9
Wilder brauchte acht Minuten bis zu dem Imbiss-Restaurant, und als er eintrat, entdeckte er Crawford in der gleichen Sitznische wie beim ersten Mal. Voraussehbar. Nicht gut bei Undercover-Operationen. Zum Teufel, konnte denn niemand etwas richtig machen?
»Rutschen Sie«, verlangte er.
Crawford blickte erschrocken auf. »Warum?«
Immerhin besser als »Was?«, aber nicht viel. Wilder wies auf die andere Seite des Tisches, und Crawford gab zögernd den Sitzplatz frei, auf dem er mit dem Rücken zur Wand gesessen hatte, und ließ sich gegenüber nieder. Wilder stellte sich vor, dass Crawford das Warum wohl in etwa vier oder fünf Jahren begriffen haben würde.
Wilder setzte sich. »Wen haben Sie im Sumpf postiert?« »In welchem Sumpf?«, fragte Crawford zurück, und sein Gesicht drückte ungespielte Verwirrung aus.
»In dem Sumpf bei der Talmadge-Brücke, in der Nähe des Basislagers der Filmleute. Wer ist da drin?«
»Keiner«, erwiderte Crawford. »Warum sollten wir da jemanden postiert haben?«
Wilder lehnte sich zurück, als die Kellnerin erschien.
»Bier«, bestellte er.
»Das Gleiche noch mal«, sagte Crawford über die Schulter, ohne die Kellnerin anzusehen. Als sie gegangen war, fuhr er eifrig fort: »Wir haben niemanden da im Sumpf, aber ich habe Informationen für Sie. Lucy Armstrong. Sie ist seit über vierzehn Jahren im Filmgewerbe, die letzten zwölf als selbstständige Regisseurin für Werbefilme. Spezialisiert auf Tiere, ist darin ziemlich gut, aber dieses Filmprojekt ist ihr erster Spielfilm. Der bisherige Regisseur, Matthew Lawton, starb vergangenen Freitag. Wir haben das überprüft: Herzanfall, ohne Fremdeinwirkung. Es gibt von keinem von beiden eine Akte.«
Das leuchtete Wilder ein. Von den meisten normalen, gesunden, Apfelkuchen essenden, steuerzahlenden amerikanischen Bürgern gab es keine FBI- oder CIA-Akte. Man musste schon auf deren Überwachungsradar auftauchen, um eine Akte zu bekommen. Armstrong war also nicht auf dem Radarschirm der Regierung. Damit war sie also offiziell in Ordnung, nur dass sie auf Wilders verdammtem Radarschirm war. Er schüttelte den Gedanken ab. »Wenn es von ihr keine Akte gibt, wie haben Sie das alles dann herausgefunden?«
Crawford zwinkerte. »Ich hab’s gegoogelt.«
Herrgott. »Finnegan hat Armstrong heute Morgen angerufen und gedroht, sie zu verklagen, wenn sie den Zeitplan nicht einhält.«
»Könnten Sie die Nummer des Anrufers von ihrem Handy besorgen?«, fragte Crawford.
»Halten Sie Finnegan wirklich für so dumm, dass er über eine nachverfolgbare Verbindung anruft? Oder seine Nummer hinterlässt?« Das würde uns allen wirklich einen Haufen Ärger ersparen, dachte Wilder. Aber die Chancen dafür waren etwa genauso groß wie dafür, dass Finnegan persönlich am Drehort auftauchte.
»Sie haben Recht. Weder Armstrong noch Lawton waren vor dieser Geschichte mit der Nachfinanzierung des Films je in Kontakt mit Finnegan. Wir wissen nicht, ob sie ihn überhaupt je zu Gesicht bekommen haben, und wir glauben auch nicht, dass Finnegan überhaupt in den Staaten ist. Wir haben auch keinen Grund anzunehmen, dass Lawton über Finnegans Hintergrund Bescheid wusste. Wir glauben, dass er einfach das Geld genommen hat, um den Film zu Ende bringen zu können und etwas davon für sich selbst zu behalten.«
Die Kellnerin kam mit ihrem Bier, und Wilder wartete, bis sie wieder gegangen war, dann fragte er: »Und Connor Nash?«
Crawford dachte einen Augenblick stirnrunzelnd nach. »Nash – das ist ein Ausländer, oder?«
»Spricht Australisch, das ist fast wie Englisch, aber etwas anders.«
»Was?«
Wilder holte tief Luft und wartete.
Crawford zog seinen PDA hervor. Wilder fragte sich, wo dieses elektronische Notizbuch bei ihrem ersten Treffen gesteckt hatte. »Lassen Sie mich nachsehen. Wir haben die Mitglieder der Filmcrew auf Personen überprüft, die nicht Bürger der Vereinigten Staaten sind. Ich meine, das FBI hat das getan. Seit dem 11. September ist es Standard, die …«
Wilder konnte auf eine Ansprache darüber verzichten, was der 11. September im Land alles an Durcheinander angerichtet hatte. »Was haben Sie über Nash?«
»Hier haben wir’s. Nicht viel. Australier, wie Sie gesagt haben. Reiste in den letzten acht Jahren häufig in die Staaten ein und aus.«
»Wohin geht er, wenn er das Land verlässt?«
»Hmm, wir haben drei Flüge nach Australien. Einen nach Deutschland.« Crawford blickte mit schmalen Augen auf das Mini-Display. »Hmm, das ist seltsam. Er war viermal im Irak. Immer sechzig Tage lang, hat für eine Firma namens Blue River gearbeitet, was immer das ist.«
Wilder richtete sich auf. »›Blue River‹ ist eine Sicherheitsund Überwachungsfirma.« Er kannte viele Männer, die in diesem mörderischen Land, in dem alles drunter und drüber ging, für solche Firmen gearbeitet hatten. Im Vergleich zu den chaotischen Verhältnissen dort wirkte sogar die Filmcrew hier wie eine gut geölte Maschine. »Nash hat für die den Revolverhelden gegeben. Was noch?«
»Den Revolverhelden?«, fragte Crawford, und Wilder dachte: Der ist noch nie aus dem Land gekommen, wenn er das nicht kennt. Was für ein Milchbubi.
»Nach dem zweiten Golfkrieg sind neue Firmen nur so aus dem Boden geschossen und haben einen Haufen Geld an den Aufträgen, die ihnen von der amerikanischen Regierung zugeschanzt wurden, verdient. Und für die Sicherheit sorgten meistens Privatfirmen. Mit schwer bewaffneten Typen. Angemietete Revolverhelden: Söldner.«
»Aha.« Crawford sah aus, als würde er das vorsichtshalber für später speichern, und Wilder fühlte sich allmählich wie ein Ausbilder für das erste CIA-Ausbildungsjahr. Crawford tippte weiter mit spitzem Stift aufs Display. »Nash war in Australien in der Armee. Sieben Jahre als Unteroffizier.«
Auch darüber wunderte Wilder sich nicht. Es war ihm seit ihrer ersten Begegnung klar gewesen, dass Nash gedient hatte. »In welcher Abteilung?«
»Irgendetwas namens SAS.«
Wilder erstarrte. »›Special Air Service‹. Wer wagt, gewinnt.«
»Was?«
»Wer wagt, gewinnt. Das ist das Kampfmotto der SAS. Sie sind praktisch das australische Gegenstück zu den ›Special Forces‹ in den USA. Wurden als australische Ausgabe der britischen SAS gegründet. Gegen die Bösen und für die Guten.« In den ersten Tagen des zweiten Golfkrieges war er froh gewesen, sie an seiner Seite zu haben. Weniger froh war er nun, da er vielleicht einen von ihnen am Set gegen sich hatte. Verflucht, dachte er. Connor Nash.
»Steht dort, was seine Spezialität war?«
»Waffen. Sprengmittel.«
Verdammt. Und zu erwarten. In der SAS hatten sie ausnahmslos Top-Profis. »Sonst noch was?«
Crawford nahm einen vorsichtigen Schluck von seinem Bier, als würde ihn das Gebräu andernfalls attackieren. »In den letzten zwölf Jahren hat Nash an vierzehn Filmen mitgearbeitet. Dieser Film hier ist sein zweiter mit Armstrong. Was bedeutet, dass die beiden unter einer Decke stecken könnten.«
»Nein.« Wilder überlegte. Nash arbeitete also zwischen den einzelnen Filmaufträgen für Blue River. Das machte Sinn. Mit seinem SAS-Background konnte er einen Haufen Geld machen. In sechzig Tagen konnte er genug verdienen, um übers Jahr zu kommen, wenn er nicht allzu aufwendig lebte. Dann kam noch seine Gage für die Filmarbeiten hinzu, allerdings hatte Wilder keine Ahnung, wie viel man als Stunt-Koordinator so einstreichen konnte. Bei diesen Filmarbeiten hier schienen sie nicht gerade im Luxus zu leben. »Hat Nash irgendwann mal etwas Zeit in Irland verbracht, wo er Finnegan hätte kennen lernen können?«
»Da gibt’s keine Aufzeichnungen.«
»Und was ist mit Mexiko? War Nash zufällig da unten, als Finnegan geschnappt wurde?«
»Nein.«
Es herrschte eine ganze Weile Schweigen, während Wilder nachdachte und versuchte, eine Verbindung zwischen Nash und Finnegan zu finden. Schließlich räusperte sich Crawford nervös. »Finnegan hat nach Saddams Sturz ein paar Dinge im Irak gedreht.«
Bingo, dachte Wilder. »Das hätten Sie mir gleich zu Anfang sagen sollen, verdammt. Soll das hier eine Schnitzeljagd sein?«
»Es ist mir selbst erst jetzt aufgefallen«, verteidigte sich Crawford. »Ich meine, ich habe die Akten gelesen, aber da waren so viele Informationen, dass ich die Möglichkeit übersehen habe, dass Finnegan und Nash sich dort kennen gelernt haben könnten.«
Wilder schüttelte den Kopf. »Alles wäre möglich gewesen nach dem Fall Bagdads. Die Armee hatte geplant, sechs Divisionen einzusetzen, aber die Politiker haben ihnen bei dem Angriff von Norden einen Strich durch die Rechnung gemacht, und es waren dann nur zwei und eine halbe Division. Freies Feld für Aasgeier wie Finnegan, die dann auch in Scharen dort einfielen und sich alles unter die Nägel rissen, was Profit versprach.« Er hob sein Bierglas. »Haben Sie ein Foto von Finnegan?«
»Vor achtzehn Jahren aufgenommen.« Crawford zog ein Bild aus seiner Manteltasche, und wieder blitzte dabei sein Revolver kurz hervor. Er reichte es Wilder, der nahm es und betrachtete seinen Gegner: ein stämmiger, gut aussehender Mann mit weißem Haar und blauen Augen mit durchbohrendem Blick, in einem wahrhaft schrecklichen Hawaiihemd.
Wilder war beeindruckt. Der Junge hatte gut daran getan, diese Spur herunterzuspielen und die Spur des alten Regisseurs zu verfolgen. Natürlich musste er eine gewisse Schläue besitzen; die CIA hatte ihn wahrscheinlich aus einer der Elite-Unis rekrutiert, wo man es nie zugelassen hätte, dass Wilder sich für einen Studienplatz interessierte, geschweige denn, dass er ihn bekommen hätte.
Crawford lehnte sich zurück, so dass sein Jackett sich öffnete und sein Revolver wieder sichtbar wurde. »Sie wundern sich wahrscheinlich über meinen Revolver.«
Nicht wirklich.
»Er gehörte meinem Dad.«
Himmel noch mal. Wilder berührte mit der Hand sein leeres Bierglas und machte der Kellnerin ein Zeichen mit zwei Fingern. Es herrschte Schweigen, bis sie kam und wieder ging.
»Er war Polizist«, fuhr Crawford fort, hob sein Bier an und nahm einen großen Schluck. »Er war Polizist und hat sich dann bei der Verfolgungsjagd nach einem Verbrecher das Knie ruiniert. Er wurde mit einem Viertel seines Gehalts in Pension geschickt, aber das hat nicht gereicht, um die Familie zu ernähren. Deswegen hat er noch als Wachmann in einem Supermarkt gearbeitet.«
Wilder wollte fort. Da war Lucy Armstrong, um die Nash herumstrich, und Finnegan lauerte im Hinterhalt und wusch sein Geld für beschissene Terroristen, und dann der Geist im Sumpf … Er schnitt Crawford bei dessen Lebensgeschichte das Wort ab. »Könnte vielleicht Finnegan jemanden im Sumpf postiert haben?«
Crawford blickte angesichts der Unterbrechung enttäuscht drein. »Wie kommen Sie darauf, dass da jemand ist?«
»Ich habe es heute gespürt. Da war ein fremdes Geräusch.«
Crawford schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich irgendein Fischer oder Jäger.«
»Nein«, entgegnete Wilder. Er schätzte, dass es bei Crawford wohl nicht gut ankommen würde, wenn er ihm von Peppers Sumpfgeist erzählte. »Da war etwas ziemlich Böses. Was verheimlichen Sie mir?«
Crawford erstarrte und versuchte dann, es mit einem Schulterzucken abzutun. »Nichts. Ich sage Ihnen, nichts.«
»Arschloch«, erwiderte Wilder und schob seinen Stuhl zurück. »Wegen Ihrem Mann ist beinahe ein kleines Mädchen umgekommen …«
»Nein, nein«, rief Crawford. »Wir haben ganz ehrlich niemanden im Sumpf.«
»Was ist es dann?«
Crawford zögerte. Da erhob sich Wilder und beugte sich über den CIA-Agenten.
»Warten Sie«, Crawford schluckte. »Als Finnegan in Mexiko geschnappt wurde, hatte er diese Kunstgegenstände im Auftrag gekauft. Für einen Russen namens Simon Letsky.«
»Das hört sich nicht russisch an.«
»Ein russischer Jude. Bekannt als der Schlaue Don.«
Ach, Scheiße, dachte Wilder und setzte sich wieder. Warum konnte es nicht der Dumme Don sein?
»Von Letsky heißt es, dass er im organisierten Verbrechen in Russland so ziemlich der mächtigste Boss ist. Meine Informationsquelle konnte mir nicht allzu viel erzählen, aber anscheinend gilt Letsky bei vielen Insidern als ein wirklich übler Bursche. Finnegan hat die Jadestücke für ihn gestohlen.«
Wilder warf einen Blick auf den weißhaarigen, lächelnden Iren auf dem Foto. Du Arschloch, du hast dich da ganz schön in die Tinte geritten, was? »Und Letsky war sicher nicht sehr glücklich darüber, dass seine Fünfzig-Millionen-Dollar-Viagraladung beschlagnahmt wurde.«
»Nein.«
Wilder versuchte, sich die Konsequenzen vorzustellen, aber zum Teufel, er war nur einer von den Special Forces, kein Polizist. »Und Sie glauben, dass Finnegan jetzt mit Hilfe des Films Geld wäscht, um es Letsky zurückzuzahlen?«
Crawford zuckte die Schultern. »Das wäre nur logisch.«
»Nein, gar nicht. Vier Millionen kommen nicht entfernt an die fünfzig Millionen heran, die Letsky bezahlt hat.«
»Ich kann auch rechnen«, versetzte Crawford beleidigt. »Aber Letsky hat höchstwahrscheinlich nicht die ganze Summe im Voraus bezahlt. Wahrscheinlich nur so viel, damit Finnegan die Jade beschaffen konnte. Den Rest hätte er dann bei Übergabe bezahlt. Tja, das ist alles. Das ist alles, was ich weiß. Ich verheimliche Ihnen nicht das Geringste mehr, das schwöre ich.«
Wilder gab es auf. Er stand auf, schob das Foto kopfschüttelnd in seine Tasche und ging.
Als er draußen auf dem Gehsteig stand, blickte er durch das Fenster noch einmal hinein. Crawford hatte sich wieder auf seinen alten Platz gesetzt, so dass er Richtung Tür blickte, und auf seinem Gesicht lag fast ein Lächeln.
Wilder stutzte. Warum grinste Crawford? Irgendetwas war ihm entgangen, das fühlte er. Wieder schüttelte er den Kopf und ging zu seinem Jeep. Es war schon spät, und er wollte ein wenig Schlaf bekommen, bevor sich die nächste Katastrophe anbahnte.
Mit Crawford als Verantwortlichem musste es dazu kommen.
 
Am folgenden Nachmittag begegnete Lucy Daisy erst, als sie am Rande des Wildparks aus dem Pendlerbus stieg.
»Na, wie geht’s dir heute?«, fragte sie. »So weit in Ordnung?«
Daisy nickte, noch immer etwas wackelig. »Ich glaube, das Heulen hat mir gutgetan. Na ja, das Heulen und du. Danke, dass du mich schon wieder rettest.«
Lucy wartete auf ein Lächeln, aber es kam nicht. »Na ja, das ist mein Job, Daise. Und was die Tabletten betrifft …«
»Ich habe heute keine genommen«, schnitt Daisy ihr müde das Wort ab. »Ich habe gedacht, du bist ja hier, dann brauche ich sie vielleicht nicht. Ich lade dir einfach mal wieder alles auf die Schultern, keine Sorge.« Es klang bitter, fast zornig, aber dann kam letztendlich doch noch ein Lächeln, wenn auch schwach, und sie fuhr fort: »Und wo steckt deine Geheimwaffe?«
Lucy wies mit dem Kinn zur Straßenseite hinüber, wo Bryce deutlich seine Begeisterung darüber anzusehen war, dass er die gleiche Kleidung trug wie Wilder. Der wirkte alles andere als begeistert, vor allem über die Kopie von Bryce’ Messer, die er über die Brust geschnallt trug. Allerdings war Wilder so sehr ein echter Kämpfer, dass an ihm selbst das Messer fast passend wirkte.
»Die Schwellung in Bryce’ Gesicht ist zurückgegangen, das ist also kein Problem. Wir können anfangen zu drehen. Wie geht’s Pepper?«
»Auf dem Weg zum Catering«, erwiderte Daisy mit schwindendem Lächeln. »Tante Lucy braucht ihre Äpfel, und Stephanie ist eine absolute Niete in ihrem Job.«
»Stephanie ist wegen irgendetwas fuchsteufelswild«, meinte Lucy und schüttelte resigniert den Kopf darüber, dass ihre Assistentin sie hasste. »Sie trampelt herum und schnauzt die Leute an. Aber das ist ja nichts Neues.« Sie blickte sich nach Pepper um und sah sie nicht. »Pepper ist doch nicht wieder …«
»In den Sumpf gegangen? Nein.« Daisys Stimme klang sicher. »Und das wird sie ohne J. T. auch nie mehr tun. Sie hatte wirklich eine Heidenangst dort draußen, bis er kam und sie rettete. Sie sagt, sie ist jetzt J. T.s Ei, was ich nicht kapiere, aber solange es sie vom Sumpf fernhält, soll’s mir recht sein.« Sie blickte Lucy an. »Mit dieser Wonder-Woman-Verkleidung hast du wirklich ins Schwarze getroffen. Sie hat es nur deswegen nicht über Nacht im Bett anbehalten, weil ich ihr sagte, dass sie es dann heute nicht anziehen könnte. Sie legte es ordentlich auf den Stuhl neben ihrem Bett und ließ es nicht aus den Augen, bis sie eingeschlafen war. Eine gute Tat, Tante Lucy.«
»Na dann«, versetzte Lucy und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Wilder zu, der in seiner Verkleidung schlank und zäh wirkte; Bryce neben ihm in haargenau der gleichen Kleidung sah aus, als wollte er auf Halloween-Tour gehen.
»Also sind sie noch immer Kumpel?«, bemerkte Daisy, die ebenfalls zu ihnen hinblickte. »Sogar nach der Geschichte mit Althea?«
Lucy schüttelte den Kopf voll Staunen über das Rätsel, das sich »Mann« nannte. »Ich schätze mal, Bryce weiß nicht, dass Rambo Bambi flachgelegt hat. Außerdem hat Rambo bei dieser Kneipenschlägerei Bryce’ Arsch gerettet, also muss Bryce ihn dafür mögen.«
»J. T. hat gestern viele Leute gerettet«, stellte Daisy fest.
»Ein verdammter Held«, stimmte Lucy zu und versuchte, die Wärme aus ihrer Stimme herauszuhalten. Gott sei Dank war Gloom im Augenblick zu beschäftigt, um ihr mit Bonnie-Tyler-Gesumme auf die Nerven zu gehen. Themawechsel. Sie wies mit dem Kinn zu der langen, geraden Straße vor ihnen hinüber, die in den Savannah-Wildpark führte und jetzt von Darstellern und Filmtechnikern bevölkert war – einer von ihnen versorgte Finnegan mit Informationen. »Toller Drehort. Keine Bäume, die den Helikopter aufspießen könnten, und wir müssen nichts bezahlen, um sie für den Verkehr sperren zu lassen.«
»Tja«, meinte Daisy, »toller Ort für J. T., um aus einem Helikopter zu fallen.«
»Na ja, wenigstens hält ihn das von Bars fern«, erwiderte Lucy. »Mir gefällt das gar nicht, wie es zu dieser Schlägerei gekommen ist.«
Daisy zuckte die Schultern. »Ein paar alte Jungs, die auch mal harte Jungs sein und einen berühmten Schauspieler verprügeln wollten.«
»So berühmt ist Bryce auch wieder nicht. Außerdem ist er Komiker. Das ist, als würde man einen Clown in den Hintern treten.«
»Sehr verlockend«, versetzte Daisy.
Lucy grinste sie an. »Dir geht’s wirklich wieder besser.«
»Ja«, seufzte Daisy. »Hör mal, ich habe gestern vielleicht ein bisschen überreagiert, mit diesem Weinkrampf …«
»Nur weil deine Kleine in einem Sumpf voll Alligatoren verloren gegangen ist?« Lucy schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen, das war absolut nicht verwunderlich.«
»Ich hab Crafty nicht gefunden«, verkündete Pepper hinter ihnen. Lucy drehte sich um und erblickte sie, wie sie frustriert in ihrer mit blauen und weißen Sternen besetzten Unterwäsche angelaufen kam, den Feldstecher um den Hals gehängt. »Ich wollte dir Äpfel holen und dann nach meinem Geist Ausschau halten, aber ich finde Crafty nicht.«
»Da drüben, Schatz.« Lucy wies mit dem Kinn hinüber zu dem Fast-Food-Büfett, das abseits von den Kameras aufgebaut war.
»Super«, rief Pepper aus und machte sich dorthin auf den Weg.
»Keine Süßigkeiten«, rief Daisy ihr hinterher. »Nur Obst.« Kopfschüttelnd setzte sie sich in Bewegung, hinter ihrer Tochter her. Noch lächelnd drehte Lucy sich wieder um und fand sich Connor gegenüber.
»Ist sie in Ordnung?«, fragte er mit einer Geste zu Pepper. In seinem Gesicht stand echte Sorge. »Ich habe heute Morgen erfahren …«
»Wo warst du gestern Abend?«, fragte Lucy und hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Er hatte Daisy mit Drogen versorgt, der verdammte Mistkerl.
»Proben mit Karen«, antwortete er, aus der Fassung gebracht. »Du weißt doch, die Helikopterpilotin.«
»Ich weiß«, blaffte Lucy.
Nash blickte sie stirnrunzelnd an. »Verdammt, Lucy, wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, dass Pepper in Schwierigkeiten steckte …«
»Was hast du geprobt?«
»Na, diesen Stunt.« Er grinste sie an. »Hey, wenn du wissen willst, was ich tue, dann musst du eben dichter an mir dranbleiben.«
Er mochte ja mit Karen zusammen gewesen sein, aber er hatte nicht geprobt, dachte Lucy. Deswegen war Stephanie auch in derart mörderischer Laune. Sie blickte an ihm vorbei zu Wilder, der in jeder Hinsicht das reine Gegenteil von Connor war. »So viel will ich gar nicht von dir wissen«, sagte sie und ließ ihn stehen. Verblüfft blickte er ihr nach.
 
Wilder hatte einen nervenzermürbenden Nachmittag hinter sich. Erstens war da Bryce’ Schusswaffe. Es war eine Stunt-Waffe, und dennoch machte die Art, wie Bryce sie hielt, Wilder nervös. Zweitens Wilders Kleidung: Er war aufs Haar genauso gekleidet wie Bryce, in diesem dämlichen Tigerstreifen-Tarnanzug, mit dem Gewebegurt und der originalgetreuen Kopie dieses verdammten Messers quer über der Brust, und kam sich vor wie ein Idiot. Und drittens war da Armstrong auf der anderen Straßenseite, die mit Daisy sprach und fast wie Wonder Woman aussah, abgesehen von diesem langen, dunklen Haarzopf, der ihr über den Rücken herabhing. Wenn er jemals nah genug an sie herankam, würde er ihr Haar aus diesem Zopf befreien …
»Wie soll ich dieses Ding denn halten?«, fragte Bryce und betrachtete seine Schusswaffe stirnrunzelnd.
Wilder seufzte. »Passen Sie auf.« Er streckte eine Hand nach der Maschinenpistole aus. Bryce gab die Waffe zögernd ab, und Wilder nahm die MP-5 mit beiden Händen. Es war eine deutsche Waffe, die Waffe der Wahl für alle Antiterroreinheiten auf der Welt, die gleiche, die auch Wilder in der Nähe versteckt hielt. Nur dass die seine wirklich funktionierte. Aus dem Augenwinkel konnte Wilder sehen, dass Nash sie beobachtete.
Wilder entfernte das Magazin und kontrollierte dann die Kammer. Die Kugeln waren Platzpatronen, und in der Trommel saß ein Adapter für Platzpatronen. Er überprüfte, ob der Adapter gesichert war, denn auch er konnte sich als tödliches Geschoss erweisen, wenn er durch den Rückstoß der Platzpatronen abgeschossen wurde. Um ganz sicher zu sein, kniete Wilder sich hin und drückte die dreißig Kugeln mit dem Daumen rasch aus dem Magazin in eine Schachtel, um zu sehen, ob wirklich jede einzelne eine Platzpatrone war. Dann begann er, sie wieder zu laden.
»Was tun Sie da?«, fragte Bryce.
»Mich überzeugen, dass auch niemand verletzt werden kann, vor allem Sie nicht.«
Bryce nickte. »Das ist gut. Ich erinnere mich noch, dass einmal bei Dreharbeiten einer umgekommen ist. Wissen Sie, Bruce Lees Junge.«
Wilder erinnerte sich, davon gelesen zu haben. Die Stunt-Waffe hatte eine Fehlfunktion gehabt. »Das wird hier nicht passieren. Nash hat alles richtig gemacht.«
»Vielen Dank, verdammt«, knurrte Nash hinter ihnen. Er blickte auf die Waffe in Wilders Händen. »Zufrieden?«
»Ich mach nur meinen Job.«
»Ich auch. Und ich mache das schon verdammt viel länger als Sie. Pfuschen Sie mir gefälligst nicht ins Handwerk, wenn ich schon alles vorbereitet habe.«
Wilder nickte, warf einen Blick zu Armstrong hinüber und sah, dass sie sie beide beobachtete. Sie wandte den Kopf ab, und er dachte: Hau ab, Nash. Weit weg. Der Irak wäre gut. Oder Afghanistan. Oder Pluto.
Nash blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Sind Sie dann alle so weit? Oder müssen Sie erst noch zu einer Kneipenschlägerei?«
»Ich möchte im Helikopter mit dabei sein«, erklärte Bryce und hob herausfordernd sein Kinn. Wilder vergaß Armstrong, um sich auf diese neue Katastrophe zu konzentrieren.
»Sie werden mit im Helikopter sein«, erwiderte Nash. »Für die Einstellung am Boden, sobald wir den Vogel nach den in der Luft gedrehten Einstellungen landen. Es wird so aussehen, als seien Sie noch in der Luft, keine Sorge.«
»Nein«, beharrte Bryce. »Ich will beim ersten Teil mitmachen. Wo er sich dem Auto nähert. Die Sequenz mit der Kufe, vor dem Absprung.«
Wilder stöhnte innerlich auf.
»Nein«, beschied Nash im Befehlston.
Das ist ein klares Wort, dachte Wilder. Nicht, dass es etwas nützen wird.
Bryce zeigte wieder diesen sturen Maulesel-Blick. Sein Gesicht bekam hektische Flecken. »Es ist eine Einstellung bei Tageslicht, also sollte ich das selbst machen. Die Zuschauer müssen mich auch mal in Action sehen, sonst glauben sie nicht, dass ich ein Actionheld bin. Und das kann ich. Bei der Schlägerei habe ich auch meinen Mann gestanden. Fragen Sie doch J. T.«
Nash blickte ihn mit einer hochgezogenen Braue an.
»Bryce hat sich nicht gedrückt«, gab Wilder wahrheitsgemäß zu. Er ist mir in die Quere gekommen, aber er hat sich nicht gedrückt.
»Lucy wird das nie …«, begann Nash, aber Bryce schnitt ihm das Wort ab.
»Dann sagen Sie es ihr eben nicht, bis es vorbei ist. Schließlich bin ich hier der Star.«
Nash blickte Wilder an. Er war blass vor Wut, aber er kämpfte darum, sich unter Kontrolle zu behalten. »Bestätigen Sie, dass er dazu in der Lage ist? Können Sie garantieren, dass er sich dabei nicht verletzt?«
»Nein«, antwortete Wilder.
»Ich steige mit in diesen Helikopter ein«, wiederholte Bryce stur, »und ich werde selbst auf dieser Kufe stehen, wie ein echter Actionheld.« Er verbesserte sich: »Ich bin ein echter Actionheld.«
»Äh, Bryce«, begann Wilder.
»Und wenn ich diesen Stunt nicht selbst machen darf« – Bryce richtete sich kerzengerade auf -, »dann könnte es sein, dass ich mich so sehr aufrege, dass ich eine ganze Weile lang nicht mehr drehen kann. Vielleicht bis nächste Woche nicht. Das würde Sie mehr als die Versicherung kosten.«
»Verflucht«, brach es jetzt wild aus Nash heraus.
»Es wird Ihnen außerdem Helikopter-Zeit ersparen«, fuhr Bryce fort. »Weil Sie ihn nicht hierbehalten müssen, um meine Einstellungen am Boden zu drehen, denn die sind dann schon im Kasten.«
»Hören Sie, Bryce«, versuchte Nash es in einem vollkommen anderen, fast bettelnden Ton. »Wir haben das doch schon fix im Storyboard, und …«
»Entweder ich stehe auf der Helikopterkufe, oder die Dreharbeiten sind für diese Woche zu Ende.«
»Lucy wird fuchsteufelswild sein«, meinte Nash.
»Aber ich bin der Star.«
Wilder seufzte. Er hatte ein solch stures Verhalten schon früher erlebt. Ein Drei-Sterne-General war mal nach Afghanistan gekommen und hatte auf die gleiche Art absurd dumme Dinge verlangt. Wilder hatte sich damals versucht gefühlt, eine Handgranate auf ihn zu werfen.
Nash blickte drein, als wollte er am liebsten selbst eine oder zwei Handgranaten werfen. »Verflucht, was soll’s. Es ist Ihr Arsch.« Er stapfte davon, wobei er sein Handy hervorzog.
»Dann packen wir’s an«, meinte Bryce, und seine Stimme klang tiefer, nun, da er sich als echter Macho fühlte.
Wilder ignorierte ihn und legte den Kopf schief, weil ein vertrautes Geräusch an seine Ohren drang, das einen Adrenalinstoß durch seinen Körper jagte. Heimkehrender Helikopter. Es ist doch nur ein Film, erinnerte Wilder sich selbst, aber es half nichts. Der Beginn eines Einsatzes oder das Herausgeholtwerden bei Ende eines Einsatzes, das bedeutete Helikoptergeknatter für ihn.
»Gehen wir«, knurrte G. I. Bryce, als ein viersitziger Bell Jet Ranger mit abmontierten Türen auf dem Boden aufsetzte.
Wilder folgte ihm zu dem Helikopter. Als sie in der Maschine waren, beugte er sich zur Pilotin vor, was ohne die Türen einfacher war. Bryce hatte vor Tagen, als er sie ihm gezeigt hatte, gesagt, dass sie Karen Roeburn hieß. Eine zäh wirkende Brünette in einem Fliegeranzug der Armee. Seine zweite Exfrau war immer in der gleichen Kleidung nach Hause gekommen, nach Treibstoff riechend.
Wilder tippte der Pilotin auf die Schulter, und sie wandte sich zu ihm um und klappte ihre Brille hoch.
»Ich bin Wilder«, schrie er über den Lärm der Rotoren hinweg.
»Ich weiß«, schrie sie zurück. »Captain. J. T. Regierungsangelegenheiten.«
»Bryce will heute, wenn wir in der Luft sind, selbst auf der Kufe stehen, halten Sie also die Maschine schön tief und ruhig.«
Ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm, was sie davon hielt. »Ich nehme Befehle von Nash entgegen, nicht von Ihnen.«
»Na klar.« Er setzte sich zurück und beobachtete, dass sie ein Hand-GPS programmierte. Sie hatte das tragbare Positioniersystem neben sich befestigt. Das kam ihm seltsam vor; schließlich war dieser Platz hier bei Tageslicht nicht schwer zu finden.
»Was tun Sie da?« Wilder bemühte sich, den Lärm zu überschreien.
Einen Augenblick lang blickte sie erschrocken drein. »Orientierungsstellen festlegen.«
»Warum?«
Sie starrte ihn an. »Sind Sie Pilot?«
»Nein, aber …«
»Dann lassen Sie mich meinen Job machen.«
Junge, Junge, wie empfindlich die alle waren, dachte Wilder. Schließlich war das hier kein Kampfeinsatz.
Bryce ließ sich auf dem rechten vorderen Sitz nieder und versuchte, sich lässig zu geben, aber er war blass um die Nase. Schließlich kam auch Nash und setzte sich auf den hinteren Sitz neben Wilder, den Ausrüstungssack zu seinen Fü ßen. »Los geht’s, Karen«, schrie er und tätschelte ihr die Schulter. Mit einem leichten Beben hob der Helikopter ab. Als der Boden unter ihnen zurückwich, wurde Bryce noch bleicher.
Wilder beugte sich vor und tippte ihm auf die Schulter. »Schnallen Sie sich an.«
Der Schauspieler schrak bei der Berührung zusammen, dann nickte er. Mit zitternden Händen fummelte er mit den Gurten herum, und schließlich gelang es ihm, den Schließriegel in das Schloss zu schieben. Wilder hoffte, dass er mit Frauen geschickter war als mit Sicherheitsgurten.
»Wir sind in der Luft«, sprach Nash in sein Kopfhörer-Mikrofon, was, wie Wilder vermutete, Teil einer Routineprozedur bei den Dreharbeiten war, denn jeder Idiot im Umkreis von mehreren Meilen hätte das auch so erkannt.
Er sah zu, wie Nash die Schusswaffe für Bryce’ große Szene bereit machte. Hoffentlich war ein Kotzbeutel dabei. Bryce sah aus, als würde er bald einen brauchen.
Nash klinkte ein dünnes Stahlseil in den Schnappverschluss an der Rückseite von Bryce’ verborgenem Brustgeschirr ein und legte das zwei Meter fünfzig lange Stahlseil aus, um zu prüfen, ob keine Verschlingungen darin waren. Dabei achtete er darauf, dass das Seil in dem Helikopter an keinem Vorsprung hängen bleiben konnte. Er wirkte routiniert und professionell. Wilder entspannte sich ein wenig.
Dann löste Nash das knapp zwei Meter lange, aufgewickelte Kletterseil, das am anderen Ende des Stahlseils befestigt war, und klinkte das Stahlseil direkt in einer Befestigungsöse am Boden des Helikopters ein, und Wilders Muskeln spannten sich wieder.
Das war nicht in Ordnung. Das Nylon-Kletterseil dehnte sich unter Belastung und diente so als Puffer für das Stahlseil. Ohne das Kletterseil gab das Stahlseil im Zweifelsfall kein bisschen nach. Wenn Bryce von der Kufe stürzte, würde ihn das Stahlseil davor bewahren, auf der Straße zu zerschmettern, aber bei dem plötzlichen Ruck, mit dem ihn das Seil auffinge, könnte er sich die Wirbelsäule brechen. Wilder hatte das Sicherheitsgeschirr auf der Brücke gesehen, und dieses hier war anders. Dafür gab es aber keinen Grund.
Nash stopfte das aufgewickelte Kletterseil in seinen Ausrüstungssack zurück. Wilder legte eine Hand auf den Beutel und näherte sich Nashs Gesicht, dann schrie er über den Rotorlärm hinweg: »Was tun Sie da?«
Nash starrte ihn an. »Bryce will sich unbedingt selbst auf die Kufen stellen«, schrie er zurück. »Er sollte in jedem Augenblick drei Kontaktpunkte zum Helikopter haben. Das Halteseil ist nur zur Sicherheit.«
Bryce blickte über die Schulter zurück. »Was ist los?« Seine Stimme wurde fast von dem Geräusch der Rotorblätter verschluckt, und sein Gesicht schimmerte eindeutig grünlich.
Wilder machte ihm ein Okay-Zeichen mit erhobenem Daumen und wandte sich wieder Nash zu. »Warum haben Sie das Kletterseil weggenommen?«
»Er braucht es nicht.«
»Es gehört doch mit zur Stunt-Ausrüstung, oder?«
»Ja, aber wir wollen es nicht im Film haben, und außerdem ist das noch mal ein Meter Falllänge mehr, und ich will nicht, dass er auf dem Boden entlangschleift, wenn er fällt.«
»Worum geht’s denn, Jungs?«, schrie Bryce. »J. T.?«
Es klang ängstlich. Verdammt, dachte Wilder. Was spielte Nash da für Spielchen? »Alles in Ordnung«, schrie er Bryce zu. »Wir sind gleich so weit.« Er versuchte, Nash den Ausrüstungssack aus den Händen zu zerren, aber der Stunt-Koordinator ließ nicht los.
»Sie machen das Nylonseil wieder fest«, schrie Wilder.
»Es ist mein Stunt
Nash starrte ihn an, und Wilder hielt seinem Blick stand. Na komm schon, warte nicht, bis ich’s dir wegnehme. Mach das Seil wieder fest.
Nash wandte den Blick ab, hinaus zum Horizont. »Na gut. Na gut.« Er nahm das Kletterseil wieder aus der Tasche und hakte es ein. Dann beugte er sich vor und tippte Bryce auf die Schulter. »Sie können sich immer noch von Wilder doubeln lassen«, schrie er.
Bryce’ Gesicht war bleich und feucht, aber er schüttelte den Kopf.
Wilder beugte seinen Kopf zu den beiden vor. »Wirklich, das ist ein Klacks, Bryce. Ich weiß nicht mehr, aus wie vielen Maschinen ich schon gesprungen bin. Gehört bei mir zum Alltag.«
Bryce schluckte, als er durch die offene Tür zum Boden hinunterblickte. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Wilder kannte diesen Gesichtsausdruck von damals, als er Fallschirmspringer-Neulinge ausgebildet hatte. Bryce hatte Angst, aber er war fest entschlossen, es zu tun. Wilder warf Nash einen Blick zu. Der sah nicht gerade begeistert drein.
»Sitzgurt lösen«, wies Nash an.
Wilder sah zu, wie Bryce an der Schnalle fummelte, und erkannte, dass die Hände des Schauspielers jetzt stark zitterten. Sollte wohl lieber bei den Komödien bleiben.
Wilder warf einen prüfenden Blick nach draußen. Sie waren der Straße schon eine halbe Meile gefolgt, und das Auto fuhr kaum mehr als drei Meter vor ihnen. Der Kamerawagen befand sich ungefähr fünfzehn Meter voraus. Die Straße verlief vollkommen gerade. Es sollte eigentlich einfach sein.
Nash schrie Bryce zu: »Okay, Kumpel, Füße auf die Kufe.«
Bryce wandte sich der offenen Tür zu und schob vorsichtig die Füße hinaus. Er tastete blind nach der Kufe und versuchte hinunterzublicken.
»Schauen Sie zum Horizont«, schrie Wilder. Er deutete über Bryce’ Schulter hinweg. »Schauen Sie auf diese beiden Türme.« Er beobachtete Bryce wachsam, während dieser sich aus der Tür schob, und achtete aus den Augenwinkeln auf ihre Position zu dem Stunt-Auto. Althea blickte über die Schulter zu ihnen hinauf. Vielleicht war sie ja beeindruckt davon, dass Bryce selbst auf der Kufe stand, und würde sich wieder für sein Bett entscheiden.
Nash steckte den Kopf aus der hinteren Tür, um rasch zu überblicken, wo sich Bryce’ Füße befanden. Wilder widerstand der Versuchung, ihm einen Stoß zu geben, schließlich hatte er kein Brustgeschirr angelegt.
»Okay, Kumpel«, schrie Nash Bryce zu. »Stellen Sie sich mit dem ganzen Gewicht auf die Füße. Keine Sorge, das Sicherheitsseil hält Sie schon fest. Und der Vogel fliegt ganz ruhig. Okay, Karen?«
»Roger«, erwiderte die Pilotin.
»Jetzt zielen Sie mit der Kanone auf das Auto«, schrie Nash.
Wilder beobachtete, wie Bryce ungeschickt versuchte, die Maschinenpistole in Position zu bringen, aber ganz offensichtlich konzentrierte sich der Schauspieler mehr auf die Hand, mit der er sich am Türrahmen festhielt, als auf die, mit der er die MP-5 gepackt hielt. Nun ja, trotzdem gestand er ihm ein paar Punkte zu, weil er es überhaupt versuchte. Bryce mochte ja ein Idiot sein, aber ein Feigling war er nicht. »Sieht gut aus, Bryce«, schrie er und setzte sich zurück.
Es würde ein langer Nachmittag werden.
 
Unten am Boden hatte Lucy die Sanitäter unter die Lupe genommen, die, an ihren Ambulanzwagen gelehnt, am Ende der Straße warteten. Sie wollte sicher sein, dass Connor einen echten Sanitätsdienst organisiert hatte, und nicht irgendeinen billigen Ersatz, um Geld zu sparen. Beruhigt kehrte sie zurück und setzte sich hinter die Monitore neben Daisy und Pepper, die beide mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel blickten.
»Ist J. T. in dem Helikopter da?«, fragte Pepper und überreichte Lucy einen Apfel.
»Klar«, erwiderte Lucy und nahm den Apfel entgegen. »Danke. Das wird schon klappen, Pepper. Er ist wahrscheinlich schon aus Hunderten von Helikoptern gesprungen …«
»Schöner Tag für eine Katastrophe«, meinte Gloom, der sich auf Lucys anderer Seite niederließ.
Daisy grinste ihn an, und Lucy fühlte sich besser als während der letzten zwei Tage seit ihrer Ankunft hier. Mission erfüllt, dachte sie, während sie in ihren Apfel biss. Oder zumindest würde es so sein, sobald sie Daisy übermorgen von hier fortgebracht hatte.
»Hallo, Gloom«, trällerte Pepper.
»Hallo, Peppermint. Wieder mal einen kleinen Spaziergang gemacht?«
»Nein«, antwortete Pepper. »Ich bleibe nur hier und sehe J. T. zu und suche nach meinem Geist.«
»Also gut, dann los.« Lucy nahm ihr Kopfhörer-Mikro-Set auf. »Wie läuft’s da draußen?«, fragte sie zu Gloom gewandt.
»Frag mich, wenn die Stunts vorbei sind«, erwiderte Gloom.
Über ihnen bewegte Wilder sich vorsichtig auf die Kufe hinaus und klammerte sich dabei fest, so gut er konnte, während der Wind an seinen Tigerstreifen zerrte.
»Komisch«, meinte Gloom, der ebenfalls hinaufblinzelte. »Ich hätte gedacht, dass er verwegener wirkt.«
»Versuche du mal, auf einer Helikopterkufe verwegen zu wirken«, entgegnete Lucy, aber auch sie war enttäuscht. Von unten gesehen, signalisierte Wilders Körpersprache ziemlich eindeutig: »Ich hab eine Scheißangst.« So viel zu ihrer Geheimwaffe.
Na ja, am Boden wirkte er trotzdem eindrucksvoll.
»Vielleicht tut er nur besonders vorsichtig«, meinte Daisy zweifelnd.
»Wir sind bereit«, kam Connors Stimme über die Kopfhörer.
Gloom stand auf. »Es geht los«, rief er der Crew zu. »Achtung.«
»Kamera ab«, rief Lucy und lauschte der Antwort von der Crew: »Kamera läuft.«
»Klappe, die erste«, rief der Mann mit der Klappe und ließ sie vor der Kamera mit einem scharfen Knall zufallen.
»Action«, rief Lucy und beobachtete auf dem Monitor den Helikopter mit Wilder, der steif auf der Kufe stand. Sie ließ ihren halb gegessenen Apfel auf die Tischplatte sinken. Es ist nicht gefährlich, er hängt ja an der Sicherheitsleine …
»Tag, Ma’am«, sprach jemand hinter ihr mit dem typisch schleppenden, leicht französisch gefärbten Louisiana-Akzent. Lucy fuhr herum und sah einen großen, gut aussehenden Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der eine PilotenSonnenbrille und eine abgetragene lederne Fliegerjacke trug. Er schwenkte seine zerknautschte Pilotenkappe vor ihr. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, das wusste sie, aber im Moment fiel ihr nicht ein, wo.
»Coole Sonnenbrille!«, rief Pepper.
»Gloom.« Lucy blickte wieder auf den Monitor, und Gloom wandte sich ihnen zu. »Wir haben einen ungebetenen Gast.«
»Vielen, vielen Dank, Chérie«, sagte der Mann zu Pepper. »Und darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass du da heute ein todschickes Gewand trägst?«
Pepper strich ihren Wonder-Woman-Kampfanzug glatt und strahlte ihn an, und dann nickte er Lucy zu, während Gloom sich erhob, um ihn loszuwerden. »Ich dachte nur, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo ich Captain J. T. Wilder finde.«
Gloom sank wieder auf seinen Stuhl zurück.
»Oder falls nicht«, fuhr der Cajun fort, »dann vielleicht eine freundliche Schauspielerin, die dringend einen Begleiter sucht. Sie selbst sind wohl keine freundliche Schauspielerin, oder, Chérie?«
»Nein. Ich bin die Regisseurin, und wir drehen im Augenblick gerade eine Szene.« Lucy starrte weiter auf den Monitor, wo Wilder auf der Kufe eindeutig kläglich wirkte. Er sollte lieber auf dem Erdboden bleiben, dachte sie. Auf festem Boden ist er so gut.
»Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte der Mann. »Ich bin René LaFavre, J. T. Wilders Waffenbruder.«
»Du bist ein Freund von J. T.?«, fragte Pepper entzückt. »Ich auch!«
»Ja, J. T. sucht sich seine Freunde immer sehr gut aus«, stellte LaFavre fest und lächelte sie an.
»Ja«, stimmte Pepper zu. »Möchtest du auch heute Abend zu meiner Party kommen?«
LaFavre legte eine Hand auf sein Herz. »Tragischerweise habe ich schon eine Verabredung.«
»Mr. LaFavre«, sagte Lucy und starrte zu dem Helikopter auf, an den Wilder sich jetzt starr vor Furcht klammerte.
»Es heißt Major LaFavre, Chérie, aber Sie dürfen mich René nennen.«
»Danke, René. Captain Wilder steht da oben auf der Helikopterkufe.«
LaFavre blickte hinauf. »Das glaube ich weniger.«
Lucy blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem Helikopter hinüber, der langsam näher kam, dann wieder auf den Monitor. »Gloom«, begann sie, und ihre Stimme schraubte sich höher, »das sieht nicht wie Wilder aus, da auf der Kufe.« Wieder blickte sie zum Helikopter hinüber, während der sich weiter näherte.
»Das ist nicht Wilder«, stellte Lucy fest und erhob sich. »Das ist Bryce. Connor«, schrie sie in ihr Mikrofon. »Was zur Hölle tut Bryce da oben auf der Kufe?«