15
Bis Wilder den Jeep gestartet und Lucy eingeholt
hatte, war sie schon hundert Meter weit gegangen und schritt
kräftig aus. »Komm schon, Lucy«, rief er wieder und fuhr im ersten
Gang neben ihr her, wobei er immer wieder die Kupplung trat, um
sich ihrer Geschwindigkeit anzupassen. »Komm, steig schon
ein.«
Sie blickte nicht in seine Richtung, sondern ging
einfach weiter.
Na gut, er arbeitete also für die CIA, und er war
schon verheiratet gewesen. Aber theoretisch gehörten die Jungs von
der CIA zu den Guten, und verdammt, er war geschieden. Sie sollte
eigentlich glücklich darüber sein. Wilder hatte nie so recht
begriffen, was in Frauen vor sich ging. Deswegen hatte er auch zwei
Exfrauen, vermutete er. Das erinnerte ihn daran, was jetzt wohl von
ihm erwartet wurde.
»Es tut mir leid!«
Lucys Kopf drehte sich kurz in seine Richtung, und
erschrocken sah er, dass Tränen in ihren Augen glitzerten.
»Lucy!«
Mit steinernem Gesicht ging sie weiter. »Was tut
dir leid?«
Mist. Dass er sie belogen hatte? Dass er zweimal
verheiratet gewesen war, bevor er sie kennen gelernt hatte? Dass
ihn die CIA in diese Scheiße hineingeritten hatte? Dass er je
geboren worden war?
»Alles, womit ich dir wehgetan habe.« Das sollte
doch wohl genügen. »Weine nicht.«
Lucy blieb stehen und wandte sich ihm zu, also
schaltete er in den Leerlauf und hielt den Jeep an.
»Ich weine nicht«, erwiderte sie mit fester Stimme.
Eine Minute lang stand sie einfach da und schien zu verdauen, was
er ihr gesagt hatte, es hin und her zu wenden und womöglich von
beiden Seiten zu braten. Frauen. Es hatte schon einen Grund, warum
er bei den Special Forces ausschließlich
mit anderen männlichen Männern zusammen war. Dann stellte sie fest:
»Okay. Ich bin wütend.«
Das seh ich. Er nickte
vorsichtig.
»Ich weiß, dass ich übertrieben reagiere, aber …«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, kein Aber. Ich reagiere
übertrieben, Punkt. Du hast Recht, letzte Nacht, das war einfach
nur letzte Nacht, und kein Grund, sich darüber aufzuregen.«
Sie blickte ihn sehr direkt an, als wartete sie
darauf, dass er etwas sagte, und er nickte wieder, denn er wusste
nicht, was er sagen sollte, war sich aber ziemlich sicher, dass
alles, was er sagen könnte, falsch wäre.
Lucy drehte verärgert die Augen gen Himmel. »Ach,
hör schon auf, mich so anzusehen. Ich weiß, du hast keine Ahnung,
weswegen ich wütend bin.« Sie blickte ihn wieder sehr direkt an.
»Lüge mich nicht noch einmal an.«
Wilders Schultern entspannten sich.
»Niemals.«
»Denn, trotz deiner Exfrauen …« Sie holte tief
Atem. »Ich vertraue dir wirklich, du Mistkerl.«
Wilder nickte. »Das kannst du auch.«
Sie schluckte. »Dieser Film. Und diese Leute alle.
Meine Familie. Ich bin für sie alle verantwortlich. Das ist wie …«
Sie zögerte. »Das ist meine Mission.«
Wieder nickte Wilder.
»Und deswegen lasse ich nicht zu, dass die CIA
meine Dreharbeiten für ihre Zwecke benützt und mein Team in Gefahr
bringt. Meine Leute sind mir wichtiger als ein CIA-Einsatz. Ich
breche die Dreharbeiten ab, J. T.«
Mist. »Steig ein, Lucy«,
forderte er sie noch einmal mit sanfter Stimme auf.
»Keine Lügen mehr.«
»Ich habe nicht gelogen«, entgegnete er. »Ich habe
dir nur nicht die ganze Wahrheit gesagt.«
»Das zählt«, meinte sie und stieg ein.
Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Dann
hast du mich ebenfalls belogen.«
Sie fuhr herum, um ihn anzusehen, und knurrte: »Ich
habe dich nie …«
»Daisy ist nicht deine Schwester«, unterbrach er
sie, denn er wusste, dass sie es nicht sein konnte. Sie waren
einfach zu verschieden.
»Sie ist in jeder Hinsicht, die zählt, meine
Schwester«, erwiderte Lucy kalt.
»Adoptiert?«
Lucy schluckte. »Das gleiche Waisenhaus.«
Scheiße. »Tut mir
leid.«
»Muss es nicht.« Lucy blickte wieder geradeaus. »Es
war ein gutes Heim. Niemand hat uns wehgetan. Es ging uns gut. Und
sie ist meine Schwester. Sie ist absolut meine Schwester.«
Klar, dachte Wilder.
Und Waisenkindern geht’s ja so gut. Junge,
Junge, das erklärt einiges. »Sieh mal …«
»Daisy und ich, wir sind Schwestern, seit sie ein
Jahr alt war und ich fünf. Das sind jetzt neunundzwanzig Jahre, und
das ist für mich gut genug.«
Also gut. »Schnall dich
an«, bat er sie sanft.
»J. T., es ging uns wirklich ganz gut«, bekräftigte
Lucy und schnallte sich an, doch im gleichen Augenblick kam ihnen
aus der Richtung des Basislagers ein schwarzer Wagen entgegen,
schleuderte und kam quietschend quer vor ihnen zum Stehen, so dass
er sie blockierte. Wilder erkannte Crawford hinter dem Steuer.
Crawford in einem Anzug, und er wirkte älter als der Junge, den er
in dem Imbissrestaurant getroffen hatte. Crawford starrte ihn mit
einem kalten Blick an, ganz anders als der Ausdruck, den er vorher
zur Schau getragen hatte.
»Wer zum Teufel ist denn das?«, fragte Lucy.
»Ich habe kei…« Wilder riss sich zusammen. »Mein
CIA-Kontaktmann. Crawford.«
»Was will denn der hier?«
»Ich weiß es nicht.« Okay, die
Sache mit der Wahrheit funktioniert ja so weit ganz gut. Er war
ihr noch eines schuldig. »Hör mal, ich habe nicht gelogen, als ich
hierher zu euch kam. Bryce hat mich wirklich angeheuert. Eine
simple Geschichte, dachte ich. Aber in Wirklichkeit hatte die CIA
das alles eingefädelt. Dieser Kerl …« – er wies mit dem Kinn auf
Crawford, der jetzt auf sie zukam – »… hat mich völlig überraschend
angerufen, um sich am Abend des ersten Tags mit mir zu treffen. Das
war die Verabredung, zu der ich an dem Tag fuhr, als ich Pepper
diese Wonder-Woman-Puppe mitbrachte. Und er
hat mich über Finnegan informiert.«
Lucy versteifte sich. »Was ist mit Finnegan?«
Himmel, wo sollte er nur anfangen? Wilder setzte
gerade an zu antworten, da tauchte Crawford neben ihm auf. Er
zückte einen Ausweis, und Wilder betrachtete ihn mit
zusammengekniffenen Augen. Da stand, dass Crawford ein Spezialagent
des FBI sei. Was zum Teufel sollte das jetzt wieder?
»Sir, kann ich Sie einen Augenblick
sprechen?«
Wilder konnte nicht widerstehen. »Was?«
»Bitte steigen Sie aus dem Wagen«, forderte
Crawford ihn mit ernster Miene auf. Entweder war er sehr gut, oder
er verstand gar nichts. Wilder war sich nicht mehr sicher.
Er öffnete die Tür und schwang sich heraus.
Crawford legte ihm eine Hand auf den Arm und führte ihn ein Stück
weg vom Jeep.
»Was zum Teufel ist eigentlich passiert?«, wollte
Crawford wissen, als sie außer Hörweite waren. »Da gibt es einen
Polizeibericht über einen Unfall mit einem Lieferwagen der
Filmgesellschaft.«
»Die Assistentin der Regisseurin dieses Films,
Stephanie …« Wilder wurde sich bewusst, dass er nicht einmal ihren
Nachnamen kannte. »Sie fuhr mit dem Stunt-Lieferwagen davon, um die
Dreharbeiten morgen zu verhindern, weil sie dachte, dass diese
Stunts nicht in den Film passen. Nash hat all das Zeug aus dem
Lieferwagen in Sicherheit gebracht.«
»Gut«, meinte Crawford.
»Gut?«, echote Wilder.
»Die Dreharbeiten müssen wie geplant
weitergehen.«
»Warum?«
Crawford überging die Frage und machte eine
Kopfbewegung zum Jeep hin. »Wer ist sie?«
Wilder blickte zu Lucy zurück, die mit
verschränkten Armen dasaß und sie aus schmalen Augen beobachtete.
»Das ist Lucy Armstrong, die Regisseurin.«
Crawford nickte und hatte sie schon wieder
vergessen. »Sie haben also diese Stephanie gegen die Brücke
gejagt?«
Na klar, und dann haben wir auf
den Rettungswagen gewartet. »Nein. Es passierte, bevor wir
hinkamen. Wir riefen den Notdienst und blieben, bis er da
war.«
Crawford nickte wieder. »Nur um sicherzugehen: Die
Cops sagen, es sah aus, als hätte sie die Kontrolle über den Wagen
verloren.«
Wilder schwieg.
»Es gibt keine Anzeichen für Fremdeinwirkung«, fuhr
Crawford fort, um das Schweigen zu überbrücken. Er starrte Wilder
an. »Haben Sie irgendeine Veranlassung, etwas anderes zu
vermuten?«
»Eine andere als die Situation?« Wilder schüttelte
den Kopf. »Armstrong wird die Dreharbeiten abbrechen.«
»Nein. Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Alles geht wie
geplant weiter.«
»Und ich habe Sie gefragt, warum, was Sie ignoriert
haben, deswegen ignoriere ich jetzt Sie«, gab Wilder zur Antwort,
während sein Gehirn ihm gleichzeitig die Antwort lieferte:
Weil du weißt, dass Finnegan in der Nähe ist,
du Arschloch.
Crawford fixierte Wilder mit einem Blick, der ihn
zehn Jahre älter wirken ließ. »Das ist ein Befehl.«
»Mir können Sie Befehle geben«, erwiderte Wilder,
»aber ihr können Sie nichts befehlen.«
»Ich kann Ihnen den Befehl geben, sie zu
überreden.«
»Und wie?«
»Benützen Sie Ihre Fantasie«, näselte Crawford.
»Wenn Sie das nicht schon getan haben.«
Wilder ging auf die Provokation nicht ein, und
Crawford machte einen leichten Rückzieher. »Hören Sie, das ist sehr
wichtig.« Er nickte nochmals zum Jeep hin. »Bringen Sie sie zurück,
wo immer sie hingehört. Treffen Sie mich in zwei Stunden in dem
Restaurant. Dann erkläre ich es Ihnen. Im Augenblick müssen Sie
Ihre Tarnung aufrechterhalten.«
Die Tarnung ist im Arsch,
Junge. Kopfschüttelnd ging Wilder zum Jeep zurück.
»Was wollte er?«, fragte Lucy, als er wieder neben
ihr saß.
»Er will mich in zwei Stunden treffen.« Er blickte
zu ihr hinüber. »Das lässt uns genügend Zeit, um uns Mary Make-up
vorzuknöpfen.«
»Nur, wenn du mir über Finnegan reinen Wein
einschenkst. Ich will alles wissen.«
Wilder kuppelte den Jeep ein und fuhr los in
Richtung Norden. »Finnegan war ein IRA …«
»Ach, zur Hölle.« Lucy stieß die Luft aus.
»Entschuldige. Sprich weiter.«
»Dann ist er so was wie ein unabhängiger
Unternehmer geworden, und jetzt glaubt die CIA, dass er diesen Film
benutzt, um Geld zu waschen.«
Lucy runzelte die Stirn. »Und warum verhaften sie
ihn dann nicht?«
»Sie haben keine Beweise, und sie wissen nicht, wo
er ist.«
»Ach, verdammt zur Hölle.«
»Sie sagten mir, dass Finnegan nicht mal im Land
sei. Entweder ist das falsch, oder sie haben mich belogen, und im
Augenblick bin ich unentschieden, welches davon zutrifft.« Wilder
schüttelte den Kopf. »Aber da ist etwas faul an ihrer Theorie, denn
Finnegan braucht fünfzig Millionen, und die verschafft er sich
niemals durch diesen Film.«
»Oh Gott, nein. Niemand verdient fünfzig Millionen
mit dieser Katastrophe. Wofür braucht er denn so viel?«
»Er schuldet diese Summe der russischen Mafia. Oder
zumindest einen Teil davon.«
»Der russischen Mafia?«, ächzte Lucy schwach.
»Finnegan hat präkolumbianische Phallussymbole aus
Jade, die fünfzig Millionen Dollar wert sind, für einen russischen
Mafiaboss namens Letsky gestohlen, der glaubt, dass sie Impotenz
heilen. Dann hat er sie wieder verloren. Und irgendwie soll dieser
Film es Finnegan ermöglichen, sich mit Letsky wieder
gutzustellen.«
Lucy blickte zu ihm hinüber, wie vor den Kopf
geschlagen. »Heißt das, dass wir diese Hölle durchmachen, weil
irgendein russischer Mafiatyp keinen mehr hochkriegt?«
Wilder dachte darüber nach. »Tja.«
Lucy schwirrte der Kopf. »Präkolumbianische
Was waren das?«
»Phallussymbole aus Jade. Im Prinzip
Jadepenisse.«
»Aha.« Lucy nickte. »Vielleicht ist das nicht der
richtige Zeitpunkt, um das zu fragen, aber: Was, zur Hölle, ist bloß mit euch Männern
los?«
»Äh …«
»Nash fickt alles, was sich bewegt, Bryce fickt
alles, was sich bewegt und ihn um ein Autogramm bittet, LaFavre
fickt alles, ob es sich nun bewegt oder nicht, und jetzt hat die
russische Mafia Finnegan angeheuert, damit er ihnen etwas besorgt,
um …« Sie schüttelte den Kopf. »Sogar die Präkolumbianer waren
schon auf Schwänze fixiert. Was kommt als Nächstes? Titten so groß
wie ein Fesselballon?«
Verdammtes Glück, dass sie
nichts von Ginny weiß, dachte Wilder.
»Ich verstehe einfach nicht, wie ihr Jungs jemals
die Welt unter eure Kontrolle bekommen habt«, fuhr Lucy fort. »Die
halbe Zeit über habt ihr ein blutleeres Gehirn, und trotzdem seid
ihr in den meisten Regierungen dieser Welt, den meisten Unternehmen
und im gesamten Militär am Ruder.« Sie blinzelte. »Was eigentlich
eine Menge erklärt, wenn ich’s mir genauer überlege.«
Wilder warf ihr verstohlen einen Blick zu. Sie
starrte durch die Windschutzscheibe. Er entschied sich für das
Gegenteil eines Vorschlaghammers und blieb still.
Sie fuhren an den Striptease-Clubs vorbei, die die
Hauptstraße säumten, bevor sie zur Brücke und nach Georgia hinein
kamen. Die Reklameschilder waren alt und kündigten ein vollkommen
nacktes Unterhaltungsprogramm an, was Wilder nicht weiter
verlockend fand. Er war aber sicher, dass LaFavre diese Lokalitäten
alle von innen kannte.
Wohl nicht der richtige Zeitpunkt, dies Lucy
gegenüber zu erwähnen.
Außerdem höchste Zeit, die Themen CIA, Finnegan und
die Russen fallen zu lassen.
Und auch kein Wort über Waisenhäuser.
Oder über Exfrauen.
Scheiße, dachte Wilder.
Nicht gut.
Sie kamen zu der Rampe der Talmadge-Brücke und
begannen, die Schräge hinaufzufahren. Linker Hand kam ein Lastkahn
heran, das Deck voller Container. Ein paar Schlepper hielten ihn in
der Fahrrinne, während er langsam dem Hafen rechts von der Brücke
zustrebte. Das wäre ein guter Job. Ein einfacher Job. Einfach nur
ein Schiff auf geradem Kurs halten. Kein Ärger mit der CIA und mit
Finnegan und mit wem auch immer, der hinter ihnen stand; auf all
das konnte er gerne verzichten.
Wieder warf er einen raschen Blick hinüber zum
Beifahrersitz.
Aber nicht auf Lucy.
Es war ein neuer Gedanke, die Vorstellung einer
gemeinsamen Zukunft mit ihr. Vielleicht sah er es noch nicht so
klar und deutlich wie sie, aber er sah ganz eindeutig eine
Möglichkeit, wenn sie erst eine Weile lang zusammen wären. Das
hätte er ihr sagen sollen. Mist. Mit Frauen war er einfach
ungeschickt.
Er vermutete, dass zwei Exfrauen so etwas wie ein
Indiz dafür waren.
Sie fuhren schweigend über die Brücke und bogen
dann in den Parkplatz des Hotels für die Filmcrew ein. Erst dann
begann sie wieder zu reden.
»Ich glaube, Stephanie hat das Kletterseil an sich
genommen.«
»Das von Bryce’ Stahlseil?«
Lucy nickte. »Ich glaube, dass Nash das
Sicherungsseil sabotiert hat, und Stephanie hat es versteckt, um
ihn zu schützen oder ihn zu erpressen oder sonst etwas. Ich habe
sie losgeschickt, um das Seil zu suchen, und als sie es mir
brachte, fehlte das Kletterseil. Ich glaube, sie hat es an sich
genommen, um Druck auf Nash auszuüben und ihren Film zu retten.
Deswegen hat er sie wohl abgeschrieben. So etwas würde er sich
nicht gefallen lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind auch
nicht viel heller als ihr Jungs, wenn man’s genau nimmt. Sex macht
uns doch alle blöd. Und Liebe ist noch schlimmer.«
Das traf. »Das tut mir leid.«
»Was denn?«
Er rutschte auf seinem Sitz herum. »Wegen Nash und
Stephanie.«
»Dass sie miteinander geschlafen haben?« Sie
schüttelte den Kopf. »Den kann sie mit meinem Segen haben. Die
beiden haben sich gegenseitig verdient. Aber so etwas hat sie nicht
verdient, und sie hat auch nicht verdient, dass er sie so im Stich
gelassen hat.« Sie blickte zu Wilder hinüber. »Ich will ihn
unbedingt zur Strecke bringen. Ihn und Finnegan.«
»Ich arbeite daran.« Wilder schwang sich aus dem
Jeep.
»Wie möchtest du das handhaben?«, fragte
Lucy.
»Was?« Verdammt, er hörte sich schon wie Crawford
an.
»Mary. Wie sollen wir vorgehen?«
Wilder überlegte. Seine Erfahrungen im Befragen von
Personen hatte er an Orten gemacht, wo man aufeinander schoss und
die Bösen keine Uniformen trugen. Vielleicht nicht die richtige
Strategie, um sie bei Mary anzuwenden. »Äh, böser Cop, guter
Cop?«
Lucy nickte. »Okay. Hör zu, ich bin noch immer
ziemlich wütend auf dich, also spiele ich den bösen Cop.«
Wilder wollte etwas erwidern, aber Lucy war schon
auf dem Weg zur Tür.
»Na gut, okay«, gab er nach und folgte ihr.
Die erste Gestalt, die Lucy in der Eingangshalle
des Hotels für die Filmcrew erspähte, war Bryce, der versuchte,
sich hinauszustehlen.
»Ich fass es nicht«, bemerkte sie zu J. T. »Ich bin
mir ziemlich sicher, dass er den Anfang der Nacht mit Althea
verbracht hat.«
»Na ja, wenigstens wissen wir jetzt, dass Mary
Make-up hier ist«, erwiderte J. T.
»Bryce«, rief Lucy, worauf der Schauspieler so
heftig zurücksprang, dass er fast vom Boden abgehoben hätte. Dann
lächelte er schwach und winkte ihr zu. Als sie das Winken nicht
erwiderte, kam er zu ihnen herüber.
»Lucy«, begrüßte er sie und versuchte, so zu tun,
als sei er entzückt.
»Und wie geht’s Mary?«, fragte Lucy und dachte
dabei: Gibt’s noch irgendeinen Kerl um mich
herum, dem das Blut nicht aus dem Gehirn gesackt ist?
»Ach, Lucy«, stammelte Bryce, »wissen Sie …«
»Was ich weiß«, unterbrach Lucy ihn streng, »ist,
dass Althea etwas an Ihnen liegt, dass sie gern mit jemandem, den
sie liebt, eine Familie gründen will, und dass Sie sie betrügen.
Und was wissen Sie?«
Bryce blinzelte verwirrt. »Eine Familie
gründen?«
Lucy seufzte. »Bryce, Sie könnten das amerikanische
Traumpaar schlechthin sein. Hören Sie auf herumzuficken, und denken
Sie mal über Althea nach.« Als er noch immer verwirrt dreinblickte,
setzte sie hinzu: »Denken Sie an Ihre Karriere. Suchen Sie sich ein
Magazin aus, das exklusiv über Ihre Hochzeit berichtet.«
»Ah.« Bryce bekam einen nachdenklichen Blick. »An
die Reklame habe ich gar nicht gedacht. Ich dachte nur gerade
daran, wie sich das auf den Erfolg an den Kinokassen auswirkt.
Könnte schädlich sein.«
»Genauso wie eine öffentliche Diskussion darüber,
warum Sie mit siebenunddreißig Jahren immer noch unverheiratet
sind«, versetzte Lucy.
»Ah«, machte Bryce wieder und blickte noch
nachdenklicher drein, was ihn offensichtlich anstrengte.
»Halten Sie sich an Althea«, riet ihm Lucy.
Bryce nickte und gestattete sich keinen Blick in
Richtung von Marys Zimmer. »Danke, Lucy. Ich werde …«
»Da ist noch etwas«, unterbrach ihn Lucy, und Bryce
plusterte sich ein wenig auf, wohl um sich darauf vorzubereiten,
den wütenden Star zu spielen, falls sie zu weit gehen sollte.
»Stephanie hatte einen Unfall mit Nashs Lieferwagen«, fuhr sie fort
und sah, wie er sich wieder entspannte. »Sie liegt verletzt im
Krankenhaus.«
»Mein Gott«, rief er aus, doch gleichzeitig konnte
sie zusehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, während
seine Miene Schrecken, Besorgnis, Kummer widerspiegelte, alle
passenden Gefühle, die er auf die Schnelle hervorzaubern konnte. Er
nahm ihre Hand. »Wissen Sie, Stephanie ist ganz wild auf diesen
Film. Sie würde wollen, dass wir die Dreharbeiten
fortsetzen.«
Na klar, dachte Lucy und
befreite ihre Hand. »Tun Sie mir einen Gefallen. Fahren Sie zurück
zum Hotel, in dem die Schauspieler untergebracht sind, und
informieren Sie Althea und Rick, sobald sie aufwachen. Sie sind der
Star, deswegen werden sie es von Ihnen hören wollen.«
Sie sah, wie ihm weiter die Brust schwoll.
»Wir drehen doch heute Abend, oder?«, fragte er.
»Kann ich ihnen das sagen?«
»Ja«, sagte J. T.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Lucy. »Wir werden das
noch sehen.«
»Nun ja«, meinte Bryce. »Ich finde, wir sollten
weitermachen.« Er überlegte, als sei er sich unsicher, was er noch
sagen sollte, dann aber holte er Luft und erklärte: »Ich bin sehr
froh, dass Sie hier bei uns sind, Lucy. Sie machen das fantastisch,
kümmern sich um alles wie ein echter Profi. Wir alle haben das
Gefühl, dass wir uns auf Sie verlassen können. Ich glaube, ich kann
im Namen aller Darsteller sagen, dass wir es wirklich zu schätzen
wissen, was Sie für uns getan haben, und wir verlassen uns darauf,
dass Sie auch heute Abend für uns da sind.«
»Mhmm«, machte Lucy, nicht besonders dankbar für
die Auskunft, dass sie existierte, um zu dienen. »Vielen, vielen
Dank.« Sie machte mit dem Kinn eine Bewegung zur Tür hin. »Am
besten fahren Sie zum Hotel der Schauspieler zurück, bevor
irgendjemand aufwacht.«
»Richtig«, stimmte Bryce zu und stutzte dann.
»Woher weiß ich denn das mit Stephanie?«
»Ich habe Sie angerufen«, antwortete Lucy, »weil
…«
»… ich der Star bin!«, ergänzte Bryce und nickte.
»Danke, Lucy.«
»Keine Ursache«, erwiderte Lucy und sah ihm
hinterher. Sie stellte sich vor, was für ein Gesicht er gemacht
hätte, wenn sie ihm von all den alptraumhaften Gestalten und
Organisationen erzählt hätte, die ihre Finger in seinem Film
hatten. »Die CIA ist nicht der KGB, Bryce«, hätte sie ihm in
beruhigendem Ton sagen können. Die russische Mafia ist nicht hinter
dem Wurmfortsatz des Hinterteils her.
Und die Profis hatten Stephanie nicht aus dem
Verkehr gezogen.
Lucy atmete tief durch.
»Und jetzt gehen wir und kümmern uns um Mary
Make-up«, sagte J. T.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Bryce das gerade
schon getan hat«, meinte Lucy trocken und folgte ihm durch die
Eingangshalle.
Mary Make-up öffnete strahlend und im
Morgenmantel ihre Tür. Dann erkannte sie, dass es nicht Bryce
war.
»Hi«, begrüßte Lucy sie und empfand ein wenig
Schuldbewusstsein bei dem Gedanken, dass sie Bryce zu Althea
geschickt hatte. Doch dann fiel ihr wieder ein, mit wem Mary
telefoniert hatte. Zur Hölle mit ihr, der kleinen Schnüfflerin.
»Wir haben ein paar Fragen an Sie.«
Marys Gesicht war lang geworden, nun aber hing es
ihr schier bis zu den Knien. »Ich habe ein Recht auf mein
Privatleben«, murmelte sie dann mit gesenktem Kopf.
»Aber natürlich haben Sie das.« Lucy schob sie vor
sich her in das Zimmer, wo das Bett Zeugnis davon ablegte, dass nur
eine Person darin geschlafen hatte. Keine zerwühlten Laken. Arme
Mary. »Wir haben nur etwas gegen Ihr Telefonleben«, fuhr sie fort
und drehte sich rechtzeitig um, um von J. T. einen warnenden Blick
aufzufangen. Ja, ja, okay, Zusammenarbeit, aber
ich bin der böse Cop. »Captain Wilder hat ein paar
Fragen.«
Er blickte etwas verdutzt drein, nahm sich aber
sofort zusammen und lächelte Mary an. Ihm schien dieses Lächeln
ungefähr genauso zu behagen wie Mary die Tatsache, dass sie in
ihrem Zimmer standen. »Wir wissen, dass Sie mit Mr. Finnegan
gesprochen haben, Mary.«
Mary bekam einen roten Kopf und senkte ihn noch
weiter. »Hab ich nicht.«
Das kann ja lustig werden,
dachte Lucy und verschränkte die Arme vor der Brust. Rambo trifft auf Jessica Simpson.
»Ich bin mir sicher, dass Sie dachten, es sei
harmlos«, fuhr J. T. in freundlichem Ton fort. »Aber leider ist Mr.
Finnegan nicht einfach ein Filmproduzent, sondern ein
Terrorist.«
Marys Kopf schnellte hoch. »Nein. Nein, er ist
Ire.«
Na, das kann eine Weile
dauern, dachte Lucy und setzte sich.
J. T. nickte. »Ja, er war bei der IRA, und jetzt
arbeitet er für die russische Mafia. Sie waschen Geld mit diesem
Film.«
Mary schluckte. »Ich weiß gar nicht, was das
überhaupt bedeutet. Ich weiß von alldem gar nichts.«
Wieder nickte J. T. »In Wirklichkeit benützt er
diesen Film als Tarnung für die russische Mafia.«
Mary blinzelte verwirrt. »Ich kenne gar keine
Russen.«
»Und wie Sie die kennen«, warf Lucy grimmig ein.
»Und das sind keine harmlosen, Wodka saufenden Russen, sondern
diese Kerle bringen Leute um.« Sie beugte sich vor. »Und Sie helfen
ihnen.«
»Nein.« Mary bewegte sich näher zu J. T. hin und
schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich habe gar nichts getan.«
J. T. lächelte, und Lucy nahm an, dass das
beruhigend wirken sollte. Aber daran musste er wirklich noch
arbeiten.
»Mary, wir wissen, dass Sie Finnegan angerufen
haben, als Stephanie mit dem Stunt-Lieferwagen weggefahren ist«,
sagte er in verständnisvollem Ton.
»Und Sie haben ihn informiert, als Captain Wilder
zu uns an den Drehort kam.« Lucy legte so viel Schärfe in ihre
Stimme wie möglich. »Bryce hat Ihnen von ihm erzählt, nicht wahr?
Und Sie haben es Finnegan erzählt, und gleich am nächsten Tag hat
man in einer Bar ein Messer gegen ihn
gezogen.« Sie sah, dass Marys Augen flackerten. »Sie haben damit
fast erreicht, dass Bryce getötet wurde,
Mary.«
»Oh nein«, stöhnte
Mary.
»Und dann gestern, als Bryce aus dem Helikopter
fiel …« Lucy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er es
aufnehmen wird, wenn er erfährt, dass Sie dafür verantwortlich
sind, dass er zweimal verletzt
wurde.«
»Nein, warten Sie.« Mary
sprang auf. Ihr Morgenmantel fiel vorn auseinander, und Lucy
erwartete, dass J. T. höflich zur Decke hinaufblicken würde, aber
er blickte ihr in die Augen.
»Wir wissen, dass Sie Bryce nie etwas antun
würden«, sagte er, und Mary nickte wie wild und trat näher an ihn
heran, während sie ihren Morgenmantel zusammenraffte.
Kein Zufall, dass dieser
Morgenmantel auseinandergefallen ist, dachte Lucy und erinnerte
sich dann daran, dass sie der böse Cop war. »Und woher wollen wir
das wissen?«, wandte sie sich an J. T. »Ihretwegen ist Bryce zweimal verletzt worden. Ich
finde, es ist unsere Pflicht, ihn darüber zu informieren. Sie
arbeitet für die Mafia. Sie könnte ihm ja
auch in ihrem Zimmer eine Falle stellen.« Warum
die russische Mafia ausgerechnet Bryce aus dem Verkehr ziehen
wollte, blieb allerdings ein Rätsel.
Lucy richtete sich auf und bemühte sich, empört zu
wirken. »Sie könnte Teil eines Komplotts mit dem Ziel sein, den
Film zu ruinieren, indem sie Bryce
tötet.«
»Nein, nein, nein«,
jammerte Mary, klimperte mit ihren falschen Wimpern und rückte noch
einen Schritt näher an J. T. heran.
Ob sie mit den Wimpern auch
schläft?, fragte sich Lucy und kam zu dem Schluss, dass sie es
wahrscheinlich tat, für den Fall, dass Bryce unverhofft
vorbeikam.
»Ich bin sicher, dass Mary nichts Böses im Sinn
hatte«, erklärte J. T. und bemühte sich um einen verständnisvollen
Ton. Auch daran würde er noch arbeiten müssen. »Stimmt’s,
Mary?«
»Mr. Finnegan hat mir zehntausend Dollar gegeben,
damit ich ihn darüber informiere, was am Set geschieht«, erklärte
Mary. »Er wollte nichts anderes, als dass ich ihm erzähle, was hier
vor sich geht, und wenn es etwas Neues gibt, und was Nash so
tut.«
Aber hallo, dachte Lucy.
Der traut Nash nicht. Schlauer Ire.
»Und ich brauche das Geld wirklich«, meinte Mary zu
J. T. gewandt. »Bryce steht doch auf große Titten, und ich habe nur
Körbchengröße B, aber er mag nicht die billigen, deswegen brauche
ich viel Geld für die teuren.«
J. T. blinzelte verwirrt. »Gibt’s da
verschiedene?«
Hey, dachte Lucy, wir schweifen hier vom Thema ab.
»Da gibt’s unterschiedliche Operationsmethoden«,
erklärte Mary Make-up J. T. in einem Anflug von Vertraulichkeit.
»Bei den billigen schneiden sie einfach den Busen auf und stecken
das Implantat rein, und dann sieht man die Narbe.«
»Und bei den teuren?«, fragte Lucy gegen ihren
Willen.
»Da gehen sie zum Beispiel durch den Bauch rein«,
erklärte Mary. »Keine Narbe. Viel besser.«
Lucy legte eine Hand auf ihren Bauch. »Aha.« Sie
blickte J. T. an. »Ich werde mir nie Implantate einsetzen
lassen.«
Er blickte verwirrt drein. »Warum auch?«
»Na ja, sie hat nur Körbchengröße C«, meinte Mary.
»Ich meine ja nur, ja?«
»Ja.« Lucy verschränkte die Arme vor ihrer
Brust.
»Bryce steht auf Größe D«, stellte Mary hilfreich
fest.
»Ahaa.« J. T. bedauerte es offensichtlich, welche
Wendung das Gespräch genommen hatte. »Ich glaube nicht, dass es
notwendig ist, Bryce irgendetwas hiervon zu erzählen.«
»Oh, danke!«, rief Mary
Make-up und umklammerte seinen Arm.
»Aber nur, wenn Sie uns Finnegans Telefonnummer
geben«, fuhr J. T. fort.
»Aber sicher.« Mary wandte sich eilig zur Seite und
griff nach ihrer Handtasche, einer Scheußlichkeit aus rosafarbenem
Leder mit der Initiale »M« darauf, absoluter Trend bei Handtaschen
des Jahrgangs 2003. »Hier ist sie.« Sie schob J. T. einen Zettel
zu.
»Es wäre vielleicht besser, wenn Sie Mr. Finnegan
nicht berichten würden, dass wir mit Ihnen gesprochen haben«,
meinte J. T. »Eigentlich wäre es sogar noch besser, wenn Sie ihn
überhaupt nicht mehr anrufen würden.«
»Oh nein«, rief Mary mit belegter Stimme. »Nie
mehr. Niemals. Und Sie sagen Bryce nichts?«
»Nein«, versprach J. T.
»Und Sie?«, wandte Mary sich an Lucy.
»Meine Lippen sind versiegelt, solange Ihre es
sind«, erwiderte Lucy. »Aber sollten Sie Finnegan doch noch einmal
anrufen, bekommt Bryce die ganze Geschichte brühwarm aufgetischt,
komplett mit Beleuchtung und Soundeffekten.«
»Das tue ich nicht, ganz
bestimmt nicht.« Mary sah völlig zerknirscht drein. »Aber ich
glaube, er will Althea doch heiraten. Wenn ich nur das Geld eher
bekommen hätte, wenn ich nur schon diesen Busen hätte ….«
»Vielleicht wird Ihrer sogar besser«, tröstete
Lucy. »Hat sie den teuren?«
»Ja«, antworteten Mary und J. T.
gleichzeitig.
Lucy warf J. T. einen Blick zu, der, wie sie
hoffte, nichts als Verachtung ausdrückte.
J. T. sagte hastig: »Wir müssen jetzt gehen.«
»Sicher«, stimmte Lucy ihm zu und durchbohrte ihn
weiter mit ihrem Blick.
»Soll ich heute Abend ans Set kommen?«, fragte Mary
jämmerlich.
»Nein«, antwortete Lucy, und J. T. antwortete:
»Ja«, und Lucy fuhr fort, ihn zu durchbohren.
»Wahrscheinlich drehen wir heute Abend nicht«,
setzte Lucy hinzu. »Bleiben Sie in der Nähe des Telefons, Gloom
ruft Sie an, falls wir Sie brauchen.«
»Wir drehen«, bekräftigte J. T.
»Bleiben Sie am Telefon«, riet Lucy abschließend
und schob J. T. durch die Tür hinaus.
»Ich sage, wir drehen nicht«, erklärte sie ihm, als
sie in der Eingangshalle alleine waren. »Also hör auf, mir in den
Rücken zu fallen.«
»Lucy, du wirst drehen müssen«, erwiderte J. T.
»Rufe Finnegan an und vereinbare ein Treffen.«
»Was?«
»Die Leute, für die ich arbeite, würden gern
wissen, wo Finnegan sich aufhält«, erklärte J. T. geduldig.
»Vereinbare ein Treffen für heute Nachmittag.«
»Ich gehöre auch zu den Leuten, für die du
arbeitest«, entgegnete Lucy.
»Sag ihm, wenn er sich nicht mit dir trifft, drehst
du heute Abend nicht«, schlug J. T. vor. »Das gefällt dir
doch.«
Lucy lehnte sich gegen die Raufasertapete. »Glaubst
du wirklich, dass wir heute Abend filmen müssen?«
»Nicht, wenn wir Finnegan vorher schnappen.«
Lucy holte ihr Handy hervor und streckte die Hand
nach dem Zettel mit Finnegans Telefonnummer aus. »Ich weigere mich,
irgendetwas zu tun, das möglicherweise dazu führt, dass es
Verletzte gibt.«
»Es gibt keine Verletzten …«, begann J. T.
»Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr anlügen«,
fiel ihm Lucy ins Wort und tippte die Telefonnummer ein.
»… das hoffe ich jedenfalls«, schloss J. T.
»Ja, ich auch«, seufzte Lucy. Da meldete sich
Finnegan, und sie machte sich an ihre Aufgabe.
Wilder setzte Lucy bei ihrem Wohnmobil ab, damit
sie das Krankenhaus anrufen und sich nach Stephanie erkundigen und
dann Daisy und Pepper zum Crew-Hotel fahren konnte. Er selbst
machte sich auf den Weg zu Eddy’s, um
Crawford zu treffen. Als er sich dem Agenten gegenüber niederließ,
fragte er: »Also, zu welcher Buchstabensuppe gehören Sie jetzt
wirklich?«
»Was?«
Manche Dinge änderten sich eben nie. »Heute Morgen
hatten Sie einen FBI-Ausweis. Mir haben Sie erzählt, dass Sie von
der CIA sind. Oder sollte es NSA heißen? Oder DEA? NRA?
ASPCA?«
»Nein, ich bin von der CIA«, antwortete Crawford.
»Ich habe nur den FBI-Ausweis benützt, weil ich nicht wusste, wer
mir gegenüberstand. Ich kam gerade vom Unfallort und musste mich
bedeckt halten. Die Leute werden leicht nervös, wenn sie CIA
hören.«
Vor allem, da die CIA nicht befugt war, innerhalb
der Landesgrenzen zu operieren. Und wenn Crawford einen FBI-Ausweis
bei sich trug, bedeutete das, dass er in der Hierarchie über den
üblichen CIA-Clowns stand. Es bedeutete, dass er für alles, was er
unternahm, offizielle Rückendeckung besaß. »War es wirklich ein
Unfall?«
»Ja.«
»Sie hören sich so überzeugt an.«
»Die Spurensicherung der Polizei hat den Wagen und
den Unfallort unter die Lupe genommen. Sie ist seitlich gegen die
Brücke gefahren. Muss wohl eingedöst sein.«
Ein Kletterseil reißt. Eine Helikopterkufe bricht.
Ein Fahrer döst ein. Drei Unfälle. Drei Anschläge. Und nun tauchte
Finnegan persönlich auf, worauf es die CIA wohl von Anfang an
abgesehen hatte, wie Wilder vermutete. Er bemühte sich, seine
Rückenmuskeln zu entspannen, und widerstand dem Bedürfnis, sich
umzublicken. »Finnegan kommt heute Nachmittag.«
Crawfords Augen weiteten sich, und Wilder warf
einen Blick über die Schulter. Niemand, der mit der Waffe in der
Hand hinter seinem Rücken hereinstürmte.
»Ohne Scheiß?«
»Lucy …« Er unterbrach sich. »Armstrong hat ihn
angerufen und ihm gesagt, dass sie die Dreharbeiten abbrechen
würde. Da hat er darauf bestanden, sich mit ihr zu treffen.
Heute.«
»Wann? Und wo?«
»Das wissen wir noch nicht. Er ruft sie deswegen
noch einmal zurück.«
Crawford lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
Wilder beobachtete seine Augen. Sie wanderten prüfend im Raum
umher, auch während er nachdachte.
Das hat er nicht erst jetzt
gelernt, dachte Wilder. Dieses Arschloch
hat mir etwas vorgespielt, damit ich weniger auf der Hut
bin.
»Okay«, meinte Crawford schließlich. »Wäre sie wohl
einverstanden, sich verkabeln zu lassen und eine Wanze zu
tragen?«
»Sie brauchen sie nicht zu verkabeln.«
»Warum nicht?«
»Weil ich mit ihr zu dem Treffen gehe. Und mich
verkabeln Sie auch nicht. Denn Sie nehmen Finnegan einfach hops,
richtig?«
»Falsch.«
»Und warum nicht?«
»Weil Finnegan nur ein Teilchen des ganzen Puzzles
ist.« Crawford verlor einen Teil seiner Gelassenheit. »Wir sind
hinter einem dickeren Fisch her.«
Scheiße. »Sie wollen
Letsky. Bei diesem ganzen Zirkus geht es um Letsky.«
»Richtig.«
Lucy würde stinksauer sein. Wilder schüttelte den
Kopf. »Ich kapiere nicht, wie …«
Crawford beugte sich vor. »Letsky hat mit Finnegan
ein Treffen für Mitternacht vereinbart. Wir wollen, dass dieses
Treffen stattfindet.«
Doppelscheiße. Lucy würde
mehr als stinksauer sein. Nicht, dass sie nicht jetzt schon vor Wut
kochte. »Ist Letsky schon in der Nähe?«
»In Anbetracht des baldigen Treffens, ja. Wir
vermuten, dass er sich vor der Küste herumtreibt, in
internationalen Gewässern.«
»Warum kreuzen Sie dann nicht einfach am Treffpunkt
auf und nehmen Letsky fest?«
»Wir wissen nicht, wo das ist. Wir wissen nur,
wann. Finnegan weiß, wo. Es könnte überall im Umkreis von ein paar
Flugstunden sein.«
»Und warum treffen sie sich?«
Crawford trommelte mit den Fingern einen Augenblick
lang auf den Tisch. »Finnegan hat Schulden bei Letsky, und er will
sie bezahlen.«
»Fünfzig Millionen?«, fragte Wilder. »Woher hat er
eine solche Summe?«
»Kein Geld«, entgegnete Crawford. »Finnegan bringt
Letsky die Kunstgegenstände, die er ursprünglich gekauft
hat.«
Wilder rieb sich über die Stirn. Allmählich bekam
er Kopfschmerzen. »Und wie das?«
»Indem er den Helikopter bei dem Film-Stunt
benützt.«
Deswegen brauchen sie das
Lastennetz. Aber es machte noch immer keinen Sinn. »Ich dachte,
diese Kunstgegenstände seien in Mexiko beschlagnahmt worden. Wo
sind die jetzt?«
Crawford lächelte. »Darüber brauchen Sie sich keine
Sorgen zu machen.«
»Worüber soll ich mir denn Sorgen machen, außer
darüber, dass Sie mich anlügen?«
»Ich habe Sie nicht belogen. Ich habe nur nicht die
ganze Wahrheit gesagt. Es gab keinen Grund, warum Sie das wissen
müssten.«
Wilder fragte sich, was noch alles vor sich ging,
von dem Crawford meinte, dass er es nicht wissen müsste. Natürlich
war es sinnlos, das zu fragen, da er es ja gar nicht wissen musste.
Spinner und ihre Spielchen.
Crawford fasste unter den Tisch, und Wilder spannte
seine Muskeln an, aber der CIA-Mann zog nur ein kleines
Metallkästchen hervor und legte es auf die abgenutzte Tischplatte.
Dann öffnete er den Deckel, und zum Vorschein kamen mehrere
Gegenstände in einem Schaumstoffbett.
»Peilsender«, erklärte Crawford und tippte auf ein
münzgroßes Teil. Dann berührte er ein Gerät in der Größe einer
Zigarettenschachtel. »Peilgerät, Empfänger.« Er deutete auf zwei
kleinere, weiße Teile. »Zusatzbatterien für das Peilgerät. Sie
sollten sie eigentlich nicht brauchen. Die ganze Sache müsste
innerhalb von vierundzwanzig Stunden erledigt sein.« Er schloss den
Deckel und schob Wilder das Ganze über den Tisch zu.
»Wo soll ich die Wanze anbringen?«, fragte
Wilder.
»An Finnegan natürlich, da Sie ja zu dem Treffen
gehen und nicht wollen, dass wir Sie verkabeln. Ich wollte
ursprünglich, dass Sie sie Nash unterschieben, aber wir brauchten
ihn nur, um uns zu Finnegan zu führen. Und jetzt, wo Sie Finnegan
haben …« Crawford zuckte die Achseln.
Wilder hatte das Gefühl, drei Schritte hinterher zu
sein, und das gefiel ihm gar nicht. »Was spielt Nash bei dem Ganzen
für eine Rolle?«
»Er fliegt Finnegan zu dem Treffen mit
Letsky.«
Wilder schüttelte den Kopf. »Ein ziemlich
komplizierter Plan nur wegen eines Helikopterflugs. Dafür hätte er
doch jeden anheuern können.«
»Oh nein, Finnegan wäscht wirklich Geld mit diesem
Film«, erwiderte Crawford. »Zwei Fliegen mit einer Klappe. Er
braucht für sich selbst auch Geld. Hat Letsky gerade genug bezahlen
können, um ihn sich lange genug vom Hals zu halten, bis er den
Schaden wiedergutgemacht hat. Und dafür braucht Finnegan die
Helikopterszene. Die Gesetzeshüter werden leicht neugierig, wenn
ein Helikopter um Brücken herum- und über den Sumpf fliegt, aber
wenn es zu einer Filmszene gehört, ist das was anderes.«
»Also werden Nash und Finnegan den Vogel nach dem
letzten Stunt heute Abend nehmen und damit irgendwohin zu dem
Treffen mit Letsky fliegen?«
»Richtig.«
»Wozu braucht er Nash?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte.«
Ach nein, wirklich? »Warum
nehmen Sie Finnegan nicht einfach heute Nachmittag fest und
quetschen den Treffpunkt aus ihm heraus?«
»Weil Letsky sofort verschwindet, wenn er Wind
davon kriegt. Sie wissen doch, wie riskant solche Geschichten sind.
Und was ist, wenn das Ausquetschen dann nicht klappt?«
Jeder redet, wenn man das
richtige Druckmittel einsetzt. »Ich finde nicht …«
»Ist mir egal, was Sie finden oder nicht, Wilder«,
versetzte Crawford. »Ich habe Ihnen schon mehr verraten, als Sie
wissen müssen. Der Rest geht Sie nichts an.«
Wilder widerstand dem Impuls, ihm eine in die
Fresse zu hauen. Das würde ihm wahrscheinlich in seiner Beurteilung
einen weiteren Eintrag in der Rubrik PROBLEME IM UMGANG MIT
VORGESETZTEN einbringen. Obwohl sie vielleicht Verständnis hätten,
wenn er ihnen Crawford zeigen würde.
»Haben Sie mich verstanden, Captain Wilder?«
»Dieser ganze Scheiß geht mich nichts an«,
bestätigte Wilder, stand auf und ging.