13
Lucy sah Stephanie blutüberströmt hinter dem
Steuerrad sitzen, stieß ein »Nein!« hervor und riss die Fahrertür
auf. J. T. hielt sie zurück.
»Nicht berühren«, rief er, und Lucy hielt inne,
denn sie wusste, dass er Recht hatte.
Vorsichtig griff er über Stephanie hinweg,
schaltete den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab, und Stephanie
stöhnte und versuchte, sich gegen den Gurt aufzurichten.
»Stephanie, wir sind ja hier, alles wird gut«,
beschwor Lucy sie. »Wo tut es Ihnen weh? Können Sie sich
bewegen?«
J. T. hämmerte mit grimmigem Gesicht die Nummer des
Rettungsdienstes in sein Handy. Bitte, lass sie
nicht im Sterben liegen, dachte Lucy und legte ihre Hand sanft
auf Stephanies Schulter, fast ohne sie zu berühren.
»Stephanie?«
Stephanie wandte ihren Kopf um. Ihr Gesicht war
verzerrt, und um den Mund herum war Blut. »Das ist nur Ihre
Schuld«, sagte sie mit belegter Stimme.
Sie hustete und stöhnte dann, und Lucy erklärte:
»J. T. ruft den Rettungswagen an. Es wird bald jemand kommen. Kann
ich Ihnen helfen … gibt es irgendwas …«
»Gehen Sie weg.« Stephanie
hustete, ihr Kopf schwankte, und Lucy trat zurück, aus Angst, sie
noch mehr aufzuregen. »Nash. Ist er …«
»Connor, komm hierher«, schrie Lucy, und er kam von
hinten um den Wagen herum. »Sie ist verletzt und will dich
sehen.«
»Ach ja, und wessen Schuld ist das?« Nash trat ans
Seitenfenster. »Bist du okay?«, fragte er Stephanie.
»Es tut mir leid«, hauchte Stephanie. »Aber ich
musste dich aufhalten …«
»Wo sind die Schlüssel?« Nash griff an ihr vorbei
und berührte das Zündschloss.
»Bitte«, flehte Stephanie, und J. T. hielt Nashs
Schlüssel empor.
Nash grabschte sie und ging zur Rückseite des
Lieferwagens. Stephanie hustete wieder und begann zu weinen, wobei
sie eine Hand hob, um sich ihre Rippen zu halten.
»Verdammt.« Lucy ging zur Rückseite des Wagens und
packte Nash am Arm. »Geh zu ihr und sprich mit ihr. Sie ist doch
wichtiger als der verdammte Wagen.«
Nash schüttelte sie ab, schloss die hintere Klappe
auf und öffnete sie. Darin erkannte Lucy das Stunt-Gewehr in seinem
Ständer, die Brustgeschirre sauber aufgewickelt in ihren
Halterungen, alles stabil gesichert und durch den Unfall kaum
durcheinandergebracht.
Nash seufzte vor Erleichterung. »Nichts
beschädigt«, stellte er fest und zog sein Handy hervor.
»Bist du von Sinnen? Stephanie
ist beschädigt.«
»Ja, und zwar weil sie meinen Wagen gestohlen hat.«
Wieder begann Nash, auf die Tasten seines Handys
einzuhämmern.
Lucy packte die kalte Wut. »Was für ein Monster
bist du eigentlich? Mein Gott, du warst schon immer ein Lügner,
aber du hattest wenigstens Gefühle. Was ist bloß mit dir
los?«
»Du reagierst da, glaube ich, ein bisschen
irrational, mein Liebes«, entgegnete er, während er dem Klingeln
des Telefons lauschte.
»Irrational?« Lucy holte tief Luft. »Wenn man von
einem Menschen erwartet, dass er sich um einen anderen kümmert, ist
das nicht irrational. Wenn ich von dir erwarte, dass du freundlich
zu einer Frau bist, die dich liebt, ist das nicht irrational.
Wenn ich erwarte, dass du das verfluchte
Telefon weglegst, wenn jemand dich braucht, ist das nicht
irrational.«
Als er sie ignorierte, riss sie ihm das Handy aus
der Hand und schleuderte es in den Sumpf, wo es mit einem Glucksen
aufschlug und versank, ohne eine Spur zu hinterlassen.
»Was zum Henker?«, schrie Nash und drehte sich zu
ihr um.
»Das war irrational«,
erklärte Lucy und ging zu J. T. zurück, der sanft mit Stephanie
sprach.
»Der Rettungswagen wird jede Minute hier
eintreffen«, sagte er gerade, als Lucy ihn erreichte. »Können Sie
Ihre Beine bewegen?«
»Sie tun so weh«, schluchzte Stephanie.
»Das ist gut«, beruhigte J. T. »Sie haben noch
Gefühl in den Beinen. Sie haben sie sich vielleicht gebrochen, als
Sie gegen die Brücke gefahren sind, aber Knochenbrüche heilen
wieder. Sie …«
Lucy vernahm Sirenen, die immer näher kamen, und J.
T. lächelte Stephanie durchs Fenster zu.
»Nur noch eine Minute jetzt. Gleich wird’s Ihnen
besser gehen. Nur noch eine Minute.«
Lucy lehnte sich gegen die Wagentür und biss sich
auf die Lippe, da kam Nash heran.
»Herrgott, was bist du für eine verrückte Ziege«,
fluchte er, und Lucy war sich nicht sicher, ob er sie oder
Stephanie meinte, doch J. T. richtete sich auf. »Ich brauche dein
Handy«, knurrte Nash Lucy zu. »Und zwar sofort.«
»Geh zum Teufel«, erwiderte Lucy und ging zum Jeep
zurück. In diesem Augenblick hielt der Krankenwagen neben
ihnen.
»Lucy, ich mache keinen Spaß«, blaffte Nash hinter
ihr.
Lucy kletterte in den Jeep und blickte sich dann
um. J. T. stand zwischen ihr und Nash und versperrte ihm den
Weg.
»Ich kann entweder um dich herum- oder durch dich
hindurchgehen, Kumpel«, drohte Nash.
»Nein, das können Sie weiß Gott nicht«, entgegnete
J. T., und dann drängten die Sanitäter an ihnen vorbei, und Nash
rannte, um die hintere Klappe des Lieferwagens zu schlie ßen.
Lucys Handy klingelte, und als sie sich meldete,
hörte sie Finnegans Stimme: »Lucy?«
»Was wollen Sie?«, fragte sie knapp, nicht in
Stimmung für seinen irischen Charme.
»Ist Connor zufällig in der Nähe?«
»Nein«, log Lucy. Sie würde nicht für zwei
Psychopathen Sekretärin spielen.
»Können Sie mir sagen, ob er seinen Lieferwagen
gefunden hat?«, fragte Finnegan.
»Ja. Er ist in die Brücke gekracht, zusammen mit
der Frau, die ihn gefahren hat.« Sie bemerkte, dass sie zitterte.
Sie fühlte, wie das Handy sich an ihrer Wange bewegte. Da war Blut
um Stephanies Mund. Bedeutete das innere Verletzungen?
»Hatten wir einen Unfall?«
»Wir hatten keinen«, gab
Lucy scharf zurück. »Wir bluten jetzt nicht
das ganze Auto voll.« Zu viele Unfälle, zu viel
Blut. »Das hat jetzt ein Ende. Ich breche die Dreharbeiten
Ihres verfluchten Films ab. Gehen Sie doch samt Ihren vier
Millionen Dollar zum Teufel.«
»Warten Sie«, rief
Finnegan. »Legen Sie ni…«
»Vergessen Sie’s. Gehen Sie mit Ihrem Maulwurf
spielen.«
»Ich treffe Sie in …«,
schrie Finnegan, da schaltete Lucy das Handy aus und sah zu, wie
die Rettungsleute arbeiteten, um Stephanie aus dem Wagen zu
bergen.
»Ich bleibe bei ihr im Krankenhaus«, sagte sie zu
J. T., als er sich auf den Fahrersitz schwang.
»Nein, das tun Sie nicht.« Er schaltete den Motor
ein. »Ob gerecht oder nicht, sie gibt Ihnen die Schuld, und wenn
sie Sie sieht, regt sie sich nur wieder auf.«
Er begann, den Jeep zurückzusetzen, als Lucy
meinte: »Wir sollten wenigstens so lange hierbleiben, bis …«
»Lassen Sie Nash sich damit herumschlagen.« J. T.
fuhr rückwärts bis zur Straße. »Sie will nur ihn, und wenn wir
nicht mehr da sind, muss er selbst alle Fragen beantworten.
Schließlich ist er ja auch derjenige, der die Antworten
kennt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine Folgendes: Als ich aus Ihrem
Campingwagen kam, hörte ich das Geräusch des Lieferwagens, der
davonfuhr, und Nash war zwar wütend, aber er jagte nicht hinter
Stephanie her, sondern telefonierte.«
Lucy schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen immer
noch nicht folgen.«
»Nash hat jemanden angerufen, der sie stoppen
sollte«, erklärte J. T. »Und dieser Jemand hat den Unfall
verursacht.«
Lucy schluckte. »Das würde er doch nicht tun. Er
würde doch nicht …« Ich weiß es nicht,
gestand sie sich selbst ein. Ich kenne ihn
überhaupt nicht mehr. Er ist nicht mehr Connor, er ist ein verrückt
gewordenes, mörderisches Arschloch.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte J. T.
»Nein«, erwiderte Lucy. »Nicht mal
annähernd.«
Fünf Minuten später hielt Wilder vor Lucys
Wohnmobil an. Er war unsicher, wie er ihr helfen konnte. »Hören
Sie, Stephanie wird sich wieder erholen. Sie konnte sprechen, sie
konnte klar denken, und der Rettungswagen war schnell zur Stelle
…«
»Ich weiß«, erwiderte Lucy. »Aber hier geht
irgendetwas vor, und ich weiß nicht, wie ich dem ein Ende setzen
soll.«
»Hey«, sagte er sanft und fühlte sich schuldbewusst
wegen der CIA. Sie wandte sich ihm zu und lächelte ihn im schwachen
Licht der Lagerscheinwerfer kläglich an.
»Sie jedenfalls sind zu hundert Prozent richtig.
Vielen Dank für alles, dafür, dass Sie so nett zu Stephanie waren
und dass Sie mich dorthin gebracht haben und für all die Geschenke
für Pepper.«
Er zuckte die Achseln und wusste nicht, was er
sagen sollte.
»Ach ja, richtig. Sie sind ja der starke,
schweigsame Typ.« Lucy beugte sich vor und gab ihm einen raschen
Kuss auf die Wange. »Sie sind der Allerbeste, J. T. Wilder.«
Dann stieg sie aus und ging zum Campingwagen, bevor
er sich wieder ausreichend fassen konnte, um »Warten Sie« zu
sagen.
Das war wahrscheinlich gut so. Es war schon spät.
Und der Abend war hart für sie gewesen.
Sie hielt ihn für den Allerbesten.
Wilder setzte den Jeep in Bewegung und fuhr die
Staubstraße hinunter, auf der Pepper in den Sumpf gelangt war. Er
hatte vorher alles dort ausgekundschaftet und herausgefunden, dass
die Straße ein kleines Stück hinter der Stelle endete, wo er den
Jeep geparkt hatte. Es würde also wohl kaum jemand dort
entlangkommen. Dennoch, die Wälder waren voller gefährlicher
Kreaturen.
Eine davon war er selbst. Ja,
und wenn ich auch wandere im Tal des Todes, so fürchte ich nichts
Böses, denn ich bin selbst einer von ihnen, einer der Bösesten in
diesem Tal. Er war versucht, zum Versteck zu gehen und sich
seine MP-5-Maschinenpistole wiederzuholen. Im Zweifelsfall stärkere
Feuerkraft einsetzen. Zweifel hatte er genug, denn es gab noch zu
viele offene Fragen, angefangen damit, wie zur Hölle Finnegan es
drehen wollte, dass ihm die Investition von vier Millionen Dollar
in einen Film einen Gegenwert von fünfzig Millionen Dollar in
Phallussymbolen aus Jade einbrachte.
Ich bin für die CIA hinter
einem Kerl her, der hinter Schwänzen aus Stein her ist, dachte
er. Dabei wäre es um vieles leichter, einfach
jemanden zu erschießen.
Ach, zum Teufel damit für heute Abend. Es gab
Schöneres, an das er denken konnte.
Lucy Armstrong. Im Wonder-Woman-Kampfanzug.
Er vergaß die MP-5 und packte seine Bettrolle, die
hinten im Jeep lag. Dann nahm er einen chemischen Leuchtstab und
brach ihn auf, so dass das grüne Glühen ihm ein wenig Licht
schenkte, als er in den Wald eintauchte. Ungefähr zwanzig Meter vom
Waldrand entfernt war ein etwa dreißig Zentimeter hoher,
ringförmiger Erdwall angelegt, der mitten unter den massiven
Eichenbäumen und Palmbüschen einen Kreis mit etwa zwanzig Meter
Durchmesser bildete. Ein Kreiswall aus Muschelschalen, den die
Eingeborenen angelegt hatten, indem sie jahrelang Muscheln
aufeinanderlegten, die dann mit der Zeit mit Erde und Gras bedeckt
wurden. Ein natürlicher Schutzring.
Wilder hängte den chemischen Leuchtstab an einen
Palmenwedel. Dann zog er die Bungee-Leine ab und rollte die sich
selbst aufblasende Schlafmatte aus. Sie war nur einen Zentimeter
dick, aber dick genug, um den Boden nicht mehr zu spüren, und
darauf kam es an. Er hatte auf dem Ding schon überall auf der Welt
geschlafen, in den Bergen Afghanistans mit ihren Minusgraden ebenso
wie in einem von der Hitze ausgedörrten Wadi im Irak.
Als sich die Matte zu seiner Zufriedenheit mit Luft
gefüllt hatte, schloss er das Ventil, legte sich dann mit dem
Rücken darauf und verstaute den chemischen Leuchtstab in einer
Tasche, die das Leuchten abdeckte. Er deckte sich mit dem Poncho
bis über die Brust zu und starrte in den Himmel hinauf. Er trug
noch seine Kleidung und die Stiefel. Wie auf einer Mission. Er zog
die Glock heraus und legte sie griffbereit neben sich auf die
Matte. Genau wie auf einer Mission. Dann dachte er wieder an Lucy.
Nicht wie auf einer Mission.
Gute Schwingungen. Das war es, was Wilder zu diesem
Ort hingezogen hatte. Gutes hatte sich hier ereignet. Hier waren
Menschen glücklich gewesen. Durch das Laub der Eichen konnte er
vereinzelt Sterne über sich sehen. Der Geruch des Sumpfs, kräftig
und lebendig, kam mit einer leichten Brise herüber. Es könnten sich
hier noch mehr gute Dinge ereignen. Vielleicht würde es später dazu
kommen, wenn die Gefahr gebannt war, wenn die Stunts vorüber waren
und der Film zu Ende gedreht war. Er drehte sich auf die
Seite.
Unter den Sternen hatte er schon immer gut
geschlafen. Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht gab es da Nash.
Finnegan. Letsky. Lucy.
Vergiss die Mission für eine Weile. Wilder
konzentrierte sich auf Lucy. Er lächelte und entspannte sich zum
ersten Mal seit Tagen.
Als Lucy in den Camper stieg, saß Daisy am Tisch,
die Flasche Glenlivet und ein halb geleertes Glas vor sich, und
lauschte Susanna McCorkle, deren »It Ain’t
Necessarily So« aus Lucys iPod erklang.
»Hey«, machte Lucy.
»Selber hey.« Daisy füllte ihr Glas nach und schob
Lucy die Flasche zu. »Habt ihr den Lieferwagen gefunden?«
»Stephanie ist in die Brücke gekracht. Jetzt ist
sie auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Lieferwagen …« Lucy wurde sich
bewusst, was sie getan hatten, und lachte freudlos. »Nash steht
jetzt mitten in der Pampa auf der Straße, mit einem demolierten
Wagen und ohne Handy, und muss den Cops erklären, was da passiert
ist. Wenn das nicht lustig ist.« Sie ließ sich in einen der
Drehsessel fallen und ergriff die Flasche. »Gott, was für ein Tag.
Herrgott, was für ein Abend.«
»Warum zum Teufel hat sie den Lieferwagen
genommen?«, fragte Daisy mit rauer Stimme.
»Wollte die Dreharbeiten stoppen«, meinte Lucy und
bemerkte, dass Daisy wieder grimmig dreinblickte. »Daize, lass dich
davon bitte nicht verrückt machen …«
»Zu spät.« Daisy nahm einen Schluck. »Kommt sie
wieder in Ordnung?«
»Ich weiß nicht. Aber sie konnte sprechen.« Lucy
biss sich auf die Lippe. »Sie wollte mich nicht in ihrer
Nähe.«
»Na ja, du bist eben ihre Hauptrivalin um Connor.
Nicht dass sie da eine Chance hätte, aber …«
»Den kann sie haben«, erklärte Lucy und dachte
daran, wie Nash sie angesehen hatte. »Mein Gott, wie bösartig er zu
ihr war.«
»Na ja, da ist sie ganz allein selbst schuld.«
Daisy lehnte sich zurück und hielt ihr Glas vor der Brust. »Als die
Dreharbeiten begannen, ging er mit Karen ins Bett. Stephanie hat
sich einen feuchten Dreck darum geschert.«
»Ich glaube, mit Althea hat er’s auch getrieben«,
meinte Lucy und erinnerte sich daran, wie nervös die Schauspielerin
es abgestritten hatte. »Ich wundere mich, dass er dich nie
angemacht hat.«
»Ich bin eben wie eine kleine Schwester für ihn«,
erwiderte Daisy ausdruckslos. »Er kümmert sich um mich.« Wieder
nahm sie einen Schluck und seufzte dann. »Na ja, er hat mir
fünfzigtausend gegeben. Ich glaube nicht, dass ihm klar war, dass
er mich da hineingezogen hat. Als ich nicht mehr schlafen konnte,
hat er mir die Tabletten besorgt. Und als ich dich haben wollte,
gab er Finnegan Bescheid und hat dich dann selbst angerufen.« Sie
hob die Schultern. »Er kümmert sich wirklich um mich. Und ich habe
mir immer wieder eingeredet, dass das gut für dich wäre. Ich
wollte, dass es dein gro ßer Durchbruch würde.«
»Ich hatte meinen großen Durchbruch«, erwiderte
Lucy gereizt. »Deswegen bin ich in New York. Das ist die Hauptstadt
der großen Durchbrüche.« Sie beugte sich vor. »Hör mal, vergiss
Nash. Ich werde mich um dich kümmern. Komm mit Pepper zu mir. Ich
habe ein großes Loft. Da ist genügend Platz, und …«
»Ja«, sagte Daisy müde und ergeben.
»Oder nicht.« Lucy stellte ihr Glas ab. »Ich meine,
ich hätte dich gern bei mir, aber nicht, wenn du dich dann elend
fühlst.«
Daisy zuckte wieder mit den Schultern. »Ach weißt
du, New York ist eben deine Stadt.«
»Ja, ich hasse L. A. wirklich«, gab Lucy
schuldbewusst zu. »Aber New York ist nicht gerade ein Dorf. Da gibt’s eine Menge Leute, die mich nicht
kennen.«
»Vielleicht könnten wir einen Kompromiss finden.«
Daisy beugte sich ebenfalls vor. »Wir könnten hier im Süden
bleiben. Pepper gefällt es hier so sehr. Es ist wärmer, und das
Leben geht ruhiger vor sich. Wir könnten ganz von vorn anfangen.
Ein ganz neuer Ort für uns beide. Ein Neuanfang für alle, und wir
sind wieder eine Familie.«
Susanna sang leise im Hintergrund, und Lucy dachte:
Ich brauche keinen Neuanfang.
Daisy hatte es wohl an ihrem Gesichtsausdruck
erkannt. »Oder vielleicht auch nicht.« Sie lehnte sich zurück. »Hör
mal, es tut mir wirklich leid, dass ich so laut ins Horn gesto ßen
habe und allen erzählt habe, das hier sei dein großer Durchbruch.
Ich hatte einfach die Hoffnung, dass du und Connor … Weißt du, er
war wirklich gut zu uns, Lucy, und fantastisch mit Pepper. Und er
liebt dich wirklich.«
Lucy seufzte und trank einen Schluck Scotch. »Ich
weiß. Er schien immer genau das, was ich mir wünschte, so stark und
tapfer und mutig, aber er ist auch ein Lügner und Betrüger. Gloom
hatte Recht. Er hat sich nicht geändert, er ist jetzt nur weniger
offensichtlich ein egoistischer Mistkerl.« Und
jetzt sitzt er im Dreck. Sie sah Daisy an. »Ich habe gerade
deine zweiten fünfzigtausend Eier in den Wind geschossen, Babe. Hab Finnegan gesagt, dass ich den Dreh
abbreche.«
Daisy riss die Augen auf. »Und er lässt es
zu?«
»Er hatte keine Wahl. Ich habe aufgelegt. Und Nashs
Handy in den Sumpf geworfen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß
nicht, wie weit sie das stoppt, aber wenigstens kann ich sie ein
bisschen ausbremsen, damit ich Zeit habe, die Crew nach Hause zu
schicken.«
Daisy seufzte. »Die zweiten fünfzigtausend waren
sowieso zu schön, um wahr zu sein.« Dann nickte sie. »Danke, dass
du mich wieder gerettet hast.«
Lucy winkte ab. »Weißt du, ich kann es gar nicht
glauben, dass ich je gedacht habe, Nash könnte der Mann sein, den
ich brauche.«
»Du hast Will Kane
gebraucht«, meinte Daisy voll Zuneigung.
Lucy stellte ihr Glas mit einem Knall ab. »Gibt’s
eigentlich irgendjemanden, der diesen
verdammten Film noch nicht gesehen hat?«
»Nur du.« Daisy lächelte sie an. »Sogar Pepper hat
ihn schon gesehen. Apropos, ich wollte dir noch Danke sagen für den
schönsten Abend im Leben meiner Tochter.«
Lucy ließ sich entspannt in den Plüschsessel
zurücksinken, während Susanna im Hintergrund sang und mit ihrer
sanften Stimme Lucys Puls etwas beruhigte. »Sie war wirklich
glücklich über das alles, nicht?«
»Ich schulde dir etwas, Luce«, meinte Daisy.
»Nein, tust du nicht. Sie ist schließlich meine
Nichte, ich tue das eine oder andere für sie, weil ich ihre Tante
bin.«
»Und weil ich dir etwas schulde«, fuhr Daisy fort,
»werde ich dir jetzt einen wirklich guten Rat geben.«
»Na toll.« Lucys Lächeln verschwand. »Okay. Warum
nicht?«
»Ich finde, du solltest losgehen und dir diesen
Green Beret unter den Nagel reißen.«
Lucy richtete sich auf. »Wie bitte?«
Daisy nickte bekräftigend. »Ich habe gesagt
…«
»Ich weiß, was du gesagt hast. Du sagtest, ich
sollte losgehen, mir einen Mann krallen, der nie das geringste
Interesse an mir gezeigt hat, und ihn fragen, ob er mit mir
schlafen will. Lass mich kurz nachdenken. Nein.«
»Ach, komm schon.« Daisy lehnte sich zurück, viel
entspannter als zu Anfang. »Der kann doch kaum seine Augen von dir
lassen.«
»Das muss an den Wonder-Woman-Klamotten liegen.«
»Er ist für dich aus dem Helikopter gesprungen,
Luce, was willst du noch mehr?«
»Ich weiß nicht.« Sie trank von ihrem Scotch und
dachte darüber nach. »Ein Signal wäre nicht schlecht. Weißt du,
irgendein Zeichen, dass er sich für mich interessiert.« Mein offenes Haar hat ihm gefallen.
»Es hat ihm gar nicht gefallen, als du während der
Party mit Nash draußen warst.«
»Mir hat es nicht gefallen,
als ich mit Nash draußen war. Weißt du, so ist eben J. T. Er rettet
jeden.«
»Aha, jetzt heißt es J. T., ja?«, stellte Daisy
grinsend fest. Susanna begann leise »Someone To
Watch Over Me« zu singen, und ihr Lächeln verblasste. »Ich
liebe dieses Lied.«
»Ja, das ist ein gutes.«
»Und das hast du immer getan.« Daisy blickte
traurig in ihr Glas. »So lange ich mich erinnern kann, warst du
immer da und hast über mich gewacht. Und tust es immer noch.« Sie
biss sich auf die Lippe. »Danke, dass du die Dreharbeiten
abgebrochen hast.«
»Na ja, du weißt ja, die große Schwester«, meinte
Lucy vage.
»Und wer wacht über dich, Luce?« Daisy blickte sie
über ihr Glas hinweg an. »All die Jahre, als wir aufwuchsen und du
immer auf mich aufgepasst hast, wer hat da auf dich
aufgepasst?«
»Hey«, machte Lucy und setzte sich auf.
»Und dann hast du Nash geheiratet, aber er hat das
nicht besonders gut hingekriegt, was? J. T. würde gut auf dich
aufpassen.«
»Hör mal …«
»Und du könntest auf ihn aufpassen, denn das
braucht er auch, Luce. Ihr wärt wirklich gut füreinander.«
Lucy schüttelte den Kopf. »Wenn du mit mir nach New
York kommen würdest, dann könnten wir aufeinander aufpassen.« Sie
beugte sich vor. »Wirklich, Daize. Da gäbe es Arbeit für dich, und
eine Schule für Pepper, und ein College für dich, und ich vermisse
euch so sehr …«
»Das alles gibt es hier im Süden auch«, erwiderte
Daisy und wirkte wieder angespannt. »Und außerdem noch, du weißt
ja, Wärme.«
»Alligatoren«, versetzte Lucy.
»Den Ozean.«
»Hurrikans.«
»J. T.«
Lucy hielt den Atem an. Ȁh,
Riesen-Hurrikans.«
Daisy schüttelte den Kopf. »Bist du wirklich
glücklich in New York?«
»Na ja …« Lucy blickte stirnrunzelnd in ihr Glas.
»Ich mag meine Arbeit. Und New York ist die großartigste Stadt der
Welt. ›Glücklich‹ wäre vielleicht etwas übertrieben.«
»Es ist nämlich so: J. T. ist ständig hier im
Süden, nicht nur wegen der Dreharbeiten. Er unterrichtet in Fort
Bragg.«
»Er unterrichtet?«, wiederholte Lucy
verblüfft.
»Ja. Das hat mir Bryce erzählt. Er unterrichtet an
so einer Art Militärakademie. Du könntest ihn dann jeden Tag sehen.
Pepper könnte ihn dann jeden Tag sehen. Sie
sagt dauernd, dass sie sein Ei ist. Sie sehnt sich auch nach einer
Familie. Und sie möchte ihn in der Familie
haben.«
»Damit kann ich nicht dienen. Ich glaube nicht,
dass er der Typ des Familienvaters ist.« Lucy versuchte zu
entspannen und dem schrecklichen Tag die Schärfe zu nehmen. »Das
ist wirklich ein wunderschönes Lied.« Sie schloss die Augen und
lauschte den weichen Klängen. »Komisch, dass alles, was wirklich
gut ist, schon einige Jahre auf dem Buckel hat. Achtzehn Jahre
alter Scotch, siebzig Jahre alte Musik …«
»Captains in den Dreißigern«, setzte Daisy
fort.
»Daize …«
»Das ist kein Ulk, Lucy«, beharrte Daisy. »Ich
meine es ernst. Er ist ein wirklich guter Kerl. Mach deine Augen zu
und denke über ihn nach. Über ihn, nicht über die Dreharbeiten oder
sonst irgendeinen Mist, sondern über ihn. Es liegt dir nämlich
einiges an ihm, Lucy. Das sieht man.«
Daisys Stimme wurde untermalt von Susanna, die
sang: »There’s somebody I’m longing to
see«, und Lucy erinnerte sich daran, wie nahe J. T. ihr im
Sumpf gewesen war, wie er sie aufgefangen hatte, als sie stolperte,
und mit starken Händen gehalten hatte. Wie J. T. sie geschützt
hatte, als Nash sie bedrohte, und dann J. T. neben ihr im Jeep, J.
T., der für sie aus dem Helikopter sprang, J. T., wie er einfach
dastand, jeder Zoll ein Held. Sie ließ das ständige Gefühl der
Verantwortung von sich abfallen und gab sich der Erinnerung an
seine Gesichtszüge hin, an die Art, wie bei ihm zögernd ein Lächeln
erschien, an das Licht in seinen Augen …
Oh Gott, dachte sie,
lass nicht zu, dass ich mich in ihn verliebe.
Mit Lust kann ich umgehen, aber …
»Bitte, vermassle das nicht, Luce«, flehte
Daisy.
»Du mischst dich da bitte nicht hilfreich
ein.«
»Doch, das tue ich.« Daisy schob ihr Glas zur
Seite. »Ich habe zu viel getrunken, um jetzt noch Auto zu fahren,
und ich bin so müde, dass ich hier im Sessel einschlafen könnte.
Aber ich werde hinten ins Bett zu Pepper kriechen. Falls du dich
entschließt, zum Hotel zu fahren, dann wecke mich auf, wenn wir
dort sind, damit ich schon mal packen kann. Aber ich hoffe, dass du
das nicht tust. Ich hoffe, du gehst los und suchst den Kerl, der
dich genauso braucht, wie du ihn brauchst.«
»So eine Romantikerin«, meinte Lucy, um einen
lockeren Ton bemüht.
Daisy machte sich kopfschüttelnd auf den Weg zur
Bettkoje, in der ihre Tochter bereits schlief und von Wonder Woman träumte.
»Warte«, rief Lucy, und Daisy wandte sich um. »Ich
möchte, dass wir zusammenbleiben. Ich will das hier nicht mehr
verlieren.«
Daisy nickte. »Ich auch nicht.«
»Also werden wir uns irgendetwas überlegen«, fuhr
Lucy fort. »New York oder hier, wir werden schon etwas finden. Aber
auf alle Fälle zusammen. Okay?«
Daisys Augen füllten sich mit Tränen. »Okay«, sagte
sie mit versagender Stimme.
»Und wir kümmern uns umeinander«, fügte Lucy hinzu
und nickte bekräftigend.
Daisy erwiderte das Nicken und schniefte.
»Dann gute Nacht«, schloss Lucy und musste selbst
gegen Tränen ankämpfen.
Daisy eilte zu ihr zurück und umarmte sie genauso
heftig wie Pepper. »Ich hab dich so lieb, Luce«, flüsterte
sie.
»Ich hab dich auch lieb, Baby«, sagte Lucy und
drückte ihre Wange gegen Daisys Haar, als sie die Umarmung
erwiderte. »Und wie sehr. Von jetzt an bleiben wir zusammen.«
Daisy nickte und löste sich dann schniefend. »Aber
wir brauchen auch einen Mann, einen netten, um die Stereoanlage
einzustellen und so weiter. Geh und hol dir den Green Beret. Der wäre gut.«
»Ich weiß nicht, ob er sich stereomäßig auskennt«,
erwiderte Lucy, und Daisy stieß ein schluchzendes Lachen aus und
ging zu Bett.
Lucy wischte sich die Tränen ab, während Susanna
weitersang. Ein Mann in ihrem Leben, das wäre gut. Dann rollte sie
über sich selbst die Augen gen Himmel. So etwas Antifeministisches,
nach einem Mann zu seufzen, der auf sie aufpassen sollte. »Frauen
haben Männer so nötig wie Fische ein Fahrrad.« Tja, das war falsch.
Eine Frau brauchte einen Mann so nötig, wie eine Frau eben einen
Mann nötig hatte. In ihrem Fall sogar sehr. Susanna sang über
Bedürfnisse, und Lucy schluckte den Scotch hinunter und verlor sich
in der Musik, bis sie bemerkte, dass sie wieder Tränen in den Augen
hatte. Da richtete sie sich auf und dachte: Mein Gott, wie armselig. Dürftig und armselig. Ein
bisschen Scotch, und ich verflüssige mich. Halt, ganz falsch. Ich
bin doch hart und zäh. Ich brauch doch keinen Mann nicht, der mich
liebt, von wegen. Nie nicht.
Aber es half nichts. Als Susanna dann das nächste
Lied begann und sang: »There were chills up my
spine«, war Lucy verloren. Das will ich
auch, dachte sie. Ich will jemanden ansehen
und will diesen Schauer spüren. Ich will jemanden berühren und
diesen Schauer fühlen. Susanna sang die nächste Strophe und
dann wieder diesen gefühlvollen Refrain, und Lucy dachte: Nicht einfach jemanden. Ihn. Sie hatte sich so sehr
auf Daisy, auf Pepper, auf den Film konzentriert, aber trotz
alledem hatte sie gefühlt, wie er ihr unter die Haut ging. Er
summte in ihrem Blut, er ließ sie schneller atmen, wenn er ihr nahe
war, und ihre Augen suchten nach ihm, wenn er nicht da war.
Das ist nur Begierde, sagte
sie sich selbst. Vollkommen verständlich. Und gesund.
Und J. T. kam dabei auch sehr gut weg, nicht nur,
was den Sex betraf. Er war so zurückhaltend, dass es ihm
wahrscheinlich schwerfiel, eine Beziehung zu anderen herzustellen,
eine wirkliche Beziehung, keine Althea-Beziehung. Ich könnte ihm echte Wärme schenken. Ich könnte ihn
retten … Sie erlaubte sich, zu fantasieren und sich
vorzustellen, wie sein Mund sich leidenschaftlich auf den ihren
legte, auf ihren Körper, und alles verschwamm vor ihren Augen, bis
Susanna die letzte gefühlvolle Textzeile gesungen hatte. Dann
dachte Lucy: Genug gewartet. Es war doch
nichts falsch an einem guten, gesunden Sprung ins Heu mit einem
guten, gesunden Burschen, wenn man einen harten Tag hinter sich
hatte. Ein bisschen Anspannung abbauen, sich ein bisschen
menschliche Wärme schenken.
Es mit J. T. zu treiben, bis ihr das Gehirn
schmolz.
Na gut, ich will ihn,
dachte sie und war erleichtert, dass sie es sich endlich
eingestand.
Und ich will ihn
jetzt.
Da stellte sie ihren Scotch ab, schaltete den iPod
aus, suchte sich ihre Taschenlampe und ging hinaus in den Wald, um
ihn sich zu holen.