9
Wilder brauchte acht Minuten bis zu dem
Imbiss-Restaurant, und als er eintrat, entdeckte er Crawford in der
gleichen Sitznische wie beim ersten Mal. Voraussehbar. Nicht gut
bei Undercover-Operationen. Zum Teufel, konnte denn niemand etwas
richtig machen?
»Rutschen Sie«, verlangte er.
Crawford blickte erschrocken auf. »Warum?«
Immerhin besser als »Was?«, aber nicht viel. Wilder
wies auf die andere Seite des Tisches, und Crawford gab zögernd den
Sitzplatz frei, auf dem er mit dem Rücken zur Wand gesessen hatte,
und ließ sich gegenüber nieder. Wilder stellte sich vor, dass
Crawford das Warum wohl in etwa vier oder fünf Jahren begriffen
haben würde.
Wilder setzte sich. »Wen haben Sie im Sumpf
postiert?« »In welchem Sumpf?«, fragte Crawford zurück, und sein
Gesicht drückte ungespielte Verwirrung aus.
»In dem Sumpf bei der Talmadge-Brücke, in der Nähe
des Basislagers der Filmleute. Wer ist da drin?«
»Keiner«, erwiderte Crawford. »Warum sollten wir da
jemanden postiert haben?«
Wilder lehnte sich zurück, als die Kellnerin
erschien.
»Bier«, bestellte er.
»Das Gleiche noch mal«, sagte Crawford über die
Schulter, ohne die Kellnerin anzusehen. Als sie gegangen war, fuhr
er eifrig fort: »Wir haben niemanden da im Sumpf, aber ich habe
Informationen für Sie. Lucy Armstrong. Sie ist seit über vierzehn
Jahren im Filmgewerbe, die letzten zwölf als selbstständige
Regisseurin für Werbefilme. Spezialisiert auf Tiere, ist darin
ziemlich gut, aber dieses Filmprojekt ist ihr erster Spielfilm. Der
bisherige Regisseur, Matthew Lawton, starb vergangenen Freitag. Wir
haben das überprüft: Herzanfall, ohne Fremdeinwirkung. Es gibt von
keinem von beiden eine Akte.«
Das leuchtete Wilder ein. Von den meisten normalen,
gesunden, Apfelkuchen essenden, steuerzahlenden amerikanischen
Bürgern gab es keine FBI- oder CIA-Akte. Man musste schon auf deren
Überwachungsradar auftauchen, um eine Akte zu bekommen. Armstrong
war also nicht auf dem Radarschirm der Regierung. Damit war sie
also offiziell in Ordnung, nur dass sie auf Wilders verdammtem
Radarschirm war. Er schüttelte den Gedanken ab. »Wenn es von ihr
keine Akte gibt, wie haben Sie das alles dann
herausgefunden?«
Crawford zwinkerte. »Ich hab’s gegoogelt.«
Herrgott. »Finnegan hat Armstrong heute Morgen
angerufen und gedroht, sie zu verklagen, wenn sie den Zeitplan
nicht einhält.«
»Könnten Sie die Nummer des Anrufers von ihrem
Handy besorgen?«, fragte Crawford.
»Halten Sie Finnegan wirklich für so dumm, dass er
über eine nachverfolgbare Verbindung anruft? Oder seine Nummer
hinterlässt?« Das würde uns allen wirklich
einen Haufen Ärger ersparen, dachte Wilder. Aber die Chancen dafür
waren etwa genauso groß wie dafür, dass Finnegan persönlich am
Drehort auftauchte.
»Sie haben Recht. Weder Armstrong noch Lawton waren
vor dieser Geschichte mit der Nachfinanzierung des Films je in
Kontakt mit Finnegan. Wir wissen nicht, ob sie ihn überhaupt je zu
Gesicht bekommen haben, und wir glauben auch nicht, dass Finnegan
überhaupt in den Staaten ist. Wir haben auch keinen Grund
anzunehmen, dass Lawton über Finnegans Hintergrund Bescheid wusste.
Wir glauben, dass er einfach das Geld genommen hat, um den Film zu
Ende bringen zu können und etwas davon für sich selbst zu
behalten.«
Die Kellnerin kam mit ihrem Bier, und Wilder
wartete, bis sie wieder gegangen war, dann fragte er: »Und Connor
Nash?«
Crawford dachte einen Augenblick stirnrunzelnd
nach. »Nash – das ist ein Ausländer, oder?«
»Spricht Australisch, das ist fast wie Englisch,
aber etwas anders.«
»Was?«
Wilder holte tief Luft und wartete.
Crawford zog seinen PDA hervor. Wilder fragte sich,
wo dieses elektronische Notizbuch bei ihrem ersten Treffen gesteckt
hatte. »Lassen Sie mich nachsehen. Wir haben die Mitglieder der
Filmcrew auf Personen überprüft, die nicht Bürger der Vereinigten
Staaten sind. Ich meine, das FBI hat das getan. Seit dem 11.
September ist es Standard, die …«
Wilder konnte auf eine Ansprache darüber
verzichten, was der 11. September im Land alles an Durcheinander
angerichtet hatte. »Was haben Sie über Nash?«
»Hier haben wir’s. Nicht viel. Australier, wie Sie
gesagt haben. Reiste in den letzten acht Jahren häufig in die
Staaten ein und aus.«
»Wohin geht er, wenn er das Land verlässt?«
»Hmm, wir haben drei Flüge nach Australien. Einen
nach Deutschland.« Crawford blickte mit schmalen Augen auf das
Mini-Display. »Hmm, das ist seltsam. Er war viermal im Irak. Immer
sechzig Tage lang, hat für eine Firma namens Blue River gearbeitet, was immer das ist.«
Wilder richtete sich auf. »›Blue River‹ ist eine Sicherheitsund
Überwachungsfirma.« Er kannte viele Männer, die in diesem
mörderischen Land, in dem alles drunter und drüber ging, für solche
Firmen gearbeitet hatten. Im Vergleich zu den chaotischen
Verhältnissen dort wirkte sogar die Filmcrew hier wie eine gut
geölte Maschine. »Nash hat für die den Revolverhelden gegeben. Was
noch?«
»Den Revolverhelden?«, fragte Crawford, und Wilder
dachte: Der ist noch nie aus dem Land gekommen,
wenn er das nicht kennt. Was für ein Milchbubi.
»Nach dem zweiten Golfkrieg sind neue Firmen nur so
aus dem Boden geschossen und haben einen Haufen Geld an den
Aufträgen, die ihnen von der amerikanischen Regierung zugeschanzt
wurden, verdient. Und für die Sicherheit sorgten meistens
Privatfirmen. Mit schwer bewaffneten Typen. Angemietete
Revolverhelden: Söldner.«
»Aha.« Crawford sah aus, als würde er das
vorsichtshalber für später speichern, und Wilder fühlte sich
allmählich wie ein Ausbilder für das erste CIA-Ausbildungsjahr.
Crawford tippte weiter mit spitzem Stift aufs Display. »Nash war in
Australien in der Armee. Sieben Jahre als Unteroffizier.«
Auch darüber wunderte Wilder sich nicht. Es war ihm
seit ihrer ersten Begegnung klar gewesen, dass Nash gedient hatte.
»In welcher Abteilung?«
»Irgendetwas namens SAS.«
Wilder erstarrte. »›Special Air
Service‹. Wer wagt, gewinnt.«
»Was?«
»Wer wagt, gewinnt. Das ist das Kampfmotto der SAS.
Sie sind praktisch das australische Gegenstück zu den ›Special Forces‹ in den USA. Wurden als australische
Ausgabe der britischen SAS gegründet. Gegen die Bösen und für die
Guten.« In den ersten Tagen des zweiten Golfkrieges war er froh
gewesen, sie an seiner Seite zu haben. Weniger froh war er nun, da
er vielleicht einen von ihnen am Set gegen sich hatte. Verflucht, dachte er. Connor
Nash.
»Steht dort, was seine Spezialität war?«
»Waffen. Sprengmittel.«
Verdammt. Und zu erwarten. In der SAS hatten sie
ausnahmslos Top-Profis. »Sonst noch was?«
Crawford nahm einen vorsichtigen Schluck von seinem
Bier, als würde ihn das Gebräu andernfalls attackieren. »In den
letzten zwölf Jahren hat Nash an vierzehn Filmen mitgearbeitet.
Dieser Film hier ist sein zweiter mit Armstrong. Was bedeutet, dass
die beiden unter einer Decke stecken könnten.«
»Nein.« Wilder überlegte. Nash arbeitete also
zwischen den einzelnen Filmaufträgen für Blue
River. Das machte Sinn. Mit seinem SAS-Background konnte er
einen Haufen Geld machen. In sechzig Tagen konnte er genug
verdienen, um übers Jahr zu kommen, wenn er nicht allzu aufwendig
lebte. Dann kam noch seine Gage für die Filmarbeiten hinzu,
allerdings hatte Wilder keine Ahnung, wie viel man als
Stunt-Koordinator so einstreichen konnte. Bei diesen Filmarbeiten
hier schienen sie nicht gerade im Luxus zu leben. »Hat Nash
irgendwann mal etwas Zeit in Irland verbracht, wo er Finnegan hätte
kennen lernen können?«
»Da gibt’s keine Aufzeichnungen.«
»Und was ist mit Mexiko? War Nash zufällig da
unten, als Finnegan geschnappt wurde?«
»Nein.«
Es herrschte eine ganze Weile Schweigen, während
Wilder nachdachte und versuchte, eine Verbindung zwischen Nash und
Finnegan zu finden. Schließlich räusperte sich Crawford nervös.
»Finnegan hat nach Saddams Sturz ein paar Dinge im Irak
gedreht.«
Bingo, dachte Wilder. »Das
hätten Sie mir gleich zu Anfang sagen sollen, verdammt. Soll das
hier eine Schnitzeljagd sein?«
»Es ist mir selbst erst jetzt aufgefallen«,
verteidigte sich Crawford. »Ich meine, ich habe die Akten gelesen,
aber da waren so viele Informationen, dass ich die Möglichkeit
übersehen habe, dass Finnegan und Nash sich dort kennen gelernt
haben könnten.«
Wilder schüttelte den Kopf. »Alles wäre möglich
gewesen nach dem Fall Bagdads. Die Armee hatte geplant, sechs
Divisionen einzusetzen, aber die Politiker haben ihnen bei dem
Angriff von Norden einen Strich durch die Rechnung gemacht, und es
waren dann nur zwei und eine halbe Division. Freies Feld für
Aasgeier wie Finnegan, die dann auch in Scharen dort einfielen und
sich alles unter die Nägel rissen, was Profit versprach.« Er hob
sein Bierglas. »Haben Sie ein Foto von Finnegan?«
»Vor achtzehn Jahren aufgenommen.« Crawford zog ein
Bild aus seiner Manteltasche, und wieder blitzte dabei sein
Revolver kurz hervor. Er reichte es Wilder, der nahm es und
betrachtete seinen Gegner: ein stämmiger, gut aussehender Mann mit
weißem Haar und blauen Augen mit durchbohrendem Blick, in einem
wahrhaft schrecklichen Hawaiihemd.
Wilder war beeindruckt. Der Junge hatte gut daran
getan, diese Spur herunterzuspielen und die Spur des alten
Regisseurs zu verfolgen. Natürlich musste er eine gewisse Schläue
besitzen; die CIA hatte ihn wahrscheinlich aus einer der Elite-Unis
rekrutiert, wo man es nie zugelassen hätte, dass Wilder sich für
einen Studienplatz interessierte, geschweige denn, dass er ihn
bekommen hätte.
Crawford lehnte sich zurück, so dass sein Jackett
sich öffnete und sein Revolver wieder sichtbar wurde. »Sie wundern
sich wahrscheinlich über meinen Revolver.«
Nicht wirklich.
»Er gehörte meinem Dad.«
Himmel noch mal. Wilder
berührte mit der Hand sein leeres Bierglas und machte der Kellnerin
ein Zeichen mit zwei Fingern. Es herrschte Schweigen, bis sie kam
und wieder ging.
»Er war Polizist«, fuhr Crawford fort, hob sein
Bier an und nahm einen großen Schluck. »Er war Polizist und hat
sich dann bei der Verfolgungsjagd nach einem Verbrecher das Knie
ruiniert. Er wurde mit einem Viertel seines Gehalts in Pension
geschickt, aber das hat nicht gereicht, um die Familie zu ernähren.
Deswegen hat er noch als Wachmann in einem Supermarkt
gearbeitet.«
Wilder wollte fort. Da war Lucy Armstrong, um die
Nash herumstrich, und Finnegan lauerte im Hinterhalt und wusch sein
Geld für beschissene Terroristen, und dann der Geist im Sumpf … Er
schnitt Crawford bei dessen Lebensgeschichte das Wort ab. »Könnte
vielleicht Finnegan jemanden im Sumpf postiert haben?«
Crawford blickte angesichts der Unterbrechung
enttäuscht drein. »Wie kommen Sie darauf, dass da jemand
ist?«
»Ich habe es heute gespürt. Da war ein fremdes
Geräusch.«
Crawford schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich
irgendein Fischer oder Jäger.«
»Nein«, entgegnete Wilder. Er schätzte, dass es bei
Crawford wohl nicht gut ankommen würde, wenn er ihm von Peppers
Sumpfgeist erzählte. »Da war etwas ziemlich Böses. Was
verheimlichen Sie mir?«
Crawford erstarrte und versuchte dann, es mit einem
Schulterzucken abzutun. »Nichts. Ich sage Ihnen, nichts.«
»Arschloch«, erwiderte Wilder und schob seinen
Stuhl zurück. »Wegen Ihrem Mann ist beinahe ein kleines Mädchen
umgekommen …«
»Nein, nein«, rief Crawford. »Wir haben ganz
ehrlich niemanden im Sumpf.«
»Was ist es dann?«
Crawford zögerte. Da erhob sich Wilder und beugte
sich über den CIA-Agenten.
»Warten Sie«, Crawford schluckte. »Als Finnegan in
Mexiko geschnappt wurde, hatte er diese Kunstgegenstände im Auftrag
gekauft. Für einen Russen namens Simon Letsky.«
»Das hört sich nicht russisch an.«
»Ein russischer Jude. Bekannt als der Schlaue
Don.«
Ach, Scheiße, dachte Wilder
und setzte sich wieder. Warum konnte es nicht der Dumme Don
sein?
»Von Letsky heißt es, dass er im organisierten
Verbrechen in Russland so ziemlich der mächtigste Boss ist. Meine
Informationsquelle konnte mir nicht allzu viel erzählen, aber
anscheinend gilt Letsky bei vielen Insidern als ein wirklich übler
Bursche. Finnegan hat die Jadestücke für ihn gestohlen.«
Wilder warf einen Blick auf den weißhaarigen,
lächelnden Iren auf dem Foto. Du Arschloch, du
hast dich da ganz schön in die Tinte geritten, was? »Und Letsky
war sicher nicht sehr glücklich darüber, dass seine
Fünfzig-Millionen-Dollar-Viagraladung beschlagnahmt wurde.«
»Nein.«
Wilder versuchte, sich die Konsequenzen
vorzustellen, aber zum Teufel, er war nur einer von den Special Forces, kein Polizist. »Und Sie glauben,
dass Finnegan jetzt mit Hilfe des Films Geld wäscht, um es Letsky
zurückzuzahlen?«
Crawford zuckte die Schultern. »Das wäre nur
logisch.«
»Nein, gar nicht. Vier Millionen kommen nicht
entfernt an die fünfzig Millionen heran, die Letsky bezahlt
hat.«
»Ich kann auch rechnen«, versetzte Crawford
beleidigt. »Aber Letsky hat höchstwahrscheinlich nicht die ganze
Summe im Voraus bezahlt. Wahrscheinlich nur so viel, damit Finnegan
die Jade beschaffen konnte. Den Rest hätte er dann bei Übergabe
bezahlt. Tja, das ist alles. Das ist alles, was ich weiß. Ich
verheimliche Ihnen nicht das Geringste mehr, das schwöre
ich.«
Wilder gab es auf. Er stand auf, schob das Foto
kopfschüttelnd in seine Tasche und ging.
Als er draußen auf dem Gehsteig stand, blickte er
durch das Fenster noch einmal hinein. Crawford hatte sich wieder
auf seinen alten Platz gesetzt, so dass er Richtung Tür blickte,
und auf seinem Gesicht lag fast ein Lächeln.
Wilder stutzte. Warum grinste Crawford? Irgendetwas
war ihm entgangen, das fühlte er. Wieder schüttelte er den Kopf und
ging zu seinem Jeep. Es war schon spät, und er wollte ein wenig
Schlaf bekommen, bevor sich die nächste Katastrophe anbahnte.
Mit Crawford als Verantwortlichem musste es dazu
kommen.
Am folgenden Nachmittag begegnete Lucy Daisy
erst, als sie am Rande des Wildparks aus dem Pendlerbus
stieg.
»Na, wie geht’s dir heute?«, fragte sie. »So weit
in Ordnung?«
Daisy nickte, noch immer etwas wackelig. »Ich
glaube, das Heulen hat mir gutgetan. Na ja, das Heulen und du.
Danke, dass du mich schon wieder rettest.«
Lucy wartete auf ein Lächeln, aber es kam nicht.
»Na ja, das ist mein Job, Daise. Und was die Tabletten betrifft
…«
»Ich habe heute keine genommen«, schnitt Daisy ihr
müde das Wort ab. »Ich habe gedacht, du bist ja hier, dann brauche
ich sie vielleicht nicht. Ich lade dir einfach mal wieder alles auf
die Schultern, keine Sorge.« Es klang bitter, fast zornig, aber
dann kam letztendlich doch noch ein Lächeln, wenn auch schwach, und
sie fuhr fort: »Und wo steckt deine Geheimwaffe?«
Lucy wies mit dem Kinn zur Straßenseite hinüber, wo
Bryce deutlich seine Begeisterung darüber anzusehen war, dass er
die gleiche Kleidung trug wie Wilder. Der wirkte alles andere als
begeistert, vor allem über die Kopie von Bryce’ Messer, die er über
die Brust geschnallt trug. Allerdings war Wilder so sehr ein echter
Kämpfer, dass an ihm selbst das Messer fast passend wirkte.
»Die Schwellung in Bryce’ Gesicht ist
zurückgegangen, das ist also kein Problem. Wir können anfangen zu
drehen. Wie geht’s Pepper?«
»Auf dem Weg zum Catering«, erwiderte Daisy mit
schwindendem Lächeln. »Tante Lucy braucht ihre Äpfel, und Stephanie
ist eine absolute Niete in ihrem Job.«
»Stephanie ist wegen irgendetwas fuchsteufelswild«,
meinte Lucy und schüttelte resigniert den Kopf darüber, dass ihre
Assistentin sie hasste. »Sie trampelt herum und schnauzt die Leute
an. Aber das ist ja nichts Neues.« Sie blickte sich nach Pepper um
und sah sie nicht. »Pepper ist doch nicht wieder …«
»In den Sumpf gegangen? Nein.« Daisys Stimme klang
sicher. »Und das wird sie ohne J. T. auch nie mehr tun. Sie hatte
wirklich eine Heidenangst dort draußen, bis er kam und sie rettete.
Sie sagt, sie ist jetzt J. T.s Ei, was ich nicht kapiere, aber
solange es sie vom Sumpf fernhält, soll’s mir recht sein.« Sie
blickte Lucy an. »Mit dieser Wonder-Woman-Verkleidung hast du wirklich ins
Schwarze getroffen. Sie hat es nur deswegen nicht über Nacht im
Bett anbehalten, weil ich ihr sagte, dass sie es dann heute nicht
anziehen könnte. Sie legte es ordentlich auf den Stuhl neben ihrem
Bett und ließ es nicht aus den Augen, bis sie eingeschlafen war.
Eine gute Tat, Tante Lucy.«
»Na dann«, versetzte Lucy und wandte ihre
Aufmerksamkeit wieder Wilder zu, der in seiner Verkleidung schlank
und zäh wirkte; Bryce neben ihm in haargenau der gleichen Kleidung
sah aus, als wollte er auf Halloween-Tour gehen.
»Also sind sie noch immer Kumpel?«, bemerkte Daisy,
die ebenfalls zu ihnen hinblickte. »Sogar nach der Geschichte mit
Althea?«
Lucy schüttelte den Kopf voll Staunen über das
Rätsel, das sich »Mann« nannte. »Ich schätze mal, Bryce weiß nicht,
dass Rambo Bambi flachgelegt hat. Außerdem hat Rambo bei dieser
Kneipenschlägerei Bryce’ Arsch gerettet, also muss Bryce ihn dafür
mögen.«
»J. T. hat gestern viele Leute gerettet«, stellte
Daisy fest.
»Ein verdammter Held«, stimmte Lucy zu und
versuchte, die Wärme aus ihrer Stimme herauszuhalten. Gott sei Dank
war Gloom im Augenblick zu beschäftigt, um ihr mit
Bonnie-Tyler-Gesumme auf die Nerven zu gehen. Themawechsel. Sie wies mit dem Kinn zu der langen,
geraden Straße vor ihnen hinüber, die in den Savannah-Wildpark
führte und jetzt von Darstellern und Filmtechnikern bevölkert war –
einer von ihnen versorgte Finnegan mit Informationen. »Toller
Drehort. Keine Bäume, die den Helikopter aufspießen könnten, und
wir müssen nichts bezahlen, um sie für den Verkehr sperren zu
lassen.«
»Tja«, meinte Daisy, »toller Ort für J. T., um aus
einem Helikopter zu fallen.«
»Na ja, wenigstens hält ihn das von Bars fern«,
erwiderte Lucy. »Mir gefällt das gar nicht, wie es zu dieser
Schlägerei gekommen ist.«
Daisy zuckte die Schultern. »Ein paar alte Jungs,
die auch mal harte Jungs sein und einen berühmten Schauspieler
verprügeln wollten.«
»So berühmt ist Bryce auch wieder nicht. Außerdem
ist er Komiker. Das ist, als würde man einen Clown in den Hintern
treten.«
»Sehr verlockend«, versetzte Daisy.
Lucy grinste sie an. »Dir geht’s wirklich wieder besser.«
»Ja«, seufzte Daisy. »Hör mal, ich habe gestern
vielleicht ein bisschen überreagiert, mit diesem Weinkrampf
…«
»Nur weil deine Kleine in einem Sumpf voll
Alligatoren verloren gegangen ist?« Lucy schüttelte den Kopf. »Ich
würde sagen, das war absolut nicht verwunderlich.«
»Ich hab Crafty nicht gefunden«, verkündete Pepper
hinter ihnen. Lucy drehte sich um und erblickte sie, wie sie
frustriert in ihrer mit blauen und weißen Sternen besetzten
Unterwäsche angelaufen kam, den Feldstecher um den Hals gehängt.
»Ich wollte dir Äpfel holen und dann nach meinem Geist Ausschau
halten, aber ich finde Crafty nicht.«
»Da drüben, Schatz.« Lucy wies mit dem Kinn hinüber
zu dem Fast-Food-Büfett, das abseits von den Kameras aufgebaut
war.
»Super«, rief Pepper aus und machte sich dorthin
auf den Weg.
»Keine Süßigkeiten«, rief Daisy ihr hinterher. »Nur
Obst.« Kopfschüttelnd setzte sie sich in Bewegung, hinter ihrer
Tochter her. Noch lächelnd drehte Lucy sich wieder um und fand sich
Connor gegenüber.
»Ist sie in Ordnung?«, fragte er mit einer Geste zu
Pepper. In seinem Gesicht stand echte Sorge. »Ich habe heute Morgen
erfahren …«
»Wo warst du gestern Abend?«, fragte Lucy und hätte
ihn am liebsten geohrfeigt. Er hatte Daisy mit Drogen versorgt, der
verdammte Mistkerl.
»Proben mit Karen«, antwortete er, aus der Fassung
gebracht. »Du weißt doch, die Helikopterpilotin.«
»Ich weiß«, blaffte Lucy.
Nash blickte sie stirnrunzelnd an. »Verdammt, Lucy,
wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, dass Pepper in Schwierigkeiten
steckte …«
»Was hast du geprobt?«
»Na, diesen Stunt.« Er grinste sie an. »Hey, wenn
du wissen willst, was ich tue, dann musst du eben dichter an mir
dranbleiben.«
Er mochte ja mit Karen zusammen gewesen sein, aber
er hatte nicht geprobt, dachte Lucy. Deswegen war Stephanie auch in
derart mörderischer Laune. Sie blickte an ihm vorbei zu Wilder, der
in jeder Hinsicht das reine Gegenteil von Connor war. »So viel will
ich gar nicht von dir wissen«, sagte sie und ließ ihn stehen.
Verblüfft blickte er ihr nach.
Wilder hatte einen nervenzermürbenden Nachmittag
hinter sich. Erstens war da Bryce’ Schusswaffe. Es war eine
Stunt-Waffe, und dennoch machte die Art, wie Bryce sie hielt,
Wilder nervös. Zweitens Wilders Kleidung: Er war aufs Haar genauso
gekleidet wie Bryce, in diesem dämlichen Tigerstreifen-Tarnanzug,
mit dem Gewebegurt und der originalgetreuen Kopie dieses verdammten
Messers quer über der Brust, und kam sich vor wie ein Idiot. Und
drittens war da Armstrong auf der anderen Straßenseite, die mit
Daisy sprach und fast wie Wonder Woman
aussah, abgesehen von diesem langen, dunklen Haarzopf, der ihr über
den Rücken herabhing. Wenn er jemals nah genug an sie herankam,
würde er ihr Haar aus diesem Zopf befreien …
»Wie soll ich dieses Ding denn halten?«, fragte
Bryce und betrachtete seine Schusswaffe stirnrunzelnd.
Wilder seufzte. »Passen Sie auf.« Er streckte eine
Hand nach der Maschinenpistole aus. Bryce gab die Waffe zögernd ab,
und Wilder nahm die MP-5 mit beiden Händen. Es war eine deutsche
Waffe, die Waffe der Wahl für alle Antiterroreinheiten auf der
Welt, die gleiche, die auch Wilder in der Nähe versteckt hielt. Nur
dass die seine wirklich funktionierte. Aus dem Augenwinkel konnte
Wilder sehen, dass Nash sie beobachtete.
Wilder entfernte das Magazin und kontrollierte dann
die Kammer. Die Kugeln waren Platzpatronen, und in der Trommel saß
ein Adapter für Platzpatronen. Er überprüfte, ob der Adapter
gesichert war, denn auch er konnte sich als tödliches Geschoss
erweisen, wenn er durch den Rückstoß der Platzpatronen abgeschossen
wurde. Um ganz sicher zu sein, kniete Wilder sich hin und drückte
die dreißig Kugeln mit dem Daumen rasch aus dem Magazin in eine
Schachtel, um zu sehen, ob wirklich jede einzelne eine Platzpatrone
war. Dann begann er, sie wieder zu laden.
»Was tun Sie da?«, fragte Bryce.
»Mich überzeugen, dass auch niemand verletzt werden
kann, vor allem Sie nicht.«
Bryce nickte. »Das ist gut. Ich erinnere mich noch,
dass einmal bei Dreharbeiten einer umgekommen ist. Wissen Sie,
Bruce Lees Junge.«
Wilder erinnerte sich, davon gelesen zu haben. Die
Stunt-Waffe hatte eine Fehlfunktion gehabt. »Das wird hier nicht
passieren. Nash hat alles richtig gemacht.«
»Vielen Dank, verdammt«, knurrte Nash hinter ihnen.
Er blickte auf die Waffe in Wilders Händen. »Zufrieden?«
»Ich mach nur meinen Job.«
»Ich auch. Und ich mache das schon verdammt viel
länger als Sie. Pfuschen Sie mir gefälligst nicht ins Handwerk,
wenn ich schon alles vorbereitet habe.«
Wilder nickte, warf einen Blick zu Armstrong
hinüber und sah, dass sie sie beide beobachtete. Sie wandte den
Kopf ab, und er dachte: Hau ab, Nash. Weit weg.
Der Irak wäre gut. Oder Afghanistan. Oder Pluto.
Nash blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr.
»Sind Sie dann alle so weit? Oder müssen Sie erst noch zu einer
Kneipenschlägerei?«
»Ich möchte im Helikopter mit dabei sein«, erklärte
Bryce und hob herausfordernd sein Kinn. Wilder vergaß Armstrong, um
sich auf diese neue Katastrophe zu konzentrieren.
»Sie werden mit im Helikopter sein«, erwiderte
Nash. »Für die Einstellung am Boden, sobald wir den Vogel nach den
in der Luft gedrehten Einstellungen landen. Es wird so aussehen,
als seien Sie noch in der Luft, keine Sorge.«
»Nein«, beharrte Bryce. »Ich will beim ersten Teil
mitmachen. Wo er sich dem Auto nähert. Die Sequenz mit der Kufe,
vor dem Absprung.«
Wilder stöhnte innerlich auf.
»Nein«, beschied Nash im Befehlston.
Das ist ein klares Wort,
dachte Wilder. Nicht, dass es etwas nützen
wird.
Bryce zeigte wieder diesen sturen Maulesel-Blick.
Sein Gesicht bekam hektische Flecken. »Es ist eine Einstellung bei
Tageslicht, also sollte ich das selbst machen. Die Zuschauer müssen
mich auch mal in Action sehen, sonst glauben sie nicht, dass ich
ein Actionheld bin. Und das kann ich. Bei der Schlägerei habe ich
auch meinen Mann gestanden. Fragen Sie doch J. T.«
Nash blickte ihn mit einer hochgezogenen Braue
an.
»Bryce hat sich nicht gedrückt«, gab Wilder
wahrheitsgemäß zu. Er ist mir in die Quere
gekommen, aber er hat sich nicht gedrückt.
»Lucy wird das nie …«, begann Nash, aber Bryce
schnitt ihm das Wort ab.
»Dann sagen Sie es ihr eben nicht, bis es vorbei
ist. Schließlich bin ich hier der Star.«
Nash blickte Wilder an. Er war blass vor Wut, aber
er kämpfte darum, sich unter Kontrolle zu behalten. »Bestätigen
Sie, dass er dazu in der Lage ist? Können Sie garantieren, dass er
sich dabei nicht verletzt?«
»Nein«, antwortete Wilder.
»Ich steige mit in diesen Helikopter ein«,
wiederholte Bryce stur, »und ich werde selbst auf dieser Kufe
stehen, wie ein echter Actionheld.« Er verbesserte sich: »Ich
bin ein echter Actionheld.«
»Äh, Bryce«, begann Wilder.
»Und wenn ich diesen Stunt nicht selbst machen
darf« – Bryce richtete sich kerzengerade auf -, »dann könnte es
sein, dass ich mich so sehr aufrege, dass ich eine ganze Weile lang
nicht mehr drehen kann. Vielleicht bis nächste Woche nicht. Das
würde Sie mehr als die Versicherung kosten.«
»Verflucht«, brach es jetzt wild aus Nash
heraus.
»Es wird Ihnen außerdem Helikopter-Zeit ersparen«,
fuhr Bryce fort. »Weil Sie ihn nicht hierbehalten müssen, um meine
Einstellungen am Boden zu drehen, denn die sind dann schon im
Kasten.«
»Hören Sie, Bryce«, versuchte Nash es in einem
vollkommen anderen, fast bettelnden Ton. »Wir haben das doch schon
fix im Storyboard, und …«
»Entweder ich stehe auf der Helikopterkufe, oder
die Dreharbeiten sind für diese Woche zu Ende.«
»Lucy wird fuchsteufelswild sein«, meinte
Nash.
»Aber ich bin der Star.«
Wilder seufzte. Er hatte ein solch stures Verhalten
schon früher erlebt. Ein Drei-Sterne-General war mal nach
Afghanistan gekommen und hatte auf die gleiche Art absurd dumme
Dinge verlangt. Wilder hatte sich damals versucht gefühlt, eine
Handgranate auf ihn zu werfen.
Nash blickte drein, als wollte er am liebsten
selbst eine oder zwei Handgranaten werfen. »Verflucht, was soll’s.
Es ist Ihr Arsch.« Er stapfte davon, wobei er sein Handy
hervorzog.
»Dann packen wir’s an«, meinte Bryce, und seine
Stimme klang tiefer, nun, da er sich als echter Macho fühlte.
Wilder ignorierte ihn und legte den Kopf schief,
weil ein vertrautes Geräusch an seine Ohren drang, das einen
Adrenalinstoß durch seinen Körper jagte. Heimkehrender Helikopter.
Es ist doch nur ein Film, erinnerte Wilder
sich selbst, aber es half nichts. Der Beginn eines Einsatzes oder
das Herausgeholtwerden bei Ende eines Einsatzes, das bedeutete
Helikoptergeknatter für ihn.
»Gehen wir«, knurrte G. I.
Bryce, als ein viersitziger Bell Jet Ranger mit abmontierten Türen
auf dem Boden aufsetzte.
Wilder folgte ihm zu dem Helikopter. Als sie in der
Maschine waren, beugte er sich zur Pilotin vor, was ohne die Türen
einfacher war. Bryce hatte vor Tagen, als er sie ihm gezeigt hatte,
gesagt, dass sie Karen Roeburn hieß. Eine zäh wirkende Brünette in
einem Fliegeranzug der Armee. Seine zweite Exfrau war immer in der
gleichen Kleidung nach Hause gekommen, nach Treibstoff
riechend.
Wilder tippte der Pilotin auf die Schulter, und sie
wandte sich zu ihm um und klappte ihre Brille hoch.
»Ich bin Wilder«, schrie er über den Lärm der
Rotoren hinweg.
»Ich weiß«, schrie sie zurück. »Captain. J. T.
Regierungsangelegenheiten.«
»Bryce will heute, wenn wir in der Luft sind,
selbst auf der Kufe stehen, halten Sie also die Maschine schön tief
und ruhig.«
Ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm, was sie davon
hielt. »Ich nehme Befehle von Nash entgegen, nicht von
Ihnen.«
»Na klar.« Er setzte sich zurück und beobachtete,
dass sie ein Hand-GPS programmierte. Sie hatte das tragbare
Positioniersystem neben sich befestigt. Das kam ihm seltsam vor;
schließlich war dieser Platz hier bei Tageslicht nicht schwer zu
finden.
»Was tun Sie da?« Wilder bemühte sich, den Lärm zu
überschreien.
Einen Augenblick lang blickte sie erschrocken
drein. »Orientierungsstellen festlegen.«
»Warum?«
Sie starrte ihn an. »Sind Sie Pilot?«
»Nein, aber …«
»Dann lassen Sie mich meinen Job machen.«
Junge, Junge, wie empfindlich die alle waren,
dachte Wilder. Schließlich war das hier kein Kampfeinsatz.
Bryce ließ sich auf dem rechten vorderen Sitz
nieder und versuchte, sich lässig zu geben, aber er war blass um
die Nase. Schließlich kam auch Nash und setzte sich auf den
hinteren Sitz neben Wilder, den Ausrüstungssack zu seinen Fü ßen.
»Los geht’s, Karen«, schrie er und tätschelte ihr die Schulter. Mit
einem leichten Beben hob der Helikopter ab. Als der Boden unter
ihnen zurückwich, wurde Bryce noch bleicher.
Wilder beugte sich vor und tippte ihm auf die
Schulter. »Schnallen Sie sich an.«
Der Schauspieler schrak bei der Berührung zusammen,
dann nickte er. Mit zitternden Händen fummelte er mit den Gurten
herum, und schließlich gelang es ihm, den Schließriegel in das
Schloss zu schieben. Wilder hoffte, dass er mit Frauen geschickter
war als mit Sicherheitsgurten.
»Wir sind in der Luft«, sprach Nash in sein
Kopfhörer-Mikrofon, was, wie Wilder vermutete, Teil einer
Routineprozedur bei den Dreharbeiten war, denn jeder Idiot im
Umkreis von mehreren Meilen hätte das auch so erkannt.
Er sah zu, wie Nash die Schusswaffe für Bryce’
große Szene bereit machte. Hoffentlich war ein Kotzbeutel dabei.
Bryce sah aus, als würde er bald einen brauchen.
Nash klinkte ein dünnes Stahlseil in den
Schnappverschluss an der Rückseite von Bryce’ verborgenem
Brustgeschirr ein und legte das zwei Meter fünfzig lange Stahlseil
aus, um zu prüfen, ob keine Verschlingungen darin waren. Dabei
achtete er darauf, dass das Seil in dem Helikopter an keinem
Vorsprung hängen bleiben konnte. Er wirkte routiniert und
professionell. Wilder entspannte sich ein wenig.
Dann löste Nash das knapp zwei Meter lange,
aufgewickelte Kletterseil, das am anderen Ende des Stahlseils
befestigt war, und klinkte das Stahlseil direkt in einer
Befestigungsöse am Boden des Helikopters ein, und Wilders Muskeln
spannten sich wieder.
Das war nicht in Ordnung. Das Nylon-Kletterseil
dehnte sich unter Belastung und diente so als Puffer für das
Stahlseil. Ohne das Kletterseil gab das Stahlseil im Zweifelsfall
kein bisschen nach. Wenn Bryce von der Kufe stürzte, würde ihn das
Stahlseil davor bewahren, auf der Straße zu zerschmettern, aber bei
dem plötzlichen Ruck, mit dem ihn das Seil auffinge, könnte er sich
die Wirbelsäule brechen. Wilder hatte das Sicherheitsgeschirr auf
der Brücke gesehen, und dieses hier war anders. Dafür gab es aber
keinen Grund.
Nash stopfte das aufgewickelte Kletterseil in
seinen Ausrüstungssack zurück. Wilder legte eine Hand auf den
Beutel und näherte sich Nashs Gesicht, dann schrie er über den
Rotorlärm hinweg: »Was tun Sie da?«
Nash starrte ihn an. »Bryce will sich unbedingt
selbst auf die Kufen stellen«, schrie er zurück. »Er sollte in
jedem Augenblick drei Kontaktpunkte zum Helikopter haben. Das
Halteseil ist nur zur Sicherheit.«
Bryce blickte über die Schulter zurück. »Was ist
los?« Seine Stimme wurde fast von dem Geräusch der Rotorblätter
verschluckt, und sein Gesicht schimmerte eindeutig grünlich.
Wilder machte ihm ein Okay-Zeichen mit erhobenem
Daumen und wandte sich wieder Nash zu. »Warum haben Sie das
Kletterseil weggenommen?«
»Er braucht es nicht.«
»Es gehört doch mit zur Stunt-Ausrüstung,
oder?«
»Ja, aber wir wollen es nicht im Film haben, und
außerdem ist das noch mal ein Meter Falllänge mehr, und ich will
nicht, dass er auf dem Boden entlangschleift, wenn er fällt.«
»Worum geht’s denn, Jungs?«, schrie Bryce. »J.
T.?«
Es klang ängstlich. Verdammt, dachte Wilder. Was spielte Nash da für
Spielchen? »Alles in Ordnung«, schrie er Bryce zu. »Wir sind gleich
so weit.« Er versuchte, Nash den Ausrüstungssack aus den Händen zu
zerren, aber der Stunt-Koordinator ließ nicht los.
»Sie machen das Nylonseil wieder fest«, schrie
Wilder.
»Es ist mein Stunt.«
Nash starrte ihn an, und Wilder hielt seinem Blick
stand. Na komm schon, warte nicht, bis ich’s
dir wegnehme. Mach das Seil wieder fest.
Nash wandte den Blick ab, hinaus zum Horizont. »Na
gut. Na gut.« Er nahm das Kletterseil wieder aus der Tasche und
hakte es ein. Dann beugte er sich vor und tippte Bryce auf die
Schulter. »Sie können sich immer noch von Wilder doubeln lassen«,
schrie er.
Bryce’ Gesicht war bleich und feucht, aber er
schüttelte den Kopf.
Wilder beugte seinen Kopf zu den beiden vor.
»Wirklich, das ist ein Klacks, Bryce. Ich weiß nicht mehr, aus wie
vielen Maschinen ich schon gesprungen bin. Gehört bei mir zum
Alltag.«
Bryce schluckte, als er durch die offene Tür zum
Boden hinunterblickte. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Wilder
kannte diesen Gesichtsausdruck von damals, als er
Fallschirmspringer-Neulinge ausgebildet hatte. Bryce hatte Angst,
aber er war fest entschlossen, es zu tun. Wilder warf Nash einen
Blick zu. Der sah nicht gerade begeistert drein.
»Sitzgurt lösen«, wies Nash an.
Wilder sah zu, wie Bryce an der Schnalle fummelte,
und erkannte, dass die Hände des Schauspielers jetzt stark
zitterten. Sollte wohl lieber bei den Komödien bleiben.
Wilder warf einen prüfenden Blick nach draußen. Sie
waren der Straße schon eine halbe Meile gefolgt, und das Auto fuhr
kaum mehr als drei Meter vor ihnen. Der Kamerawagen befand sich
ungefähr fünfzehn Meter voraus. Die Straße verlief vollkommen
gerade. Es sollte eigentlich einfach sein.
Nash schrie Bryce zu: »Okay, Kumpel, Füße auf die
Kufe.«
Bryce wandte sich der offenen Tür zu und schob
vorsichtig die Füße hinaus. Er tastete blind nach der Kufe und
versuchte hinunterzublicken.
»Schauen Sie zum Horizont«, schrie Wilder. Er
deutete über Bryce’ Schulter hinweg. »Schauen Sie auf diese beiden
Türme.« Er beobachtete Bryce wachsam, während dieser sich aus der
Tür schob, und achtete aus den Augenwinkeln auf ihre Position zu
dem Stunt-Auto. Althea blickte über die Schulter zu ihnen hinauf.
Vielleicht war sie ja beeindruckt davon, dass Bryce selbst auf der
Kufe stand, und würde sich wieder für sein Bett entscheiden.
Nash steckte den Kopf aus der hinteren Tür, um
rasch zu überblicken, wo sich Bryce’ Füße befanden. Wilder
widerstand der Versuchung, ihm einen Stoß zu geben, schließlich
hatte er kein Brustgeschirr angelegt.
»Okay, Kumpel«, schrie Nash Bryce zu. »Stellen Sie
sich mit dem ganzen Gewicht auf die Füße. Keine Sorge, das
Sicherheitsseil hält Sie schon fest. Und der Vogel fliegt ganz
ruhig. Okay, Karen?«
»Roger«, erwiderte die
Pilotin.
»Jetzt zielen Sie mit der Kanone auf das Auto«,
schrie Nash.
Wilder beobachtete, wie Bryce ungeschickt
versuchte, die Maschinenpistole in Position zu bringen, aber ganz
offensichtlich konzentrierte sich der Schauspieler mehr auf die
Hand, mit der er sich am Türrahmen festhielt, als auf die, mit der
er die MP-5 gepackt hielt. Nun ja, trotzdem gestand er ihm ein paar
Punkte zu, weil er es überhaupt versuchte. Bryce mochte ja ein
Idiot sein, aber ein Feigling war er nicht. »Sieht gut aus, Bryce«,
schrie er und setzte sich zurück.
Es würde ein langer Nachmittag werden.
Unten am Boden hatte Lucy die Sanitäter unter die
Lupe genommen, die, an ihren Ambulanzwagen gelehnt, am Ende der
Straße warteten. Sie wollte sicher sein, dass Connor einen echten
Sanitätsdienst organisiert hatte, und nicht irgendeinen billigen
Ersatz, um Geld zu sparen. Beruhigt kehrte sie zurück und setzte
sich hinter die Monitore neben Daisy und Pepper, die beide mit
zusammengekniffenen Augen in den Himmel blickten.
»Ist J. T. in dem Helikopter da?«, fragte Pepper
und überreichte Lucy einen Apfel.
»Klar«, erwiderte Lucy und nahm den Apfel entgegen.
»Danke. Das wird schon klappen, Pepper. Er ist wahrscheinlich schon
aus Hunderten von Helikoptern gesprungen …«
»Schöner Tag für eine Katastrophe«, meinte Gloom,
der sich auf Lucys anderer Seite niederließ.
Daisy grinste ihn an, und Lucy fühlte sich besser
als während der letzten zwei Tage seit ihrer Ankunft hier.
Mission erfüllt, dachte sie, während sie in
ihren Apfel biss. Oder zumindest würde es so sein, sobald sie Daisy
übermorgen von hier fortgebracht hatte.
»Hallo, Gloom«, trällerte Pepper.
»Hallo, Peppermint. Wieder mal einen kleinen
Spaziergang gemacht?«
»Nein«, antwortete Pepper. »Ich bleibe nur hier und
sehe J. T. zu und suche nach meinem Geist.«
»Also gut, dann los.« Lucy nahm ihr
Kopfhörer-Mikro-Set auf. »Wie läuft’s da draußen?«, fragte sie zu
Gloom gewandt.
»Frag mich, wenn die Stunts vorbei sind«, erwiderte
Gloom.
Über ihnen bewegte Wilder sich vorsichtig auf die
Kufe hinaus und klammerte sich dabei fest, so gut er konnte,
während der Wind an seinen Tigerstreifen zerrte.
»Komisch«, meinte Gloom, der ebenfalls
hinaufblinzelte. »Ich hätte gedacht, dass er verwegener
wirkt.«
»Versuche du mal, auf einer Helikopterkufe verwegen
zu wirken«, entgegnete Lucy, aber auch sie war enttäuscht. Von
unten gesehen, signalisierte Wilders Körpersprache ziemlich
eindeutig: »Ich hab eine Scheißangst.« So viel zu ihrer
Geheimwaffe.
Na ja, am Boden wirkte er trotzdem
eindrucksvoll.
»Vielleicht tut er nur besonders vorsichtig«,
meinte Daisy zweifelnd.
»Wir sind bereit«, kam Connors Stimme über die
Kopfhörer.
Gloom stand auf. »Es geht los«, rief er der Crew
zu. »Achtung.«
»Kamera ab«, rief Lucy und lauschte der Antwort von
der Crew: »Kamera läuft.«
»Klappe, die erste«, rief der Mann mit der Klappe
und ließ sie vor der Kamera mit einem scharfen Knall
zufallen.
»Action«, rief Lucy und beobachtete auf dem Monitor
den Helikopter mit Wilder, der steif auf der Kufe stand. Sie ließ
ihren halb gegessenen Apfel auf die Tischplatte sinken. Es ist nicht gefährlich, er hängt ja an der
Sicherheitsleine …
»Tag, Ma’am«, sprach jemand hinter ihr mit dem
typisch schleppenden, leicht französisch gefärbten
Louisiana-Akzent. Lucy fuhr herum und sah einen großen, gut
aussehenden Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der eine
PilotenSonnenbrille und eine abgetragene lederne Fliegerjacke trug.
Er schwenkte seine zerknautschte Pilotenkappe vor ihr. Sie hatte
ihn schon einmal gesehen, das wusste sie, aber im Moment fiel ihr
nicht ein, wo.
»Coole Sonnenbrille!«, rief
Pepper.
»Gloom.« Lucy blickte wieder auf den Monitor, und
Gloom wandte sich ihnen zu. »Wir haben einen ungebetenen
Gast.«
»Vielen, vielen Dank, Chérie«, sagte der Mann zu
Pepper. »Und darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass du da heute
ein todschickes Gewand trägst?«
Pepper strich ihren Wonder-Woman-Kampfanzug glatt und strahlte ihn an,
und dann nickte er Lucy zu, während Gloom sich erhob, um ihn
loszuwerden. »Ich dachte nur, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo
ich Captain J. T. Wilder finde.«
Gloom sank wieder auf seinen Stuhl zurück.
»Oder falls nicht«, fuhr der Cajun fort, »dann
vielleicht eine freundliche Schauspielerin, die dringend einen
Begleiter sucht. Sie selbst sind wohl keine freundliche
Schauspielerin, oder, Chérie?«
»Nein. Ich bin die Regisseurin, und wir drehen im
Augenblick gerade eine Szene.« Lucy starrte weiter auf den Monitor,
wo Wilder auf der Kufe eindeutig kläglich wirkte. Er sollte lieber auf dem Erdboden bleiben, dachte
sie. Auf festem Boden ist er so gut.
»Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu
machen«, erwiderte der Mann. »Ich bin René LaFavre, J. T. Wilders
Waffenbruder.«
»Du bist ein Freund von J. T.?«, fragte Pepper
entzückt. »Ich auch!«
»Ja, J. T. sucht sich seine Freunde immer sehr gut
aus«, stellte LaFavre fest und lächelte sie an.
»Ja«, stimmte Pepper zu. »Möchtest du auch heute
Abend zu meiner Party kommen?«
LaFavre legte eine Hand auf sein Herz.
»Tragischerweise habe ich schon eine Verabredung.«
»Mr. LaFavre«, sagte Lucy und starrte zu dem
Helikopter auf, an den Wilder sich jetzt starr vor Furcht
klammerte.
»Es heißt Major LaFavre, Chérie, aber Sie dürfen
mich René nennen.«
»Danke, René. Captain Wilder steht da oben auf der
Helikopterkufe.«
LaFavre blickte hinauf. »Das glaube ich
weniger.«
Lucy blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem
Helikopter hinüber, der langsam näher kam, dann wieder auf den
Monitor. »Gloom«, begann sie, und ihre Stimme schraubte sich höher,
»das sieht nicht wie Wilder aus, da auf der Kufe.« Wieder blickte
sie zum Helikopter hinüber, während der sich weiter näherte.
»Das ist nicht Wilder«,
stellte Lucy fest und erhob sich. »Das ist Bryce. Connor«, schrie sie in ihr Mikrofon. »Was zur
Hölle tut Bryce da oben auf der
Kufe?«