12
Lucy fuhr mit der letzten Fahrt des Pendelbusses
zurück zum Basislager. Sie war so müde, dass sie den Kopf an die
Kopfstütze lehnte, obwohl es sie durchrüttelte, als der Kleinbus
über die ausgefahrene Staubstraße hoppelte. Zu viel Anspannung
gestern Abend, zu viel Anspannung den ganzen Tag über, und dann
hatte sie sich noch vor der gesamten Crew und allen Darstellern mit
Wilder zum Narren gemacht …
»Ich brauche dringend Schlaf«, sagte sie, da bog
der Bus in das Basislager ein, und sie öffnete die Augen und wurde
sich bewusst, dass sie laut gesprochen hatte.
Niemand achtete auch nur im Geringsten
darauf.
Na gut, dachte sie, als sie
aus dem Bus geklettert war und zu ihrem Wohnmobil eilte. Nach Daisy sehen, Gloom suchen, mit dem Camper zum Hotel
fahren, unter die Dusche, um den Staub abzuwaschen, und dann ins
Bett …
Sie öffnete die Tür des Campers, und Pepper rief:
»Hurra, Tante Lucy ist da! Jetzt kann die Party anfangen!«, und
strahlte. Ihr Wonder-Woman-Kampfanzug
bildete einen grellbunten Fleck vor den weißen Vorhängen.
»Party!«, stieß Lucy hervor und bemühte sich
verzweifelt, begeistert zu klingen. »Das ist …« Sie brach ab, als
ihr Blick auf Daisy fiel, die auf einem der Drehsessel neben Pepper
saß und mit ihrer schlanken Figur das Beste aus ihrem Wonder-Woman -Kampfanzug in Größe S machte.
»Wow«, machte Lucy und begann zu
lachen.
»Lache nur, solange du noch kannst, Affen-Girl«,
versetzte Daisy. »Dein Wonder-Woman-Kampfanzug wartet schon auf dich.« Sie
warf Lucy ein golden gefärbtes Seil zu. »Und vergiss das Lasso der
Wahrheit nicht. Ohne unsere Lassos sind wir nichts.«
»Zieh dich schnell um, Tante Lucy«, bat Pepper, und
Lucy musste wieder lachen und kletterte ins Wohnmobil.
Sie legte das Seil auf den Tisch, zog sich dann
zurück und streifte Jeans, Hemd und T-Shirt ab. Dann schlüpfte sie
in die Boxershorts mit den weißen Sternen und in das rote Mieder
mit den doppelten goldenen W auf der Brust. »Wie findet ihr das?«,
fragte sie, als sie zum Tischchen zurückkehrte.
Daisy prustete vor Lachen.
»Du siehst einfach toll
aus«, rief Pepper. »Wir sehen alle toll
aus.«
Lucy glitt auf den freien Drehsessel und versuchte,
den Gedanken an Dusche und Bett aus ihrem Kopf zu verbannen. »Jetzt
brauchen wir noch Kuchen, stimmt’s?«
»Gloom bringt einen mit«, erklärte Pepper wichtig.
»Und eine Überraschung.«
»Glooms Überraschungen sind immer hervorragend«,
stellte Lucy fest.
»Und J. T. kommt auch.«
»Schön für J. T.«, meinte Lucy und fühlte sich ein
wenig munterer. »Und was tun wir auf einer Wonder-Woman-Party?«
»Ja, also, wir können über Wonder Woman reden«, schlug Pepper vor. »Jeder kann
etwas erzählen, was er von ihr weiß.«
»Ich weiß etwas«, begann Daisy und zog eine
papierne Einkaufstüte unter dem Tisch hervor. »Oder zumindest
Estelle von der Garderobe weiß etwas.« Sie holte drei
Goldlamé-Stirnbänder aus der Tüte. Auf jedem war in der Mitte ein
großer roter Stern aufgeklebt.
»Kronen!«, rief Pepper und
geriet in Ekstase. Sie breitete sie auf dem Tisch aus und nahm sich
die kleinste. »Die zieht man so an«, erklärte sie und streifte sich
das Stirnband mit dem Gummibändchen nach hinten über den Kopf, so
dass das Lamé mit dem Stern auf ihrer Stirn saß.
»Genau so.« Lucy sah zu, wie Daisy das ihre
überstreifte. »Du siehst wirklich schnuckelig damit aus«, meinte
sie, ohne eine Miene zu verziehen.
»Na klar«, erwiderte Daisy. »Und jetzt setzt du
deine Krone auf, Tante Lucy.«
»Mach erst den Zopf auf«, befahl Pepper.
Lucy zog das Gummiband von ihrem Zopfende und
schüttelte ihr Haar aus. Dann streifte sie sich ihr Stirnband
über.
»Weißt du«, meinte Daisy, »du siehst wirklich ein
bisschen wie Wonder Woman aus.«
»Ja wirklich«, bestätigte Pepper. »Schau doch in
den Spiegel.«
Lucy erhob sich und öffnete die Tür zu dem winzigen
Waschraum. Die Haarfarbe stimmte, aber der Rest, nun ja. »Von
wegen. Ich glaube kaum, dass Wonder Woman
jemals wie vierunddreißig aussieht.« Sie wandte sich Daisy wieder
zu. »Weißt du, ich dachte immer, ihre Uniform wäre irgendwie …« –
sie warf einen Blick auf Pepper, die aufmerksam lauschte – »nicht …
besonders chic.«
Pepper runzelte die Stirn, da sie nicht genau
verstand, was das bedeutete, aber es gefiel ihr jedenfalls
nicht.
»Aber ich hatte Unrecht«, fuhr Lucy fort und
behielt sie weiter im Blick. »Dieses Zeug bietet ungeahnte
Möglichkeiten.« Sie stemmte die Hände auf die Hüften. »Ich fühle
mich so richtig stark. Shazaam!«
»Nein«, korrigierte Pepper sie. »Wonder Woman sagt ›Heiliger Bimbam‹.«
»Du machst wohl Witze«, stöhnte Lucy, während Daisy
versuchte, ihr Lachen zu unterdrücken.
»Ich kann’s dir zeigen.« Pepper zog eines der
Comicheftchen aus dem Haufen ihrer Beutestücke auf dem Tisch.
»Schon gut.« Lucy ließ sich wieder in dem
Drehsessel nieder, wobei sie ihren Kampfanzug zurechtzerrte und
sich fragte, ob Wonder Woman wohl auch
Probleme mit zu viel Stoff zwischen den Pobacken hatte. »Ich glaube
dir ja. Heiliger Bimbam! Klingt irgendwie gut.«
»Von jetzt an werde ich das garantiert immer
sagen«, versprach Daisy mit rosigen Wangen. Sie sah noch immer müde
aus, aber trotzdem wirkte sie jetzt zehn Jahre jünger als am
vergangenen Abend. Lucy entspannte sich und dachte: Zum Teufel mit der Dusche.
»Du musst deine Stiefel wieder anziehen«, beschwor
Pepper sie. »Siehst du?« Sie streckte einen Fuß im Gummistiefel
hervor.
Lucy blickte Daisy an. »Aber deine Mama hat keine
…«
Daisy auf der anderen Seite des Tisches streckte
einen Fuß in einem roten Gummistiefel hervor. »Na los, zieh schon
die Stiefel an, Tante Lucy.«
»Na klar.« Lucy ging zum Bett zurück, um wieder in
ihre Stiefel zu schlüpfen.
»Und Musik!«, schrie Pepper ihr nach, und Lucy
beugte sich zu ihrem iPod in seinem Lautsprechersockel hinunter und
drückte darauf herum, bis von Kirsty MacColl »They Don’t Know« erklang.
»Erinnerst du dich noch, wie wir dazu getanzt
haben?«, fragte Lucy Pepper, nicht sicher, ob sich die Kleine daran
erinnerte, schließlich war es schon so lange her.
»Ja!«, schrie Pepper, und als Lucy sich auf das
Bett setzte, um ihre Stiefel anzuziehen, kam Pepper durch den
kleinen Verbindungsgang und begann, in ihren roten Gummistiefeln
und ihrem seltsamen Kampfanzug zur Musik zu hopsen. Sie sah dabei
aus wie ein sehr glückliches kleines Go-go-Girl von einem anderen
Stern.
Lucy musste lachen, und der letzte Rest Anspannung
fiel von ihr ab. Sie zog sich den zweiten Stiefel über und stand
auf, um ebenfalls zu tanzen.
Pepper hüpfte mit geschlossenen Augen in ihren
Gummistiefeln herum, brüllte dabei aus vollem Halse mit: »We’ve got nothin’ to lose«, und bewegte ihre
Schultern rhythmisch vor und zurück. Lucy fing ihre Hände ein, und
Pepper öffnete die Augen und strahlte sie entzückt an, und sie
tanzten in dem engen, kleinen Gang, so wie sie zuletzt zusammen
getanzt hatten, als Pepper noch winzig gewesen war. Gott, wie sehr habe ich sie vermisst, dachte Lucy
und hob Peppers Hand höher, damit sie eine Pirouette drehen konnte.
Sie hob den Blick und sah Daisy, die ihnen mit strahlenden Augen
zusah und sich auf die Lippe biss, als Pepper beim Drehen »Baa-byy!« sang. Lucy lächelte ihrer Schwester zu
und bekam das alte Daisy-Lächeln zurück. Dann brüllte Pepper die
nächste Textzeile mit, und Lucy führte sie, so dass sie zum Bett
hin- und wieder zum Tisch zurücktanzten. Sie lachten beide vor
Begeisterung, und in Lucy blühte die alte Liebe für Pepper wieder
so stark auf, dass sie sich fragte, wie sie so lange ohne ihre
Familie hatte leben können.
Kirsty hatte das Lied gerade beendet, da klopfte es
an der Tür.
»Vielleicht ist das J. T.!«, rief Pepper atemlos
und zupfte ihr Wams zurecht. »Ich habe ihn doch eingeladen.«
»Das wäre toll«, meinte Daisy und blickte Lucy mit
einem Grinsen an, das ihr fast von Ohr zu Ohr reichte.
Oh Gott, nein, dachte Lucy, die ebenso atemlos war,
und zupfte ihr eigenes Mieder zurecht. Im Prinzip trug sie zwar
Kleidung, aber was für eine …
Daisy ergriff ihren großen gelben Strohhut und
hielt ihn vor sich, als sie die Tür öffnete.
»Ach, es ist Bryce«, rief Pepper so enttäuscht,
dass sie sich schon hart an der Grenze zur Unhöflichkeit
bewegte.
Bryce sah Daisy verblüfft an. Dann erspähte er
Lucy, und das Kinn sackte ihm herab.
»Hallo, Bryce«, begrüßte Lucy ihn und machte sich
nicht die Mühe, sich zu bedecken. Selbst wenn sie das Mieder und
die Shorts vor seinen Blicken hätte verbergen können, wären da
immer noch der Stirnschmuck und die Stiefel zu erklären.
Bryce ließ seinen Blick von Lucy zu Pepper und
weiter zu Daisy wandern. »Ist das so eine Art Club?«
»Ja«, antwortete Pepper. »Das ist ein Wonder-Woman-Club.«
»Ach so.« Bryce nickte, als leuchtete ihm das
vollkommen ein. Was wahrscheinlich tatsächlich der Fall war. Hätte
es einen Superman-Club gegeben, dann wäre
Bryce wohl der Erste, der sich in blauen Strumpfhosen dort
eingefunden hätte.
»Das ist was für Mädchen«, erklärte Pepper. »Aber
du kannst auch kommen, wenn du willst.«
»Nein, nein«, wehrte Bryce ab. »Das ›Nur für
Mädchen‹, das verstehe ich vollkommen.« Er blickte Lucy an. »Könnte
ich Sie vielleicht eine Sekunde sprechen? Allein?«
»Hast du etwas dagegen, Pepper?«, fragte
Lucy.
»Aber nur eine Sekunde«, willigte Pepper ein. »Der
Kuchen ist sowieso noch nicht da.«
»Gutes Argument«, gestand Lucy und schnappte sich
ihr weißes Hemd, bevor sie den Camper verließ.
»Tolles Outfit«, meinte Bryce, als sie im Zwielicht
draußen vor dem Wohnmobil standen und Lucy in ihr Hemd geschlüpft
war.
»Vielen Dank.« Lucy knöpfte sich ihr Hemd über dem
Mieder zu. »Und womit kann ich Ihnen helfen?«
»Diese Geschichte heute mit J. T.« Bryce trat
nervös von einem Fuß auf den anderen. »Als das Seil riss und er
mich rettete.«
Lucy nickte ermunternd und dachte dabei: Hau ab, Bryce.
»Das war wirklich eine tolle Sache.«
»Der Mann ist gut«, stimmte Lucy zu.
Bryce seufzte erleichtert. »Sie sind also nicht
mehr wütend auf ihn.«
»Wütend auf ihn?« Lucy runzelte die Stirn. »Ach so,
gestern. Wegen der Schlägerei.«
»Das war nicht seine Schuld«, beschwor Bryce sie,
erschrocken über ihren Gesichtsausdruck.
Mehrere Personen hatten auf ihrem Weg über den
Parkplatz bereits ihren Schritt verlangsamt, und Lucy erkannte,
dass das Hemd als Tarnung vielleicht keine so gute Idee gewesen
war, denn darunter blieben ihre nackten Beine in den roten Stiefeln
sichtbar. Und das Stirnband.
»Sicher war es nicht seine Schuld«, stimmte Lucy
zu. »Das war wirklich ein kluger Schachzug von Ihnen, Bryce, ihn
anzuheuern. Zuerst habe ich das nicht so gesehen, aber er ist
wirklich großartig. Sie hatten Recht.« Sie überlegte, ob sie noch
mehr Komplimente drauflegen sollte, um ihn zu beruhigen, aber er
fing bereits an zu strahlen.
»Ich wusste, dass Sie es bald genauso sehen würden
wie ich«, erklärte er und wurde wieder zum selbstbewussten Mann von
Welt.
Mary Make-up öffnete die Tür des
Maskenbildnerwagens, erblickte Lucy und fiel fast die Stufen
hinab.
Lucy machte einen Schritt rückwärts zum Camper hin.
»Dann gehen Sie jetzt lieber, und ruhen Sie sich gut aus.« Sie warf
einen Seitenblick auf Mary Make-up. »Ich meine wirklich ausruhen.
In Ihrem Zimmer. Alleine. Sie haben morgen Abend selbst einige
Stunts, da sollten Sie gut ausgeruht sein.«
Die Stunts bestanden mehr oder weniger darin, dass
Bryce herumrannte, Anweisungen schrie und ein Nicht-Gewehr
schwenkte, aber das war für Bryce schon genug, um ernst zu
nicken.
»Sie haben Recht«, stimmte er zu. »Ich muss mein
Instrument schonen.« Lucy brauchte einen Augenblick, um zu
begreifen, dass er seine Stimme meinte.
»Richtig. Ihr Instrument schonen.« Lache nicht, das würde er übel nehmen.
Er tätschelte ihr unbeholfen die Schulter, dann
ging er über den Parkplatz davon, wobei er bei Mary Make-up anhielt
und kurz mit ihr sprach und dann seinen Weg fortsetzte.
Sie blickte enttäuscht drein.
Wenigstens trägst du keine
blauen Shorts mit weißen Sternen darauf, dachte Lucy, kehrte
wieder in das Wohnmobil zurück und schloss die Tür.
»Was ist denn passiert?«, fragte Daisy und blickte
wieder besorgt drein.
»Nichts«, antwortete Lucy. »Er wollte nur sicher
sein, dass ich J. T. nicht feuere.«
Pepper blickte erschrocken von ihrem Wonder-Woman-Aufkleberheft auf. »Du willst J. T.
feuern?«
»Nein«, erwiderte Lucy. »Ich finde, J. T. ist
super.« Daisy kicherte, aber Lucy ignorierte sie. »Er wird nicht
gefeuert, Pepper, keine Angst.« Sie ließ sich an dem Tischchen
nieder und schob ihren Stirnschmuck wieder an seinen Platz. »Also,
was wissen wir noch über Wonder Woman?« Sie
stieß Daisy unter dem Tisch sanft an, und Daisy schielte sie an und
streckte ihr die Zunge heraus.
»Sie ist in Captain Steve Trevor verliebt«,
antwortete Pepper.
»Tja, ein Mann in Uniform, das hat was«, meinte
Daisy und rollte die Augen gen Himmel.
»Vor allem, wenn er ein wirklich großes Messer
hat«, ergänzte Lucy, und Daisy musste wieder lachen. Das ist gut, dachte Lucy. Wenn Daisy über diese
idiotische Verkleidung und ein paar schmutzige Witze lachen konnte,
dann würde sie es schaffen.
»Warum ziehst du das Hemd nicht wieder aus«, rügte
Pepper. »Die Leute sehen ja deine Kampfweste gar nicht.«
»Stimmt«, gab Lucy zu und zog es aus.
Da klopfte es an der Wagentür, und Pepper rief aus:
»J. T.!«
Die Tür öffnete sich, und Althea steckte ihren Kopf
herein. »Oh. Sie sind beschäftigt.«
»Wonder-Woman-Party«,
erklärte Lucy ebenso strahlend wie zu Bryce. »Kann ich Ihnen
helfen, Al?«
»Na ja.« Althea leckte sich über die Lippe. »Ich
habe mich die ganze Zeit gefragt …« Sie warf einen Blick auf Daisy
und Pepper.
»Ich komme raus«, versetzte Lucy und stieg die
Stufen hinunter. »Was ist los?«, fragte sie, nachdem sie die
Wagentür von außen geschlossen hatte.
»Glauben Sie, dass Bryce über J. T. und mich
Bescheid weiß?«, fragte Althea besorgt und übersah offensichtlich
das Wonder-Woman-Kostüm. Nun ja, sie hatte
in ihrer Karriere wahrscheinlich schon seltsamere Kleidung
getragen.
»Nein, ich glaube nicht, dass er etwas ahnt«,
erwiderte Lucy. »Und an Ihrer Stelle würde ich ihm auch nichts
sagen.«
»Oh Gott, nein.« Althea schluckte. »Ich glaube
nämlich, dass ich Bryce vielleicht doch gern heiraten würde. Sie
wissen schon.«
»Mhmm«, machte Lucy, die nichts wusste.
»Hören Sie.« Althea trat im Dämmerlicht hin und
her. »Ich glaube, Stephanie weiß über mich und J. T. Bescheid. Und
vielleicht denkt sie, dass da auch etwas mit Nash und mir war.«
Hastig fügte sie hinzu: »Natürlich irrt sie sich, aber …«
Wann schläft Connor
eigentlich?, fragte Lucy sich.
»Könnten Sie ihr vielleicht sagen, dass sie nicht
über mich klatschen soll?«, fragte Althea, und es klang
ängstlich.
»Aber natürlich«, versicherte Lucy ihr.
Althea wechselte das Thema. »Was J. T. da gemacht
hat, ohne Seil aus dem Helikopter zu springen …«
»Mhmm«, machte Lucy und dachte: Ach zum Teufel, sie meint, das war besonders scharf.
Na ja, das war es ja auch gewesen. Irgendwie. Mal abgesehen von den
Minuten der Angst.
Althea schüttelte den Kopf. »Das war einfach
verrückt.«
»Haargenau«, stimmte Lucy eifrig zu. »Überhaupt
nicht Ihr Typ.«
»Wenn man sich vorstellt, wir wären zusammen«, fuhr
Althea fort. »Wir wären verheiratet, und er wäre dabei umgekommen?
Dann wäre er gar nicht mehr da gewesen, um sich um mich zu
kümmern.«
»Nein, das wäre er wirklich nicht«, bestätigte Lucy
und bemühte sich, Empörung in ihre Stimme zu legen.
»Außerdem steht mir Schwarz überhaupt nicht.«
»Funkelnde, sanfte Farben«, ergänzte Lucy, »das
steht Ihnen.«
»Genau«, seufzte Althea, erleichtert, dass es
jemanden gab, der sie verstand. »Also Bryce weiß noch
nichts?«
»Da bin ich mir fast sicher. Und wissen Sie, ich
habe vorhin mit ihm gesprochen, da war er gerade auf dem Weg zu
seinem Zimmer. Vielleicht sollten Sie …«
»Ich sollte auch gehen«, fiel Althea ihr ins Wort
und marschierte in die Dunkelheit davon, zu ihrem geparkten
Wagen.
»Bingo«, murmelte Lucy und kehrte in den Camper
zurück.
Sie setzte sich wieder und fragte Daisy beiläufig:
»Bryce weiß immer noch nicht, dass Althea …« – sie warf einen Blick
auf Pepper, die ihre Nase jetzt in ein Comicheft gesteckt hatte –
»… äh, mit Rambo zusammen war, oder?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Daisy.
»Gut«, meinte Lucy befriedigt. »Und jetzt, Pepper,
warum trägt eigentlich Wonder Woman weiße
Sterne auf ihrer blauen Unterwäsche?«
»Weil sie für Amerika kämpft!« Pepper reckte die
Faust in die Höhe, und ihre Alufolien-Armbänder glitzerten im
Lampenlicht des Campers.
»Kapiert«, erwiderte Lucy, und im nächsten Moment
klopfte es an der Tür. J. T., dachte sie, bevor Pepper es sagen
konnte. Dann öffnete sich die Tür, und es war Gloom mit dem Arm
voller Einkaufsbeutel und Schachteln, der verkündete: »Ich habe
Kuchen hier.«
»Oh ja!«, rief Pepper, und Gloom stieg in den
Wohnwagen und füllte den letzten freien Raum aus.
Er legte die Kuchenschachtel auf dem Tisch ab und
öffnete sie, und Pepper hielt vor Entzücken die Luft an. Der Bäcker
hatte nach der Vorlage des Wonder-Woman-Bildes etwas täuschend Ähnliches
gezaubert und noch dazu mit einem derart glänzenden Zuckerguss
überzogen, dass der Kuchen schier radioaktiv wirkte.
»Ist das schöön!«, hauchte
Pepper.
»Ist das Schokolade?«, fragte Lucy.
Gloom blickte sie vorwurfsvoll an. »Natürlich ist
das Schokolade. Und das Eis ist Vanilleeis.« Er stellte den Kübel
neben den Kuchen auf den Tisch.
»Eiscreme«, jauchzte Pepper und hüpfte auf und
nieder.
»Gerade haben wir über Wonder
Woman gesprochen.« Lucy stand auf, um Teller zu holen. »Wenn
sie überrascht ist, sagt sie ›Heiliger Bimbam‹. Und das werden wir
von jetzt an alle sagen. Du auch.«
»Wie könnte ich mich da weigern?« Gloom reichte
Pepper eine Plastiktüte. »Das ist für dich, Sumpfprinzessin.«
»Ich gehe nie mehr in den Sumpf«, versicherte
Pepper und öffnete die Tüte. »Eine Barbie! Eine Wonder-Woman-Barbie!«
»Damit ist dir der Himmel sicher«, meinte Lucy zu
Gloom und reichte ihm den Eisportionierer.
»Und die war gar nicht einfach zu kriegen«,
berichtete Gloom und kämpfte mit der Eiscreme-Verpackung. »Hast du
eine Ahnung, wie viele Barbies es gibt? Da gab es ein Supergirl, das trug weiße Handschuhe.«
Pepper blickte von ihrer Barbie-Schachtel auf. »Ich
weiß. Ist das nicht komisch?«
Da klopfte es an der Tür, und Lucy dachte:
Um Himmels willen und quetschte sich an
Gloom vorbei, um die Tür zu öffnen.
Draußen stand Stephanie in der Dunkelheit, die Arme
um den Oberkörper geschlungen. »Kann ich mit Ihnen reden?«
»Nur eine Minute, sonst schmilzt die Eiscreme«,
beschied Lucy und stieg die Stufen hinunter.
»Ich habe nachgedacht, und wenn Sie mir
versprechen, dass Sie das Material von heute nicht verwenden, dann
glaube ich Ihnen.« Stephanie blickte sie ernst an. »Ich habe Sie
beobachtet. Ich weiß, Sie sind an Hundefutterwerbung gewöhnt, aber
Sie nehmen das hier wirklich ernst. Und Sie wissen, dass das den
Film verdirbt. Sagen Sie mir einfach nur, dass es nie in den Film
hineinkommt, dann bin ich still.«
»Das kann ich leider nicht entscheiden, Stephanie«,
erwiderte Lucy. »Ich bin für die Endfassung nicht zuständig.«
»Wenn Sie denen das Filmmaterial nicht schicken,
dann können sie es nicht hineinschneiden.«
»Wenn ich denen das Filmmaterial nicht schicke,
kann ich auf vier Millionen Dollar verklagt werden. Und das ist
jetzt das letzte Mal, dass ich Ihnen das sage.«
Stephanie blickte sie voll Abscheu an. »Das war’s
dann wohl.«
»Das war es von Anfang an. Geben Sie’s doch auf. Es
wird noch mehr Filme geben.«
»Keinen wie diesen. Wenn Sie diesen Film nicht
retten, dann muss ich es tun. Sie lassen mir keine andere Wahl.«
Sie hob das Kinn und ging davon, wahrscheinlich gratulierte sie
sich selbst zu diesem großartigen Abgang.
Was zum Teufel soll das jetzt
wieder heißen?, fragte sich Lucy. Dann hörte sie Pepper von
drinnen rufen: »Tante Lucy!«, und kehrte zu Kuchen und Eiscreme ins
Wohnmobil zurück.
Gerade hatte sie ihren Löffel in ihren Kuchen
versenkt, da klopfte es an der Tür. »Heiliger Bimbam«, stieß sie
hervor, und während Pepper kicherte, wirbelte sie ihren Drehsessel
herum und ging die Tür öffnen.
Da stand J. T. und öffnete den Mund, um etwas zu
sagen, doch als er sie erblickte, kam kein Ton über seine
Lippen.
»Das ist der Wonder-Woman-Kampfanzug«, erklärte Lucy
schicksalsergeben.
»Ich weiß«, erwiderte er und starrte sie hilflos
an. »Ich war nur nicht darauf vorbereitet.«
»J. T.?« Pepper stand auf und spähte an Lucy
vorbei. »J. T.! Wir haben Kuchen hier!«
»Fantastisch«, erwiderte J. T. und blickte immer
noch Lucy an. »Kuchen.«
»Sie werden sich schon daran gewöhnen«, meinte
Lucy.
»Ich hoffe nicht«, versetzte J. T.
»Na komm, Kleines, lass mich auf deinem Stuhl
sitzen«, kommandierte Gloom, und Pepper stand auf, so dass er auf
ihren Sessel rutschen und sie dann auf seinen Schoß ziehen
konnte.
»Sonst haben wir Kräuterlimo und Käsestangen, aber
heute gibt es Kuchen«, erklärte Pepper J. T., während Lucy sich auf
Glooms Sessel setzte, um J. T. den ihren zu überlassen. »Und Gloom
hat mir eine Wonder-Woman-Barbie
geschenkt!«
»Whoops«, machte J. T.,
während er in den Camper kletterte. »Dann willst du wohl diese hier
gar nicht mehr.« Er überreichte ihr eine Jäx-Comix-Einkaufstüte.
»Eine andere
Wonder-Woman-Barbie«, stotterte Pepper, von ihrem Glück völlig
überwältigt.
»Eine andere?«, fragte Lucy.
»Von Jäx.« J. T. ließ sich in dem Drehsessel
nieder, den sie ihm anbot. »Ich hatte ihn beauftragt, eine zu
besorgen, und er kam mit einer Version für Sammler an. Sagte, es
sei jedenfalls eine Barbie.« Er grinste sie an. »Ich lerne
dazu.«
Lucy konnte nicht anders, sie erwiderte sein
Lächeln. »Na, ein bisschen zusätzliches Training kann nicht
schaden.«
»Sie hat einen blauen
Umhang«, brachte Pepper hervor, und ihr Körper bebte fast vor
Glück.
»Ach ja, und das hier.« J. T. schnallte etwas von
seinem linken Handgelenk ab.
Daisy schüttelte den Kopf. »Sie können ihr nicht
Ihre Uhr schenken.«
»Das ist keine Uhr«, entgegnete J. T. »Das ist ein
Kompass.«
Pepper nahm ihn mit beiden Händen. »Cool! Kann ich den über den Armreifen tragen?«
»Ja«, meinte Lucy. Eine Barbie
und ein Kompass. Und für mich ist er aus einem Helikopter
gesprungen. Ein wirklich guter Kerl.
»Ich zeige dir, wie man ihn benützt«, sagte J. T.
zu Pepper. »Dann kannst du immer wieder nach Hause
zurückfinden.«
Okay, ich gehöre dir,
dachte Lucy und versuchte, desinteressiert dreinzublicken.
Daisy lächelte sie über den Tisch hinweg an.
»Ach, das hätte ich fast vergessen.« Er klopfte auf
seine Jackentasche. »Major LaFavre schickt dir das hier.« Er warf
ein Päckchen auf die Tischplatte, und Pepper riss es auf.
»Oh, cool«, rief sie erneut
und setzte sich eine verspiegelte Fliegersonnenbrille auf.
Insgesamt wirkte sie wie eine sehr patriotische, kleine
Außerirdische. »Passt die zum Kampfanzug?«
»Und wie«, antwortete Lucy.
»Absolut«, bestätigte Gloom.
»Darauf kannst du wetten«, meinte J. T.
»Oh Gott«, hauchte Daisy, und Lucy warf ihr über
den Tisch einen Blick zu und sah sie mit Tränen in den Augen
lächeln. »Du siehst wundervoll aus, Baby.«
J. T. beugte sich näher zu Lucy. »Ihr Haar gefällt
mir, wenn es so offen herunterhängt.«
»Oh«, machte Lucy und gab es auf, desinteressiert
zu wirken.
»Kuchen?«, fragte Gloom J. T. Da klopfte es an der
Wagentür.
»Ich gehe schon.« Lucy erhob sich und versuchte, an
J. T. vorbeizukommen, ohne ihn zu bedrängen, was ihr nicht gelang.
»Entschuldigung«, murmelte sie, während er hinüber in ihren
Drehsessel glitt.
»Das ist echt cool, J. T.«, rief Pepper aus und
verließ Gloom, um auf J. T.s Schoß zu klettern. Sie drehte den
Kompass in die eine, dann in die andere Richtung und versuchte,
Norden zu finden, was durch die Sonnenbrille hindurch
wahrscheinlich noch erheblich schwieriger war. »Weißt du, was
Wonder Woman sagt, wenn sie überrascht
ist?« Pepper blickte zu ihm auf, so dass er sich in ihrer
Sonnenbrille spiegelte.
»Äh …« J. T. warf Lucy einen hilflosen Blick
zu.
Lucy lächelte und öffnete die Tür.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Connor von draußen
mit rauer Stimme, und ihr Lächeln verblasste.
»Bin gleich zurück«, versprach sie Pepper und nahm
noch den grimmigen Ausdruck auf J. T.s Gesicht wahr. Dann stieg sie
die Stufen hinunter in die Dunkelheit. »Das ist Peppers Party«,
informierte sie Connor. »Kann das nicht bis morgen warten?«
»Was macht der hier?«, fragte Connor und blickte in
den Camper. Lucy wandte sich um und sah, was er sah: J. T. mit
Pepper auf dem Schoß, die LaFavres Sonnenbrille trug, und Gloom,
der J. T. einen Teller Kuchen mit Eiscreme reichte, und Daisy, die
ihn über den Tisch hinweg anlachte.
»Wieso ist der da drinnen?«, verlangte Connor zu
wissen.
»Weil Pepper ihn eingeladen hat«, erwiderte Lucy.
»Weil er sie gestern Abend, als du geprobt
hast, aus dem Sumpf gerettet hat und weil er ihr heute einen
Kompass geschenkt hat. Weil er ein guter Kerl ist und sie ihn gern
hat.«
Connor knallte die Wagentür zu, so dass Dunkelheit
sie umgab. »Du wirst ihn jetzt auf der
Stelle los. Der reitet uns hier noch alle in die
Scheiße.«
»Er?« Lucy fühlte, wie Wut
in ihr aufstieg. »Er rettet hier alles. Du bist derjenige, der
Scheiße baut. Du weißt verdammt gut, dass J. T. das Seil nicht
sabotiert hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du das warst. Und deswegen wird er morgen Abend im Helikopter mitfliegen, und nicht
du.«
Nash beugte sich vor. »Der
Stunt morgen ist meiner. Das morgen ist meine Sache.«
»Nein.« Lucy machte einen Schritt auf das Wohnmobil
zu. »J. T. ist der Einzige, von dem ich sicher weiß, dass er das
Seil nicht sabotiert hat, deswegen …«
Nash schlug mit der flachen Hand dicht neben ihrem
Kopf gegen die Wand des Campers, so dicht, dass ihre Ohren
klingelten. Sie erstarrte, als er ihr schwer atmend und ohne die
geringste Entschuldigung in seinem Blick in die Augen sah. »Der
nimmt mir das nicht weg. Und er nimmt mir auch dich nicht weg. Ich habe große
Pläne, Lucy.«
»Ich gehöre nicht zu dir«, entgegnete Lucy ruhig.
»Und ich habe nie zu dir gehört. Jeder Gedanke daran, eventuell zu
dir zurückzukommen, war in dem Moment gestorben, als ich wusste,
was du Daisy angetan hast.« Er fuhr zusammen, und sie fuhr fort:
»Sie hat dir vertraut, und du hast sie so elend gemacht, du machst
alle hier elend, und dem werde ich jetzt einen Riegel
vorschie…«
Er packte sie am Arm und riss sie an sich.
»Autsch«, entfuhr es ihr, und im gleichen Augenblick wurde die Tür
des Campers geöffnet. Sie entwand sich ihm und sah J. T. angespannt
und reglos in der offenen Tür stehen.
»Ihre Eiscreme schmilzt«, sagte er nach einem
langen Augenblick zu Lucy, aber sein Blick war auf Nash
gerichtet.
»Na, das geht aber wirklich nicht«, erwiderte Lucy
und versuchte, unbeschwert zu klingen.
»Ich werde morgen da sein«, sagte Nash zu Lucy.
»Wir sind noch nicht fertig miteinander.«
Lucy ignorierte ihn und stieg die Stufen hinauf in
den Camper. J. T. wich zurück, um sie hereinzulassen.
»Du kriegst ja gar nichts von dem Kuchen, Tante
Lucy«, rief Pepper und starrte dann auf ihren Arm. »Was hast du
da?«
Lucy blickte auf ihren Arm und entdeckte rote
Flecken, wo Nashs Finger sich in ihre Haut gekrallt hatten. »Ach,
nichts. Ist meine Eiscreme schon geschmolzen?«
»Fast«, erwiderte Pepper.
»Dorthin«, sagte J. T. und wies auf den Drehsessel,
den er gerade verlassen hatte. Lucy ließ sich hineinsinken und
legte die Arme um Pepper, als diese ihr auf den Schoß glitt.
J. T. setzte sich in den Sessel neben der
Tür.
Es gefällt mir, auch wenn es
das nicht sollte, dachte sie, dann aß sie ihre Eiscreme und
entspannte sich in der Wärme des Wohnmobils und in der Gesellschaft
der Menschen, die sie liebte, und bemühte sich sehr, so zu tun, als
wäre der nächste Tag ein Tag wie jeder andere.
Wilder verließ das Basislager gegen zehn Uhr,
später als Gloom, aber noch vor Daisy und Pepper. Es war nett da
drin gewesen, auf eine entspannte, freundschaftliche Art nett. Er
und Gloom waren in eine Diskussion über den klassischen großen
Showdown in Western-Filmen geraten, wenn der Gute und der Bösewicht
mitten auf der Straße aufeinandertrafen (»Das ist in der
Wirklichkeit nie passiert«, hatte Wilder behauptet. »Das haben sie
fürs Kino erfunden. Eine völlig idiotische Art zu kämpfen.« Und
Gloom hatte erwidert: »Ist mir egal, ich finde das toll.«), und sie
waren sich einig darüber, dass High Noon
der größte Western aller Zeiten war. Pepper hatte
dazwischengeflötet, dass sie das auch fände, obwohl sich dann
herausstellte, dass es der einzige Western war, den sie je gesehen
hatte. Daisy hatte ihm mitgeteilt, dass von nun an der allseits
bevorzugte Ausruf »Heiliger Bimbam« sei, und Pepper hatte ihm
versichert, dass sie gerne sein Ei sei, und beides brachte ihn
ziemlich durcheinander. Dann erzählte Pepper, dass sie den
Sumpfgeist wieder gesehen habe, diesmal in einem Haus, was ihn
hatte aufmerken lassen, aber sie schien sich nicht so sicher wie
zuvor zu sein, denn all die Wonder-Woman-Sachen lenkten sie ab, deswegen ließ er
es für den Augenblick bleiben. Er konnte sich das Haus auch morgen
noch von ihr zeigen lassen und es vielleicht etwas näher unter die
Lupe nehmen, um nach Anzeichen zu suchen, dass jemand dort gewesen
war.
Es war schwer, sich auf etwas anderes zu
konzentrieren als auf Lucy, die ausgelassen lachte und ihn J. T.
nannte, und er erkannte, dass ihm alles so ziemlich egal war,
solange er Lucy betrachten konnte, wie sie lachte, die Linien der
Anspannung aus ihrem Gesicht verschwanden, ihre Augen strahlten und
ihn anlächelten und ihr dunkles Haar, endlich aus dem Zopf befreit,
über ihre Schultern auf dieses Wonder-Woman-Outfit fiel. Verdammt schön.
Doch als Gloom sich verabschiedet hatte und er der
Einzige war, der nicht diese verrückte Verkleidung trug, dankte er
Pepper für die Einladung und den netten Abend und verabschiedete
sich ebenfalls. Als er wieder allein in der Dunkelheit stand,
empfand er Erleichterung und Bedauern zugleich. Es war einfacher,
allein in der Dunkelheit zu sein, aber Lucy fehlte ihm. Er stellte
sie sich in seinem Jeep vor, auf dem Beifahrersitz, das Hemd offen,
das Wonder-Woman-Outfit darunter, und das
Haar offen im Wind flatternd, während sie auf irgendeiner kleinen
Landstraße nach Süden Richtung Mexiko fuhren, ohne sein Handy mit
den unerwünschten Notrufen der CIA. Durch die Wüste. Niemand in der
Nähe. Die Sonne, die warm auf ihre Gesichter schien. Mit Jimmy
Buffet, dessen Gesang aus der Stereoanlage erklang. Strände, Bars,
Musik, und nur eine Frau. Nur …
Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und er
entdeckte Nash auf der anderen Seite des Parkplatzes, wie er wütend
auf die Tasten seines Handys tippte. Gut,
dachte Wilder und richtete sich darauf ein abzuwarten, bis Nash
verschwand. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, ob es als
Angriff auf Leib und Leben gelten konnte, wenn Nash sich Lucys
Camper noch einmal nähern sollte. Falls er sie anrührte, war er
tot, aber …
Vielleicht sollte er ihn einfach warnen. Der Mann
stand absolut unter Strom, deswegen machte Wilder sich auf das
Schlimmste gefasst, als Nash ihn kommen sah.
»Was zum Teufel wollen Sie?«, knurrte Nash, als
Wilder näher kam.
Wilder konnte Nashs Hände nicht sehen, deswegen
behielt er die seinen dicht an der Seite. Er hörte Nash schnaufen.
Verdammt, der Mann war wegen irgendetwas vollkommen aus dem
Häuschen. »Hab gehört, Sie hätten ein- oder zweimal was für
Blue River erledigt.«
»Zum Teufel mit Ihnen.«
»Brillanter Wortschatz.«
»Was wollen Sie hier überhaupt?«
»Das Gleiche wie alle anderen. Bisschen Geld
verdienen. Bisschen herumvögeln.« Dich
kaltstellen.
Nash machte einen Schritt vorwärts. »Verschwinden
Sie hier.«
Wilder grinste. »Na klar. Das wär’s dann,
ja?«
»Sie haben keine Ahnung, womit Sie’s zu tun
kriegen«, drohte Nash.
»Ach,’ne kleine Ahnung hab ich schon«, entgegnete
Wilder, und seine linke Hand glitt an seinem Körper nach hinten und
zum Griff der Glock. Aber er berührte sie nicht, da gab es die
Regel, und er wusste, dass auch Nash die Regel kannte. Gut, es mit
einem Profi zu tun zu haben. Bryce hätte jetzt schon versucht, ihn
zu umarmen.
Nash hielt seine Hand in der Nähe seines
Spezialhalfters in der Schwebe, und auf dem Gesicht des Australiers
lag ein schiefes Grinsen. »Sie sind dran«, sagte er mit einer
Stimme, die akzentfrei und bar jeden Gefühls war.
Wilder blickte ihm in die Augen und nahm in
Gedanken seine Einschätzung, es lieber mit einem Profi zu tun zu
haben, wieder zurück.
Nash hatte etwas Irres an sich.
Es war ihm offensichtlich immer gelungen, als
geistig normal durchzugehen, aber Wilder hatte schon Augen wie die
seinen gesehen, und es hatte nie gut geendet. Außerdem hatte Nash
wahrscheinlich Tausende von Übungsstunden damit verbracht, diese
verdammte Howitzer zu ziehen und an seiner Technik zu feilen.
Wilder kam in den Sinn, dass er sich bei Gloom entschuldigen
musste: Im Wilden Westen hatte es zwar wahrscheinlich nie einen
Showdown gegeben, dafür aber im Sumpfland, hier und jetzt.
»Zieh«, forderte Nash ihn mit der gleichen
ausdruckslosen Stimme auf. »Ich warte, du Held.«
»Was Sie auch vorhaben …«, begann Wilder, aber dann
sah er, dass Nashs Finger bereits zu spielen begannen.
»Zieh«, wiederholte Nash, und sein Fingerspiel
wurde schneller. Wilder sah seine Augen leicht zucken und wusste,
dass es das Ende war.
Dann bewegte sich jemand hinter ihnen.
Er zog die Glock, aber Nashs Kanone war bereits
draußen, es war das schnellste Ziehen, das Wilder je gesehen hatte,
und sie zielte auf Mary Make-up, die über den Parkplatz ging, mit
hochgezogenen Schultern telefonierte und keinen von ihnen bemerkte.
Nash begegnete für einen Augenblick seinem Blick, dann richteten
sich beide auf und steckten ihre Schießeisen wieder in die Halfter.
Na, sehen wir nicht beide wie die Volltrottel
aus?, dachte Wilder dabei.
»Ziemlich gut, was?«, meinte Nash, und durch den
dicken Akzent klang Stolz. »Schon je erlebt, dass jemand schneller
war als ich?«
»Schnell ist noch lange nicht gut«, versetzte
Wilder. »Fragen Sie die Frauen.«
Nash lachte auf. »Ach, darum geht’s? Um Lucy? Mir
ist Lucy egal, Sie können sie haben.« Seine Augen verdrehten sich
kurz wie bei einem Reptil. »Passen Sie auf, ein Vorschlag, der
Ihnen gefallen wird. Ich gebe Ihnen fünfzigtausend, wenn Sie Lucy
nehmen und heute Nacht noch hier abhauen. Sie und Lucy könnten sich
mit fünfzigtausend eine wirklich schöne Zeit machen.«
Wilder hätte am liebsten wieder nach der Glock
gegriffen. Arrogantes Arschloch – als wäre Lucy etwas, das ihm
gehörte und das er nach Belieben behalten oder verschenken
könnte.
»Das ist doch ein guter Handel, Kumpel«, meinte
Nash.
»Ich bin nicht Ihr Kumpel.«
»Verpissen Sie sich«, erwiderte Nash, und sein
Gesicht verzerrte sich wieder. »Hauen Sie ab nach Bragg. Sie
gehören hier nicht dazu.«
»Und Sie gehören nirgends dazu«, entgegnete Wilder.
»Was ist passiert? Hat die SAS Sie rausgeworfen, weil Sie nur so
tun als ob? Haben die keine Verwendung für den schnellsten Schützen
im ganzen Westen?«
»Ich bin ein echter SAS.«
Nash spie die Worte förmlich aus.
»Sie waren es mal. Jetzt
gehören Sie nicht mehr dazu. Kein Teamgeist. Sie sind nichts als
ein bezahlter Killer, Kumpel.«
»Zum Teufel mit Ihnen.«
Nash bewegte sich vorwärts, und Wilder spannte die Muskeln, da
wurde die Campertür geöffnet, und Lucy kam in Jeans und Hemd
heraus.
»Was tut ihr da, verdammt noch mal?«, herrschte sie
die Männer an, und beide fuhren zurück. »Was immer es ist, vergesst
es. Gloom hat gerade angerufen und gesagt, dass Stephanie auf dem
Highway an ihm vorbeigefahren ist, und zwar in einem Höllentempo,
in Richtung Hotel. In deinem Stunt-Lieferwagen, Connor. Was geht da
vor?«
»In meinem Wagen?«, echote Nash, und seine Augen
verdrehten sich wieder kurz.
Sehr verräterisch, dachte
Wilder und sah, wie Lucy ihre Lippen zusammenpresste; sie hatte es
auch bemerkt.
»Lüg mich nicht an. Was geht da vor?«
Nash zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Der
Stunt-Lieferwagen war weg, als ich ihn holen wollte. Ich wollte Doc
holen und mit ihm danach suchen, aber dann kam Wilder hier …«
»Was ist in dem Lieferwagen?«, fragte Lucy.
»Na, Stunt-Ausrüstung«, erwiderte Nash.
»Requisiten-Schießeisen.«
»Wozu hast du die Requisiten-Schießeisen?«, wollte
Lucy wissen und kam näher.
»Weil ich bei diesem Dreh für die Requisiten
zuständig bin«, antwortete Nash. »Herrgott, Lucy, hör auf, in
Kleinigkeiten rumzustöbern.«
»Dann fange du mal an, im Großen rumzustöbern«,
erwiderte Lucy scharf und wandte sich Wilder zu. »Ich muss sie
finden. Wenn sie das ganze Zeug nimmt und irgendwo ablädt, dann
gibt’s morgen keine Dreharbeiten.«
Wieso dreht Nash dann
eigentlich nicht durch?, fragte sich Wilder, aber er machte nur
eine Kopfbewegung zu seinem Jeep hin. »Kommen Sie, ich
fahre.«
»Einen Augenblick«, wandte Nash ein, aber Lucy
eilte schon auf den Jeep zu. »Ach, beruhigt euch«, rief er hinter
ihnen her. »Lasst sie fahren, sie kommt schon wieder damit
zurück.«
Wilder sprang auf den Fahrersitz und ließ den Motor
an, da rannte Nash hinterher und schwang sich im letzten Augenblick
auf den Rücksitz.
»Ihr übertreibt«, rief er zu den beiden nach
vorne.
»Wohin war sie unterwegs?«, wandte Wilder sich an
Lucy.
»Gloom sagte, dass sie auf die Route 17 gefahren
ist.«
»Lasst sie doch einfach fahren«, beschwor Nash sie,
und Wilder startete in Richtung der Route 17.
Es war eine gute Nacht für Tyler.
Er war in die Stadt gefahren und hatte sich mal
wieder ein gutes Abendessen genehmigt – zum Teufel mit dem Boss, er
würde nicht von warmem Bier und Cheetos allein leben – und ein paar
hübsche Kellnerinnen beäugt, sich dann die DVD mit dieser scharfen
Schauspielerin besorgt und war schließlich rechtzeitig
zurückgekommen, um neue Anweisungen entgegenzunehmen: STUNT-LASTER
STOPPEN – ROUTE 17.
Er summte Warren Zevons »Roland, der kopflose Thompson-Jäger« vor sich hin,
ein Klassiker, den sie in seiner Scharfschützeneinheit im Irak am
liebsten gesungen hatten, bevor sie losmarschierten und ein paar
Köpfe rollen ließen. Währenddessen durchschnitt er den Draht, der
zu den Warnleuchten an der Drehbrücke führte. Er wickelte schwarzes
Elektroklebeband um die Enden und band sie mit einem Gummi
zusammen, um sie später leichter wiederzufinden. Dann ging er auf
der kleinen Straße zur Brücke zurück und atmete die kühle Nachtluft
tief ein, die über das Marschland wehte; er fühlte, wie das Wasser
seinen Neoprenanzug schwer machte.
Er erreichte die Brücke, löste das wasserdichte
Päckchen von seiner Hüfte und zog eine kleine GPS-Suchereinheit
hervor. Er schaltete sie ein und blickte auf den Monitor. Dort
blinkte ein kleiner Punkt, der sich auf dieser Straße fortbewegte,
etwa eine Meile entfernt, und rasch näher kam. Der kleine Sender an
dem Lieferwagen. Er blickte nach Norden und erspähte den Schimmer
eines Lichts.
Alles war bereit.
Tyler wanderte zurück zum nördlichen Ende der
Brücke, über festen Boden, dann kletterte er über die Seitenplanke
und glitt den Hang hinunter, bis er einen festen Standplatz
gefunden hatte, von dem er die Straße nach Norden beobachten
konnte. Jetzt konnte er die Scheinwerfer deutlich erkennen.
Fernlicht. Sie näherten sich sehr schnell. Er zog einen kleinen
Sender hervor und drückte auf den roten Knopf. Unter Kratzen und
Quietschen der Metallzahnräder begann die Brücke sich auf dem
mittleren Pfeiler zu drehen und öffnete sich, ohne dass die
Warnlichter den herankommenden Fahrer warnten.
Tylers Kopf ging hin und her wie bei einem
Tennisspiel, als er abwechselnd die sich immer weiter öffnende
Brücke und den näher kommenden Lieferwagen beobachtete. Er war
schon auf den Beinen und zur Straße unterwegs, als der Wagen mit
voller Geschwindigkeit in den rechten Stahlträger krachte, durch
die eigene Geschwindigkeit mehr als einen Meter den Träger
hinaufglitt, wieder zurückfiel und in der Mitte der Brücke zum
Stehen kam.
Tyler pfiff noch immer, als er über die
Seitenplanke sprang und zu dem Fahrzeug rannte. Bevor er es
erreichte, warf er einen raschen Blick nach Norden und nach Süden,
ob etwa Scheinwerfer auftauchten. Nichts. Er hatte dreißig
Sekunden, schätzte er, um alles sicher zu machen. Er drückte wieder
auf den Knopf, und die Brücke begann, sich in ihre normale Stellung
zurückzudrehen.
Als er den Wagen erreichte, blickte er durch das
vordere Fenster hinein. Der Fahrer war angeschnallt, und der Körper
hing senkrecht im Gurt. Eine Frau. Schwarz gekleidet. Bewusstlos.
Zu schade, dass die kleine Kröte mit dem Feldstecher noch zu jung
zum Fahren war. Er hätte sie wie einen dürren Zweig
zerbrochen.
Tyler griff nach dem Kinn der Frau, drehte ihren
Kopf und prüfte ihren Pulsschlag am Hals. Schwach, aber vorhanden.
Das ferne Geräusch eines Wagens schreckte ihn auf. Er blickte
zurück und sah Scheinwerfer. Er rannte zu der Stelle, wo er den
Draht durchschnitten hatte, zog das schwarze Klebeband ab, verband
die Drähte wieder miteinander und wickelte das Band ringsherum.
Dann kletterte er über das Geländer und glitt in den Savannah
River. Als er oben einen Wagen mit quietschenden Bremsen anhalten
hörte, begann er, mit der Strömung zu schwimmen, weg von dem Wrack
und hin zu seinem warmen Bier und dem Laptop, in den er bereits die
DVD geladen hatte.
Eine verdammt gute Nacht.
Wilder hatte sich bemüht, geschäftsmäßig neutral
zu bleiben, während sie die Route 17 hinunterrasten. Er war dem
Boss behilflich, verloren gegangene Ausrüstung wiederzufinden, das
war alles.
Verstohlen warf er im Mondlicht einen Seitenblick
auf Lucy. Sie starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, und
ihr langes, aus dem Zopf befreites Haar flatterte im Wind, so wie
er es sich vorgestellt hatte, nur dass sie nicht durch die Wüste,
sondern durch das Sumpfland von South Carolina fuhren, und dass
dieser Wichser Nash auf dem Rücksitz saß. Diese
Fantasie muss überarbeitet werden, dachte er.
»Wenn du mir das Ganze nur überlassen würdest«,
beschwor Nash sie.
»Dir überlasse ich nie mehr auch nur das Geringste
von meinen Angelegenheiten«, erwiderte Lucy.
Gut, gut, dachte Wilder und
fühlte sich schon viel besser, was Nash auf dem Rücksitz
betraf.
Im nächsten Augenblick beugte Lucy sich vor und
schrie: »Stopp«, und Wilder sah es im
gleichen Moment: Nashs Lieferwagen stand zerschmettert mitten auf
der Brücke.
»Was zum Teufel?«, rief
Nash aus und klang nun auch wütend.
»Stephanie«, rief Lucy, als
Wilder in letzter Sekunde bremste und der Jeep knapp vor dem
Autowrack zum Stehen kam.
»Mein Wagen«, rief Nash,
dann war Lucy schon aus dem Jeep gesprungen, Wilder auf ihren
Fersen, und hatte Angst vor dem, was sie vorfinden würde.