auf die Füße, verzweifelt bemüht, keine ihrer beiden Kanonen versehentlich abzuschießen und ihn damit zu töten. Besonders die Maschinenpistole in ihren Händen war ihr absolut nicht geheuer. Zum Teufel, im Augenblick war ihr gar nichts geheuer, außer J. T. an ihrer Seite.
»Lass uns gehen und unser Mädchen wiederholen«, meinte J. T. aufmunternd, und Lucy hielt mit Gewalt ihre Tränen zurück.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte sie.
J. T. nickte. »Ja, ich weiß. Komm jetzt.« Dann kletterte er den Damm hinauf auf die Straße.
 
Tyler verlangsamte seine Fahrt, schaltete schließlich den Motor aus und ließ die Maschine ausrollen. Aus seinen Berechnungen wusste er, dass er sich ungefähr hundert Meter vor der Übergabestelle befand.
Er legte sich das Kind über die eine Schulter, schulterte mit der anderen eine Tasche mit Ausrüstung und packte sein Scharfschützengewehr. Da trat die Kleine plötzlich nach ihm und wand sich, um sich zu befreien, und er erkannte, dass sie schon eine Weile lang Bewusstlosigkeit vorgetäuscht haben musste. Verfluchte, blöde Göre.
Er hielt sie fest im Griff und rannte durch die Dunkelheit. Hinter sich hörte er den Helikopter näher kommen, doch gleichzeitig vernahm er vor sich Stimmen, die im Streit laut wurden.
Elende Versager. Weniger als fünfzig Meter vor den Stimmen blieb er stehen, kniete am Rande der Schotterstraße nieder und ließ das Kind zu Boden fallen. Das Knebeltuch saß fest um ihren Mund, und sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er zog ein langes Bajonett aus seinem Rucksack und hob es über dem Kopf in die Höhe. Das Kind riss die Augen noch weiter auf, da stieß er das Bajonett abwärts.
 
Kurz vor dem Boot hielt Wilder an. Er hörte eine zu einem Jammern in die Höhe geschraubte Stimme, die er nach den vier Tagen Dreharbeit sofort erkannte: Bryce beschwerte sich über irgendetwas. Vor ihnen leuchtete ein kleines Licht, aber um sie herum war es noch verdammt dunkel.
Lucy lief von hinten in ihn hinein.
»Vorsicht«, wisperte er.
»Ja, ja, gibt’s hier keine Straßenbeleuchtung?«
»Und der Zimmerservice fehlt auch.«
Wilder stieß sie leise an, dann schlichen sie sich näher an das Boot heran. Dort hing eine Art Laterne, in deren Lichtschein Althea auf dem Motorblock saß, die Beine baumeln ließ und in den Führerstand hineinblickte. Nash war nirgends in Sicht, und das war nicht gut.
Bryce zog eine weitere Plastikkiste aus dem Wasser und auf den Damm hinauf, wobei er mühsam durch das Wasser watete und mit äußerster Anstrengung an der Kiste zerrte. Körperliche Arbeit. Wilder schüttelte den Kopf, während sie lautlos noch näher rückten. Eine wahrhaft gelungene Geiselnahme. Bryce hätte jemanden ohne manikürte Hände entführen sollen.
Als sie nur noch drei Meter entfernt waren, rief Wilder: »Hey, Bryce.«
Althea drehte sich hastig zu ihnen um. »J. T.? Sind Sie das?«
»J. T.? J. T. ist da?« Bryce’ Stimme klang begeistert. Er stand hüfttief im Sumpfwasser, blickte auf und blindlings suchend in die Dunkelheit, während er nach Moskitos schlug.
»J. T., sind Sie gekommen, um mich zu retten?«, rief Althea.
»Dich zu retten?«, wiederholte Bryce, und sein Jammerton schraubte sich hoch bis kurz vor dem Überschnappen. »Du bist doch diejenige, die den Schießprügel hat.«
Ach, verdammter Mist, dachte Wilder. »Wo ist Nash?«
Sowohl Althea wie auch Bryce blickten in den Führerstand des Bootes.
»Kommen Sie raus, Nash«, rief Wilder. »Wir machen hier einen Tauschhandel.«
»Verflucht noch mal.« Nashs Kopf erschien über der Windschutzscheibe. »Ich kann nicht rauskommen, weil dieses verdammte Luder mit einer Kanone auf mich zielt.«
»Althea?«, rief Lucy aus.
Na ja, das machte mehr Sinn als mit Bryce, dachte Wilder. Althea lächelte unschuldig, und Wilder sah jetzt ihre rechte Hand, die mit einer Pistole direkt auf Nash zielte.
»Armes kleines Hundchen«, bemerkte Lucy mit weicher Stimme hinter Wilders Schulter. »Mary Make-up hat jetzt wohl doch die besseren Karten.«
»Wir wollen nichts anderes als Pepper«, rief Wilder. »Wir nehmen aber auch Bryce mit, wenn ihr eure … Probleme … allein bewältigen wollt.«
Lucys Handy klingelte in Wilders Tasche, und er fühlte, wie sie zusammenfuhr.
»Ist schon gut«, meinte er beruhigend und versuchte, nicht an all die Feuerkraft zu denken, die sie ungesichert bei sich trug. Er meldete sich. »Wo ist sie?«
»Osten«, erwiderte der Sumpfgeist. »Auf der Straße.«
Wilder drehte sich um, und plötzlich leuchtete aus dem Sumpf der Strahl einer Taschenlampe auf und beleuchtete eine kleine Gestalt am Straßenrand: Pepper, weinend, die Hände vor dem Bauch gefesselt, und ein Seil führte von ihren Fesseln zu etwas, das im Boden steckte.
»Dieser Schweinehund«, zischte Lucy und wollte lossprinten, doch Wilder packte sie am Hemd und hielt sie zurück.
»Warte.«
»Sie weint.« Lucys Stimme bebte vor Zorn, und Wilder empfand das Gleiche, aber er wusste auch, dass es jetzt hieß, vorsichtig zu sein, äußerst vorsichtig.
»Bitte vertrau mir«, bat Wilder und presste dabei den Hörer gegen seine Brust, damit der Sumpfgeist nicht mithören konnte.
»Ich vertraue dir«, erwiderte Lucy und ließ Pepper nicht aus den Augen. »Und jetzt lass mich gehen und meine Kleine holen.«
Wilder hob den Hörer ans Ohr. »Lass sie frei, dann rufe ich den Helikopter herunter.«
»Das hatten wir doch schon«, entgegnete der Sumpfgeist.
»Du weißt, dass ich dir den Vogel nicht gebe, bevor ich das Mädchen nicht habe«, konterte Wilder. »Hast du einen Vorschlag?«
»Sie werden jetzt …«
Bryce jaulte auf, und mit einem Dröhnen fiel die Kiste auf den Boden.
Wilder fuhr herum und sah Bryce, der schlammverschmiert oben auf dem Damm lag, die Kiste aufgebrochen neben ihm. Der Inhalt rollte auf die Straße, etwas Verpackungsmaterial und etwas Hellgrünes, wie Wilder es erwartet hatte, und dann noch etwas Orangefarbenes, wie Wilder es nicht erwartet hatte.
»Dieses orangefarbene Zeug sieht aber nicht wie Jade aus«, rief Althea und kletterte von der Reling aus auf den Damm, wobei sie Nash hinter sich vergaß.
Althea hielt die Waffe in der einen, die Laterne in der anderen Hand. Sie erreichte Bryce und hob die Laterne in die Höhe, um in die zerbrochene Kiste hineinsehen zu können.
Dann erstarrte sie. »Was zum Teufel ist denn das?«
Bryce leckte sich über die Lippen, krabbelte dann auf die Füße und hob einen der glänzenden grünen Gegenstände auf. Stirnrunzelnd betrachtete er ihn. »Das ist ein Salzstreuer in Gurkenform, mit einem Smiley-Gesicht drauf. Siehst du?« Er hielt es ihr entgegen, und als sie überhaupt nicht lächelte, bückte er sich und hob einen der orangefarbenen Gegenstände auf. »Sieh mal. Karotten.«
Wir sind erledigt, dachte Wilder.
Altheas Pistolenhand sank herab. »Willst du was Lustiges über deine Jade hören, Nash?«, rief sie wutschnaubend über die Schulter zurück. »Die verdammte Jade, die uns alle reich machen sollte? Die Jade, wegen der du versucht hast, mich in die Luft zu jagen
Wilder berührte Lucy mit dem Gewehr an der Schulter. »Geh und hole Pepper.«
Sie nickte nur und war schon fort, und an ihm lag es nun, ihr Feuerschutz zu geben. Er betete, dass der Sumpfgeist nichts Unüberlegtes tun würde, und dass Nash sie nicht alle der Reihe nach abschießen würde, sobald er sich klar darüber geworden war, dass er all die Risiken für einen Haufen drolliger Gurken eingegangen war.
»Ich glaube, die Karotte ist das Mädchen«, meinte Bryce und betrachtete die beiden Figuren in seinen Händen. Da trat Nash in Aktion.
 
Lucy rannte zu Pepper, und als das kleine Mädchen sie erblickte, wimmerte sie: »Tante Lucy!« Lucy stolperte und umschlang sie dann, um sie abzuschirmen. »Bin schon da, Schätzchen.«
Sie zog an dem Seil und begann dann, das Bajonett, an dem es festgebunden war, hin und her zu bewegen, um es aus dem Boden zu bekommen.
»Tante Lucy«, schluchzte Pepper und drängte sich an Lucy. »Ich hab solche Angst«, und Lucy dachte: Verfluchter Mistkerl, und riss das Bajonett mit all ihrer verfügbaren Kraft hin und her, und endlich löste sich die scharfe Spitze aus dem Boden.
Da brach die Hölle los.
 
Sobald Lucy fortgestürmt war, hatte Wilder einen raschen Blick über die Schulter geworfen, um Nash im Blick zu behalten, aber Nash war verschwunden. Schlecht, dachte Wilder.
Althea starrte noch immer auf die zerbrochene Kiste, aber an ihrer Miene war zu erkennen, dass sie in aller Eile nachdachte. Dann holte sie tief Luft. »Okay. Ich gebe auf.« Sie warf die Waffe zu Boden und hob die Hände. »Rufen Sie die Polizei. Ich ergebe mich.«
»So funktioniert das nicht, du dummes Aas«, zischte Nash sie an, und Wilder erspähte ihn auf der Straße hinter ihr, eine große, schlanke Silhouette mit dem gottverdammten Spezialhalfter an der Hüfte. »Ich gebe nicht auf.«
Althea ließ die Hände sinken. »Na ja, ich schon. Ich will nicht ins Gefängnis. Ich werde verhandeln. Ich weiß, wo Letsky ist. Ich hab die Koordinaten von …«
»Letsky ist tot«, entgegnete Wilder, dem seine augenblickliche Position mit Nash vor ihm und dem Sumpfgeist irgendwo hinter ihm nicht gefiel. Er warf einen Blick zurück. Lucy hatte Pepper erreicht und versuchte, sie zu befreien. Er wandte sich wieder um. »Es ist vorbei, Nash. Die CIA hat Letsky und sein Boot vor zwanzig Minuten in die Luft gesprengt.«
Da sah Wilder, wie Bryce sich plötzlich aufrichtete und mit Altheas Waffe auf Nash zielte, und er schrie: »Hinlegen.«
Althea flog in den Dreck, und Bryce schreckte auf und fiel hinterrücks um, während Wilder aus der Todeszone neben dem Boot forthechtete, sich abrollte und sich sofort dem Sumpf und seinem Geist zuwandte. In knapp fünfzig Meter Entfernung sah er in der Dunkelheit hinter Lucy und Pepper Mündungsfeuer aufblitzen, riss das Gewehr hoch und feuerte instinktiv genau auf diesen Blitz. Wieder blitzte Mündungsfeuer in der Dunkelheit auf, aber diesmal langgestreckt und fast senkrecht nach oben. Ein Schuss hoch in die Luft. Wilder wusste, dass er den Sumpfgeist getroffen hatte und dieser bei seinem zweiten Schuss rückwärtsgetaumelt war. Zur Sicherheit feuerte Wilder noch zweimal rasch hintereinander, dann rollte er sich wieder herum und kam in Nashs Richtung auf ein Knie hoch.
 
Lucy sprang auf und riss Pepper auf die Füße. Dann sprintete sie mit ihr die Straße hinunter, weg von der Kampfszene beim Boot. Sie wusste nicht, wer auf wen geschossen hatte, sie wusste nur, dass sie Pepper von dort wegbringen musste, und im nächsten Augenblick sah sie vor sich den Helikopter landen. LaFavre setzte ihn auf den festen Boden der Straße, und Lucy rannte bis unter die Rotorblätter, ohne weiter nachzudenken. Sie hatte nur den einen Gedanken, Pepper in den Helikopter und damit in Sicherheit zu bringen.
»Was ist passiert?«, fragte LaFavre schreiend.
»Nehmen Sie sie«, schrie Lucy und schob Pepper in den Vogel.
»Nein, Tante Lucy«, schluchzte Pepper und streckte die Arme nach ihr aus, aber Lucy rief ihr nur zu: »Bitte sei jetzt tapfer, sei Wonder Woman, ich muss J. T. helfen«, und rannte den Damm entlang zurück, so schnell sie konnte, die Maschinenpistole in den Händen. Das Laternenlicht zeigte ihr, wo J. T. jetzt alleine den Bösen gegenüberstand.
Sie rannte direkt in Althea hinein, die ihr halb kriechend, halb stolpernd auf dem Damm entgegen kam. Althea klammerte sich an sie und rief: »Die haben mich entführt, Lucy, es war nicht meine Schuld«, während Lucy sie gleichzeitig fragte: »Wo ist J. T.?«
»Ich weiß nicht. Ich bin einfach weggerannt, als sie anfingen zu schießen.« Althea blickte sich um. »Ich weiß nicht mal, wo wir sind.«
»Da ist die Straße.« Lucy deutete den Damm entlang. »Laufen Sie weiter, dann sehen Sie den Helikopter. Sie hören ihn ja schon, oder? Steigen Sie ein. Der Pilot mag große Titten.« Und du bist eine der größten Titten, die ich kenne. Sie versuchte, um Althea herum- und weiter voranzukommen, aber die Schauspielerin umklammerte sie weiter.
»Wissen Sie«, begann Althea, »ich finde wirklich, dass Sie eine tolle Regisseurin sind, und ich würde gerne wieder mit Ihnen zusammen…«
Lucy schob sie unsanft beiseite und begann wieder zu rennen. Sie hoffte, dass da niemand im Dreck lag und blutete, immerhin hatte sie keine Schüsse mehr gehört …
Sie rannte direkt in Bryce hinein, der sich nicht einmal bemühte zu kriechen.
»Lucy!«, schrie er und klammerte sich an sie. »Ich wäre beinahe erschossen worden.«
»Zum Helikopter«, rief sie und schob ihn zur Seite. »Dort entlang.«
Dann rannte sie bis zum Ende der Straße.
 
Wilder fühlte, wie etwas Irres von Nash ausging, der allein auf der Schotterstraße stand und nun langsam auf ihn zukam. Er hatte die Pistole noch im Halfter, und Wilder wurde klar, dass Nash die Pistole nicht ziehen wollte, solange er ihm den Rücken zugekehrt hatte. Offensichtlich wollte er einen echten, verdammten Showdown. Um Lucy und Pepper mehr Zeit zur Flucht zu verschaffen, ließ Wilder sein Gewehr auf den Boden fallen und stellte sich dann langsam Nash gegenüber auf.
High Noon, dachte Wilder und fühlte das Gewicht der Glock in seinem Oberschenkel-Halfter.
Die Bewohner hatten sich in Sicherheit gebracht, die Handlanger hatte es bereits erwischt, und nun stand der Höhepunkt bevor, der Gute gegen den Bösen. Ich bin der Gute. Will Kane gewinnt.
Nur dass Nash an diesen Schwachsinn glaubte und sich darauf vorbereitet hatte. Wilder wusste, dass er, was das schnelle Ziehen der Waffe betraf, mit seiner Glock gegen Nash und sein Spezialhalfter keine Chance hatte.
Hätte mich nicht darüber lustig machen sollen. »Sie haben schon einmal auf mich geschossen«, rief er. »War das nicht genug?«
»Aber Sie sind nicht tot«, entgegnete Nash. »Ich hätte Sie sofort niederschießen sollen, als Sie zum ersten Mal auf diese verfluchte Brücke kamen. Sie haben mir alles zerstört.«
»Sie hätten die Jade sowieso nie gekriegt, Nash«, erwiderte Wilder. »Die CIA hatte alles von Anfang an unter Beobachtung, die wollten Letsky kriegen. Von dort kommen diese Gurken. Versuchen Sie doch zu retten, was noch zu retten ist …«
»Ich verliere nie«, erklärte Nash tonlos. Als er noch etwa fünf Meter entfernt war, blieb er stehen und senkte den Kopf ein wenig. »Zieh, du Arschloch.«
Verflucht, dachte Wilder, ich bin so gut wie tot. In diesem Augenblick erschien Lucy taumelnd auf dem Damm und hob sofort die Maschinenpistole, und Nash wandte sich ihr in einer winzigen Drehung zu, während sie einen Kugelhagel in den Dreck vor seinen Füßen schickte. Wilder riss die Glock heraus.
Nash wandte sich sofort wieder zu ihm zurück, und seine Hand fuhr gedankenschnell zu seinem Revolver, doch Wilder drückte bereits im Hochreißen der Glock zweimal ab. Die erste Kugel kam zu tief, doch sie traf Nash ins Bein, während der Stuntman feuerte, und lenkte dessen Kugel um einen Bruchteil ab. Die zweite warf Nashs Körper mit Wucht rückwärts zu Boden.
Wilder behielt die Glock im Anschlag, den Finger am Abzug, und beobachtete den reglosen Körper, ob noch ein Lebenszeichen kam. Nichts.
Erst dann nahm er den Finger vom Abzug und näherte sich langsam. Seine scharfe Munition hatte Nashs kugelsichere Weste glatt durchschlagen und war ihm direkt ins Herz gedrungen.
»Oh Gott.« Lucy ließ ihre Waffe fallen, und im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie, als er sich an sie klammerte. »Ich konnte dich nicht alleinlassen. Nicht einfach ganz alleine. Du hast doch gesagt, wir wären ein Team, und ich konnte einfach nicht …«
Er küsste sie wild, und sie erwiderte den Kuss. Das war verdammt viel zu knapp, dachte er und hielt sie fest umschlungen.
»Ich konnte dich nicht alleinlassen«, murmelte sie nochmals, das Gesicht an seinen Hals gedrückt. »Niemals könnte ich dich alleinlassen.«
Wie befreit holte er tief Luft. »Ich weiß.«
Sie warf einen Blick auf Nashs Körper. »Damit ist es vorbei, ja?«
»Damit ist es vorbei«, bestätigte Wilder.
»Eigentlich sollte er mir leidtun«, meinte sie. »Schließlich war ich mit ihm mal verheiratet. Aber er hat meine Pepper dem allen ausgesetzt, und das kann ich ihm nie verzeihen. Ich bin froh, dass er tot ist.«
»Ich weiß.«
Sie sah ihn fragend an. »Was ist mit dem Sumpfgeist? Ist er …«
»Ich habe ihn getroffen«, erwiderte Wilder. »Er ist entweder tot oder abgehauen. Ich wette, er ist tot.« Er zog sie die Straße entlang zum Helikopter. »Lass uns Crawford anrufen, damit er die Schweinerei hier aufräumt, und dann lass uns nach Hause fahren.«
»Wir haben kein Zuhause«, erwiderte Lucy, und es klang erschöpft. »Ich habe Gloom mein Loft gegeben. Alles, was wir haben, sind ein Helikopter und ein Wohnmobil.«
»Na, dann lass uns ein Zuhause schaffen«, schlug Wilder vor und schob sie vor sich her die Straße entlang, weg von dem, was von Nash übrig geblieben war.
 
LaFavre zog den Helikopter vom Boden hoch, und Lucy hielt Pepper an sich gedrückt und wiegte sie leicht hin und her, während sie den Sumpf hinter sich ließen. Pepper hatte aufgehört zu weinen, nachdem LaFavre seine ganze Zauberkunst bei ihr eingesetzt hatte und dann Althea sie in die Arme genommen hatte, bis Lucy wiederkam. Dann aber war sie, so schnell sie konnte, auf Lucys Schoß geklettert. J. T. saß neben ihnen, und Pepper klammerte sich mit einer Hand an sein Tarnhemd und ließ nicht mehr los, obwohl sie sich immer noch enger an Lucy schmiegte. Bryce hockte mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, halb erleichtert und halb bekümmert, und Althea saß auf dem Sitz neben LaFavre und beugte sich leicht zu ihm hinüber.
»Ich hab so große Angst gehabt«, stieß Pepper hervor und war kurz davor loszuschluchzen.
»Ich weiß«, erwiderte Lucy. »Aber du warst auch sehr tapfer.«
»Ja, das warst du wirklich«, bekräftigte J. T. und legte seinen Arm um sie beide. »Du warst wie Wonder Woman
»Ich war sogar gefesselt«, erzählte Pepper fast stolz, und ihre Beinahe-Schluchzer beruhigten sich zu einem Schniefen.
»Genau wie Wonder Woman«, stimmte Lucy zu.
»Jaa«, machte Pepper und wischte mit einer schmutzigen Hand über ihre noch schmutzigeren Wangen, behielt aber mit der anderen Hand J. T.s Hemd fest im Griff. Wieder schniefte sie, aber sie schien ein wenig auf andere Gedanken gebracht, und als J. T. ihr die Schulter tätschelte, legte sie ihren Kopf an seinen Arm und wurde ein wenig ruhiger.
»Wissen Sie«, ließ sich Bryce von seinem Platz am Boden mit einem Blick nach vorne vernehmen, »ich habe gegenüber Leute von Heute eigentlich gar nicht gesagt, wen ich heirate, sondern nur eine leichte Andeutung gemacht.«
Lucy wandte den Blick kurz von Pepper ab und empfand Mitleid mit ihm, wie er da schmutzig und von Moskitos zerstochen jämmerlich auf dem Boden hockte, während seine Exverlobte mit dem Kerl in der tollen Fliegerjacke flirtete. »Mary Make-up spart für neue Titten, nur für Sie.«
»Titten?«, fragte Pepper.
Bryce blickte gerührt drein. »Sie ist ein großartiges Mädel.«
»Und wird noch viel großartiger«, meinte J. T. und musste lachen.
Lucy legte die Wange an Peppers Haar und drückte sie fester an sich. Sie würde auch wieder lachen. Sobald sie es schaffte, nicht gleichzeitig in Tränen auszubrechen. Bei den Special Forces gab es keine Tränen.
Vorne beugte sich Althea noch weiter zu LaFavre hinüber. Ihr Hemdausschnitt schien noch tiefer heruntergezogen als sonst. »Tragen Sie eine Waffe?«
Um Himmels willen, er fliegt doch diesen Helikopter, dachte Lucy, aber LaFavre grinste Althea nur an, die Augen hinter der Nachtsichtbrille verborgen.
»Aber sicher, Darling«, erwiderte er. »Wollen Sie sie sehen?«
Lucy stieß J. T. leise an. »Willst du ihn nicht warnen?«
»Klar«, meinte J. T. »Ich werde ihm sagen, wenn er nicht aufpasst, taucht sie nackt in seinem Bett auf und fasst seine Schusswaffe an.«
Lucy musste lachen und fühlte, wie ihr gleichzeitig die Tränen hochkamen. »Oh Gott.«
»Hey«, flüsterte J. T. ihr sanft zu. Er zupfte leicht an ihrem Zopf und küsste sie dann auf die Wange. »Ist ja schon gut.«
»Dafür müsste ich wirklich ganz viel Wonder-Woman-Zeug kriegen«, meldete sich plötzlich Pepper mit einer noch etwas zittrigen Stimme zwischen ihnen. »Ich war soo tapfer.«
»Ja, wirklich«, stimmte Lucy ihr zu und kämpfte die Tränen zurück. »Und ich auch. Ich müsste eigentlich auch viel Zeug kriegen.«
»Darauf könnt ihr wetten«, versprach J. T.
Sie sah ihn an, wie er so dicht neben ihr saß, der gleiche grimmige, wortkarge Kerl, der erst vor vier Tagen aus einem Helikopter gestiegen und auf sie zugekommen war, und sie dachte: Will Kane. Und er liebt mich. Wer hätte das gedacht?, und musste lächeln.
»Haltet euch fest, Freunde«, rief LaFavre und ließ den Helikopter im Schrägflug zur Fahrbahn der Talmadge-Memorial-Brücke hindriften. Dann flogen sie dicht über all die rotierenden Warnlichter der Polizeiwagen und Feuerwehr-Löschwagen und den noch immer brennenden gepanzerten Wagen hinweg, direkt zwischen den Brückenspannseilen und unter den beiden Querstreben hindurch.
»Wow!«, stieß Pepper hervor und richtete sich auf, und J. T. grinste sie an.
»Verwenden Sie scharfe Munition?«, fragte Althea LaFavre.
»Ich, und heirate ein Mädchen von der Maske«, erklärte Bryce, »das ist wie Pretty Woman. Nur ohne die Nutte.«
»Ich hab wirklich eine Menge Wonder-Woman-Zeug verdient«, stellte Pepper fest.
»Ich auch«, meinte J. T.
Lucy lachte.
»Hey«, protestierte J. T. und versuchte, beleidigt dreinzuschauen, musste aber grinsen.
»Nicht deinetwegen«, erklärte Lucy. »Es ist nur, weißt du, ich höre förmlich, wie sie mein Lied spielen.« Sie neigte sich zu ihm hin und küsste ihn leidenschaftlich.
»Viel, viel cooles Wonder-Woman-Zeug«, murmelte Pepper und kuschelte sich zwischen die beiden.
 
Ein komisches Gefühl, angeschossen zu sein. Das war neu für Tyler. Es machte ihn sehr langsam, vor allem, da es im Sumpf nur so von Leuten wimmelte, die wahrscheinlich nach ihm suchen würden. Vielleicht hätte er nicht auf den Schauspieler schießen sollen, aber das hatte er rein instinktiv getan, genauso war er ausgebildet worden.
Er schwankte langsam und immer langsamer durch den Sumpf und stützte sich schließlich auf eine Sandbank. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, warum er ihn verfehlt hatte. Er hatte vorher noch nie sein Ziel verfehlt. Noch nie. Richte das Fadenkreuz auf sie, und sie sterben. Er hatte das Fadenkreuz auf den Schauspieler gerichtet, auf diesen dummen Scheißkerl, der einfach die Pistole aufgehoben hatte …
Dann fiel ihm wieder ein, wie das Kind gegen sein Gewehr gestoßen war, wie der Sucher auf den Boden geschlagen war. Der Sucher. Aus der Ziellinie geschlagen, von diesem verfluchten Gör.
Glückssträhne zu Ende, dachte er und sank auf den Schlammboden nieder, beobachtete, wie sein Blut ins Wasser rann. Viel Blut. Er konnte es nicht mehr stoppen. Ihm war so kalt. Er war kalt wie »Müßig«. Nein, kälter. Kalt wie Finnegan.
Er hörte ein Spritzen und sah ein V im Wasser und ein einzelnes Auge, das auf ihn zukam.
Weiber, dachte er, während der Sumpf vor seinen Augen immer dunkler wurde. Immer wollen sie ein Stück von dir.