10
Tyler sah den Vogel von Westen herankommen, ganz nach Plan.
Dann warf er einen Blick auf sein Handy und las nochmals die Anweisung, die er vor fünfzehn Minuten bekommen hatte: Mission abgeblasen.
Was zur Hölle sollte das heißen? Er war kampfbereit. Verdammt, er war mehr als bereit, er war schon ganz versessen darauf.
»Leck mich doch am Arsch«, beschimpfte er das Telefon. »Ich mach’s trotzdem.«
Er warf die leere Bierdose über die Schulter und machte sich an die Arbeit. Er befand sich eine halbe Meile südlich, in einem der verlassenen Türme, die die alte Weyerhaeuser-Papiermühlenfabrik am Savannah River umstanden, und er benützte ein normales Zielfernrohr, da die Sonne noch gut zweieinhalb Stunden am Himmel stehen würde. Es würde ein sehr schwieriger Schuss werden. Bewegliche Ziele waren das immer.
Die schrägen Sonnenstrahlen lagen warm auf seiner Haut. Ein verdammt schöner Tag. Perfekt zum Schießen.
Er ließ den Sucher über die Brücke schweifen und fixierte ihn auf die Mutter der kleinen Göre. Er könnte sie mit einem Schuss erlegen, ganz leicht, und das Kind fühlen lassen, wie es war, wenn man alleine war, wenn sich niemand mehr dauernd um einen kümmerte. Direkt neben ihr stand das Kind …
Es starrte durch den Feldstecher direkt zu ihm her.
Er trat vom Fenster zurück und fluchte. Sie konnte ihn nicht gesehen haben, das kleine Aas, aber Herrgott, die war auf Draht.
Das Geräusch der Rotoren wurde lauter, und er schaltete sein Gehirn in den Einsatz-Modus und hob das Gewehr, um den Vogel im Zielfernrohr zu betrachten. Er dachte an die sensiblen Stellen, die er treffen könnte, so dass der Vogel wie ein Stein zu Boden fiel. Das Getriebe. Der so passend benannte Jesus-Bolzen, der die Rotorblätter an ihrem Platz hielt. Und wenn die Kiste im rechten Winkel zu seiner Stellung vorbeiflog, könnte er mit einem Schuss die beiden Personen auf den Vordersitzen erledigen. Eine Kugel, zwei Leichen, der Traum jedes Scharfschützen. Eigentlich sogar vier Leichen, denn die Kiste würde ohne Pilot abstürzen und die anderen beiden auf den hinteren Sitzen mit sich reißen.
Das wäre wirklich cool, dachte Tyler. Viele Punkte in einem Videospiel. Das würde ihm Extra-Leben einbringen, um auf einer höheren Stufe zu kämpfen.
Das Rotorengeräusch wurde immer stärker, und Tyler richtete das Gewehr auf den niedrig fliegenden Helikopter und verlangsamte seine Atmung.
Seine Mission.
Er konzentrierte sich auf sein Gewehr, auf das Bild im Sucher, auf seine Atmung, seinen Herzschlag. Genau zwischen zwei Herzschlägen feuerte er.
 
Wilder fühlte, wie der Helikopter erzitterte, und tauchte mit einem Hechtsprung auf den Boden, um das Nylonseil noch zu erwischen, während Bryce stürzte und außer Sicht geriet. Seine Finger schlossen sich um das Kletterseil, während das Stahlseil mit einem Ruck straff wurde. Er hörte Nash fluchen, als das Stahlseil durch dessen Hände schnitt. Dann riss das Sicherungsseil am Verankerungspunkt – verflucht, das Sicherungsseil ist gerissen -, und Wilder verstärkte seinen Griff um das Nylonseil, wobei ihm Nashs verzweifelter Versuch, das ihm durch die Hände rutschende Stahlseil zu halten, den Bruchteil einer Sekunde verschaffte, den er brauchte, um das Nylonseil in sicheren Griff zu bekommen.
»Bring ihn runter«, schrie Wilder Karen zu. »Sofort. Das Sicherungsseil ist nicht gesichert. Es ist nicht gesichert, und nur Nash und ich halten es.«
Sie reagierte sofort und brachte den Helikopter ohne Vorwärtsbewegung sachte und vorsichtig herab.
Wilders Arme brannten, und er sah Blut über Nashs Hände laufen, die von dem Stahlseil aufgerissen waren. Schlecht, um zu ziehen, dachte er und spreizte sich ein, als Karen den Helikopter noch weiter absenkte. Durch die offene Tür konnte er unten Armstrong rennen sehen – Lucy -, und dann sagte Karen: »Er ist unten. Er ist in Sicherheit. Lucy und irgendein Typ haben ihn.«
»Verflucht noch mal.« Wilder fühlte, wie das Gewicht vom Seil genommen wurde, aber er ließ noch immer nicht los. Er blickte Nash beruhigend an. »Ich habe es.«
Nash nickte und löste dann langsam seine Hände von dem blutigen Stahl, wobei er vor Schmerz zischend ausatmete. Wilder ließ ebenfalls das Seil los, und es verschwand durch die Tür.
Er sprach in sein Mikrofon, während er eine Bandage aus dem Erste-Hilfe-Kasten neben seinem Sitz nahm. »Bringen Sie uns runter, sobald da drunten alles klar ist, und rufen Sie den Sanitätsdienst her.« Dann tippte er Nash auf die Schulter und zeigte ihm die Bandage. Nash setzte sich zurück und schloss die Augen, während Wilder sich an die Arbeit machte. Die Verletzungen in den Handflächen sahen sehr schmerzhaft aus, aber nicht wirklich ernsthaft, und Wilder entspannte sich so weit, dass er einen Gedanken an die Oberfläche kommen ließ, den er bisher fortgeschoben hatte.
Seile reißen nicht, nicht einfach so.
Nash schluckte und murmelte: »Danke, Kumpel.«
»Kein Grund zur Sorge«, erwiderte Wilder und machte sich Sorgen.
 
Als die Kufe brach, hatte Lucy aufgeschrien: »Nein!«, und Daisy beiseitegeschoben, um zu Bryce zu kommen, bevor seine strampelnden Beine die Kieselsteine berührten. LaFavre war schon neben ihr und bewegte sich erstaunlich schnell für jemanden, der so schleppend sprach. Sie bekamen Bryce zu fassen, gerade als seine Füße Kontakt mit dem Boden bekamen, und hielten ihn fest, bremsten ihn mit ein paar Laufschritten ab, und während LaFavre geschickt das Stahlseil von Bryce’ Brustgeschirr löste, brachten sie ihn zum Stehen. Dann waren plötzlich alle um sie herum, stützten Bryce, stellten tausend Fragen, wollten alle wissen, ob er in Ordnung sei.
Nein, wollte sie ausrufen, als man ihr Bryce abnahm und die Sanitäter anrückten. Er ist nicht in Ordnung. Er ist gerade aus dem verdammten Helikopter gefallen.
Aber Lucy setzte sich nur ihr Kopfhörer-Mikro-Set wieder auf. »Wer ist verletzt?«, fragte sie, denn Wilders Ruf nach dem Sanitätsdienst fiel ihr wieder ein.
»Nash hat sich die Hände zerschnitten«, antwortete Karen, und ihre Stimme ging in dem Rotorlärm fast unter.
Lucy schluckte. »Wie geht’s Wilder?«
»Gut«, antwortete Karen. »Wir kommen in einer Minute runter. Ich sehe die Kufe nicht. Was ist passiert?«
Lucy betrachtete den Helikopter. Die rechte Kufe baumelte herab. »Ich glaube, die Kufe ist gebrochen.«
»Entschuldigung, Ma’am«, mischte LaFavre sich ein. »Sprechen Sie gerade mit dem Piloten?«
Lucy nickte.
»Dürfte ich kurz mit ihm reden?«
»Mit ihr.« Lucy übergab ihm ihr Kopfhörer-Mikro-Set.
LaFavre lächelte. »Eine Sie?« Er hielt das Kopfhörer-Mikro-Set so, dass sie mithören konnte, und sprach ins Mikrofon: »Hallo, Pilot, hier spricht Major LaFavre von der Task Force 160. Sie haben eine gebrochene rechte Kufe, vorn abgelöst, hinten noch dran, hält aber einer Landung nicht mehr stand. Empfehle, dass Sie zum Luftwaffenstützpunkt Hunter fliegen und dort Ihren Raufbold runterbringen. Die können Ihnen dort für die Landung einen Stützbügel unterschieben. Ich könnte für Sie anrufen und dafür sorgen, dass man sich vorrangig um Sie kümmert.« Lucy bemerkte, dass sein Akzent bei dem letzten Satz stärker durchkam.
»Scheiße«, kommentierte Karen. »Kleine Änderung: Ich kann dicht über dem Boden schweben und Nash rauslassen, damit die Sanitäter ihn gleich behandeln können. Dann muss ich zum Flugplatz zurück. Aber dafür werde ich Wilder brauchen.«
»Und mich, Schätzchen«, setzte LaFavre hinzu.
»Wer zur Hölle sind Sie?«, gab Karen scharf zurück.
»Wieso, ich hab mich doch vorgestellt, ma chérie. Major René LaFavre. Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Lucy? Wer zum Teufel ist dieser Kerl?« Karen klang verwirrt.
Lucy streckte die Hand aus und nahm ihr Kopfhörer-Mikro-Set an sich, bevor LaFavre Karen zum Abendessen und zu einer gemeinsamen Nacht einladen konnte.
»Er ist ein Freund von Wilder«, sprach sie in das Mikrofon. »Ein Pilot. Ich möchte mit jedem von Ihnen da im Helikopter sprechen, sobald Sie wieder zurück sind.«
»Roger«, antwortete Karen.
Als der Helikopter dann weniger als einen Meter über dem Boden schwebte, fassten LaFavre und einer vom Erste-Hilfe-Team zu und packten Nash, als Wilder ihn auf der Seite mit der heilen Kufe herausreichte. Trotz seiner Schmerzen blickte Nash ärgerlich drein, dass er wie ein Sack Kartoffeln aus dem Helikopter herausgehoben wurde. LaFavre tippte vor Lucy grüßend an seine Kappe, packte dann die Hand, die ihm Wilder hinstreckte, setzte einen Fuß auf die heile Kufe und sprang mit einem Satz an Bord.
Hinter ihnen stand Bryce, noch immer weiß wie ein Laken, aber es bemühten sich etwa zwanzig Leute um ihn, einschließlich Mary Make-up, die bereit war, alles für ihn zu tun, was er nur wollte. Er würde bald wieder in Ordnung sein, da war Lucy sich sicher. Und er würde diese Geschichte noch jahrelang beim Abendessen zum Besten geben.
Sie dagegen fühlte sich alles andere als in Ordnung. Da oben war bei dem Dreh etwas sehr falsch gelaufen, und es konnte unmöglich ein Unfall gewesen sein. »Stephanie«, rief Lucy, ohne sich nach ihr umzublicken. »Suchen Sie nach dem Stahlseil und bringen Sie es mir. Dann fahren Sie zum Basislager und holen Karen und Wilder ab, und bringen Sie auch in Erfahrung, was mit dieser Kufe geschehen ist. Ich will alles wissen. Gehen Sie
Stephanie ging.
Lucy nahm alles um sie herum unter die Lupe. Sie suchte nach etwas oder jemandem, das oder der nicht an seinem richtigen Platz war. Bryce begann bereits, unter der allgemeinen Aufmerksamkeit aufzublühen. Nash hatte die Augen geschlossen und zuckte zusammen, als die Sanitäter und der Arzt seine zerschnittenen Hände untersuchten. LaFavre war an Bord des niedrig schwebenden Helikopters, und als sie hinsah, machte er eine Verbeugung und berührte grüßend den Rand seiner Kappe.
Neben ihm stand Wilder gespreizt in der offenen Tür und blickte sie unverwandt an.
Lucy nahm ihren Apfel wieder an sich, biss hinein und überlegte dabei: Eigentlich war vorgesehen, dass du auf dieser Kufe stehst. Was immer da vor sich ging, er schien die eigentliche Zielscheibe zu sein. Sie würde herausfinden, was da gespielt wurde, bevor jemand ihn umbrachte.
Dann schwebte der Helikopter davon, und Lucy ging, um zu erfahren, was zum Teufel Bryce auf dieser Kufe verloren gehabt hatte.
 
Wilder brach den Blickkontakt zu Armstrong ab, als Karen den Helikopter in die Höhe zog und in Richtung Flugplatz wendete. Sie hatte fuchsteufelswild ausgesehen, wie sie da in ihren Apfel biss, und das verstand er nicht; schließlich hatte er ihrem Star gerade den Arsch gerettet. Und LaFavre hatte ihr seine Louisiana-Gentleman-Verbeugung und einen militärischen Gruß zukommen lassen. Was konnte sich eine Frau mehr wünschen?
Andererseits war sie eben Armstrong. Keine einfache Frau.
LaFavre beugte sich näher, um sich besser verständlich zu machen, dabei reflektierte seine Pilotensonnenbrille das Licht. »J. T. Wilder. Der immer für Ärger gut ist.«
»Sumpfratte LaFavre. Alles war wunderbar, bis du hier aufgetaucht bist.«
»Pass auf, wen du hier Sumpfratte nennst.« LaFavre ließ sich in einem Sitz nieder, und Wilder setzte sich neben ihn, wobei er sich bemühte, Nashs Blutflecken auszuweichen. »Wollte mich nur mal nach der Schauspielerin umsehen, die du mir versprochen hast.«
»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte Wilder.
»Klar.«
»Also, was ist passiert?«
LaFavre zuckte die Achseln. »Tja. Kufe ist gebrochen, als euer Mann draufstand.«
»Hast du schon mal gehört, dass eine Kufe einfach nachgibt und fällt?«, fragte Wilder.
»Ich hab schon von allem gehört, was an einer solchen Kiste danebengehen kann, wenn die Kiste nicht in Ordnung ist.« LaFavre beugte sich vornüber, um die rechte Kufe des Jet Ranger zu inspizieren. »Wir haben mal eine Kufe von einem der kleinen Little Birds abgerissen wie nichts. Ist beim Rausholen eines Teams gegen das Dach des Gebäudes geknallt.« Er wandte sich Wilder zu. »Du meinst, das war nicht vorgesehen?«
»Nein.«
»Tja, das is”n Ding.« Ein durchtriebenes Lächeln huschte über LaFavres Gesicht. »Und wie sind diese Schauspielerinnen?«
Wilder dachte an Althea. »Gefährlich.«
»Aha. Na, ein bisschen was von dieser Gefahr könnte ich gebrauchen. Diese kleine Blonde da im Auto, huiui. Scharf, wirklich scharf.«
»Klar«, stimmte Wilder zu und versuchte, unbeteiligt zu wirken. »Ist sie dir bekannt vorgekommen? Zum Beispiel aus irgendeinem Film über die Marine?«
»Blow me Down«, erwiderte LaFavre sofort. »Ist oft in der Spätvorstellung gelaufen. Ich hab die DVD. Tolle Szene in der Dusche. Toller Film.« Er wies mit dem Kinn auf Karen. »Was gibt’s da zu erzählen?«
»Dorniger Weg; hab ich schon ausprobiert«, erwiderte Wilder. »Würde dir nicht gefallen.«
LaFavre lachte. »Ah, mein Freund, aber du hast ja auch nicht meinen Charme und Witz und mein gutes Aussehen.«
Wilder betrachtete das unter ihnen dahinflitzende Land und dachte, dass er jetzt, wo er undercover war, Karen vielleicht ein paar Fragen stellen sollte. Er war zwar nicht besonders gut darin – seine erste Exfrau hatte immer behauptet, er besäße die Subtilität eines Vorschlaghammers. Was er als eine Art Kompliment aufgefasst hatte, denn ein Vorschlaghammer konnte ein verdammt nützliches Werkzeug sein. Aber er könnte es ja auch einmal mit Charme versuchen. Er nahm sich ein Kopfhörer-Mikro-Set und sprach in das Mikrofon: »Beim Militär fliegen gelernt?«
»Nein«, antwortete Karen. »Mit’nem Fernkurs aus dem Reklameteil hinten in einem Comicheft.«
LaFavre prustete los.
Na wunderbar. Eine superschlaue Pilotin. Er hatte schon mit einer solchen zusammengelebt. »Meine Exfrau war auch Helikopterpilotin.« Diese Taktik hatte er noch nie bei einer Frau versucht, aber es schien ihm das Einzige zu sein, womit er eine Gemeinsamkeit herstellen konnte. Schließlich waren sie nicht in der Bar des Offiziersclubs.
»Die Glückliche.«
So viel zu seinem Charme. Neben ihm hielt LaFavre sich leise den Bauch vor Lachen.
»Ja, ja, wirklich witzig«, sagte Wilder zu ihm, nachdem er das Mikrofon abgenommen hatte. »Mal sehen, ob du das besser kannst.«
LaFavre warf einen Blick zur Tür hinaus und erkannte die Landschaft. »Wir haben noch eine Minute.« Er packte den Rahmen zwischen der hinteren und der vorderen Tür und schwang sich aus dem hinteren Sitz heraus und auf den vorderen Sitz herum, auf den Platz des Kopiloten. »Haben Sie Freigabe gekriegt, meine Liebe?«
»Ich bin nicht Ihre Liebe, und ich bin freigegeben«, versetzte Karen.
»Ich könnte ihn reinbringen, wenn Sie wollen«, erbot sich LaFavre. »Die kennen mich im Turm.«
»Da bin ich ganz sicher«, erwiderte Karen. »Aber es ist meine Maschine.«
»Wie immer Sie wollen, mein Schatz.«
»Ich bin nicht Ihr Schatz.«
Besser als Fernsehen, dachte Wilder und hörte genüsslich zu, wie LaFavre eine nach der anderen auf die Mütze bekam. Dann schwebten sie nur noch etwa drei Meter über dem Landeplatz. Ein Militärfahrzeug kam ihnen langsam entgegen und blieb direkt vor einer auf den Asphalt aufgemalten roten Linie stehen, die den äußeren, zivilen Bereich vom inneren, militärischen Bereich trennte. Das 50-mm-Maschinengewehr auf dem Fahrzeug war bemannt, und es war ohne jeden Zweifel scharf geladen. Wilder wusste, was die rote Linie bedeutete: Stehen bleiben, oder wir schießen. Hinter der roten Linie standen die Helikopter der Task Force 160, die gerade nicht im Einsatz waren, und an der lückenhaften Nummerierung war zu erkennen, dass sich die meisten wohl in Übersee befanden. Wilder fragte sich, in wie vielen der hier abgestellten Nighthawks und Little Birds er in den vergangenen Jahren wohl schon geflogen war. Er sah Männer in Fliegeranzügen an den Maschinen arbeiten. Einige warfen einen Blick zu ihnen hinüber und fragten sich wahrscheinlich das Gleiche wie Wilder: Warum zum Teufel hing die rechte Kufe so seltsam herab?
Ein ziviler Mechaniker vom äußeren Hangar rollte einen Apparat heran, der wie ein metallener Sägebock aussah. Er stellte ihn auf dem Rollfeld zurecht, wich dann etwa sechs Meter zurück und begann, Hand- und Armsignale zu geben, um den Helikopter einzuweisen. Karen brachte die Maschine in die angewiesene Position und senkte sie dann, den Zeichen des Mechanikers folgend, langsam ab. Wilder bemerkte, dass sein sonst so gesprächiger Freund während dieses Manövers Schweigen bewahrte, was bedeutete, dass es eine heikle Sache sein musste. Im gleichen Augenblick, als die linke Kufe auf dem Boden aufsetzte, kam die rechte Seite der Maschine kratzend auf dem Sägebock zu liegen. Der Mechaniker rannte vorwärts und sicherte die Reste der rechten Kufe mit Bolzen an seiner Vorrichtung. Danach erschien er wieder vor dem Helikopter und signalisierte Karen, indem er mit dem Finger quer über seine Kehle fuhr, dass sie den Motor abstellen konnte. Wilder hatte noch nie so recht Geschmack an dieser Geste gefunden.
»Hübsch gemacht«, bemerkte LaFavre zu Karen, was von seinen Lippen ein überschwängliches Lob bedeutete.
Karen blieb unbeeindruckt. »Sie können jetzt aussteigen.«
»Sicher, meine Süße.«
»Ich bin nicht Ihre Süße.«
LaFavre sprang hinaus, und Karen begann, heftiger als nötig auf Schalter und Knöpfe zu schlagen, um die Maschine abzuschalten. Auch Wilder hüpfte hinaus und nahm die rechte Kufe in Augenschein. Der vordere Kufenmast war nahe am Helikopterkörper gebrochen, das Metall verbogen.
»Sieht aus, als sei der Bolzen herausgeflogen«, bemerkte der Mechaniker.
»Passiert das häufiger?«, fragte Wilder, der Hunderte von Stunden in Helikoptern geflogen war und so etwas noch nie erlebt hatte.
»Sehe ich heute zum ersten Mal.«
LaFavre kniete vor der Maschine und betrachtete die Bruchstelle näher. »Hat’s irgendjemand auf euren Schauspieler abgesehen?«
»Nein«, antwortete Wilder. »Aber es gibt vielleicht Leute, die mir an den Kragen wollen.«
»Verständlich, wenn man deinen Mangel an Charme und Witz bedenkt«, erwiderte LaFavre. »Aber du warst nicht dort auf der Kufe.«
»Eigentlich hätte ich es sein sollen«, erklärte Wilder. »Änderung in letzter Minute.«
LaFavre stieß einen Pfiff aus. Noch einmal betrachtete er sich die Bruchstelle. »Mein Freund, das sieht nicht gut aus.«
Wilder bemerkte, dass Karen alles andere als fröhlich und entspannt wirkte, als sie nun herankam und auf das zerrissene Metall starrte, wo die Kufe vom Helikopter abgerissen war. Ohne ihren Helm wirkte sie wie der Hölle entsprungen, mit blassem Gesicht und ihrem dunklen Haar, das ihr vor Schweiß am Kopf klebte.
»Ohne Ihren Helm sehen Sie entzückend aus«, schmeichelte LaFavre.
»Stecken Sie sich den Quatsch sonst wohin«, erwiderte Karen.
LaFavre legte eine Hand aufs Herz. »Ich bin tief getroffen. Aber angesichts dieser besonderen Stresssituation auch bereit, Ihnen zu vergeben.«
»Kriegen wir eine andere Maschine, um weiterzudrehen?«, fragte Wilder sie.
Karen wies auf die beiden anderen zivilen Maschinen, die vor dem zivilen Hangar abgestellt waren, beides alte Hueys. »Andere Typen. Wir brauchen diesen hier.«
Wilder blickte sehnsüchtig über das Rollfeld zu den schlanken, neuen Nighthawks hinüber, die eine Spezialversion der Blackhawk darstellten. Bei jedem Wetter manövrierbar, stark, bewaffnet, und sie waren mit Maschinengewehren ausgerüstet, was Wilder besonders gefiel. Oder auch einer der viersitzigen Little Birds mit ihrem Mini-Gewehrfutteral an der rechten Kufe.
»Träumen Sie ruhig weiter«, kommentierte Karen seinen Blick. »Es sei denn, der Süßholzraspler hier kann Ihnen eine besorgen.«
»Mein Name ist René LaFavre, mein Liebes.« Er streckte die Hand aus.
»Ich bin nicht Ihr Liebes.«
»Aber Sie könnten es sein.«
Karen rollte die Augen gen Himmel. »Wo haben Sie den bloß aufgetrieben?« Dann wandte sie sich an den Mechaniker. »Wie lang dauert’s, das zu reparieren?«
Der Mechaniker spuckte eine Portion Kautabak auf den Asphalt. »Halbe Stunde. Dann muss mein Boss einen Testflug damit machen. FAA-Vorschriften. Nach jeder Reparatur an den Maschinen. Muss probegeflogen und dann als okay abgezeichnet werden.«
Wilder warf einen Blick zum Himmel. Trotz des Zeitverlusts würde ihnen noch genügend Tageslicht bleiben.
»Kann Ihr Boss die Maschine direkt zum Drehort fliegen?«, fragte Karen.
Der Mechaniker nickte. »Sicher. Das kann er als Testflug machen. Wir setzen’s einfach mit auf die Rechnung.«
Nicht mein Geld. Wilder lächelte. Himmel noch mal, es war Finnegans Geld.
»Kommen Sie mit ins Büro und füllen Sie die Formulare aus«, forderte der Mechaniker sie auf. Karen seufzte und folgte ihm.
Wilder wandte sich LaFavre zu. »Könnte sie eine Maschine auf dieser Brücke landen?«
»Ich glaube nicht, dass das irgendjemand könnte«, erwiderte LaFavre und blickte ihr nach. »Zwischen diesen Tragseilen und Streben durchzufliegen ist eine höllische Sache. Aber sie ist eine von denen, die ich es versuchen lassen würde. Weißt du, sie ist ja nicht besonders entgegenkommend, aber ich kriege sie noch rum.«
»Manche Frauen fliegen eben einfach nicht auf deinen Charme.«
»Ich werd mir mehr Mühe geben.«
Wilder rollte seine Augen gen Himmel. »Du hast gesagt, das sieht nicht gut aus.« Er nickte zu der Kufe hin.
»Jedes Mal, wenn an einer Maschine etwas bricht, sieht das nicht gut aus, mein Freund.« LaFavre legte seine Hand an die Stelle, wo der Bolzen herausgeflogen war. »Könnte Materialermüdung sein. Könnte auch eine großkalibrige Kugel sein, die genau an der richtigen Stelle durchgeschlagen war. Ich bin natürlich kein Ballistik-Fachmann, und wir sind eigentlich nicht in einem Kampfgebiet.«
»Das wäre ein höllisch guter Schuss«, meinte Wilder und starrte das verbogene Metall an.
»Tja«, stimmte LaFavre ihm zu. »Oder es hat jemand auf deinen Schauspieler geschossen, weil er ihn für dich hielt, und hat danebengetroffen.«
Die beiden Männer standen einen Augenblick schweigend da und starrten die Kufe an.
»Scheiße«, meinte Wilder schließlich.
»Allerdings Scheiße, mein Freund. Gibt es da irgendetwas, worüber du nicht sprichst?«
Wilder überlegte, ob er LaFavre in diese CIA-Geschichte einweihen sollte, doch da schrie jemand »Major« von der anderen Seite der roten Linie. LaFavre machte ein Zeichen, dass er käme, und schlug Wilder auf die Schulter. »Ich bin noch eine Zeitlang hier. Du hast ja meine Nummer. Ruf mich an. Ich muss dir meine neueste Investition zeigen.«
»Mach ich«, versicherte Wilder, der keine Ahnung hatte, worauf LaFavre anspielte, sich aber auch sicher war, dass es etwas mit einer Frau zu tun haben musste.
Doch LaFavre ging noch nicht. »Wer ist das?«
Wilder wandte sich um und sah ein Auto näher kommen, dicht gefolgt von einer Militärpolizei-Eskorte, und erkannte Stephanie hinter dem Steuer. Ihm schwante, dass Mrs. Lucy Armstrong befohlen hatte, sie zurückzubringen. Am Rande des Rollfelds hielt der Wagen, und Stephanie stieg aus. Sie lehnte sich gegen den Kotflügel und starrte zu ihnen herüber, verärgert und gelangweilt wirkend, wobei ihr dunkles Haar im Wind flatterte. Nach einigen Augenblicken begann sie, mit den Fingern aufs Dach zu trommeln.
»Mann, bei diesem Film watest du ja knietief in schönen Frauen«, meinte LaFavre.
Eher stehen sie mir bis zum Hals, dachte Wilder. Er sorgte sich mehr darum, dass möglicherweise eine Kugel den Helikopter getroffen hatte, als um LaFavres Testosteron.
Ein Militärpolizist stieg aus dem Begleitwagen und beäugte Stephanie interessiert, und Wilder rief sich ins Gedächtnis, dass sie schön war, wenn auch auf die Art eines todbringenden Raubtiers. Der Mann schien nicht zu ahnen, mit was er es da zu tun hatte, dachte Wilder, und LaFavre ebenso wenig.
»Ist das eine Schauspielerin?«, fragte LaFavre.
»Nein, sie ist ein ›Todesengel‹«, entgegnete Wilder.
»Ich hatte es mit einer oder zwei von der Sorte«, meinte LaFavre unbeeindruckt. »Bei denen muss man den ›Schwarzen-Sumpf-Voodoo-Zauber‹ anwenden.«
»Gehen wir«, forderte Karen Wilder auf, die wieder aus dem Hangar auftauchte und noch die letzten Worte LaFavres mitbekommen hatte. Sie blickte hinüber zu Stephanie und rief aus: »Oh Gott, ausgerechnet die«, und machte sich auf den Weg zum Wagen. Sie öffnete die hintere Tür, stieg ein und überließ damit Wilder den Beifahrersitz vorn. So weit zur Solidarität unter Frauen.
»Sieht gar nicht gut aus, Junge«, meinte LaFavre kopfschüttelnd. »Das sind keine glücklichen Frauen.«
»Du kommst also nicht mit uns mit?«, fragte Wilder.
»Meine Einheit ist da drüben.« LaFavre machte eine Kopfbewegung zu den »Nighthawks« hinüber. »Aber wenn eine Film-Party steigt, ruf mich an.«
»Darauf kannst du wetten«, erwiderte Wilder.
»Vor allem, wenn diese Regisseurin dabei ist. Die ist …«
»Nein«, entgegnete Wilder zu seinem eigenen Erstaunen.
LaFavre hob eine Augenbraue. »Nein?«
»Nein«, wiederholte Wilder und war sich dieses Mal sicher.
»Na, schön für dich, Junge.« LaFavre klopfte ihm auf die Schulter.
»Nein«, widersprach Wilder. »Das nicht.«
»Noch nicht«, verbesserte LaFavre. »Arbeite daran, dann schaffst du’s. Fang nur nicht an, von deiner Exfrau zu erzählen. Exfrauen. Ich hab ja in meinem Leben schon einiges an beschissen erbärmlichen Anmach-Sprüchen gehört, aber das war so ziemlich das Übelste.« Er tippte an seine Kappe, zu dem Wagen mit den beiden wutschnaubenden Frauen gewandt. »Geduld wird immer belohnt, mein Freund.« Dann wandte er sich um und lief locker zu seiner Einheit und der einzig wahren Armee hinüber.
»Dann sollte es mir eigentlich viel besser ergehen«, murmelte Wilder und ging zum Wagen hinüber.
 
Stephanie brachte einige Millimeter Reifengummi zum Qualmen, als sie, ohne ein Wort zu sagen, vom Rollfeld aus durchstartete. Reizendes Madamchen, dachte Wilder, während er sich anschnallte. Vielleicht ahnte die Militärpolizei-Eskorte doch, mit was sie es zu tun hatte, denn die blauen Blinklichter blieben ausgeschaltet, und der Wagen erreichte das Tor, ohne angehalten zu werden. Wilder wartete darauf, dass die beiden Frauen anfingen, sich über Schuhe oder Kleider oder über das Gebären oder über sonst etwas zu unterhalten, was für Frauen eben wichtig war, doch beide wahrten sie eisernes Schweigen.
»Wie geht’s Bryce?«, fragte Wilder schließlich Stephanie.
Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen eisigen Blick zu. »So weit gut. Was er nicht Ihnen zu verdanken hat.«
»Was habe ich denn verbrochen?« Wilder verstand die Welt nicht mehr.
»Bryce hat Sie als sein Stunt-Double angeheuert. Eigentlich hätten Sie auf der Kufe stehen müssen.«
Karen mischte sich vom Rücksitz aus ein. »Lassen Sie’s gut sein. Es war ein Unfall. Der Helikopter wird repariert, und wir können die Szene noch vor Sonnenuntergang wiederholen.«
Stephanie blickte Karen im Rückspiegel mit Kälte im Blick an. »Wir sollten das überhaupt nicht wiederholen.«
Naa guut, sie würden sich also nicht über Schuhe unterhalten. Wilder rutschte etwas tiefer in seinen Sitz.
Karen stellte ebenso kalt wie Stephanie fest: »Ich habe dieses verdammte Drehbuch nicht geschrieben.«
»Und ich habe diese bescheuerten Stunts nicht geschrieben«, gab Stephanie mit Schärfe zurück.
»Die Stunts gehen Sie gar nichts an«, blaffte Karen. »Das machen Nash und ich.«
Sie betonte »Nash und ich«, und Stephanie presste die Lippen zusammen und trat den Gashebel weiter durch. Wilder erkannte, dass es da zwischen den beiden eine Geschichte gab, die er nicht unbedingt wissen wollte. Aber wenn die beiden Frauen schon so sehr in Rage geraten waren, dann könnten sie vielleicht unvorsichtig werden und etwas ausplaudern, das er noch nicht wusste. Ach, zum Teufel, dachte er und betrat das Minenfeld.
»Und wie geht’s Nash?«, fragte er Stephanie.
»Seine Hände sind zerschnitten«, erwiderte Stephanie kurz angebunden. »Die Sanitäter verarzten ihn.«
Wilder blickte über die Schulter zu Karen zurück. »Haben Sie Nash in der Armee kennen gelernt?«
»Nein«, brummte Karen.
Stephanie trat das Gaspedal noch weiter durch, und die nächsten zwanzig Minuten brachen sie jeden Geschwindigkeitsrekord, bis sie über eine Drehbrücke rasten, die über den Savannah River führte. Dann trat sie voll auf die Bremse und nahm die Abzweigung in die Staubstraße viel zu schnell.
Verrückt vor Wut oder dumm?, fragte sich Wilder, aber dann brachte sie den Wagen kieselsteinspritzend zum Stehen und starrte über das Lenkrad.
Direkt vor ihnen auf der Straße, umgeben von Filmgerätschaften und Filmleuten, stand Armstrong und sprach mit Nash. Ihr Gesicht drückte feste Entschlossenheit aus, seins wirkte steinern. Da wandte sie sich um und entdeckte den Wagen, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Sie legte die Hände auf die Hüften und wartete.
Sie wirkte zornig.
Sie wirkte so unglaublich zornig, dass LaFavre einen Herzanfall bekommen hätte.
»Sie will mit Ihnen reden«, sagte Stephanie zu Wilder, und ihre Stimme war so eiskalt vor Wut, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn ihm die Ohren eingefroren wären.
»Sie will erst mit mir reden«, knirschte Karen, stieg aus und knallte die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass der Wagen nachhallte.
Wilder beobachtete, wie Nash etwas zu Armstrong sagte und sich dann entfernte, wobei er auf seine bandagierten Hände starrte und Karen, die ihren Schritt verlangsamte, als sie ihn erreichte, vollkommen ignorierte.
Stephanie blickte weiter durch die Windschutzscheibe, das Gesicht verzerrt vor Abneigung. »Lassen Sie sie nicht warten«, sagte sie in schneidendem Ton zu Wilder. »Sie will, dass alles nach ihrem Kopf geht.«
»Wer will das nicht?«, erwiderte Wilder und stieg aus.
Sollte der Todesengel noch einmal als seine Fahrerin auftauchen, würde er zu Fuß gehen.
 
Nachdem der Helikopter verschwunden war, hatten Lucy und Gloom einzig mit grimmiger Entschlossenheit dafür gesorgt, dass am Set wieder einigermaßen Normalität einkehrte. Zum Glück waren sie gut darin, grimmige Entschlossenheit zu zeigen. Sogar Stephanie hatte den Anweisungen gehorcht. Sie hatte das Stahlseil gefunden und es Lucy übergeben, wobei sie fast geschwätzig wurde: »Ich habe länger gebraucht, um es zu finden, als ich dachte, weil irgendjemand es von Bryce abgehakt und weggeworfen hat. Ich musste erst danach suchen.« Zum ersten Mal, seit Lucy sie kannte, wirkte sie aufgeregt und durcheinander.
»Vielen Dank«, hatte Lucy gesagt und das Seil entgegengenommen. »Fahren Sie zum Flugplatz und holen Sie Karen und Wilder ab.« Und Stephanie hatte sich ohne Widerrede auf den Weg gemacht, ein gutes Zeichen, dachte Lucy. Das war auch nötig, denn sie würden bald den nächsten Stunt drehen müssen. Der Kameramann schwor, dass sie ausreichend Material von Bryce gedreht hatten, bevor er abstürzte, um es in die Szene einbauen zu können, aber jetzt würde Wilder an einem Sicherungsseil aus diesem Helikopter springen müssen. Lucy ging alles andere als glücklich hinüber zu Video-City und setzte sich neben Daisy hinter die Monitore.
»Das war scheußlich«, meinte Daisy. Sie blickte besorgt drein, aber nicht so aufgeregt, dass sie Tabletten nötig gehabt hätte. Sie hatte sich unter Kontrolle.
»Ja«, stimmte Lucy zu. »Ich will wissen, was da passiert ist, bevor ich irgendjemanden wieder da hinaufschicke.«
»Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, erwiderte Daisy. »Das Licht schwindet allmählich. Du hast noch Zeit für einen, höchstens zwei Drehs, wenn sie bald zurückkommen.«
»Wilder steigt da erst hinauf, wenn ich herausgefunden habe, was da passiert ist, und es in Ordnung gebracht habe.« Lucy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Er mag ja eine Nervensäge sein, aber mir ist lieber, er lebt und nervt mich, als dass er tot ist und ich Schuldgefühle habe.«
»Wie schön für dich«, näselte Connor, und sie schrak leicht in die Höhe, weil sie ihn nicht bemerkt hatte. Er stand auf der anderen Seite der Monitore, blass und still und, wie Lucy vermutete, mit ziemlichen Schmerzen.
»Bist du in Ordnung?«, fragte sie.
Er winkte mit einer bandagierten Hand ab. »Halb so schlimm. Es reicht noch, um den Stunt zu wiederholen. Du wiederholst den Stunt doch, oder?«
Lucy betrachtete ihn aus schmalen Augen. »Apropos, was zur Hölle hatte Bryce dort auf der Kufe verloren?«
Bei ihrem schneidenden Ton zuckte er zusammen. »Er wollte es unbedingt, und Wilder war einverstanden. Ich glaube, Wilder hat ihm das in den Kopf gesetzt.«
Lucy starrte ihn verblüfft an. »Den Teufel hat er getan. Wie du ja jedem dauernd unter die Nase reibst, bist schließlich du der Stunt-Koordinator. Niemand tut hier irgendetwas ohne dein Okay.«
»Tja, aber du musst mir ja immer wieder in den Rücken fallen. Kein Wunder, dass Bryce nicht mehr auf mich hört.« Connor beugte sich vor. »Hör mal, Luce, du musst diesen Wilder loswerden. Er ist derjenige, der Bryce dazu überredet hat. Es war nur seine Schuld …«
»Quatsch.« Lucy machte eine abwehrende Geste. »Um Himmels willen, würdest du vielleicht mal mit diesem Gejammere über Wilder aufhören?«
Connor fuhr zurück. »Gejammere? Lucy …«
»Connor?« Pepper erschien bei den Monitoren und kletterte auf ihren Stuhl, um ihn sehen zu können. »Tun deine Hände sehr weh?«
»Ist nicht so schlimm, Süße.« Er blickte auf seine bandagierten Hände hinab und warf Lucy einen verletzten Blick zu, der eindeutig signalisierte, dass er edelmütig schweigend litt, und Lucy dachte: Jesus Christus, und den Kerl habe ich mal geheiratet.
»Was hast du für ein Problem?«, fragte sie, zu ihm gewandt.
»Problem?« Beim Ton ihrer Stimme straffte er sich. »Ich hab überhaupt kein Problem. Ich versuche nur, meinem Mädchen zu helfen.« Er lächelte sie mit allem ihm zur Verfügung stehenden Charme an.
»Ich bin nicht dein Mädchen«, entgegnete Lucy und sah, wie sein Lächeln schwand.
»Lucy, na komm schon.« Er warf einen raschen Blick auf Daisy und Pepper, die nicht einmal so taten, als hörten sie nicht zu. »Wir wollten doch heute miteinander reden, weißt du noch?«
»Nein.« Lucy bewegte einmal kurz ablehnend den Kopf hin und her. »Tut mir leid. Nein.«
Sein Gesicht verzerrte sich wieder, und sie musste sich zurückhalten, nicht noch mehr zu sagen und es noch schlimmer zu machen. Dann stieß er »Verdammte Scheiße« hervor, und Lucy folgte seinem Blick und sah, dass Blut durch die Bandagen sickerte.
»Ich weiß schon«, erklärte Pepper. »Das ist ein böses Wort, das darf man nicht sagen.«
Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und seine Wunden wieder zum Bluten gebracht, erkannte sie. Er blickte auf und sah sie vorwurfsvoll an.
»Das hast du gemacht«, stellte Lucy fest. »Versuche gar nicht erst, mir die Schuld dafür zu geben, und Wilder genauso wenig.« Sie wandte sich zur Filmcrew um und schrie: »Doc!«
Doc löste sich aus der Gruppe, und seine Brillengläser blitzten, als er auf sie zukam.
»Rufen Sie bitte den Krankenwagen und lassen Sie Connor in die Notaufnahme bringen, er blutet wieder«, wies sie ihn an, und Doc nickte und ging zu Connor, der sie mit zornigen Augen anblickte. Tja, Pech. Da hörte sie Reifen quietschen und wandte sich um, als ein Wagen so heftig abgebremst wurde, dass die Kieselsteine spritzten. Hinter dem Lenkrad saß Stephanie mit wütendem Gesicht, und neben ihr Wilder, der so ausdruckslos blickte wie immer. Das muss ja eine lustige Fahrt gewesen sein, dachte Lucy. Dann stieg Karen hinten aus dem Wagen und kam steif vor Anspannung auf sie zu.
Lucy packte das Stahlseil, das Stephanie ihr gebracht hatte, und wartete, während Karen ihren Schritt verlangsamte, um mit Nash zu sprechen. Der jedoch ging an ihr vorbei, als existierte sie nicht.
»Tante Lucy?«, piepste Pepper.
»Was denn, Pepper?«, erwiderte Lucy, die Karen beobachtete, und dachte: Du weißt doch etwas, verdammt noch mal.
»Ich habe den Sumpfgeist gesehen«, berichtete Pepper. »Der war in dem Haus da drüben.«
»Okay, Schatz«, sagte Lucy, als Karen sich ihr näherte. Dann machte sie eine schräge Kopfbewegung zu den Bäumen jenseits der Straße hin, und Karen folgte ihr.