10
Tyler sah den Vogel von Westen herankommen, ganz
nach Plan.
Dann warf er einen Blick auf sein Handy und las
nochmals die Anweisung, die er vor fünfzehn Minuten bekommen hatte:
Mission abgeblasen.
Was zur Hölle sollte das heißen? Er war
kampfbereit. Verdammt, er war mehr als bereit, er war schon ganz
versessen darauf.
»Leck mich doch am Arsch«, beschimpfte er das
Telefon. »Ich mach’s trotzdem.«
Er warf die leere Bierdose über die Schulter und
machte sich an die Arbeit. Er befand sich eine halbe Meile südlich,
in einem der verlassenen Türme, die die alte
Weyerhaeuser-Papiermühlenfabrik am Savannah River umstanden, und er
benützte ein normales Zielfernrohr, da die Sonne noch gut
zweieinhalb Stunden am Himmel stehen würde. Es würde ein sehr
schwieriger Schuss werden. Bewegliche Ziele waren das immer.
Die schrägen Sonnenstrahlen lagen warm auf seiner
Haut. Ein verdammt schöner Tag. Perfekt zum Schießen.
Er ließ den Sucher über die Brücke schweifen und
fixierte ihn auf die Mutter der kleinen Göre. Er könnte sie mit
einem Schuss erlegen, ganz leicht, und das Kind fühlen lassen, wie
es war, wenn man alleine war, wenn sich niemand mehr dauernd um
einen kümmerte. Direkt neben ihr stand das Kind …
Es starrte durch den Feldstecher direkt zu ihm
her.
Er trat vom Fenster zurück und fluchte. Sie konnte
ihn nicht gesehen haben, das kleine Aas, aber Herrgott, die war auf
Draht.
Das Geräusch der Rotoren wurde lauter, und er
schaltete sein Gehirn in den Einsatz-Modus und hob das Gewehr, um
den Vogel im Zielfernrohr zu betrachten. Er dachte an die sensiblen
Stellen, die er treffen könnte, so dass der Vogel wie ein Stein zu
Boden fiel. Das Getriebe. Der so passend benannte Jesus-Bolzen, der
die Rotorblätter an ihrem Platz hielt. Und wenn die Kiste im
rechten Winkel zu seiner Stellung vorbeiflog, könnte er mit einem
Schuss die beiden Personen auf den Vordersitzen erledigen. Eine
Kugel, zwei Leichen, der Traum jedes Scharfschützen. Eigentlich
sogar vier Leichen, denn die Kiste würde ohne Pilot abstürzen und
die anderen beiden auf den hinteren Sitzen mit sich reißen.
Das wäre wirklich cool,
dachte Tyler. Viele Punkte in einem Videospiel. Das würde ihm
Extra-Leben einbringen, um auf einer höheren Stufe zu
kämpfen.
Das Rotorengeräusch wurde immer stärker, und Tyler
richtete das Gewehr auf den niedrig fliegenden Helikopter und
verlangsamte seine Atmung.
Seine Mission.
Er konzentrierte sich auf sein Gewehr, auf das Bild
im Sucher, auf seine Atmung, seinen Herzschlag. Genau zwischen zwei
Herzschlägen feuerte er.
Wilder fühlte, wie der Helikopter erzitterte, und
tauchte mit einem Hechtsprung auf den Boden, um das Nylonseil noch
zu erwischen, während Bryce stürzte und außer Sicht geriet. Seine
Finger schlossen sich um das Kletterseil, während das Stahlseil mit
einem Ruck straff wurde. Er hörte Nash fluchen, als das Stahlseil
durch dessen Hände schnitt. Dann riss das Sicherungsseil am
Verankerungspunkt – verflucht, das
Sicherungsseil ist gerissen -, und Wilder verstärkte seinen
Griff um das Nylonseil, wobei ihm Nashs verzweifelter Versuch, das
ihm durch die Hände rutschende Stahlseil zu halten, den Bruchteil
einer Sekunde verschaffte, den er brauchte, um das Nylonseil in
sicheren Griff zu bekommen.
»Bring ihn runter«, schrie
Wilder Karen zu. »Sofort. Das
Sicherungsseil ist nicht gesichert. Es ist
nicht gesichert, und nur Nash und ich
halten es.«
Sie reagierte sofort und brachte den Helikopter
ohne Vorwärtsbewegung sachte und vorsichtig herab.
Wilders Arme brannten, und er sah Blut über Nashs
Hände laufen, die von dem Stahlseil aufgerissen waren. Schlecht, um zu ziehen, dachte er und spreizte sich
ein, als Karen den Helikopter noch weiter absenkte. Durch die
offene Tür konnte er unten Armstrong rennen sehen – Lucy -, und dann sagte Karen: »Er ist unten. Er ist
in Sicherheit. Lucy und irgendein Typ haben ihn.«
»Verflucht noch mal.« Wilder fühlte, wie das
Gewicht vom Seil genommen wurde, aber er ließ noch immer nicht los.
Er blickte Nash beruhigend an. »Ich habe es.«
Nash nickte und löste dann langsam seine Hände von
dem blutigen Stahl, wobei er vor Schmerz zischend ausatmete. Wilder
ließ ebenfalls das Seil los, und es verschwand durch die Tür.
Er sprach in sein Mikrofon, während er eine Bandage
aus dem Erste-Hilfe-Kasten neben seinem Sitz nahm. »Bringen Sie uns
runter, sobald da drunten alles klar ist, und rufen Sie den
Sanitätsdienst her.« Dann tippte er Nash auf die Schulter und
zeigte ihm die Bandage. Nash setzte sich zurück und schloss die
Augen, während Wilder sich an die Arbeit machte. Die Verletzungen
in den Handflächen sahen sehr schmerzhaft aus, aber nicht wirklich
ernsthaft, und Wilder entspannte sich so weit, dass er einen
Gedanken an die Oberfläche kommen ließ, den er bisher fortgeschoben
hatte.
Seile reißen nicht, nicht
einfach so.
Nash schluckte und murmelte: »Danke, Kumpel.«
»Kein Grund zur Sorge«, erwiderte Wilder und machte
sich Sorgen.
Als die Kufe brach, hatte Lucy aufgeschrien:
»Nein!«, und Daisy beiseitegeschoben, um zu Bryce zu kommen, bevor
seine strampelnden Beine die Kieselsteine berührten. LaFavre war
schon neben ihr und bewegte sich erstaunlich schnell für jemanden,
der so schleppend sprach. Sie bekamen Bryce zu fassen, gerade als
seine Füße Kontakt mit dem Boden bekamen, und hielten ihn fest,
bremsten ihn mit ein paar Laufschritten ab, und während LaFavre
geschickt das Stahlseil von Bryce’ Brustgeschirr löste, brachten
sie ihn zum Stehen. Dann waren plötzlich alle um sie herum,
stützten Bryce, stellten tausend Fragen, wollten alle wissen, ob er
in Ordnung sei.
Nein, wollte sie ausrufen,
als man ihr Bryce abnahm und die Sanitäter anrückten. Er ist nicht in Ordnung. Er ist gerade aus dem
verdammten Helikopter gefallen.
Aber Lucy setzte sich nur ihr Kopfhörer-Mikro-Set
wieder auf. »Wer ist verletzt?«, fragte sie, denn Wilders Ruf nach
dem Sanitätsdienst fiel ihr wieder ein.
»Nash hat sich die Hände zerschnitten«, antwortete
Karen, und ihre Stimme ging in dem Rotorlärm fast unter.
Lucy schluckte. »Wie geht’s Wilder?«
»Gut«, antwortete Karen. »Wir kommen in einer
Minute runter. Ich sehe die Kufe nicht. Was ist passiert?«
Lucy betrachtete den Helikopter. Die rechte Kufe
baumelte herab. »Ich glaube, die Kufe ist gebrochen.«
»Entschuldigung, Ma’am«, mischte LaFavre sich ein.
»Sprechen Sie gerade mit dem Piloten?«
Lucy nickte.
»Dürfte ich kurz mit ihm reden?«
»Mit ihr.« Lucy übergab ihm ihr
Kopfhörer-Mikro-Set.
LaFavre lächelte. »Eine Sie?« Er hielt das
Kopfhörer-Mikro-Set so, dass sie mithören konnte, und sprach ins
Mikrofon: »Hallo, Pilot, hier spricht Major LaFavre von der Task
Force 160. Sie haben eine gebrochene rechte Kufe, vorn abgelöst,
hinten noch dran, hält aber einer Landung nicht mehr stand.
Empfehle, dass Sie zum Luftwaffenstützpunkt Hunter fliegen und dort
Ihren Raufbold runterbringen. Die können Ihnen dort für die Landung
einen Stützbügel unterschieben. Ich könnte für Sie anrufen und
dafür sorgen, dass man sich vorrangig um Sie kümmert.« Lucy
bemerkte, dass sein Akzent bei dem letzten Satz stärker
durchkam.
»Scheiße«, kommentierte Karen. »Kleine Änderung:
Ich kann dicht über dem Boden schweben und Nash rauslassen, damit
die Sanitäter ihn gleich behandeln können. Dann muss ich zum
Flugplatz zurück. Aber dafür werde ich Wilder brauchen.«
»Und mich, Schätzchen«, setzte LaFavre hinzu.
»Wer zur Hölle sind Sie?«, gab Karen scharf
zurück.
»Wieso, ich hab mich doch vorgestellt, ma chérie.
Major René LaFavre. Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Lucy? Wer zum Teufel ist dieser Kerl?« Karen klang
verwirrt.
Lucy streckte die Hand aus und nahm ihr
Kopfhörer-Mikro-Set an sich, bevor LaFavre Karen zum Abendessen und
zu einer gemeinsamen Nacht einladen konnte.
»Er ist ein Freund von Wilder«, sprach sie in das
Mikrofon. »Ein Pilot. Ich möchte mit jedem von Ihnen da im
Helikopter sprechen, sobald Sie wieder zurück sind.«
»Roger«, antwortete
Karen.
Als der Helikopter dann weniger als einen Meter
über dem Boden schwebte, fassten LaFavre und einer vom
Erste-Hilfe-Team zu und packten Nash, als Wilder ihn auf der Seite
mit der heilen Kufe herausreichte. Trotz seiner Schmerzen blickte
Nash ärgerlich drein, dass er wie ein Sack Kartoffeln aus dem
Helikopter herausgehoben wurde. LaFavre tippte vor Lucy grüßend an
seine Kappe, packte dann die Hand, die ihm Wilder hinstreckte,
setzte einen Fuß auf die heile Kufe und sprang mit einem Satz an
Bord.
Hinter ihnen stand Bryce, noch immer weiß wie ein
Laken, aber es bemühten sich etwa zwanzig Leute um ihn,
einschließlich Mary Make-up, die bereit war, alles für ihn zu tun,
was er nur wollte. Er würde bald wieder in Ordnung sein, da war
Lucy sich sicher. Und er würde diese Geschichte noch jahrelang beim
Abendessen zum Besten geben.
Sie dagegen fühlte sich alles andere als in
Ordnung. Da oben war bei dem Dreh etwas sehr falsch gelaufen, und
es konnte unmöglich ein Unfall gewesen sein. »Stephanie«, rief Lucy, ohne sich nach ihr
umzublicken. »Suchen Sie nach dem Stahlseil und bringen Sie es mir.
Dann fahren Sie zum Basislager und holen Karen und Wilder ab, und
bringen Sie auch in Erfahrung, was mit dieser Kufe geschehen ist.
Ich will alles wissen. Gehen Sie.«
Stephanie ging.
Lucy nahm alles um sie herum unter die Lupe. Sie
suchte nach etwas oder jemandem, das oder der nicht an seinem
richtigen Platz war. Bryce begann bereits, unter der allgemeinen
Aufmerksamkeit aufzublühen. Nash hatte die Augen geschlossen und
zuckte zusammen, als die Sanitäter und der Arzt seine
zerschnittenen Hände untersuchten. LaFavre war an Bord des niedrig
schwebenden Helikopters, und als sie hinsah, machte er eine
Verbeugung und berührte grüßend den Rand seiner Kappe.
Neben ihm stand Wilder gespreizt in der offenen Tür
und blickte sie unverwandt an.
Lucy nahm ihren Apfel wieder an sich, biss hinein
und überlegte dabei: Eigentlich war vorgesehen,
dass du auf dieser Kufe stehst. Was immer da vor sich ging,
er schien die eigentliche Zielscheibe zu
sein. Sie würde herausfinden, was da gespielt wurde, bevor jemand
ihn umbrachte.
Dann schwebte der Helikopter davon, und Lucy ging,
um zu erfahren, was zum Teufel Bryce auf dieser Kufe verloren
gehabt hatte.
Wilder brach den Blickkontakt zu Armstrong ab,
als Karen den Helikopter in die Höhe zog und in Richtung Flugplatz
wendete. Sie hatte fuchsteufelswild ausgesehen, wie sie da in ihren
Apfel biss, und das verstand er nicht; schließlich hatte er ihrem
Star gerade den Arsch gerettet. Und LaFavre hatte ihr seine
Louisiana-Gentleman-Verbeugung und einen
militärischen Gruß zukommen lassen. Was konnte sich eine Frau mehr
wünschen?
Andererseits war sie eben Armstrong. Keine einfache
Frau.
LaFavre beugte sich näher, um sich besser
verständlich zu machen, dabei reflektierte seine
Pilotensonnenbrille das Licht. »J. T. Wilder. Der immer für Ärger
gut ist.«
»Sumpfratte LaFavre. Alles war wunderbar, bis du
hier aufgetaucht bist.«
»Pass auf, wen du hier Sumpfratte nennst.« LaFavre
ließ sich in einem Sitz nieder, und Wilder setzte sich neben ihn,
wobei er sich bemühte, Nashs Blutflecken auszuweichen. »Wollte mich
nur mal nach der Schauspielerin umsehen, die du mir versprochen
hast.«
»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte
Wilder.
»Klar.«
»Also, was ist passiert?«
LaFavre zuckte die Achseln. »Tja. Kufe ist
gebrochen, als euer Mann draufstand.«
»Hast du schon mal gehört, dass eine Kufe einfach
nachgibt und fällt?«, fragte Wilder.
»Ich hab schon von allem gehört, was an einer
solchen Kiste danebengehen kann, wenn die Kiste nicht in Ordnung
ist.« LaFavre beugte sich vornüber, um die rechte Kufe des Jet
Ranger zu inspizieren. »Wir haben mal eine Kufe von einem der
kleinen Little Birds abgerissen wie nichts. Ist beim Rausholen
eines Teams gegen das Dach des Gebäudes geknallt.« Er wandte sich
Wilder zu. »Du meinst, das war nicht vorgesehen?«
»Nein.«
»Tja, das is”n Ding.« Ein durchtriebenes Lächeln
huschte über LaFavres Gesicht. »Und wie sind diese
Schauspielerinnen?«
Wilder dachte an Althea. »Gefährlich.«
»Aha. Na, ein bisschen was von dieser Gefahr könnte
ich gebrauchen. Diese kleine Blonde da im Auto, huiui. Scharf,
wirklich scharf.«
»Klar«, stimmte Wilder zu und versuchte,
unbeteiligt zu wirken. »Ist sie dir bekannt vorgekommen? Zum
Beispiel aus irgendeinem Film über die Marine?«
»Blow me Down«, erwiderte
LaFavre sofort. »Ist oft in der Spätvorstellung gelaufen. Ich hab
die DVD. Tolle Szene in der Dusche. Toller Film.« Er wies mit dem
Kinn auf Karen. »Was gibt’s da zu erzählen?«
»Dorniger Weg; hab ich schon ausprobiert«,
erwiderte Wilder. »Würde dir nicht gefallen.«
LaFavre lachte. »Ah, mein Freund, aber du hast ja
auch nicht meinen Charme und Witz und mein gutes Aussehen.«
Wilder betrachtete das unter ihnen dahinflitzende
Land und dachte, dass er jetzt, wo er undercover war, Karen vielleicht ein paar Fragen
stellen sollte. Er war zwar nicht besonders gut darin – seine erste
Exfrau hatte immer behauptet, er besäße die Subtilität eines
Vorschlaghammers. Was er als eine Art Kompliment aufgefasst hatte,
denn ein Vorschlaghammer konnte ein verdammt nützliches Werkzeug
sein. Aber er könnte es ja auch einmal mit Charme versuchen. Er
nahm sich ein Kopfhörer-Mikro-Set und sprach in das Mikrofon: »Beim
Militär fliegen gelernt?«
»Nein«, antwortete Karen. »Mit’nem Fernkurs aus dem
Reklameteil hinten in einem Comicheft.«
LaFavre prustete los.
Na wunderbar. Eine superschlaue Pilotin. Er hatte
schon mit einer solchen zusammengelebt.
»Meine Exfrau war auch Helikopterpilotin.« Diese Taktik hatte er
noch nie bei einer Frau versucht, aber es schien ihm das Einzige zu
sein, womit er eine Gemeinsamkeit herstellen konnte. Schließlich
waren sie nicht in der Bar des Offiziersclubs.
»Die Glückliche.«
So viel zu seinem Charme. Neben ihm hielt LaFavre
sich leise den Bauch vor Lachen.
»Ja, ja, wirklich witzig«, sagte Wilder zu ihm,
nachdem er das Mikrofon abgenommen hatte. »Mal sehen, ob du das
besser kannst.«
LaFavre warf einen Blick zur Tür hinaus und
erkannte die Landschaft. »Wir haben noch eine Minute.« Er packte
den Rahmen zwischen der hinteren und der vorderen Tür und schwang
sich aus dem hinteren Sitz heraus und auf den vorderen Sitz herum,
auf den Platz des Kopiloten. »Haben Sie Freigabe gekriegt, meine
Liebe?«
»Ich bin nicht Ihre Liebe, und ich bin
freigegeben«, versetzte Karen.
»Ich könnte ihn reinbringen, wenn Sie wollen«,
erbot sich LaFavre. »Die kennen mich im Turm.«
»Da bin ich ganz sicher«, erwiderte Karen. »Aber es
ist meine Maschine.«
»Wie immer Sie wollen, mein Schatz.«
»Ich bin nicht Ihr Schatz.«
Besser als Fernsehen,
dachte Wilder und hörte genüsslich zu, wie LaFavre eine nach der
anderen auf die Mütze bekam. Dann schwebten sie nur noch etwa drei
Meter über dem Landeplatz. Ein Militärfahrzeug kam ihnen langsam
entgegen und blieb direkt vor einer auf den Asphalt aufgemalten
roten Linie stehen, die den äußeren, zivilen Bereich vom inneren,
militärischen Bereich trennte. Das 50-mm-Maschinengewehr auf dem
Fahrzeug war bemannt, und es war ohne jeden Zweifel scharf geladen.
Wilder wusste, was die rote Linie bedeutete: Stehen bleiben, oder
wir schießen. Hinter der roten Linie standen die Helikopter der
Task Force 160, die gerade nicht im Einsatz waren, und an der
lückenhaften Nummerierung war zu erkennen, dass sich die meisten
wohl in Übersee befanden. Wilder fragte sich, in wie vielen der
hier abgestellten Nighthawks und Little Birds er in den vergangenen
Jahren wohl schon geflogen war. Er sah Männer in Fliegeranzügen an
den Maschinen arbeiten. Einige warfen einen Blick zu ihnen hinüber
und fragten sich wahrscheinlich das Gleiche wie Wilder: Warum zum
Teufel hing die rechte Kufe so seltsam herab?
Ein ziviler Mechaniker vom äußeren Hangar rollte
einen Apparat heran, der wie ein metallener Sägebock aussah. Er
stellte ihn auf dem Rollfeld zurecht, wich dann etwa sechs Meter
zurück und begann, Hand- und Armsignale zu geben, um den Helikopter
einzuweisen. Karen brachte die Maschine in die angewiesene Position
und senkte sie dann, den Zeichen des Mechanikers folgend, langsam
ab. Wilder bemerkte, dass sein sonst so gesprächiger Freund während
dieses Manövers Schweigen bewahrte, was bedeutete, dass es eine
heikle Sache sein musste. Im gleichen Augenblick, als die linke
Kufe auf dem Boden aufsetzte, kam die rechte Seite der Maschine
kratzend auf dem Sägebock zu liegen. Der Mechaniker rannte vorwärts
und sicherte die Reste der rechten Kufe mit Bolzen an seiner
Vorrichtung. Danach erschien er wieder vor dem Helikopter und
signalisierte Karen, indem er mit dem Finger quer über seine Kehle
fuhr, dass sie den Motor abstellen konnte. Wilder hatte noch nie so
recht Geschmack an dieser Geste gefunden.
»Hübsch gemacht«, bemerkte LaFavre zu Karen, was
von seinen Lippen ein überschwängliches Lob bedeutete.
Karen blieb unbeeindruckt. »Sie können jetzt
aussteigen.«
»Sicher, meine Süße.«
»Ich bin nicht Ihre Süße.«
LaFavre sprang hinaus, und Karen begann, heftiger
als nötig auf Schalter und Knöpfe zu schlagen, um die Maschine
abzuschalten. Auch Wilder hüpfte hinaus und nahm die rechte Kufe in
Augenschein. Der vordere Kufenmast war nahe am Helikopterkörper
gebrochen, das Metall verbogen.
»Sieht aus, als sei der Bolzen herausgeflogen«,
bemerkte der Mechaniker.
»Passiert das häufiger?«, fragte Wilder, der
Hunderte von Stunden in Helikoptern geflogen war und so etwas noch
nie erlebt hatte.
»Sehe ich heute zum ersten Mal.«
LaFavre kniete vor der Maschine und betrachtete die
Bruchstelle näher. »Hat’s irgendjemand auf euren Schauspieler
abgesehen?«
»Nein«, antwortete Wilder. »Aber es gibt vielleicht
Leute, die mir an den Kragen wollen.«
»Verständlich, wenn man deinen Mangel an Charme und
Witz bedenkt«, erwiderte LaFavre. »Aber du warst nicht dort auf der
Kufe.«
»Eigentlich hätte ich es sein sollen«, erklärte
Wilder. »Änderung in letzter Minute.«
LaFavre stieß einen Pfiff aus. Noch einmal
betrachtete er sich die Bruchstelle. »Mein Freund, das sieht nicht
gut aus.«
Wilder bemerkte, dass Karen alles andere als
fröhlich und entspannt wirkte, als sie nun herankam und auf das
zerrissene Metall starrte, wo die Kufe vom Helikopter abgerissen
war. Ohne ihren Helm wirkte sie wie der Hölle entsprungen, mit
blassem Gesicht und ihrem dunklen Haar, das ihr vor Schweiß am Kopf
klebte.
»Ohne Ihren Helm sehen Sie entzückend aus«,
schmeichelte LaFavre.
»Stecken Sie sich den Quatsch sonst wohin«,
erwiderte Karen.
LaFavre legte eine Hand aufs Herz. »Ich bin tief
getroffen. Aber angesichts dieser besonderen Stresssituation auch
bereit, Ihnen zu vergeben.«
»Kriegen wir eine andere Maschine, um
weiterzudrehen?«, fragte Wilder sie.
Karen wies auf die beiden anderen zivilen
Maschinen, die vor dem zivilen Hangar abgestellt waren, beides alte
Hueys. »Andere Typen. Wir brauchen diesen hier.«
Wilder blickte sehnsüchtig über das Rollfeld zu den
schlanken, neuen Nighthawks hinüber, die eine Spezialversion der
Blackhawk darstellten. Bei jedem Wetter manövrierbar, stark,
bewaffnet, und sie waren mit Maschinengewehren ausgerüstet, was
Wilder besonders gefiel. Oder auch einer der viersitzigen Little
Birds mit ihrem Mini-Gewehrfutteral an der rechten Kufe.
»Träumen Sie ruhig weiter«, kommentierte Karen
seinen Blick. »Es sei denn, der Süßholzraspler hier kann Ihnen eine
besorgen.«
»Mein Name ist René LaFavre, mein Liebes.« Er
streckte die Hand aus.
»Ich bin nicht Ihr Liebes.«
»Aber Sie könnten es sein.«
Karen rollte die Augen gen Himmel. »Wo haben Sie
den bloß aufgetrieben?« Dann wandte sie sich an den Mechaniker.
»Wie lang dauert’s, das zu reparieren?«
Der Mechaniker spuckte eine Portion Kautabak auf
den Asphalt. »Halbe Stunde. Dann muss mein Boss einen Testflug
damit machen. FAA-Vorschriften. Nach jeder Reparatur an den
Maschinen. Muss probegeflogen und dann als okay abgezeichnet
werden.«
Wilder warf einen Blick zum Himmel. Trotz des
Zeitverlusts würde ihnen noch genügend Tageslicht bleiben.
»Kann Ihr Boss die Maschine direkt zum Drehort
fliegen?«, fragte Karen.
Der Mechaniker nickte. »Sicher. Das kann er als
Testflug machen. Wir setzen’s einfach mit auf die Rechnung.«
Nicht mein Geld. Wilder
lächelte. Himmel noch mal, es war Finnegans Geld.
»Kommen Sie mit ins Büro und füllen Sie die
Formulare aus«, forderte der Mechaniker sie auf. Karen seufzte und
folgte ihm.
Wilder wandte sich LaFavre zu. »Könnte sie eine
Maschine auf dieser Brücke landen?«
»Ich glaube nicht, dass das irgendjemand könnte«,
erwiderte LaFavre und blickte ihr nach. »Zwischen diesen Tragseilen
und Streben durchzufliegen ist eine höllische Sache. Aber sie ist
eine von denen, die ich es versuchen lassen würde. Weißt du, sie
ist ja nicht besonders entgegenkommend, aber ich kriege sie noch
rum.«
»Manche Frauen fliegen eben einfach nicht auf
deinen Charme.«
»Ich werd mir mehr Mühe geben.«
Wilder rollte seine Augen gen Himmel. »Du hast
gesagt, das sieht nicht gut aus.« Er nickte zu der Kufe hin.
»Jedes Mal, wenn an einer Maschine etwas bricht,
sieht das nicht gut aus, mein Freund.« LaFavre legte seine Hand an
die Stelle, wo der Bolzen herausgeflogen war. »Könnte
Materialermüdung sein. Könnte auch eine großkalibrige Kugel sein,
die genau an der richtigen Stelle durchgeschlagen war. Ich bin
natürlich kein Ballistik-Fachmann, und wir sind eigentlich nicht in
einem Kampfgebiet.«
»Das wäre ein höllisch guter Schuss«, meinte Wilder
und starrte das verbogene Metall an.
»Tja«, stimmte LaFavre ihm zu. »Oder es hat jemand
auf deinen Schauspieler geschossen, weil er ihn für dich hielt, und
hat danebengetroffen.«
Die beiden Männer standen einen Augenblick
schweigend da und starrten die Kufe an.
»Scheiße«, meinte Wilder schließlich.
»Allerdings Scheiße, mein Freund. Gibt es da
irgendetwas, worüber du nicht sprichst?«
Wilder überlegte, ob er LaFavre in diese
CIA-Geschichte einweihen sollte, doch da schrie jemand »Major« von
der anderen Seite der roten Linie. LaFavre machte ein Zeichen, dass
er käme, und schlug Wilder auf die Schulter. »Ich bin noch eine
Zeitlang hier. Du hast ja meine Nummer. Ruf mich an. Ich muss dir
meine neueste Investition zeigen.«
»Mach ich«, versicherte Wilder, der keine Ahnung
hatte, worauf LaFavre anspielte, sich aber auch sicher war, dass es
etwas mit einer Frau zu tun haben musste.
Doch LaFavre ging noch nicht. »Wer ist das?«
Wilder wandte sich um und sah ein Auto näher
kommen, dicht gefolgt von einer Militärpolizei-Eskorte, und
erkannte Stephanie hinter dem Steuer. Ihm schwante, dass Mrs. Lucy
Armstrong befohlen hatte, sie zurückzubringen. Am Rande des
Rollfelds hielt der Wagen, und Stephanie stieg aus. Sie lehnte sich
gegen den Kotflügel und starrte zu ihnen herüber, verärgert und
gelangweilt wirkend, wobei ihr dunkles Haar im Wind flatterte. Nach
einigen Augenblicken begann sie, mit den Fingern aufs Dach zu
trommeln.
»Mann, bei diesem Film watest du ja knietief in
schönen Frauen«, meinte LaFavre.
Eher stehen sie mir bis zum
Hals, dachte Wilder. Er sorgte sich mehr darum, dass
möglicherweise eine Kugel den Helikopter getroffen hatte, als um
LaFavres Testosteron.
Ein Militärpolizist stieg aus dem Begleitwagen und
beäugte Stephanie interessiert, und Wilder rief sich ins
Gedächtnis, dass sie schön war, wenn auch auf die Art eines
todbringenden Raubtiers. Der Mann schien nicht zu ahnen, mit was er
es da zu tun hatte, dachte Wilder, und LaFavre ebenso wenig.
»Ist das eine Schauspielerin?«, fragte
LaFavre.
»Nein, sie ist ein ›Todesengel‹«, entgegnete
Wilder.
»Ich hatte es mit einer oder zwei von der Sorte«,
meinte LaFavre unbeeindruckt. »Bei denen muss man den
›Schwarzen-Sumpf-Voodoo-Zauber‹ anwenden.«
»Gehen wir«, forderte Karen Wilder auf, die wieder
aus dem Hangar auftauchte und noch die letzten Worte LaFavres
mitbekommen hatte. Sie blickte hinüber zu Stephanie und rief aus:
»Oh Gott, ausgerechnet die«, und machte
sich auf den Weg zum Wagen. Sie öffnete die hintere Tür, stieg ein
und überließ damit Wilder den Beifahrersitz vorn. So weit zur
Solidarität unter Frauen.
»Sieht gar nicht gut aus, Junge«, meinte LaFavre
kopfschüttelnd. »Das sind keine glücklichen Frauen.«
»Du kommst also nicht mit uns mit?«, fragte
Wilder.
»Meine Einheit ist da drüben.« LaFavre machte eine
Kopfbewegung zu den »Nighthawks« hinüber. »Aber wenn eine
Film-Party steigt, ruf mich an.«
»Darauf kannst du wetten«, erwiderte Wilder.
»Vor allem, wenn diese Regisseurin dabei ist. Die
ist …«
»Nein«, entgegnete Wilder zu seinem eigenen
Erstaunen.
LaFavre hob eine Augenbraue. »Nein?«
»Nein«, wiederholte Wilder und war sich dieses Mal
sicher.
»Na, schön für dich, Junge.« LaFavre klopfte ihm
auf die Schulter.
»Nein«, widersprach Wilder. »Das nicht.«
»Noch nicht«, verbesserte LaFavre. »Arbeite daran,
dann schaffst du’s. Fang nur nicht an, von deiner Exfrau zu
erzählen. Exfrauen. Ich hab ja in meinem Leben schon einiges an
beschissen erbärmlichen Anmach-Sprüchen gehört, aber das war so
ziemlich das Übelste.« Er tippte an seine Kappe, zu dem Wagen mit
den beiden wutschnaubenden Frauen gewandt. »Geduld wird immer
belohnt, mein Freund.« Dann wandte er sich um und lief locker zu
seiner Einheit und der einzig wahren Armee hinüber.
»Dann sollte es mir eigentlich viel besser
ergehen«, murmelte Wilder und ging zum Wagen hinüber.
Stephanie brachte einige Millimeter Reifengummi
zum Qualmen, als sie, ohne ein Wort zu sagen, vom Rollfeld aus
durchstartete. Reizendes Madamchen, dachte
Wilder, während er sich anschnallte. Vielleicht ahnte die
Militärpolizei-Eskorte doch, mit was sie es zu tun hatte, denn die
blauen Blinklichter blieben ausgeschaltet, und der Wagen erreichte
das Tor, ohne angehalten zu werden. Wilder wartete darauf, dass die
beiden Frauen anfingen, sich über Schuhe oder Kleider oder über das
Gebären oder über sonst etwas zu unterhalten, was für Frauen eben
wichtig war, doch beide wahrten sie eisernes Schweigen.
»Wie geht’s Bryce?«, fragte Wilder schließlich
Stephanie.
Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen eisigen
Blick zu. »So weit gut. Was er nicht Ihnen zu verdanken hat.«
»Was habe ich denn verbrochen?« Wilder verstand die
Welt nicht mehr.
»Bryce hat Sie als sein Stunt-Double angeheuert.
Eigentlich hätten Sie auf der Kufe stehen müssen.«
Karen mischte sich vom Rücksitz aus ein. »Lassen
Sie’s gut sein. Es war ein Unfall. Der Helikopter wird repariert,
und wir können die Szene noch vor Sonnenuntergang
wiederholen.«
Stephanie blickte Karen im Rückspiegel mit Kälte im
Blick an. »Wir sollten das überhaupt nicht wiederholen.«
Naa guut, sie würden sich also nicht über Schuhe
unterhalten. Wilder rutschte etwas tiefer in seinen Sitz.
Karen stellte ebenso kalt wie Stephanie fest: »Ich
habe dieses verdammte Drehbuch nicht geschrieben.«
»Und ich habe diese bescheuerten Stunts nicht
geschrieben«, gab Stephanie mit Schärfe zurück.
»Die Stunts gehen Sie gar nichts an«, blaffte
Karen. »Das machen Nash und ich.«
Sie betonte »Nash und ich«, und Stephanie presste
die Lippen zusammen und trat den Gashebel weiter durch. Wilder
erkannte, dass es da zwischen den beiden eine Geschichte gab, die
er nicht unbedingt wissen wollte. Aber wenn die beiden Frauen schon
so sehr in Rage geraten waren, dann könnten sie vielleicht
unvorsichtig werden und etwas ausplaudern, das er noch nicht
wusste. Ach, zum Teufel, dachte er und
betrat das Minenfeld.
»Und wie geht’s Nash?«, fragte er Stephanie.
»Seine Hände sind zerschnitten«, erwiderte
Stephanie kurz angebunden. »Die Sanitäter verarzten ihn.«
Wilder blickte über die Schulter zu Karen zurück.
»Haben Sie Nash in der Armee kennen gelernt?«
»Nein«, brummte Karen.
Stephanie trat das Gaspedal noch weiter durch, und
die nächsten zwanzig Minuten brachen sie jeden
Geschwindigkeitsrekord, bis sie über eine Drehbrücke rasten, die
über den Savannah River führte. Dann trat sie voll auf die Bremse
und nahm die Abzweigung in die Staubstraße viel zu schnell.
Verrückt vor Wut oder
dumm?, fragte sich Wilder, aber dann brachte sie den Wagen
kieselsteinspritzend zum Stehen und starrte über das Lenkrad.
Direkt vor ihnen auf der Straße, umgeben von
Filmgerätschaften und Filmleuten, stand Armstrong und sprach mit
Nash. Ihr Gesicht drückte feste Entschlossenheit aus, seins wirkte
steinern. Da wandte sie sich um und entdeckte den Wagen, und ihre
Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Sie legte die Hände auf die
Hüften und wartete.
Sie wirkte zornig.
Sie wirkte so unglaublich zornig, dass LaFavre
einen Herzanfall bekommen hätte.
»Sie will mit Ihnen reden«, sagte Stephanie zu
Wilder, und ihre Stimme war so eiskalt vor Wut, dass er sich nicht
gewundert hätte, wenn ihm die Ohren eingefroren wären.
»Sie will erst mit mir reden«, knirschte Karen,
stieg aus und knallte die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu,
dass der Wagen nachhallte.
Wilder beobachtete, wie Nash etwas zu Armstrong
sagte und sich dann entfernte, wobei er auf seine bandagierten
Hände starrte und Karen, die ihren Schritt verlangsamte, als sie
ihn erreichte, vollkommen ignorierte.
Stephanie blickte weiter durch die
Windschutzscheibe, das Gesicht verzerrt vor Abneigung. »Lassen Sie
sie nicht warten«, sagte sie in schneidendem Ton zu Wilder. »Sie
will, dass alles nach ihrem Kopf geht.«
»Wer will das nicht?«, erwiderte Wilder und stieg
aus.
Sollte der Todesengel noch einmal als seine
Fahrerin auftauchen, würde er zu Fuß gehen.
Nachdem der Helikopter verschwunden war, hatten
Lucy und Gloom einzig mit grimmiger Entschlossenheit dafür gesorgt,
dass am Set wieder einigermaßen Normalität einkehrte. Zum Glück
waren sie gut darin, grimmige Entschlossenheit zu zeigen. Sogar
Stephanie hatte den Anweisungen gehorcht. Sie hatte das Stahlseil
gefunden und es Lucy übergeben, wobei sie fast geschwätzig wurde:
»Ich habe länger gebraucht, um es zu finden, als ich dachte, weil
irgendjemand es von Bryce abgehakt und weggeworfen hat. Ich musste
erst danach suchen.« Zum ersten Mal, seit Lucy sie kannte, wirkte
sie aufgeregt und durcheinander.
»Vielen Dank«, hatte Lucy gesagt und das Seil
entgegengenommen. »Fahren Sie zum Flugplatz und holen Sie Karen und
Wilder ab.« Und Stephanie hatte sich ohne Widerrede auf den Weg
gemacht, ein gutes Zeichen, dachte Lucy. Das war auch nötig, denn
sie würden bald den nächsten Stunt drehen müssen. Der Kameramann
schwor, dass sie ausreichend Material von Bryce gedreht hatten,
bevor er abstürzte, um es in die Szene einbauen zu können, aber
jetzt würde Wilder an einem Sicherungsseil aus diesem Helikopter
springen müssen. Lucy ging alles andere als glücklich hinüber zu
Video-City und setzte sich neben Daisy hinter die Monitore.
»Das war scheußlich«, meinte Daisy. Sie blickte
besorgt drein, aber nicht so aufgeregt, dass sie Tabletten nötig
gehabt hätte. Sie hatte sich unter Kontrolle.
»Ja«, stimmte Lucy zu. »Ich will wissen, was da
passiert ist, bevor ich irgendjemanden wieder da
hinaufschicke.«
»Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, erwiderte Daisy.
»Das Licht schwindet allmählich. Du hast noch Zeit für einen,
höchstens zwei Drehs, wenn sie bald zurückkommen.«
»Wilder steigt da erst hinauf, wenn ich
herausgefunden habe, was da passiert ist, und es in Ordnung
gebracht habe.« Lucy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Er mag ja
eine Nervensäge sein, aber mir ist lieber, er lebt und nervt mich,
als dass er tot ist und ich Schuldgefühle habe.«
»Wie schön für dich«, näselte Connor, und sie
schrak leicht in die Höhe, weil sie ihn nicht bemerkt hatte. Er
stand auf der anderen Seite der Monitore, blass und still und, wie
Lucy vermutete, mit ziemlichen Schmerzen.
»Bist du in Ordnung?«, fragte sie.
Er winkte mit einer bandagierten Hand ab. »Halb so
schlimm. Es reicht noch, um den Stunt zu wiederholen. Du
wiederholst den Stunt doch, oder?«
Lucy betrachtete ihn aus schmalen Augen. »Apropos,
was zur Hölle hatte Bryce dort auf der Kufe verloren?«
Bei ihrem schneidenden Ton zuckte er zusammen. »Er
wollte es unbedingt, und Wilder war einverstanden. Ich glaube,
Wilder hat ihm das in den Kopf gesetzt.«
Lucy starrte ihn verblüfft an. »Den Teufel hat er
getan. Wie du ja jedem dauernd unter die Nase reibst, bist
schließlich du der Stunt-Koordinator. Niemand tut hier irgendetwas
ohne dein Okay.«
»Tja, aber du musst mir ja immer wieder in den
Rücken fallen. Kein Wunder, dass Bryce nicht mehr auf mich hört.«
Connor beugte sich vor. »Hör mal, Luce, du musst diesen Wilder
loswerden. Er ist derjenige, der Bryce dazu überredet hat. Es war
nur seine Schuld …«
»Quatsch.« Lucy machte eine abwehrende Geste. »Um
Himmels willen, würdest du vielleicht mal mit diesem Gejammere über
Wilder aufhören?«
Connor fuhr zurück. »Gejammere? Lucy …«
»Connor?« Pepper erschien bei den Monitoren und
kletterte auf ihren Stuhl, um ihn sehen zu können. »Tun deine Hände
sehr weh?«
»Ist nicht so schlimm, Süße.« Er blickte auf seine
bandagierten Hände hinab und warf Lucy einen verletzten Blick zu,
der eindeutig signalisierte, dass er edelmütig schweigend litt, und
Lucy dachte: Jesus Christus, und den Kerl habe
ich mal geheiratet.
»Was hast du für ein Problem?«, fragte sie, zu ihm
gewandt.
»Problem?« Beim Ton ihrer Stimme straffte er sich.
»Ich hab überhaupt kein Problem. Ich versuche nur, meinem Mädchen
zu helfen.« Er lächelte sie mit allem ihm zur Verfügung stehenden
Charme an.
»Ich bin nicht dein Mädchen«, entgegnete Lucy und
sah, wie sein Lächeln schwand.
»Lucy, na komm schon.« Er warf einen raschen Blick
auf Daisy und Pepper, die nicht einmal so taten, als hörten sie
nicht zu. »Wir wollten doch heute miteinander reden, weißt du
noch?«
»Nein.« Lucy bewegte einmal kurz ablehnend den Kopf
hin und her. »Tut mir leid. Nein.«
Sein Gesicht verzerrte sich wieder, und sie musste
sich zurückhalten, nicht noch mehr zu sagen und es noch schlimmer
zu machen. Dann stieß er »Verdammte Scheiße« hervor, und Lucy
folgte seinem Blick und sah, dass Blut durch die Bandagen
sickerte.
»Ich weiß schon«, erklärte Pepper. »Das ist ein
böses Wort, das darf man nicht sagen.«
Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und seine
Wunden wieder zum Bluten gebracht, erkannte sie. Er blickte auf und
sah sie vorwurfsvoll an.
»Das hast du gemacht«,
stellte Lucy fest. »Versuche gar nicht erst, mir die Schuld dafür
zu geben, und Wilder genauso wenig.« Sie wandte sich zur Filmcrew
um und schrie: »Doc!«
Doc löste sich aus der Gruppe, und seine
Brillengläser blitzten, als er auf sie zukam.
»Rufen Sie bitte den Krankenwagen und lassen Sie
Connor in die Notaufnahme bringen, er blutet wieder«, wies sie ihn
an, und Doc nickte und ging zu Connor, der sie mit zornigen Augen
anblickte. Tja, Pech. Da hörte sie Reifen quietschen und wandte
sich um, als ein Wagen so heftig abgebremst wurde, dass die
Kieselsteine spritzten. Hinter dem Lenkrad saß Stephanie mit
wütendem Gesicht, und neben ihr Wilder, der so ausdruckslos blickte
wie immer. Das muss ja eine lustige Fahrt
gewesen sein, dachte Lucy. Dann stieg Karen hinten aus dem
Wagen und kam steif vor Anspannung auf sie zu.
Lucy packte das Stahlseil, das Stephanie ihr
gebracht hatte, und wartete, während Karen ihren Schritt
verlangsamte, um mit Nash zu sprechen. Der jedoch ging an ihr
vorbei, als existierte sie nicht.
»Tante Lucy?«, piepste Pepper.
»Was denn, Pepper?«, erwiderte Lucy, die Karen
beobachtete, und dachte: Du weißt doch etwas,
verdammt noch mal.
»Ich habe den Sumpfgeist gesehen«, berichtete
Pepper. »Der war in dem Haus da drüben.«
»Okay, Schatz«, sagte Lucy, als Karen sich ihr
näherte. Dann machte sie eine schräge Kopfbewegung zu den Bäumen
jenseits der Straße hin, und Karen folgte ihr.