3
Als sie endlich so weit waren, mit dem Drehen zu
beginnen, hatte Lucy bereits mit den meisten Mitarbeitern des Teams
gesprochen und hätte nichts lieber getan, als alles im Stich zu
lassen und zu ihrer Hundefutterwerbung zurückzukehren. Die Hunde
benahmen sich alle bedeutend besser.
Daisy weigerte sich, darüber zu sprechen, was mit
ihr nicht stimmte, Pepper erzählte verrückte Geschichten über einen
Geist im Sumpf, Althea war unkonzentriert, Connor rauchte vor Wut,
Bryce konnte einfach seine Klappe nicht halten, und Gloom summte
ständig »Holding Out For A Hero«, sobald Wilder in die Nähe kam.
Sogar die Maske ging ihr auf die Nerven, da eine der
Maskenbildnerinnen hinter Bryce her war. Die Frau war zu Lucy
hinaufgekommen und hatte nach ihm gefragt, wobei sie mit ihren
falschen Wimpern klimperte und ihr mit Lippenstift bemalter Mund
nervös arbeitete. »Ich muss unbedingt Bryce sprechen«, hatte sie
behauptet, und Lucy hatte sich gefragt: Warum?
Ein Make-up-Notfall?, und hatte sie wieder zum Basislager
hinuntergeschickt. Am schlimmsten aber war Wilder. Hätte sie sich
für eine einzige Person entscheiden müssen, die von der Brücke
fallen sollte, dann hätte sie ihn gewählt. Er tat nichts Falsches,
aber er brachte ihre Konzentration am meisten durcheinander.
Sie verbannte ihn entschlossen aus ihren Gedanken
und eilte dem Geländer zu, wo Althea Bergdorf, ihre
Hauptdarstellerin, im grellen Licht der Filmscheinwerfer mit Seilen
gesichert wurde. Pepper folgte ihr, und Lucy überlegte, ob sie sie
zu den Monitoren von Video-City zurückschicken sollte, ließ es dann
aber sein. Peppers Mom ging es zurzeit sehr schlecht. Pepper sollte
ruhig bei ihr bleiben, bis sie herausfand, was mit Daisy nicht
stimmte, und es in Ordnung bringen konnte.
Lucy verlangsamte ihren Schritt. Vielleicht hatte
Daisy ein komplizierteres Problem als einfach nur Müdigkeit.
Vielleicht war es ein Schrei nach Aufmerksamkeit gewesen, als
Pepper auf das Geländer kletterte. Vielleicht wollte sie, dass
jemand ihr zuhörte.
»Gibt es irgendetwas, worüber du gern sprechen
möchtest, Pepper?«, fragte Lucy und blickte in das runde
Gesichtchen ihrer Nichte hinunter.
Pepper nickte. »Da ist ein Geist in dem
Sumpf.«
»Nein, Schatz, ich meine, gibt es etwas, worüber du
dir Sorgen machst? Irgendetwas, was du gern möchtest? Oder etwas,
was du brauchst?«
Pepper blickte erschrocken drein, dann
nachdenklich, aber bevor sie antworten konnte, hörte Lucy Althea
rufen: »Lucy?«, und dachte: Ach, zum
Teufel. »Wir reden in einer Minute weiter, ja?«, vertröstete
sie Pepper, und das kleine Mädchen nickte erleichtert.
Als sie Althea erreichten, lehnte diese sich über
das Brückengeländer und blickte zu einem großen Reptil hinunter,
das auf der Sandbank darunter lag. Seelenverwandtschaft, dachte Lucy, die von Altheas
Umgang mit Männern gehört hatte. »Irgendjemand, den Sie kennen?«,
fragte sie.
Althea lächelte, ein perfektes Hollywood-Lächeln.
»Irgendwie erinnert der mich an einige der Jungs, mit denen ich was
hatte. Hören Sie, ich …«
Hinter ihnen sagte eine Frau: »Wir sind so weit«,
und Pepper schlüpfte geschickt zwischen Lucy und das Geländer, um
aus dem Weg zu sein.
Lucy wandte sich um und erblickte eine schlanke
Brünette, die sie mit so etwas wie Verachtung anstarrte. Ich kenne dich nicht einmal, dachte Lucy. Was hast du für ein Problem?
»Ich bin Stephanie, Ihre Assistentin«, erklärte die
Brünette. »Tut mir leid, dass ich nicht früher zur Stelle war.« Es
klang nicht so, als meinte sie es ehrlich. »Ich habe Connor
geholfen. Ich soll Ihnen von ihm bestellen, dass Altheas Seil
gesichert ist und wir loslegen können.« Sie legte eine leichte
Betonung auf Connor, als spräche sie von
einer Berühmtheit, hob das Kinn ein wenig und begegnete Lucys
Blick, als wollte sie sie davor warnen, irgendetwas anzuzweifeln,
vor allem das mit Connor. »Mir ist klar, dass Sie bei
Hundefutterwerbung wohl nicht viel mit Stunt-Seilen arbeiten,
deswegen würde ich mich an Ihrer Stelle einfach auf sein Wort
verlassen.«
Ach nein, wirklich?, dachte
Lucy und erkannte sie nun als die Frau, die sich mit Connor
gestritten hatte. »Reizend, Sie kennen zu lernen, Stephanie. Bitte
besorgen Sie mir ein Skript des Drehbuchs. Ein vollständiges
Skript, mit allen Seiten. Vielen Dank.«
Na komm, sei lieber hochnäsig zu jemandem, der
es wert ist. Sie wandte sich wieder Althea zu. »Sind Sie bereit
für die Szene? Miene des Entsetzens einsatzbereit?«
Althea blickte über das Geländer zu dem dunklen
Fluss hinunter. »Da unten liegt ein Krokodil«, und ihr Gesicht verzerrte sich in
gespielter Angst. »Die sind doch gefährlich.«
»Ja, da liegt ein gefährlicher Alligator«, sagte
Stephanie zu Althea in einem Tonfall, als spräche sie zu einem
kleinen Kind, das sie nicht leiden konnte. »Aber da er bestimmt
nicht hier auf die Brücke klettern wird, ist das müßig.«
Vorsicht, dachte Lucy und
war bereit, sie mit einem Tritt von der Brücke zu befördern, falls
Althea beleidigt reagieren sollte. Doch Althea nahm lediglich ihren
normalen Gesichtsausdruck wieder an und erwiderte: »Müßig. Witziger Name für ein Kroko.«
»Müßig?«, wiederholte
Pepper und vergaß, auf den Boden gekauert zu bleiben. Sie spähte
über das Geländer und richtete den Feldstecher hinab auf den
Alligator, der jetzt im Mondlicht dahintrieb.
Stephanie kräuselte ihre Lippen. »Ja, witziger
Name. Sind Sie bereit?«
»Aber sicher«, erwiderte Althea.
»Sie können jetzt gehen«, befahl Lucy Stephanie.
Und später werden wir uns darüber unterhalten,
dass man einen Hauptdarsteller nicht herablassend
behandelt.
Als Stephanie in der Dunkelheit verschwand, senkte
Althea das Kinn und sah ihr unter zusammengezogenen Augenbrauen
ohne das geringste Lächeln nach.
Großer Fehler, Stephanie,
dachte Lucy.
»Ich glaube, ›Müßig‹ hat nur ein Auge«, stellte
Pepper fest, die noch immer durch ihren Feldstecher starrte.
Althea begegnete Lucys Blick. »Vielleicht besorge
ich mir ein Huhn und werfe es dem alten ›Müßig‹ morgen
hinunter.«
»Besser, als Stephanie hinunterzuwerfen.«
Althea grinste. Diesmal war es ein echtes
Lächeln.
»Es ist ganz schlecht,
Alligatoren zu füttern«, stellte Pepper fest und blickte zu ihnen
auf. »Wenn man sie füttert, dann haben sie keine Angst mehr vor
Menschen und greifen sie an.«
Lucy blickte hinunter zu »Müßig«, der vom Fluss zu
ihnen hinaufschnaubte. »Zu spät. ›Müßig‹ hat schon jetzt eine sehr
geringe Meinung von uns.«
»Bryce wirft ihm Schoko-Dingdongs von Crafty
hinunter«, sagte Pepper traurig.
Althea ließ ihre Augen gen Himmel rollen und beugte
sich dann näher zu Lucy. »Hören Sie, könnten wir uns unterhalten?
Nach dieser Einstellung, meine ich? Es geht um Bryce. Und ein paar
andere Dinge.«
Ich vermisse die Hunde,
dachte Lucy. Die wollen nie eine
Unterhaltung. »Aber natürlich. Sind Sie bereit? Können wir
drehen?«
Althea nickte, und Lucy lächelte ihr aufmunternd zu
und eilte dann mit Pepper auf den Fersen zurück zu Video-City.
Dabei schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es vier sehr
lange Tage werden würden.
»Wie sieht’s aus?«, fragte Gloom, als sie sich auf
den Stuhl neben ihm fallen ließ.
»Meine Assistentin ist eine arrogante, hochnäsige
Ziege, die Connor für Gott hält, meine Hauptdarstellerin möchte mit
mir einen Schwatz über den Hauptdarsteller halten, und unter der
Brücke liegt ein Krokodil, das wahrscheinlich die Weinkarte
verlangen wird, sobald jemand von der Brücke fällt.«
»Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
»Na klar«, erwiderte Lucy, während Pepper auf den
ganz außen stehenden Stuhl zu ihrer Rechten kletterte und den Platz
dazwischen, der für ihre Mutter bestimmt war, frei ließ. Schon wieder kein Script Supervisor, dachte Lucy.
Das sieht Daisy gar nicht ähnlich.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Gloom.
»Ich habe allmählich das Gefühl, dass es der Crew
hier entschieden an Begeisterung mangelt«, antwortete Lucy und wies
mit dem Kopf auf Daisys leeren Stuhl.
»Das kann ich ihnen nachfühlen«, meinte Gloom und
rief: »Achtung, drehfertig machen«, und die Leute setzten sich in
Bewegung. Dann rief er: »Kamera ab«, jemand antwortete: »Kamera
läuft«, und ein Kameraassistent hielt eine Klappe vor Altheas
Gesicht, schrie: »Klappe, die erste«, und ließ sie
zusammenknallen.
Auf Lucys Kommando »Action« schlang Althea ihr Bein
über das Geländer, hievte sich hoch und schrie dann halbherzig, als
Rick sie wieder zurückzog und sie ungefähr mit der gleichen
Vehemenz als Dummkopf beschimpfte, mit der er einen Milchkaffee
bestellt hätte. Althea rief aus: »Was kümmert’s dich?«, als sei ihr
alles egal, und ließ sich von ihm zurück zum Auto ziehen.
Lucy schrie: »Schnitt«, und blickte Gloom an.
»Ganz entschiedener Mangel an Begeisterung«, befand
er. »Teil zwei: die Darsteller.«
Lucy nahm den Kopfhörer ab und ging hinüber zu
Althea. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Doch.« Althea blinzelte sie verwirrt an.
»Wieso?«
»Weil Sie es besser können als das da eben.«
Selbst meine Hunde könnten es besser als das
eben. »Stimmt etwas nicht?«
Althea nickte. »Nun ja. Es ist wegen Bryce. Er
…«
»Bryce spielt in dieser Szene nicht mit«,
entgegnete Lucy. »Wir werden es noch einmal versuchen und …«
»Noch mal?« Althea schien verblüfft.
Connor kam heran. »Was ist denn los? Du hast doch
die Szene im Kasten.«
Lucy wandte sich ihm zu, froh, dass sie endlich
jemanden anschnauzen konnte. »Hau
ab.«
»Was?«, fragte er, ebenso verblüfft wie
Althea.
»Du bist der Stunt-Koordinator«, erwiderte Lucy.
»Wenn du dir wegen ihrer Sicherheitsleine Sorgen machst, dann
überprüfe sie, aber sage mir nicht, weder
jetzt noch sonst irgendwann, ob ich eine
Szene im Kasten habe. Verstanden?« Connor
schrak zurück, und Lucy drehte sich zu Althea um. »Sind Sie jetzt
bereit, das mal echt zu spielen?«
»Jaa.« Althea richtete sich auf. »Ja, bin
ich.«
»Alles in die Ausgangsposition«, rief Lucy der
Mannschaft zu, während Althea zurück zum Geländer ging und Rick
seinen Platz neben dem Auto wieder einnahm. Auf ihrem Weg zurück zu
den Monitoren blieb Lucy bei ihm stehen. »Ich weiß nicht, was hier
vor sich geht, aber wir werden diese verfluchte Einstellung so
lange wiederholen, bis wir sie ein Mal gut draufhaben. Sind Sie
einverstanden?«
»Jawohl«, erwiderte Rick überrascht. »Mehr als
einverstanden.«
»Also gut, dann los.« Lucy ging zu den Monitoren
zurück und nahm Platz, und diesmal saß auch Daisy auf ihrem Stuhl.
»Irgendwas an diesem Dreh hier ist seltsam«, bemerkte sie zu
Daisy.
»Keine Ahnung, was du meinst«, erwiderte Daisy und
starrte mit ihrem Notebook auf dem Schoß vor sich hin, während die
Crew auf »Achtung«, »Kamera ab« mit »Kamera läuft« und »Klappe, die
zweite« antwortete und knallend die Klappe fiel.
Lucys Blick lag auf dem Monitor, und diesmal
schnellte Althea sich mit solchem Schwung über das Geländer, dass
Rick sie wirklich packen und zurückzerren musste, und sein »Du
Dummkopf!« klang ebenso echt wie Altheas herausgeschluchzter Schrei
»Was kümmert’s dich?«. Rick schrie in Erwiderung: »Eine tote
Geisel? Das kümmert mich sehr!«, und zerrte sie zum Auto zurück,
während sie sich mit Zähnen und Krallen widersetzte.
»Schnitt!«, rief Lucy und fühlte sich schon besser.
»Das war hervorragend. Wirklich gut, Leute.
Wiederholen wir’s noch einmal, und dann machen wir die
Naheinstellungen.«
Althea strahlte sie an und winkte sie zu
sich.
Ach, zum Teufel, dachte
Lucy und ging hinüber.
Althea neigte sich näher zu ihr. »Ich muss Sie
etwas fragen. Wissen Sie, von Frau zu Frau.«
»Ah«, machte Lucy und dachte: Du machst mich fertig.
»Na ja, ich weiß ja, dass Sie sehr viel zu tun
haben, weil das hier Ihr großer Durchbruch ist …«
»Ist er eigentlich nicht«, widersprach Lucy.
Woher haben die eigentlich diesen Blödsinn mit
dem großen Durchbruch?
»… aber was halten Sie von Bryce?«
»Guter Schauspieler«, antwortete Lucy
automatisch.
»Nein, ich meine, Sie wissen schon.« Althea wurde
ein wenig ungeduldig. »Als Mann.«
Lucy machte noch einen Versuch. »Scheint mir ein
wirklich netter Kerl zu sein.«
Gloom rief: »Machen wir weiter«, und Lucy lächelte
Althea an.
»Okay, diese letzte Klappe war sehr gut. Machen wir
noch eine, um sicherzugehen.«
Althea nickte. »Könnten Sie noch mal herkommen,
während die Kameras für die nächsten Einstellungen positioniert
werden?«
»Na klar doch.«
Lucy kehrte zu den Monitoren zurück und
beobachtete, wie Althea und Rick eine weitere überzeugende
Vorstellung gaben. Das könnte
funktionieren, dachte sie. »Fantastisch«, rief sie ihnen zu.
»Nächste Einstellung, bitte.«
Pepper kletterte auf den Stuhl neben ihr. »Ich hab
einen Apfel für dich.«
»Danke sehr«, erwiderte Lucy und dachte: Ich werde noch an einer Überdosis Äpfel sterben. Sie
warf einen Blick auf Daisy.
Daisy wirkte wie eine lebende Leiche, ihre Augen
waren gerötet, und die Lider sanken immer wieder herab, als kämpfte
sie darum, wach zu bleiben.
»Bist du sicher, dass du genug schläfst?« Lucy biss
in ihren Apfel und versuchte, es beiläufig klingen zu lassen.
»Mhmm.« Daisy hielt ihren Kopf tief über ihr
Notebook gesenkt.
So viel zu Schauspielkunst. »Daisy, was zum Teufel
…«
»Lass mich arbeiten«, schnitt ihr Daisy mit
gesenktem Kopf das Wort ab.
»Lucy!«, rief Althea, und Lucy ging zu ihr, wobei
sie über die Schulter zu Daisy zurückblickte.
Bei Althea angekommen, lobte sie: »Das war
großartig, Al«, aber ihr Blick lag weiter auf Daisy, die
zusammengekauert auf ihrem Stuhl hinter den Monitoren hockte.
»Vielen Dank«, erwiderte Althea. »Wissen Sie, eine
Frau, die Connor dazu bringen kann, das zu tun, was sie will, die
kennt sich wirklich aus.«
»Was?« Lucy ließ sich von Daisy ablenken.
»Ich brauche Ihren Rat«, fuhr Althea fort. »Über
Männer. Ich will Sicherheit, deswegen bin ich im Augenblick mit
Bryce zusammen. Er ist gut für meine Karriere. Aber ich möchte auch
etwas Dauerhaftes, verstehen Sie?«
»Aha«, machte Lucy, während sich ihnen Pepper
näherte. »Na ja, Bryce ist sicherlich reich genug. Er kriegt
Spitzengagen …«
Althea blickte sie stirnrunzelnd an. »Ich meine
nicht, dass er für meinen Unterhalt aufkommen soll, ich verdiene ja
selbst. Ich habe genügend Angebote. Aber ich will nicht allein
sein. Ich möchte Sicherheit, wissen Sie? Jemanden, auf den ich mich
verlassen kann.«
»Ach so.« Lucy nickte. »Emotionale Sicherheit.«
Und dann schläfst du mit einem
Schauspieler?
Connor kam etwa drei Meter von ihnen entfernt an
das Geländer heran, um die Kamerabühne an den richtigen Platz zu
dirigieren, und Althea drehte ihre Hüfte in einer Weise, dass er
ihren flachen Bauch und ihren schwellenden Busen in dem engen
Oberteil gut sehen konnte. Pepper beobachtete sie dabei und
versuchte dann, sie nachzuahmen, wobei ihr kleines, rundes
Bäuchlein sich da vorwölbte, wo bei Althea der Bauch fast bis zu
ihrer Wirbelsäule eingezogen war.
Connor blickte mehr oder weniger zufällig zu ihnen
hinüber und nickte ihnen zu, aber Lucy bemerkte, dass sein Blick
sich mit Altheas traf.
Althea hielt seinen Blick fest, bis er noch mal
nickte.
Oh Gott, bitte lass Althea
Bryce nicht mit Connor betrügen, flehte Lucy innerlich. Bryce
wirkte nicht wie einer, der es hinnehmen würde, wegen eines
Stunt-Koordinators sitzen gelassen zu werden. Und wenn er es
herausfand und beleidigt reagierte, dann Drehplan ade.
Althea wandte sich wieder Lucy zu. »Nicht nur
emotionale Sicherheit. Ich will auch körperliche Sicherheit. Ich
will alles komplett.«
»Körperliche Sicherheit? So was wie Bodyguards?«,
fragte Lucy.
»Nein, wie …« Altheas Blick ging zu Pepper. »Äh,
Befriedigungssicherheit.«
»Ach«, machte Lucy überrumpelt. »Nun ja. Die beste
Art, um, äh … sicherzugehen …« – sie blickte zu Pepper hinunter,
die mit großem Interesse lauschte – »ist, wenn man selbst über
alles Bescheid weiß.« Althea blickte verwirrt drein, deswegen fügte
Lucy hinzu: »Ich glaube, Sie müssen selbst wissen, was Sie wollen
und brauchen, und es Bryce sagen. Es ihm auch zeigen, wenn
nötig.«
»Hä?«, machte Althea. »Ich meine, im Bett.«
»Pepper, bitte hol mir doch einen Apfel, ja?«, bat
Lucy.
»Okay.« Pepper rannte zum Versorgungstisch
hinüber.
»Denn Sex ist wirklich
wichtig.« Althea runzelte zwar nicht die Stirn, doch offensichtlich
dachte sie schwer nach. »Und mir läuft allmählich die Zeit davon.
Ich brauche vierundsiebzig, bis ich auf jemanden stoße, der weiß,
was er will, und der mir dann treu bleibt.«
»Vierundsiebzig?«
Althea nickte. »Stephanie hat mir von diesem
Artikel erzählt, den eine Mathematik-Frau geschrieben hat und in
dem steht, dass man erst dann, wenn man mit fünfundsiebzig Männern
geschlafen hat, den Richtigen kennen lernt, zu dem man dann
gehört.«
»Ich verstehe«, erwiderte Lucy und dachte:
Mir scheint, ich muss mir meine Assistentin mal
ausführlich vorknöpfen. Dann erst ging ihr die wahre Bedeutung
auf. »Vierundsiebzig?«
Wieder nickte Althea. »Bryce ist Nummer
dreiundsiebzig. Nachdem ich das von Stephanie gehört hatte, habe
ich nachgezählt.«
»Aha, aha.« Lucy bemühte sich, positiv interessiert
zu klingen.
»Und mit Bryce ist das nicht … das Richtige«, fuhr
Althea fort. »Deswegen dachte ich an Nash, denn …« – sie warf
wieder einen Blick hinüber zu dem Stunt-Koordinator – »… der ist
scharf. Kein Wunder, dass Sie wieder zusammen sind.«
»Sind wir nicht. Aber …«
»Ich hätte gern jemanden wie ihn«, meinte Althea,
und ihr Blick ging an Lucy vorbei. »Jemanden, der stark ist wie er
und der mir treu wäre. Ich wette, dass so einer wie er gut im Bett
ist.« Sie blinzelte zu Lucy hinauf. »Ist er gut im Bett?«
»Nicht besonders«, log Lucy ohne Gewissensbisse und
hoffte, dass Althea es nicht bereits besser wusste. »Aber ich bin
mir sicher, dass Bryce …« Sie führte den Satz nicht zu Ende, da
Althea an ihr vorbeilächelte.
Lucy wandte sich um und erspähte Bryce, der
vollkommen normal aussah, neben seinem neuen Kumpel J. T. Wilder,
der unbestreitbar verdammt gut aussah, wenn man zugeknöpfte,
unbewegt dreinblickende, wortkarge Armeetypen ohne jeden Charme
mochte. Sie wandte sich wieder Althea zu.
Althea schien zugeknöpfte, unbewegt dreinblickende,
wortkarge Armeetypen zu mögen.
Verdammt, dachte Lucy.
»Bryce ist wirklich ein guter Kerl. Und er ist ein Star, Althea. Wirkliche Sicherheit.«
»Komiker«, versetzte Althea und blickte noch immer
Wilder an. »Er rutscht auf Bananenschalen aus. Tolle Sache.«
Lucy gab es auf. »Althea, wir haben nur noch vier
Drehtage. Bitte tun Sie bis Freitag nichts, was ihn auf die Palme
bringen könnte, sonst ist unser Drehplan beim Teufel.«
»Es würde ihn nicht auf die Palme bringen«,
entgegnete Althea. »Er treibt’s gerade mit einer der
Maskenbildnerinnen. Mary Soundso. Glauben Sie, dass ich J. T.
gefalle?«
»Sie gefallen jedem«, versetzte Lucy grimmig,
während Pepper mit einem Apfel in der Hand angerannt kam.
»Ich musste erst nach einem Gala-Apfel suchen«,
erklärte sie und hielt ihn Lucy hin. »Sie hatten fast nur Red
Delicious. Die schmecken nicht so gut, stimmt’s?«
»Stimmt.« Lucy nahm den Apfel und beobachtete dabei
weiter Althea, deren Blick noch immer starr auf Wilder gerichtet
war. »Danke, Pepper, das hast du ganz richtig gemacht.« Und ich muss schon wieder einen Apfel essen.
»Also«, fuhr Althea fort, »J. T. ist irgendwie in
der Armee?«
»Bitte sehr«, erwiderte Pepper und bedachte Althea
mit einem Stirnrunzeln.
»Offensichtlich«, antwortete Lucy. »Bryce scheint
in Fort Bragg auf ihn gestoßen zu sein.«
Althea fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.
»Was wissen Sie von ihm?«
»Absolut nichts.« Lucy biss vehement in ihren
Apfel.
»Er sieht wie ein Mann aus, auf den man zählen
kann, finden Sie nicht?«
Lucy schluckte. »Althea, wenn Sie nach etwas
Zuverlässigem suchen, dann vergessen Sie die Männer. Wenn Sie
wirklich mit dreiundsiebzig Exemplaren« – sie blickte zu Pepper
hinunter, die aufmerksam zuhörte – »liiert
waren, dann müssen Sie doch gemerkt haben, dass die sich oft … aus
dem Staub machen.«
Althea wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Lucy zu.
»Glauben Sie, dass Nash sich wieder aus dem Staub machen wird? Ist
es das, was das letzte Mal passiert ist? Als Sie noch jung
waren?«
Angeekelt musterte Lucy die Schauspielerin, die in
den Zwanzigern war. »Nein. Als ich noch jung war, belog er mich, und ich machte mich aus dem Staub.«
»J. T. sieht nicht aus wie ein Lügner«, meinte
Althea, indem sie zu dem ersten Objekt ihres Interesses
zurückkehrte. »Aber ich glaube nicht, dass er mit mir schon warm
geworden ist.«
»J. T. ist kein Lügner«, erklärte Pepper.
Lucy folgte Altheas Blick zu Wilder. Er stand ruhig
und wachsam inmitten des Chaos da und beobachtete alle um sich
herum mit diesen ausdruckslosen, kalten Augen. »Ich glaube nicht,
dass Captain Wilder überhaupt mit jemandem warm wird«, versetzte
sie. Obwohl es sicher interessant wäre, ihn ein
wenig zu provozieren.
»Ich kann einen Mann schon dazu bringen, warm zu
werden«, entgegnete Althea, und Lucy empfand eine Spur von Zorn,
der so berechtigt wie überflüssig war. »Und er sieht wirklich
zuverlässig aus. Könnte was zum Heiraten sein.«
»J. T. Wilder kommt mir nicht wie der Typ vor, der
heiratet«, erwiderte Lucy vollkommen ernst. »Jetzt aber zu der
nächsten Szene …«
Gehorsam kehrte Althea zu ihrem markierten Standort
zurück. »Zählen auch Frauen?«
»Welche Frauen?«
»Die Frauen, mit denen ich … bekannt war«,
antwortete Althea mit einem Blick auf Pepper. »Denn wenn nicht,
dann bin ich erst bei einundsiebzig.«
»Sie zählen«, meinte Lucy.
Althea nickte, und Lucy warf einen weiteren Blick
auf Bryce und seinen neuen Kumpel und hätte ihnen am liebsten
beiden einen Tritt gegeben. Sie hatte keine Lust, sich für Bryce
einzusetzen – der Volltrottel trieb es mit der Maskenbildnerin, und
sie selbst hätte ihn ebenfalls verlassen -, aber sie brauchte noch
vier Tage Waffenstillstand, und die würde sie auch kriegen, sofern
J. T. Wilder Althea nicht länger in Verwirrung stürzte,
verdammt.
»Krokodile essen keine Äpfel«, stellte Pepper
fest.
Althea lächelte zu ihr hinunter, als erkenne sie in
ihr eine verwandte Seele; eine, die alles sagen würde, nur um
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Du weißt aber viel über
Krokos.«
Pepper nickte. »Das Krokodil ist mein Tier des
Monats.«
»Ach«, machte Althea, und Lucy dachte: Und jetzt will sie wohl auch ein Tier des Monats,
und Wilder fiel ihr ein.
»Erzähl mir doch etwas Furchterregendes über sie«,
bat Althea das kleine Mädchen und schien offensichtlich Spaß an
Horrorgeschichten zu finden.
»Sie können schneller rennen als ein Pferd«,
dozierte Pepper feierlich. »Aber nicht sehr lange. Man könnte keine
Rennen mit ihnen machen oder so was.«
»Und sie haben scharfe Zähne«, setzte Althea
hinzu.
»Nein«, widersprach Pepper streng. »Sie haben
stumpfe Zähne. Sie beißen nicht, sondern packen nur zu. Und dann
reißen sie ihr Opfer in Stücke.«
Althea machte große Augen.
»Okay«, meinte Lucy fröhlich, »genug
Krokodilgeschichten. Warum wartest du nicht bei den Monitoren auf
mich, ja?«
»Na gut«, fügte Pepper sich, ohne sich zu bewegen.
»Ich weiß jetzt, was ich brauche. Weil du mich gefragt hast, weißt
du noch? Ich brauche eine Wonder-Woman-Barbie. Ich habe alle
Superhelden-Barbies außer der einen, und es wäre gut, wenn ich sie
alle hätte, dann können wir mit ihnen spielen, wenn ich mal
Freundinnen habe.«
Wenn ich mal Freundinnen
habe? Lucy blickte sie erschrocken an. Pepper hatte keine
Freundinnen. Nun ja, sie ging nicht zur Schule, denn Daisy
unterrichtete sie selbst, woher also sollte sie Freundinnen haben?
Das muss anders werden.
Inzwischen hatte Pepper nachgedacht und sagte
verwundert: »Weißt du, Supergirl hat weiße
Handschuhe. Das versteh ich nicht.«
Lucy lächelte Pepper zu. In die Schule kannst du
sie später bringen, jetzt mach sie einfach glücklich. »Eine
Wonder-Woman- Barbie. Ich werde mich darum
kümmern. Aber jetzt geh zurück zu Video-City, Schatz. Sag Gloom,
dass ich gleich nachkomme.«
Pepper nickte und ging mit hängenden Schultern
davon.
»Tut mir leid wegen des Vortrags über Krokodile.«
Lucy warf Althea einen raschen Blick zu. »Alles in Ordnung?«
»Tja, ich glaube, ich mag ›Müßig‹ doch nicht mehr
so gern«, erwiderte Althea, dann brach sie ab, da ihr Blick von
etwas in Lucys Rücken gefangen genommen wurde.
Lucy wandte sich um und entdeckte J. T. Wilder, der
mit steinernem Gesichtsausdruck da stand und ziemlich gefährlich
aussah.
Althea winkte ihm mit den Fingern zu.
Wilder aber blickte Althea an, als sei sie »Müßig«
persönlich.
Die kriegst du nicht klein,
dachte Lucy, die ist mehr auf Zack, als sie
aussieht.
»Ich bin jetzt für meine Nahaufnahmen bereit«,
bemerkte Althea und starrte weiter Wilder an.
»Ich sage Mr. DeMille Bescheid«, erwiderte Lucy und
wandte sich in Richtung Monitor um. Sie empfand mehr Ärger, als sie
eigentlich sollte.
Wilder beobachtete Armstrong, wie sie im Licht
der Filmscheinwerfer wieder zu Video-City zurückeilte und dabei den
nächsten Apfel anbiss. Äpfel und Frauen,
dachte er. Keine gute Geschichte.
Der Abendwind fuhr unter ihr Hemd und ließ es
zurückflattern, wodurch erneut ihre Kurven unter dem weißen T-Shirt
sichtbar wurden.
Nun ja, mit biblischen Geschichten hatte er sich
nie besonders gut ausgekannt.
Sein Satellitenhandy vibrierte in seiner Tasche und
schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um und
marschierte aus dem Licht der Filmscheinwerfer hinaus in die
Dunkelheit und zog dabei das Telefon hervor. Niemand kannte seine
Telefonnummer, abgesehen von seiner Truppe und einer Exfreundin,
die schon so lange Ex war, dass sie inzwischen wahrscheinlich
verheiratet war und vier Kinder hatte, und selbst sie durfte diese
Nummer eigentlich nicht wissen, da es sich um ein Armeetelefon
handelte. Was bedeutete, dass dies ein Notruf war.
Verflucht, dachte Wilder.
Wenn in seiner freien Zeit ein Alarm kam, hieß das nichts Gutes.
Bevor er antwortete, warf er einen Blick auf das Display: Nummer
unterdrückt.
»Captain Wilder«, meldete er sich knapp, und Bryce,
der mit dem Lederriemen seines Messers gespielt hatte, blickte
beeindruckt auf.
Aus dem Hörer erklang eine Stimme: »Captain
Wilder.«
Was zum Teufel? Genau das hatte er gerade gesagt.
Er wartete, und einige Augenblicke lang kam nichts als
atmosphärisches Rauschen, was Wilder als eine telefonische
Verwürfelungsvorrichtung erkannte, die am anderen Ende benützt
wurde. Das und die Tatsache, dass dieser Anruf durch eine
gesicherte militärische Satellitenverbindung zustande kam, ließen
ihn Böses ahnen.
»Captain Wilder, Sie wurden der CIA zur
Unterstützung zugewiesen und werden zu einem Treffen erwartet. In
einer Stunde. Imbisslokal in einem kleinen Einkaufszentrum in South
Carolina, kurz hinter der Talmadge-Brücke. ›Eddy’s‹.«
Das atmosphärische Rauschen brach ab, und Wilder
nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn an. Was
zum Teufel?
Er ließ das Telefon sinken und ertappte Bryce
dabei, wie er ernsthaft »Captain Wilder« mit den Lippen
artikulierte, dabei unterschiedliche Grimassen schnitt und
offensichtlich versuchte, Wilder nachzuahmen.
Wenn ich wirklich so
aussehe, dachte Wilder, dann gehe ich
lieber nie mehr ans Telefon.
Bryce bemerkte, dass Wilder ihn beobachtete, und
errötete.
»Ist das okay, wenn ich kurz verschwinde?«, fragte
Wilder. Wenn er Nein sagt, muss ich den Job
sausen lassen. Verfluchte CIA.
Bryce grinste ihn an und machte mit dem Kopf eine
Geste zum Telefon hin. »Freundin?«
»Äh, ja«, erwiderte Wilder. Ich
und die CIA. Wir stehen uns nahe.
»Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen.«
Bryce zwinkerte mit einem Auge.
Wilder wies mit dem Kinn zur Filmcrew hinüber. »Was
ist mit Armstrong?«
»Die übernehme ich schon, Kumpel.« Wieder zwinkerte
Bryce.
»Danke.« Wilder marschierte davon, bevor er ein
drittes Augenzwinkern ertragen musste, und war fast dankbar für den
Anruf.
Er eilte zu seinem Jeep und bemerkte dabei, dass
Armstrong ihn mit einem Ausdruck in den Augen beobachtete, den er
nicht recht deuten konnte. Nicht mein Tag
heute, dachte er. Sie hatte ihn hier nicht haben wollen, aber
Bryce hatte es mit Gewalt durchgesetzt. Es wäre vielleicht eine
gute Idee, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen und zu versuchen,
die Wogen ein wenig zu glätten. Schließlich konnte er den
Treffpunkt von hier aus fast sehen, von der Brücke aus einfach ein
wenig nach Norden. Und er hatte eine Stunde Zeit, um dorthin zu
gelangen. Er konnte sich bei der Chefin abmelden, wie es sich
gehörte, und ihr das Gefühl geben, dass er ihre Führungsposition
respektierte, und dabei außerdem das T-Shirt ein wenig näher unter
die Lupe nehmen. Schließlich war er nicht scharf auf dieses
Treffen. Alles, sogar eine Mitarbeit bei diesen bescheuerten
Dreharbeiten, war besser als ein Treffen mit der CIA.
Er änderte die Marschrichtung und eilte auf
Armstrong zu.
»Ich habe eigentlich Urlaub, aber gerade kam ein
Anruf«, begann er, als er sie erreicht hatte. »Bryce sagte, es wäre
okay, wenn ich ein paar Stunden lang fort bin.«
Sie zuckte die Schultern, was das T-Shirt noch
attraktiver machte. »Wenn es Bryce nichts ausmacht, dann kommen Sie
einfach morgen Nachmittag wieder her. Um ein Uhr fangen wir an zu
drehen.«
»Gut.« Er trat von einem Fuß auf den anderen und
überlegte, wie er Frieden schließen konnte. »Geht’s Ihrer Tochter
wieder gut? Ich wollte sie nicht erschrecken, als ich sie so
plötzlich packte.«
Sie wirkte erschrocken. »Pepper? Sie ist nicht
meine Tochter, und Sie haben sie nicht erschreckt. Sie ist meine
Nichte, und es geht ihr gut, dank Ihnen.«
Na, das war doch schon mal was. Sie war ihm
dankbar, und Pepper war nicht ihre Tochter. Ȁh, meine Verabredung
ist in einem Einkaufszentrum … Brauchen Sie irgendetwas?«
»Eine Wonder-Woman-Barbiepuppe«, antwortete sie, dann fiel
ihr Blick über seine Schulter hinweg auf etwas. »Ich danke Ihnen
nochmals wegen Pepper, Captain Wilder«, erklärte sie und eilte dann
um ihn herum in Richtung auf irgendein Problem zu, das sie erspäht
hatte, und er roch ihren Duft, kein Parfum, sondern etwas Milderes,
vielleicht eine Seife.
»In Ordnung«, erwiderte er, während sie schon
davonging. »Wonder Woman.« Er schüttelte
den Kopf, sog tief die frische Luft ein und machte sich dann auf
den Weg zu seinem Jeep. Die CIA schien doch etwas für sich zu
haben.
Wilder fand Eddy’s
Restaurant in einem dunklen, heruntergekommenen kleinen
Einkaufszentrum mit einem rostigen alten Schild mit der Aufschrift
CHERRY HILL PLAZA, in dem die Hälfte der Läden leer stand. Das
Gebäude wurde auf der einen Seite von Eddy’s und auf der anderen Seite von einem
Herren-Club namens Maraschino’s flankiert,
was ihm irgendwie vertraut klang. Wahrscheinlich hatte einer der
Jungs davon erzählt, überlegte Wilder. Höchstwahrscheinlich
LaFavre. Der hatte eine Vorliebe für Stripperinnen.
Die Läden, die noch existierten, waren eine
Blumenhandlung, ein Laden für Nähmaschinen, eine schwarz
gestrichene Fensterfront, auf der in greller Leuchtschrift
Jäx Comix geschrieben stand, und eine
Versicherungsagentur. Kein Spielzeugladen. Aber im Schaufenster des
Comicladens hing ein Poster von Wonder
Woman. Es war der einzige Laden, der so spät noch geöffnet
hatte. Wilder stellte sich Armstrongs Gesicht vor, wenn er mit
einer Wonder-Woman-Puppe auftauchte. Dann
sah er sie vor sich, wie sie über die Brücke gegangen war und wie
der Wind ihr Hemd hatte flattern lassen.
Die CIA konnte warten. Bis in alle Ewigkeit, wenn
es nach Wilder gegangen wäre.
Im Laden war es düster. Es gab viele schwarze
Regale voller Videobänder und DVDs und Körbe voller Comics in
sauberen Plastikhüllen. Hinter dem Ladentisch beugte sich ein
dünner Typ in den Zwanzigern mit einem Anflug von Bart über ein
Comicbuch, die Hände schützend darübergelegt, und stritt sich mit
einem Kind von etwa zwölf Jahren, das schon längst im Bett hätte
liegen sollen. Der Bursche hinter dem Ladentisch hörte auf zu
streiten, als er Wilder sah. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Haben Sie eine Wonder-Woman-Puppe?«, fragte Wilder und ignorierte
das Kichern des Zwölfjährigen. Er blickte am Verkäufer vorbei und
entdeckte in einem Regal eine Schaufensterpuppe, eine von denen,
die ohne Kopf, Arme und Beine nur auf den Oberschenkeln standen.
Über dem Plastiktorso spannte sich ein enges rotes T-Shirt mit
dünnen Streifen und mit einem über der Brust aufgedruckten
doppelten gelben W. Darunter saßen enge blaue Shorts mit weißen
Sternen.
»Wonder Wear«, erklärte der
Bursche, der Wilders Blick gefolgt war. »Wonder-Woman-Kampfanzug, Miederhemd und Höschen.
Hundert Prozent Baumwolle. Sehr beliebt. Fünfundzwanzig Mäuse. Für
sechzig Mäuse haben wir das komplette Kostüm mitsamt Umhang,
Armreifen und dem Lasso der Wahrheit.«
Lasso der Wahrheit?
Der Bursche musterte Wilder von oben bis unten.
»Wir haben auch die Superman-Boxershorts
mit dem Super-Kampfschild. Für zwölf Mäuse.«
»Einfach nur die Puppe.« Wilder wandte sich ab und
sah ein lebensgroßes, aufrecht stehendes Pappbild einer Frau, die
mehr oder weniger die gleiche Kleidung trug, mit dichtem, dunklem
Haar, das sich um ihr Gesicht wellte, während sie ein gelbes Seil
zwischen ihren Händen straffte. Sie sah nicht aus wie seine etwas
vagen Erinnerungen an Wonder Woman als
strahlende, fröhliche Pfadfinderin, sondern eher wie eine zu allem
entschlossene, patriotische Domina. Noch schlimmer, sie sah
Armstrong ähnlich.
Klar, genau dieses Bild hat mir
noch gefehlt, dachte er und versuchte, wenigstens das Seil aus
seiner Fantasie zu verbannen. Das Lasso der Wahrheit. Tja, das
ergab Sinn. Wenn Armstrong diese Kleidung tragen würde und ihn mit
dem Lasso fesselte, dann würde er ihr alles gestehen, was sie hören
wollte. Jeder redete, wenn er unter entsprechenden Druck gesetzt
wurde. Das brachten sie einem in Bragg bei. Er warf noch einen
Blick auf die Pappfigur. Ja, Armstrong in dieser Verkleidung, das
wäre der entsprechende Druck. Er bemerkte, dass der Zwölfjährige
ihn ansah, und starrte den Kleinen nieder.
Der Bursche hob eine große blaue Schachtel auf den
Ladentisch. »Wonder-Woman-Puppe,
Actionfigur-Spezialedition. Mit dabei ist die Geschichte des Comics
in gebundener Ausgabe, und ein Nachdruck des ersten Comichefts.
Sehr schwer zu finden, siebzig Mäuse.«
Die auf der Schachtel dargestellte Frau glich
ebenfalls nicht seiner Erinnerung von Wonder
Woman. Sie sah aus wie ein Bild seiner Urgroßtante Maude. Maude
in Eile.
»Aber heute«, fuhr der Bursche fort, »ausnahmsweise
sechzig.«
Hinter ihm schien sich der Wonder-Woman-Kampfanzug zu bewegen. Armstrong könnte
diese Klamotten wahrhaft zur Geltung bringen. Er fragte sich, wie
wohl ihr Haar aussah, wenn es nicht zu diesem Zopf geflochten
war.
»Okay, okay«, rief der Verkäufer. »Ich sehe Ihnen
an, dass Sie ein Sammler sind, und die Schachtel ist schon ein
bisschen abgenutzt. Fünfzig.«
Wilder versuchte, sich Althea in diesem
»Kampfanzug« vorzustellen, was eigentlich leicht hätte sein sollen,
da sie ja die gleiche Art von rotem T-Shirt mit schmalen Trägern
getragen hatte, aber sie war einfach nicht … stark genug. Wieder
blickte er die lebensgroße Pappfigur an. Er konnte sich Althea mit
den Armreifen vorstellen, aber das Lasso passte nicht.
»Ich weiß«, sagte der Verkäufer resigniert. »Sie
haben bei eBay nachgesehen und wissen, dass ich es dort für
ungefähr vierzig anbiete. Also gut, okay, vierzig. Aber das ist
mein letztes Angebot.«
Bei Armstrong andererseits konnte er sich leicht
vorstellen, wie sie mit diesem Seil knallte …
»Und ich lege noch das Heft mit den Ultimativen Wonder-Woman- Aufklebern gratis drauf«,
setzte der Bursche mit Verzweiflung in der Stimme hinzu.
»Schön«, erwiderte Wilder und versuchte, Armstrong
und das Seil aus seinen Gedanken zu verbannen. So viel zu Comics
als Kinderkram.
Der Bursche nickte erleichtert. »Gratuliere«,
ächzte er und ging, um den Karton zu verpacken. »Wonder Woman ist wirklich scharf.«
Der Zwölfjährige kicherte erneut.
»Komm wieder, wenn du dreizehn bist«, riet Wilder
dem Kleinen und bezahlte.