Aus und vorbei?

Der von seinen Feinden gefürchtete Anführer der Warägergarde war schlagartig lammfromm geworden. Er hatte Julia mit nach Minsk genommen und ihr eine kleine Wohnung in der Innenstadt besorgt. Über kurz oder lang wollten die beiden sogar zusammenziehen, ganz so, wie es sich Kohlhaas immer erträumt hatte. Inzwischen war es Mitte November geworden und Frank hatte die jüngsten Meldungen im weißrussischen Fernsehen weitgehend ignoriert. Es hatte sich allerdings einiges verändert – zum Schlechten.

Die Weltregierung hatte angekündigt, die Kollektivisten demnächst durch GCF-Verbände zu unterstützen und begann bereits mit ersten Waffenlieferungen an die Feinde der Rus. Weiterhin schickte sie Experten nach Russland, die Uljanin beim Aufbau einer professionellen Armee helfen sollten.

„Artur Tschistokjows blutiges Regiment wird von der internationalen Gemeinschaft nicht länger geduldet!“, hatte der Weltpräsident bei der Vollversammlung des Weltverbundes in New York verkündet und er schien es diesmal ernst zu meinen.

Der Anführer der Freiheitsbewegung war inzwischen ebenfalls nach Minsk zurückgekehrt. Während Frank seine Tage mit Zärtlichkeiten und entspannendem Müßiggang verbrachte, zerbrachen sich der weißrussische Präsident und sein Kabinett den Kopf darüber, wie sie die gewonnenen Gebiete sichern und mögliche Angriffe ihrer Feinde abwehren konnten. Dass ihre Chancen lächerlich gering waren, war ihnen durchaus klar. Thorsten Wilden traf sich in diesen Tagen einige Male nur kurz mit seiner Tochter und verschwand dann wieder, um sich mit Artur Tschistokjow oder auch dem japanischen Außenminister zusammenzusetzen. Wenn es einen durch die Weltregierung geförderten Bürgerkrieg in Russland geben würde, dann musste Japan unbedingt helfen.

„Ich muss morgen wieder los. Nach Nowgorod!“, erklärte Frank traurig.

„Ja, das ist wohl nicht zu ändern. Ich werde dich unterstützen und hier auf dich warten, mach dir keine Sorgen. In den nächsten Tagen werde ich an der „Skythen-Grundschule“ erst einmal ein wenig als Lehrerin aushelfen und mir die Universität von Minsk ansehen“, antwortete Julia und strich Frank zärtlich über die Brust.

„Es ist aber nur eine Patrouillenfahrt, hat mir das Oberkommando gesagt. Das wird nicht so schlimm …“

„Hauptsache, du kommst wieder zu mir zurück!“, flüsterte die junge Frau und liebkoste ihn.

„Ja, werde ich! Versprochen!“

Sie verbrachten eine leidenschaftliche Nacht und schliefen ohne Sorgen ein. Am nächsten Tag machte sich General Kohlhaas auf den Weg. Er war immer noch überglücklich und verabschiedete sich von seiner Geliebten mit einem Kuss.

Dann machte sich Frank auf den Weg in die Kaserne am Stadtrand und fuhr mit der Warägergarde nach Norden. Während der Fahrt dachte er die ganze Zeit über an Julia und lächelte jedes Mal glücklich in sich hinein, wenn er ihr wundervolles Engelsgesicht vor seinem geistigen Auge erblickte.

Die motorisierte Truppe stieß bis nach Valdaj vor und traf dort auf keinerlei Widerstand, denn die Dörfer und Kleinstädte hier waren schon weitgehend fest in den Händen der Rus. Meistens grüßten die Bewohner sogar freundlich, wenn die mit Drachenkopffahnen bestückten Lastwagen an ihnen vorbeirasten. In dieser Region herrschte Frieden und Frank war sich sicher, dass auch die nächsten Tage und Wochen ruhig bleiben würden.

In der letzten Novemberwoche besetzte eine Truppe von Kollektivisten eine Schule im Osten von St. Petersburg und nahm die Lehrer und Schüler als Geiseln. Das weißrussische Fernsehen berichtete in einer langen Sondersendung darüber. Die schwarz-roten Terroristen forderten den Abzug der Rus aus der gesamten Metropole und drohten mit der Erschießung aller Schulkinder und Lehrer.

Drei Tage lange wurde die Schule daraufhin belagert und letztendlich von der Polizei und den Soldaten der Volksarmee gestürmt. Im Gegenzug richteten die Geiselnehmer ein furchtbares Blutbad an und töteten 127 Schüler und 14 Lehrer, bevor sie selbst von den Angreifern zur Strecke gebracht werden konnten.

Dieser Vorfall entsetzte ganz St. Petersburg und die umliegenden Regionen. Allerdings verdrehte die internationale Presse die Tatsachen in der üblichen Weise und schob die Bluttat einfach den Anhängern Tschistokjows in die Schuhe. Ein wütender Aufschrei erschütterte die medial kontrollierte Weltöffentlichkeit und tagelange Hetze gegen die Freiheitsbewegung folgte.

Artur Tschistokjow nutzte den Vorfall seinerseits mit allen ihm zur Verfügung stehenden Fernsehsendern und Presseorganen ebenso für seine eigene Medienoffensive gegen den politischen Gegner. Die Bevölkerung in den Hoheitsgebieten der Rus entwickelte daraufhin vielfach einen brennenden Hass auf Uljanins Leute. So eskalierte die Lage weiter und die Weichen für einen Bürgerkrieg in Russland wurden durch die Hintergrundmächte langsam, aber sicher, gestellt.

Thorsten Wilden war nun schon seit drei Tagen in Tokio. Ungeduldig hatte er in seinem Hotelzimmer auf eine Reaktion des japanischen Außenministers gewartet. Für heute hatte ihn dieser in sein Haus am Stadtrand der Hauptstadt eingeladen, um mit ihm das Verhalten Japans im Falle eines Bürgerkriegs in Russland durchzusprechen. Die beiden Diplomaten schlenderten durch den mit urtümlichen Bäumen und Sträuchern bewachsenen Vorgarten des Außenministers und gingen schließlich ins Haus. Freundlich lächelnd reichte der japanische Kollege seinem Gast ein Gläschen Sake. Schließlich begannen sich die beiden Männer auf Englisch zu unterhalten.

„Sind sie wirklich sicher, dass es in Russland zu einem Bürgerkrieg kommen wird, Herr Wilden?”, fragte Akira Mori.

„Wir haben St. Petersburg erobert und jetzt ist Bürgerkrieg! Die Kollektivisten werden ihre Niederlage in Westrussland niemals akzeptieren“, antwortete der weißrussische Außenminister.

Mori überlegte kurz und kratzte sich am Kopf. Dann setzte er sich in einen Sessel und studierte diverse Papiere.

„Präsident Matsumoto ist sich nicht sicher, ob sich Japan tatsächlich in diesen Konflikt einmischen soll. Wir sind froh, dass wir den Angriff der GCF überlebt haben“, bemerkte er.

„Ohne die Hilfe Japans werden wir gegen Uljanin keine Chance haben“, erläuterte Herr Wilden besorgt und betrachtete den Boden seines Sakegläschens.

“Das ist wahrlich keine leichte Entscheidung für uns!”

“Das verstehe ich, Herr Mori!”

„Was wäre, wenn uns die Weltregierung erneut angreift? Das könnte durchaus passieren, wenn wir in Russland eingreifen…“

Wilden schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Vergessen Sie nicht, dass Tausende von jungen Männern aus aller Herren Länder den japanischen Befreiungskampf damals unterstützt haben. Nun wünschen wir uns die Hilfe Japans!“

Akira Mori verzog sein schmales Gesicht und suchte offenbar eine befriedigende Antwort für seinen weißrussischen Gast.

„Unsere Revolution darf einfach nicht scheitern! Wenn wir Erfolg haben und die Macht in Russland erringen können, dann wird Japan einen wichtigen Verbündeten in Europa haben“, fuhr Wilden fort.

„Wie wäre es mit mehr Geld und Waffen?”, schlug Mori vor.

Sein Gegenüber schüttelte energisch den Kopf und gab sich mit dieser Antwort des Japaners nicht zufrieden.

„Das wird nicht ausreichen! Wir werden die Hilfe der japanischen Armee brauchen – in Sibirien! Ihre Streitkräfte müssen Sibirien angreifen!“, betonte der Gast.

„Sibirien angreifen?”

„Ja! Es ist notwendig, Herr Mori!“

„Aber Sibirien besteht aus Tausenden Kilometern Eis und Steppe. Es gibt dort kaum Städte. Wen sollen wir denn da angreifen?“

Der japanische Außenminister erschien bezüglich der Wünsche seines Kollegen überfordert.

„Mein Plan ist eine japanische Landinvasion bis nach Irkutsk und Krasno-Jarsk!“, sagte Wilden entschlossen.

„Irkutsk? Krasno-Jarsk?” Sein Gesprächspartner riss die Augen auf und schaute ihn ungläubig an.

„Der einzige Weg …“

„Für eine solche Operation fehlt uns die Kraft, Herr Wilden!”

„Die Kollektivisten und die GCF sind nicht sehr stark im Ostteil von Sibirien. Sie sind in Zentralrussland konzentriert, bedenken Sie das“, erklärte Tschistokjows Außenminister.

„Das klingt verrückt, Herr Wilden!”

„Wenn Weißrussland zerschlagen wird und die kollektivistische Revolution siegt, dann werden Uljanin und die Weltregierung Japan erneut vollständig isolieren und eines Tages wieder angreifen. Japan braucht einfach Verbündete, um auf Dauer überleben zu können. Ich verspreche Ihnen, dass Tschistokjow Russland wieder zu einer Großmacht machen wird. Und wir werden immer an der Seite des japanischen Volkes kämpfen! Daran darf es keinen Zweifel geben!“, antwortete der Deutsche mürrisch.

Akira Mori schnaufte und nahm noch ein Gläschen Reiswein zu sich. Dann zuckte er unsicher mit den Schultern und erwiderte: „Ich werde Präsident Matsumoto fragen …“

Vitali Uljanin fühlte sich nicht wohl in seiner Rolle. Theodor Soloto und seine KKG-Trupps hatten die Macht über St. Petersburg verloren und diese Tatsache war dem Rat der Weisen nicht verborgen geblieben. Deshalb hatten sie eines ihrer hohen Ratsmitglieder zu ihm nach Moskau geschickt, um eine Strategie für den kommenden Bürgerkrieg in Russland zu entwickeln.

Der Kollektivistenführer kochte innerlich vor Wut und betrachtete es als Demütigung, dem Herren aus Nordamerika die Niederlage seiner Bewegung in der zweitgrößten Metropole Russlands eingestehen zu müssen. Tagelang hatte er sich seinen Rachephantasien hingegeben und vor sich hin gewettert. Artur Tschistokjow würde für seine Dreistigkeit büßen, aber offenbar war er doch stärker und entschlossener als er erwartet hatte. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als die Hilfe der GCF anzunehmen.

Das grauhaarige Ratmitglied musterte ihn mit einer gewissen Überheblichkeit, die Uljanin überhaupt nicht behagte, und sprach: „Nun, Bruder! So wie es aussieht, wird die Global Control Force ihre Revolution doch unterstützen müssen, weil sie ja offenbar nicht alleine mit den Rus fertig werden!“

„Geben Sie mir nur etwas mehr Zeit. Wir werden diese Schweinehunde wieder aus St. Petersburg hinauswerfen!“, knurrte der spitzbärtige Mann.

„Der Rat hat keine Zeit für solche Spielchen. Wir verlangen schnelle und eindeutige Resultate, die sie in Westrussland allerdings noch nicht liefern konnten. Wir schicken Ihnen einige Divisionen der internationalen Streitkräfte als Unterstützung und dann werden wir das Problem hoffentlich zügig lösen können!“

„Der Aufbau einer schlagkräftigen schwarz-roten Armee geht eben nicht von heute auf morgen“, verteidigte sich der Kollektivistenführer verärgert.

„Lassen wir das!“, sagte das Ratmitglied kalt.

„Wie viele Divisionen bekommen wir denn?“

„Das steht noch nicht fest. Demnächst werden große Kontingente in Indien benötigt werden, Herr Uljanin. Aber es werden einige sein. Das wird ja auch ausreichen, hoffe ich!“

„Ja, sicher! Wir schaffen das aber auch alleine!“, zischte das Oberhaupt der KVSG.

„Das hat man ja gesehen!“, gab sein Vorgesetzter zurück.

„Wieso schicken sie so viele Truppen nach Indien?“, wollte der spitzbärtige Logenbruder jetzt wissen.

„Wir haben schon unsere Gründe“, antwortete das Ratsmitglied mit einem arroganten Grinsen.

„Wir werden die Ukraine bald ganz erobert haben und dann nehmen wir uns den Rest Russlands vor. Was ist mit Japan? Wird Japan eingreifen?“

„Das glaube ich kaum. Matsumoto ist doch froh, wenn wir ihn in Ruhe lassen“, meinte der Gast aus Nordamerika.

„Eigentlich schaffen wir das aber auch wirklich allein“, betonte Uljanin noch einmal.

„Darüber möchte ich mit Ihnen nicht mehr diskutieren. Sie bekommen mehr Geld, sie bekommen mehr Waffen – und jetzt auch noch GCF-Truppen. Damit dürfte die Vernichtung der Rus doch kein Problem mehr sein“, knurrte der ergraute Herr und hob den Zeigefinger. „Gut, damit ist die russische Frage hoffentlich geklärt. Ich gehe jetzt, Herr Uljanin!“

Der Chef der KVSG stand von seinem Platz auf und begleitete das Ratsmitglied zur Tür seines Büros. Plötzlich drehte sich der Gast noch einmal um, stellte sich vor ihn und sah ihm tief in die Augen.

„Und stellen Sie die Anweisungen des Rates der 13 nicht ständig in Frage, Bruder! Wenn wir etwas entscheiden, dann ist das Gottes Wort. Nur damit das klar ist! Guten Tag!“, fauchte ihm das Mitglied des höchsten Gremiums der Logenpyramide ins Gesicht.

„Jawohl!“, stammelte Uljanin und verneigte sich.

Als der Gast gegangen war, setzte sich der Anführer der schwarz-roten Bewegung auf seinen Schreibtischstuhl und starrte wütend die Wand an. In letzter Zeit hatten die hohen Herren des Rates der Weisen ihn offenbar nicht mehr ganz ernst genommen. Wie ein dummer Junge war er eben behandelt worden, was seinen Stolz hart getroffen hatte. Vor Zorn trat er gegen seinen Schreibtisch.

„Sie werden schon noch sehen, was ich hier in Russland anrichten werde. Das ganze Land werde ich in meine Gewalt bringen und damit dem großen Plan besser dienen, als jedes dieser großkotzigen Ratsmitglieder!“, fluchte er leise vor sich hin und ballte seine knochigen Fäuste.

Die Warägergarde hatte sich aufgeteilt und durchstreifte in mehreren Gruppen von jeweils drei Lastwagen ein großes ländliches Gebiet im Westen von Pestovo.

Alfred Bäumer führte auch eine der Gruppen an, die sich mittlerweile schon 50 Kilometer von Franks Truppe entfernt hatte und auf dem Weg nach Krasuba, einer anderen Kleinstadt in der Einöde, war. Gestern waren sie von einigen Kollektivisten in einem kleinen Dörfchen aus dem Hinterhalt beschossen worden. Sie hatten sie verfolgt und letztendlich gestellt. Es waren zehn junge Männer mit einem Gewehr gewesen. Die Waräger entwaffneten die Burschen, ließen sie jedoch am Leben.

„Weil ihr noch so jung seid!“, hatte ihnen Frank erklärt und den Kerlen grinsend eine Broschüre der Freiheitsbewegung in die Hand gedrückt. „Kommt zu uns!“

Schließlich waren die Lastwagen weiter in den nächsten Ort gefahren. Die russischen Weiten erschienen endlos, aber es war wichtig, auch auf dem Land, wo Tschistokjow außerordentlich große Sympathien hatte, Präsenz zu zeigen. Ansonsten waren die Fahrten durch die ländlichen Gebiete wenig spektakulär. Die Kollektivisten hatten sich bisher hauptsächlich in den großen Städten festgesetzt und so sollte es zunächst auch bleiben.

Es war der 28. November. Gegen Mittag kamen die drei Lastwagen der Warägergarde in einen Ort namens Sandovo, eine verschlafene, kleine Stadt westlich von Rybinsk.

Die Soldaten waren hungrig und hielten auf dem Dorfplatz an. Zwischen den heruntergekommenen Häusern konnten sie schließlich ein kleines Lädchen ausmachen.

General Kohlhaas reckte sich und sagte: „Wir gehen einen Happen essen! Heute Nacht bleiben wir in diesem Kaff!“

Seine weißrussischen Soldaten brummten ihre Zustimmung und sprangen von den Ladeflächen der Transportfahrzeuge herunter. Die Ortschaft wirkte wie ausgestorben, nur das schrille Kreischen einiger kleiner Kinder konnte man zwischen den ärmlichen Häusern vernehmen. Am Ende des Dorfplatzes erhob sich eine kleine Kirche, die der in Ivas erstaunlich ähnelte.

Bald brach die Nacht herein und die Waräger besorgten sich eine notdürftige Unterkunft: Einige alte, leerstehende Scheunen am Dorfrand. Sie parkten die Lastwagen davor und legten sich nach einem kargen Abendmahl schlafen.

Frank war wieder einmal vollkommen erschöpft und rollte sich wie eine Katze in seinen Schlafsack ein. Muffiges Stroh kitzelte seine Kopfhaut, doch er hatte sich in den letzten Monaten an allerlei Unbequemlichkeiten gewöhnt. Um ihn herum schnarchten seine Soldaten, während ein paar Männer draußen vor den Scheunen Wache hielten.

„Gute Nacht, Schatz!“, flüsterte er und betrachtete lächelnd Julias Foto auf seinem DC-Stick. Kurz darauf schlief er ein, um in den frühen Morgenstunden brutal aus seinen Träumen gerissen zu werden.

Schreie und Schüsse ließen Frank aus dem Schlaf aufschrecken. Irgendwo schlugen Kugeln in die hölzerne Wand der alten Scheune ein und Holzsplitter flogen ihm um die Ohren. Ein Warägergardist wankte blutend in den Raum, erhielt einen Schuss in den Rücken und brach sofort röchelnd zusammen. Die aufgewachten Soldaten um ihn herum tasteten aufgeregt nach ihren Gewehren. Kohlhaas kroch verwirrt aus seinem Schlafsack und robbte in eine Ecke, um nach draußen zu spähen. Einer der Lastwagen brannte. Dunkle Schatten näherten sich der Scheune und die Mündungsfeuer ihrer Waffen blitzten in der Finsternis auf.

„Was ist hier los?“, schrie er.

Seine verstörten und verschlafenen Soldaten wussten es nicht. Die schemenhaften Gestalten wurden derweil immer zahlreicher und strömten aus dem nahegelegenen Wald. In Windeseile hatten sie die Scheune umstellt und brüllten: „Alle rauskommen! Die Waffen runter!“

Die Waräger zögerten einige Minuten und die Männer draußen antworteten daraufhin mit einer Salve aus ihren Maschinenpistolen. Ein paar von Franks Männern warfen sich blitzartig auf den Boden, andere wurden von Kugeln getroffen und sackten schreiend zusammen.

„Scheiße!“, zischte Kohlhaas, warf seine Waffe weg und ging mit erhobenen Händen aus der Scheune. Seine Männer taten es ihm gleich und trotteten ihm schweigend hinterher.

Lichtkegel von Taschenlampen streiften ihre Gesichter. Die benachbarte Scheune hatte inzwischen Feuer gefangen und einige hustende Waräger stolperten aus ihr heraus.

„Hinstellen!“, befahl eine finstere Gestalt und leuchtete die Männer an.

Kohlhaas und seine überrumpelten Soldaten stellten sich in einer Reihe auf und sahen vor sich mehrere ihrer toten Kameraden liegen. Wieder wurden sie angeleuchtet.

„Das ist ein General! Der Rest sind gewöhnliche Soldaten!“, rief einer der Angreifer aus dem Halbdunkel und deutete auf Franks Uniform. Keine zehn Sekunden später donnerten Sturmgewehre los und Franks Mitstreiter wurden von Projektilen durchlöchert. Mit aufgerissenen Augen starrte der General zur Seite, wo seine Männer sterbend zu Boden fielen.

„Jetzt ist es vorbei!“, schoss es ihm in Sekundenschnelle durch den mit Angst infizierten Geist.

Die Männer des Überfallkommandos leuchteten den Boden ab und suchten nach Warägern, die noch nicht ganz tot waren. Sie erledigten die vor Schmerz schnaufenden Verwundeten mit gezielten Kopfschüssen und wandten sich daraufhin wieder Frank zu.

„Das war’s, Herr General!“, zischte eine der Gestalten und näherte sich ihm mit schnellen Schritten. Ein Gewehrkolben flog auf Franks Gesicht zu und dieser vernahm nur noch einen dumpfen Schlag. Dann wurde es schwarz in seinem Kopf.

„Führender General der Volksarmee der Rus verhaftet und hingerichtet!“, verkündeten die Letter der von Uljanin kontrollierten, größten Zeitung Russlands am 01.12.2038.

Artur Tschistokjow, der Präsident Weißrusslands und Anführer der Freiheitsbewegung der Rus, hielt den Atem an und sank auf seinen Stuhl nieder.

Neben ihm standen Alfred Bäumer, Franks bester Freund, der erst gestern aus Russland nach Minsk zurückgekehrt war, Außenminister Wilden und einige weitere Vertraute des Staatsoberhauptes.

Die Farbe war aus ihren Gesichtern gewichen und blankes Entsetzen lähmte ihre Gehirne wie ein Stromausfall. Bäumer stammelte etwas auf Deutsch, schlich zum Fenster und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

„Das darf nicht wahr sein!“, flüsterte er verstört.

Wilden sagte nichts und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die bösartig wirkende Überschrift der kollektivistischen Zeitung. Ihnen allen fehlten die Worte angesichts dieser schrecklichen Nachricht. Frank hatte es erwischt…

Inzwischen waren schon zwei Stunden vergangen. Artur Tschistokjow wollte die Nachricht vom Tode seines besten Offiziers und Freundes noch immer nicht glauben. Alfred und Wilden erging es nicht anders. Sie schwankten zwischen Trauer, Verwirrung und Ohnmacht.

Schließlich verließen Bäumer und der Außenminister den Präsidentenpalast und gingen bedrückt und niedergeschlagen die lange Treppe ins untere Stockwerk hinab.

„Frank muss schnell ersetzt werden!“, bemerkte Wilden plötzlich.

Alf drehte ihm den Kopf zu und antwortete perplex: „Wie meinst du das?“

„Wir müssen ihn ersetzen! Die Warägergarde benötigt einen neuen Anführer!“

„Ersetzen? Mein bester Freund ist kaum kalt geworden und du redest vom Ersetzen?“, schluchzte Bäumer zornig.

„Es ist notwendig!“, kam von Wilden.

„Notwendig? Ist das alles, was du zu Franks Tod zu sagen hast?“, schrie ihn Bäumer an.

„Nein! Tut mir leid!“

„Er war wie ein Bruder für mich. Wie soll ich ohne ihn weitermachen? Mich kotzt diese ganze Scheiße nur noch an“, fluchte Alfred und Tränen rannen über seine mit Kratzern und Narben gezeichneten Wangen.

Wilden ging weiter die Stufen hinab und versuchte gefasst zu wirken.

„Man sagt, dass ich nüchtern und sachlich bin. Ich versuche immer das Große zu sehen und blende das Kleine aus. Ich versuche mich nicht von Trauer leiten zu lassen und bemühe mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber ich werde noch ausreichend Gelegenheit haben, um den Jungen zu trauern. Er war mein Schüler, mein Freund, mein bester Mitstreiter, mein Held. Er war fast wie mein eigener Sohn. Jetzt ist er gefallen. Soldaten fallen und müssen ersetzt werden. Ich falle und muss auch ersetzt werden. Und du und alle anderen.

Die Schlachtreihe muss immer geschlossen sein, immer muss einer nachrücken und die Toten ersetzen …“, erklärte Wilden und sah Alf mit seinen traurigen, alten Augen an.

„Ich kann da nicht so ruhig bleiben“, erwiderte Bäumer aufgelöst und ging aus dem Präsidentenpalast heraus. Der Außenminister folgte ihm.

„Auf mich warten noch schlimme Stunden, Alf. Wenn ich allein bin, dann wird mich die Trauer finden. Und wenn ich es Julia erzählen muss und sie vor Schmerz fast den Verstand verliert. Mit Frank ist auch ein Teil von mir gestorben. Er war doch mein Junge!“, sagte der ältere Herr weinend und verschwand.