Schritt für Schritt

Frank drückte sich den Telefonhörer noch ein wenig fester an sein Ohr und lauschte erwartungsvoll dem leisen Tuten. Nach etwa einer Minute hob Agatha Wilden, Julias Mutter, endlich ab. Die Frau des Außenministers begrüßte Kohlhaas etwas verhalten und ging dann in die obere Etage, um ihre Tochter ans Telefon zu holen.

„Hallo?“, schallte es kurz darauf aus dem Hörer.

„Hallo, Julia! Ich bin’s! Ich wollte mich nur mal melden“, sagte Frank aufgeregt und lehnte sich gegen die schmutzige Glasscheibe der Telefonzelle.

„Na, wie ist die Lage?“, fragte Julia trocken.

„Hör bloß auf, wir sind mal wieder rund um die Uhr unterwegs. Wir bereiten gerade eine große Sache vor, mehr darf ich aber nicht sagen. Falls einer mithört, weißt du?“, erklärte Kohlhaas.

„Noch eine große Sache?“

„Ja, ich bin an der Grenze zu Lettland. Alf ist auch dabei. Wir wollen morgen …“, sagte der junge Mann und unterbrach sich dann selbst.

„Aha!“, gab Julia nüchtern zurück.

„Und was machst du so?“, wollte Kohlhaas wissen.

Die Tochter des Dorfchefs schwieg für einen kurzen Moment, schließlich antwortete sie: „Schön, dass du auch mal danach fragst, Frank. Ich lese gerade einige Bücher über Pädagogik. Es ist übrigens äußerst bemerkenswert, was Artur Tschistokjow in „Der Weg der Rus“ über die Erziehung der Jugend schreibt, aber das nur am Rande. Gerade lese ich jedoch ein anderes Buch zu diesem sehr interessanten Thema“, erläuterte Julia.

„Pädagogik?“, wunderte sich Frank.

„Ja, genau!“

„Artur schreibt, dass alle Erziehung nur einem Ziel dienen soll: Die Jugend muss …“, rezitierte Frank, doch die junge Frau fiel ihm ins Wort.

„Ich weiß, aber ich möchte mich zunächst einmal noch mit anderen Büchern befassen. Etwas allgemeineren Büchern, ich will nämlich Lehrerin werden.“

„Was?“

„Ich möchte Lehrerin werden. Daher auch mein Interesse an diesen Themen. Vielleicht gehe ich in ein paar Monaten nach Wilna, um dort zu studieren. Das wäre doch nicht schlecht, oder?“, sagte Julia und schien gespannt auf Franks Reaktion zu warten.

„Warum das denn? Nach Wilna?“, erwiderte Kohlhaas verwirrt.

„Ja, die Universität in Wilna ist eine hervorragende Institution, das meint übrigens auch mein Vater. Ich glaube, dass ich das Zeug zu einer guten Lehrerin habe. Was sagst du dazu?“

Frank brummte leise vor sich hin. „Warum bleibst du denn nicht in Ivas?“

„Soll ich hier vielleicht ewig herumgammeln? Ich will auch etwas aus meinem Leben machen. Du bist weg, mein Vater ist weg und zudem das halbe Dorf. Nein, ich habe mich entschlossen, jetzt selbst aktiv zu werden. Ich könnte mir gut vorstellen nach Wilna zu gehen, um dort ein Studium zu beginnen. In den Semesterferien könnte ich dann Frau de Vries helfen. Die plant nämlich, hier im Dorf eine kleine Schule einzurichten. Ich habe es meinem Vater auch schon erzählt und der findet die Idee sehr gut…“, bemerkte Julia.

„Eine Schule in Ivas? Ja, das ist eine gute Idee. Aber dafür musst du ja nicht auch noch studieren und nach Wilna gehen“, meinte Frank wenig begeistert.

„Doch, ich denke, das sollte ich tun. Eigentlich freue ich mich auch schon auf das Studium, das wird bestimmt sehr interessant. Danach kann ich an allen Staatsschulen unterrichten.“

„Das kannst du doch auch so. Du bist immerhin die Tochter des Außenministers“, gab Kohlhaas etwas ungehalten zurück.

„Trotzdem, ein Studium wird mir sicherlich nicht schaden. Du willst doch auch, dass Arturs revolutionäre Ideen und seine Weltsicht der jungen Generation vermittelt werden, oder?“, konterte Julia.

„Natürlich, das ist extrem wichtig. Die Kinder von heute sind die Kämpfer der Freiheitsbewegung von morgen. So sagt das Artur immer. Es ist übrigens sehr lobenswert, dass du „Der Weg der Rus“ gelesen hast. Es ist die Pflicht eines jeden, sich mit Arturs Lehre intensiv auseinander zu setzen, denn nur so wird die Grundlage für den Kampf…“, predigte Frank, wobei ihm seine Gesprächspartnerin erneut in die Parade fuhr.

„Jetzt ist gut, Herr General! Genug politische Schulung für heute. Wann kommst du denn endlich zurück nach Ivas?“

„Das kann ich noch nicht genau sagen. Wir haben in den nächsten Tagen noch viel zu tun. Keiner kann voraussehen, wie sich die Lage demnächst entwickeln wird“, erklärte Frank leicht ratlos.

„Pass auf dich auf, mein Lieber! Vergiss bei all der Politik nicht dein eigenes Leben. Auch wenn in Arturs großem Werk steht, dass die Opferbereitschaft des Einzelnen eine der höchsten Tugenden ist, würde ich mich trotzdem freuen, wenn ich dich noch ein paar Jahre hätte“, meinte Julia mit leicht ironischem Unterton.

„Keine Sorge, mir passiert schon nichts …“, gab Frank wenig überzeugend zurück.

Julia zögerte für einige Sekunden mit ihrer Antwort, schließlich erwiderte sie: „Mit diesem Gerede kannst du mich kaum beeindrucken. Mir ist es viel lieber, wenn du auf dich achtest. Das kannst du übrigens auch meinem werten Vater ausrichten.“

Der nächste Monat hatte begonnen und im Iran war ein blutiger Bürgerkrieg ausgebrochen. Die dortigen Rebellen hatten die Großstädte Mashad und Esfahan nach wochenlangen Straßenkämpfen eingenommen und die loyalen Truppen von Sub-Gouverneur Kerman vertrieben. Der Weltverbund ordnete die sofortige Unterstützung seines Vasallen durch starke GCF-Verbände an und schickte Zehntausende von Soldaten in den Nahen Osten.

Auch die im Süden Russlands stationierten Streitkräfte wurden fast vollständig in den Norden des Irans verlegt, um die Aufständischen dort zurück zu drängen.

In anderen Regionen des Nahen Ostens, etwa in Palästina, kam es ebenfalls einmal mehr zu schweren Unruhen, die mit brutaler Militärgewalt niedergeschlagen werden mussten.

So richteten die Weltregierung und die internationalen Medien in diesen Tagen ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Iran und die arabische Welt, eine Region, welche schon seit Jahrzehnten von Konflikten gezeichnet war.

Weißrussland und Litauen blieben vorerst von einer Invasion durch die internationalen Streitkräfte verschont, was Tschistokjow und seinen Mitstreitern ein wenig mehr Luft zum Atmen bescherte.

Nach drei Wochen unermüdlichem Einsatz in Lettland wurde Frank nach Minsk gerufen, um bei der Planung des Angriffs auf Riga dabei zu sein. Artur Tschistokjow hatte nicht weniger als 40.000 bewaffnete Männer in Silaulai im Norden Litauens versammelt und wies diese an, am 01.07.2036 in Lettland einzurücken. Im Morgengrauen setzten sich zahlreiche Lastwagen in Bewegung und brachten erste Trupps über die Grenze des Nachbarlandes, um Ziele im Osten Lettlands einzunehmen. Der Rest der Kampfverbände folgte ihnen eine Stunde später und machte sich auf den Weg zur lettischen Hauptstadt.

Als die Rebellen in die Außenbezirke Rigas eindrangen, schlossen sich ihnen unzählige, jubelnde Bürger an, so dass sich ihre Zahl schnell vervielfachte. Sogar ganze Abteilungen der örtlichen Polizei liefen zu den Aufständischen über und stärkten ihre Reihen.

Frank sah sich um und betrachtete die Menschenmassen, welche aus den Seitenstrassen schreiend und applaudierend zu ihrer Truppe stießen. Es waren Tausende und ihre Zahl nahm mit jeder weiteren Minute zu.

Sprechchöre hallten durch das Wohnviertel und ein Meer von Drachenkopffahnen wurde über ihren Köpfen geschwenkt.

„Hurry up! Dawaj!“, schrie Kohlhaas und forderte seine Männer auf, schneller vorzurücken.

Alf beeilte sich, mit seinem ungestümen Freund Schritt zu halten. Das Stadtzentrum von Riga war jetzt nur noch einige Kilometer entfernt.

„Glaubst du, dass das heute klappt?“, fragte er Bäumer und sah sich nervös um.

„Noch hat sich kein Widerstand geregt! Alle Polizisten, die bisher aufgetaucht sind, haben sich uns angeschlossen“, antwortete der Freund zuversichtlich.

Frank lächelte verhalten und starrte Bäumer an. Die wachsende Menschenmasse bewegte sich derweil unter lautem Singen und Schreien bis zum Regierungsgebäude, wo sie weitere Mitstreiter erwarteten, die immer wieder „Artur Tschistokjow!“ skandierten.

„Hier sind keine GCF-Truppen! Niemand!“, sagte Kohlhaas verwundert und blickte zum Regierungsgebäude hinüber.

„Vermutlich haben sie sich zurückgezogen. Das hatte ich eigentlich nicht erwartet“, erwiderte Alf verdutzt.

Die Menschenmenge wuchs inzwischen immer weiter an. Artur Tschistokjow tauchte auf, winkte und wurde mit frenetischem Jubel begrüßt. Als er schließlich mit seiner Rede begann, hatten sich Zehntausende von Letten um ihn herum versammelt.

„Ich verkünde hiermit, dass Lettland von heute an frei ist und aus dem Weltverbund austritt!“, rief er und ein Chor der Begeisterung donnerte ihm entgegen.

Die Freiheitskämpfer der Rus rückten nach Arturs zweistündiger Rede in das verlassene Regierungsgebäude ein und besetzten es. Andere Trupps nahmen derweil strategisch wichtige Ziele im ganzen Stadtgebiet ein.

Es fiel kein einziger Schuss an diesem Tag. Sie hatten das winzige Lettland im Handstreich genommen und keinerlei Widerstand war ihnen entgegengetreten.

Wenige Tage nach der erfolgreichen Übernahme erfuhren sie, dass Sub-Gouverneur Maximilian Feynbergow und sein Kabinett Riga schon in der Nacht zuvor verlassen hatten und die wenigen GCF-Besatzungssoldaten nach Russland abgezogen waren.

Artur Tschistokjow setzte Lukas Alanin, den Leiter der lettischen Sektion der Freiheitsbewegung, als neuen Präsidenten des Landes ein. Dann ordnete er Maßnahmen zur Behebung der sozialen Krise an und überließ es Peter Ulljewski und seinen Männern, die restlichen Machtstrukturen der Weltregierung, samt ihren Trägern, in Lettland auszuschalten.

Am 10.07.2036 verkündete Tschistokjow in Riga den vorläufigen Abschluss der Revolution vor einer riesigen Volksmenge und es folgte wenig später eine weitere Großveranstaltung in Minsk, bei der er den Sieg über die Weltregierung in Lettland zelebrieren ließ. Frank und Alf kehrten nach dem berauschenden Fest in der weißrussischen Hauptstadt erst einmal nach Ivas zurück und gönnten sich zwei Wochen Ruhe.

„Was wollte Wilden denn schon wieder?“, stöhnte Frank und ließ sich die Abendsonne auf den Bauch scheinen.

Alf stellte sein Handy aus und legte es auf den Tisch. Er wirkte ebenfalls genervt.

„Wir sollen nächste Woche wieder nach Minsk kommen. Es gibt viel zu besprechen“, gab Bäumer mit einem frustrierten Stöhnen zu verstehen.

„Auch die besten Kämpfer haben sich mal ‘ne Pause verdient“, bemerkte Sven vom anderen Ende des Tisches und nippte an seiner Bierflasche.

Frank hielt sich müde den Kopf und sagte nichts. Dann stand er auf. „Ich gehe jetzt nach Hause. Kommst du mit, Alf?“

Bäumer winkte ab. „Ich bleibe noch eine Runde bei Sven. Wir wollten noch Skat spielen.“

„Alles klar! Bis morgen!“, sagte Kohlhaas und schlich fort.

Der junge Mann schlenderte noch eine Weile durch das bereits halbdunkle Dorf und ging dann ins Haus. Entkräftet schleppte er sich zu seinem Bett und schlief sofort ein.

Mit seliger Miene lag er da und wirkte zwar erschöpft, aber dennoch irgendwie glücklich. So hatte man Frank lange nicht mehr gesehen. Er fand in dieser Nacht einen ruhigen und erholsamen Schlaf, während ihn sein Geist wieder einmal mit auf eine seltsame Traumreise nahm…

Ein alter Mann und ein kleiner Junge schritten über eine sonnendurchflutete Ebene voller fremdartiger Pflanzen und Gräser. Über ihnen leuchtete ein lilafarbener Himmel, auf dem die Umrisse dreier Monde zu erkennen waren.

„Großvater, wie lange leben schon Menschen auf dieser Welt?“, fragte der kleine Junge den weißhaarigen Mann.

„Hier? Auf Sakar IV? Nun ja, vor etwa hundert Jahren haben sich die ersten menschlichen Kolonisten auf diesem Planeten niedergelassen …“, antwortete dieser.

„Von woher kommen wir Menschen überhaupt?“, wollte der Junge wissen und betrachtete den Alten mit einem forschenden Blick aus seinen wachen Augen.

„Woher?“, der Großvater lächelte. „Nun, Sylcor, wir Menschen stammen vom heiligen Planeten Terra. Er ist die Wiege unserer Art und weit, weit weg von hier in einem anderen Teil der Galaxis!“

„Wie weit denn, Großvater?“

„Sehr weit! Tausende von Lichtjahre liegen zwischen Sakar IV und Terra. Es ist unglaublich weit. Eine Reise dorthin würde sehr lange dauern …“

Der kleine Junge überlegte. „Wann haben die ersten Menschen denn Terra verlassen und sind zu den Sternen geflogen?“

„Was du heute wieder alles wissen willst, mein Kleiner“, erwiderte der alte Mann und schmunzelte. „Das ist schon eine Ewigkeit her. Niemand weiß das mehr so genau. Es war die Zeit, als ein großer Mann die lichtgeborenen Menschen vor ihrer Zerstörung gerettet und die Epoche ihrer Herrschaft eingeleitet hat.“

„Die lichtgeborenen Menschen?“, sagte der Junge staunend.

„Ja, unsere Vorfahren. Die Menschen der Aureanerkaste, welche die Kraft des Geistes und der Erfindung ihr Eigen nennen“, erklärte der Großvater.

Die beiden liefen weiter und betrachteten den Himmel über ihren Köpfen. Dann blieb der kleine Junge plötzlich stehen und zupfte am Gewand des Greises.

„Wer war denn dieser große Mann?“, fragte das Kind.

Der Großvater suchte für einen kurzen Augenblick nach einer Antwort, dann erklärte er: „Das kann keiner mehr mit Sicherheit sagen. Dieser Mann hat im Laufe der Jahrtausende viele Namen bekommen. Die einen nennen ihn Artur den Großen, die anderen den Heiligen Kistokov. Wieder andere halten ihn lediglich für eine Sagengestalt und behaupten, dass es ihn niemals gegeben hat. Manche meinen auch, dass ein anderer die Grundlagen zu dem gelegt hat, was heute ist.

Seit seinem Wirken, wenn er denn je existiert hat, sind mehrere Zeitalter vergangen. Es gibt kaum noch Aufzeichnungen oder Relikte aus dieser Epoche, so lange ist sie schon Vergangenheit.

Nach ihm reisten die lichtgeborenen Menschen zu den Sternen und breiteten sich in den Sonnensystemen rund um Terra aus. Irgendwann lernten sie durch den Hyperraum zu reisen und erschufen sich Ebenbilder und Diener aus künstlichem Stoff. Sie trafen auf andere Wesen außerirdischer Herkunft, die mit ihnen um Macht und Lebensraum zwischen den Sternen rangen und es bis heute tun.“

„Du meinst die Außerirdischen? Die Viridpelliden, die Elban, die Necthan, die Rachnids und die vielen anderen?“, fragte das Kind mit staunendem Blick.

„Ja, und wie sie alle heißen! Genau!“, antwortete der Alte.

„Erzähle mir die ganze Geschichte der Menschen!“, forderte der Junge und zupfte den Alten erneut an seinem Gewand.

„Ach, mein Kleiner! Das würde ewig dauern und zudem kenne ich die ganze Geschichte ja überhaupt nicht. Ich weiß doch auch nicht alles. Vieles ist nur noch Legende und Mythos. Oft sind die Zeitangaben fehlerhaft und die Geschichten widersprüchlich. Es gab viele Zeitalter und sie reichen Jahrtausende weit zurück.

Da war die Hochzeit der Technologie als sich die Aureaner in ihrem Genie selbst übertrafen und sich ihre künstlichen Diener gegen sie wandten. Es folgte die Zeit der Hyperraumstürme.

Danach kam die große Ausbreitung der Menschen bis an die Grenzen der Galaxis und die Gründung unseres Imperiums.

Der galaktische Bruderkrieg leitete das nächste Zeitalter ein und seine Nachwehen dauerten endlose Jahrhunderte und peinigen uns bis in die Gegenwart. Seitdem sind 2000 Jahre vergangen. Vielleicht sogar mehr oder auch weniger. Wer kann das schon mit Gewissheit sagen.

Vieles, was die Gelehrten glauben über die früheren Jahrtausende zu wissen, ist oft kaum mehr als Sage und Legende.“

„Aber heute sind wir beide hier!“, rief der Junge lachend und setzte sich auf einen Stein.

Der Großvater strich ihm durch seine weichen, blonden Haare und musste ebenfalls lachen.

„Ja, heute sind wir beide hier! Das ist eine Tatsache!“, sprach er und setzte sich neben seinen Enkel.

Als Frank am nächsten Morgen nach zehn Stunden Schlaf aufwachte, musste er über seinen Traum ein wenig schmunzeln. Er maß ihm keine weitere Bedeutung bei und machte sich mit einem lauten Gähnen auf den Weg in die Küche. Sein Freund Alfred schien noch in den Federn zu liegen.

Der junge Mann kochte sich einen Kaffee, ging ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher an und schmiegte sich genüsslich in den weichen Sitzbezug des alten Sessels. Anschließend schaltete sich Frank durch die zahllosen Fernsehkanäle. Die meisten Leute in Weißrussland und Litauen konnten seit der Revolution nur noch das offizielle Fernsehprogramm der neuen Regierung empfangen, für Frank und andere führende Kämpfer der Freiheitsbewegung galt diese Sperrung allerdings nicht. Plötzlich hielt er inne und wunderte sich. Auf dem Bildschirm sah er einen bärtigen Mann, der von einer hübschen Reporterin interviewt wurde. Frank stutzte und spitzte die Ohren, um die englischsprachige Sendung möglichst vollständig zu verstehen.

„Sie sind also ein revolutionärer Philosoph, Herr Mardochow“, sagte die lächelnde Reporterin.

„Ja, das bin ich!“, erwiderte der Mann.

„Dann erklären Sie uns doch bitte Ihre Ansichten!“

Der bärtige Mann nickte. „Gerne! Die sozialen Ungerechtigkeiten in aller Welt haben mich dazu veranlasst, mir Gedanken über eine bessere Gesellschaft der Zukunft zu machen. Eine Gesellschaft ohne soziale Unterschiede, geleitet von Gleichheit und Gerechtigkeit!“

„Haben Sie denn konkrete Vorschläge, um die Missstände in aller Welt zu beseitigen, Herr Mardochow?“

„Ja, nicht nur Vorschläge. Ich habe ein Konzept: den Kollektivismus!“

„Können Sie uns diesen Kollektivismus einmal genauer erklären?“

„Natürlich! Die kollektivistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne soziale Unterschiede. Kollektivismus bedeutet die Entmachtung der kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen und die Überführung sämtlichen Privateigentums in die Hände aller Menschen. So können Armut und Ungerechtigkeit erst gar nicht entstehen“, erläuterte der Philosoph.

„Wie wollen Sie denn so etwas umsetzen?“, wollte die Reporterin wissen.

„Notfalls durch revolutionäre Maßnahmen! Die Armen und Ausgebeuteten müssen sich zusammenschließen und ihre Unterdrücker stürzen. Der Besitz in der Welt muss umverteilt werden, zum Wohle aller. Ich verspreche eine Welt, wo alle reich sind und alle an diesem Reichtum teilhaben werden.

Weiterhin müssen auch die verschiedenen Kulturen, Ethnien, Wertvorstellungen und Religionen endgültig aufgelöst werden, denn sie hindern die Menschen daran, gleich zu werden und führen immer wieder zu Kriegen und Mechanismen der gegenseitigen Ausbeutung durch die verschiedenen Gruppen.

In einer Welt, wo es keinerlei Unterschiede mehr zwischen den Menschen und Völkern gibt, wird es auch keine Ausbeutung mehr geben können. Der Kollektivismus ist daher die einzig sinnvolle Antwort auf die schrecklichen sozialen Krisen unserer Zeit!“

„Sind Sie ein Menschenfreund, Herr Mardochow?“, fragte die Frau.

„Selbstverständlich! Ich habe die kollektivistische Idee entwickelt, um eine Welt der Gerechtigkeit und Menschlichkeit entstehen zu lassen. Viele Jahre war ich in aller Herren Länder herumgereist und das überall anzutreffende Elend der Menschen hat mich tief berührt.

Jahrelang hatte ich nur eine Frage im Kopf: Wie kann ich den Abermillionen Armen in allen Erdteilen helfen? Da entwickelte ich die revolutionäre Idee des Kollektivismus!“, erklärte der Mann und streichelte seinen grauen Rauschebart.

Die hübsche Reporterin schaute in die Kamera und lächelte, dann sagte sie: „Liebe Zuschauer, das war Theodor Mardochow und seine Idee des Kollektivismus. Immer mehr Menschen in ganz Europa und im Rest der Welt glauben, dass dieser Mann tatsächlich einen Weg gefunden hat, Hunger, Armut und Elend erfolgreich zu bekämpfen. Die einen feiern ihn, die anderen halten ihn für einen Phantasten. Wir von „Channel Triangle“ danken Ihnen jedenfalls fürs Zuschauen und wünschen viel Spaß mit dem nun folgenden Spielfilm!“

Frank schaltete den Fernseher ab und grübelte vor sich hin. „Der Typ ist angeblich ein Revolutionär und sie geben ihm eine Plattform im Fernsehen? Sie fördern ihn sogar und erschießen ihn nicht gleich?“, sagte er leise zu sich selbst. „Da ist doch etwas faul!“

Kohlhaas eilte in den Nebenraum, startete den Computer und ging ins Internet. Hier gab es einiges über Theodor Mardochow und seine neue Ideologie zu lesen. Alf kam die Treppe herunter und setzte sich in die Küche, Frank beachtete ihn kaum und vertiefte sich in einige Texte.

„Die internationale Deklaration des Kollektivismus“, murmelte er vor sich hin und studierte eine Schrift des Philosophen. Dann las er einige Zeitungsartikel, die recht wohlwollend über Mardochow und seine Ideen berichteten.

Offenbar hatten sich kurz nach der Veröffentlichung der Deklaration bereits zahlreiche kollektivistische Gruppen in den meisten Großstädten Europas gegründet. Vor allem in Russland und der Ukraine schossen kollektivistische Organisationen wie Pilze aus dem Boden.

Als Frank und Alfred zurück nach Minsk kamen, beherrschte das Aufkommen dieser neuen Bewegung sämtliche Gespräche im Präsidentenpalast. Artur Tschistokjow wirkte durcheinander und versuchte eine Strategie gegen den neuen Gegner zu entwickeln. Als Kenner der weltpolitischen Hintergründe hatte er schnell erkannt, wer hinter der angeblich sozialrevolutionären Idee des Kollektivismus steckte.

Dennoch war die neue Philosophie ein genialer Schachzug der Mächtigen, denn jetzt liefen mehr und mehr Menschen dieser Weltanschauung hinterher. Die Lehren von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit fielen bei Millionen Verarmten und Verzweifelten auf fruchtbaren Boden und bereits Anfang Juli hatten sich auch in den Kleinstädten Osteuropas kollektivistische Gruppen und Vereinigungen gegründet. Die Medien berichteten über das Aufkommen dieser neuen Bewegung kaum in der gewohnt hetzerischen Weise, sondern stellten die Kollektivisten durchwegs als Reformatoren und Menschenfreunde dar.

So kam es bald zu einem ersten Massenaufmarsch unter Führung des in Moskau ansässigen Kollektivistenführers Vitali Uljanin in St. Petersburg. Die Polizei ließ ihn widerstandslos gewähren und selbst als sie von wütenden Demonstranten angegriffen wurde, reagierten die Beamten verhalten und zögernd.

Uljanin sagte nicht nur den Besitzenden und Kapitalisten den Kampf an, sondern vor allem auch der Freiheitsbewegung der Rus und allen anderen nichtkollektivistischen Gruppen, die er als „Arbeiterverräter“ und „Reaktionäre“ beschimpfte.

Artur Tschistokjow war mit dieser neuen Konkurrenz erst einmal überfordert und zog sich in diesen Tagen oft in sein Büro zurück, um allein zu sein und nachzudenken.

„Es wird nicht lange dauern, dann gibt es in jedem kleinen Dorf kollektivistische Gruppen. Selbst einige unserer eigenen Leute scheinen auf diese Rattenfänger herein zu fallen!“, brummte der weißrussische Präsident und sah seinen Freund Peter Ulljewski mit zornigen Augen an.

„Das werden wir zu verhindern wissen!“, schnaubte der bullige Russe und schlug auf den Tisch. „Bei uns werden sich diese Hunde nicht breit machen!“

„Dieser Uljanin hat mal eben 100.000 Menschen auf die Straße gebracht und sie haben ihn einfach gewähren lassen. Die Fernsehberichte habe ich alle verfolgt. Bei unseren nächsten Demonstrationen können wir uns nicht nur auf Zusammenstöße mit der russischen Polizei einstellen, sondern auch auf aufgehetzte Massen von Kollektivisten, die uns angreifen werden!“

Peter fluchte vor sich hin und stieß wilde Drohungen aus. „Das ist schlimmer als die GCF! Damit habe ich nicht gerechnet!“

„Unsere Feinde sind eben doch gerissener als wir gedacht haben …“, knurrte Tschistokjow.

„Ich werde jeden kollektivistischen Hetzer, der es wagt, nach Weißrussland zu kommen, an die Wand stellen lassen!“, schrie Peter.

„Das wird auch notwendig sein!“, fügte Artur hinzu.

„Wie gehen wir denn jetzt weiter vor?“

„Sie werden uns auch damit nicht aufhalten! Alles läuft weiter wie geplant. Ich werde noch in dieser Woche ein Gesetz zur Förderung der Familien verabschieden. Wilden hat ein Exportabkommen mit Japan und den Philippinen unterzeichnet, damit können wir unsere Wirtschaft zumindest ein wenig stärken!“

„Sollen wir mit unseren Aktionen in Russland denn fortfahren?“, wollte Peter Ulljewski wissen und wirkte verunsichert.

„Natürlich!“, rief Tschistokjow und schien zu brodeln. „Am 1. August werden wir eine Demonstration in Smolensk durchführen!“

„In Smolensk?“ Peter riss entsetzt die Augen auf.

„Ja, genau! Die Gruppe dort ist seit Wochen mit den Vorbereitungen beschäftigt. Dort ist viel Potential vorhanden. Wir dürfen jetzt nicht ruhen!“, donnerte der Rebellenführer.

„Das wird Tote geben. Das weiß ich jetzt schon“, stöhnte Arturs treuer Weggefährte.

„Ja, davon können wir ausgehen …“, bemerkte Tschistokjow nüchtern.

Frank und die anderen machten sich bald erneut auf den Weg nach Russland und verbrachten die Tage mit dem rastlosen Verteilen von Flugblättern und Datendisks in den Dörfern rund um Smolensk. Nur selten trafen sie auf Anhänger der kollektivistischen Bewegung, die ihnen meist wütende Beschimpfungen entgegenschleuderten oder Steine nach ihnen warfen. Nur einmal kam es zu einer Rangelei mit einigen Polizisten.

Ende Juli kehrten sie nach Wizebsk zurück und Frank erhielt Besuch von Julia aus Ivas. Er hatte die junge Frau in den letzten Wochen nur noch selten zu Gesicht bekommen, da er meistens unterwegs gewesen war. Jetzt freute er sich allerdings riesig. Die hübsche Tochter des Außenministers war noch immer seine große Liebe und Frank bereute es einmal mehr, dass er sich in den letzten Monaten kaum noch Zeit für sie genommen hatte.

Derweil baute Artur Tschistokjow seine politische Aufklärungsarbeit mit Hilfe von Fernsehen und Radio weiter aus und hielt überall in Weißrussland, Litauen und Lettland Reden vor seinen Anhängern, um sie innerlich zu festigen. Der August näherte sich.

Vitali Uljanin, dessen wahren Namen nur seine engsten Mitarbeiter kannten, schritt durch sein Büro im Hauptquartier der Kollektivistischen Vereinigung für soziale Gerechtigkeit (KVSG). Schon den ganzen Tag hatte er seinen Funktionären Anweisungen diktiert und sie jetzt sogar zu sich rufen lassen.

Der kleine Mann mit dem dunklen Spitzbart und dem verschlagenen Blick, musterte seine Leute und sagte dann: „Da sich diese Freiheitsbewegung der Rus nun auch in Lettland festgesetzt hat, müssen wir ihre Ausbreitung nach Russland mit allen Mitteln verhindern! Wie sieht es mit dem Aufbau eines militanten Arms unserer Organisation aus?“

„Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Wir brauchen nur noch einen zackigen Namen“, antwortete einer der Anwesenden.

„Ich habe mich für Kollektivistischer Kampfbund für Gerechtigkeit, kurz „KKG“, entschieden“, bemerkte Uljanin kühl.

„Das klingt hervorragend!“, stieß ein Funktionär aus.

„Ich weiß!“, gab der kollektivistische Führer zurück und grinste breit.

„Tschistokjow plant einen Protestmarsch in Smolensk, wie mir einer unserer Agenten berichtet hat. Am 1. August!“, sagte ein dicklicher Mann im Hintergrund.

Uljanin trat vor ihn und hob den Zeigefinger. „Ich habe bereits selbst eine Demonstration vorbereiten lassen. Wir werden diese Rus jetzt nicht mehr einfach so agieren lassen. Wo sie auftauchen, werden auch unsere Leute sein!“

Die anderen Kollektivisten nickten und sahen Uljanin mit Bewunderung an. Der Kollektivistenführer ging hinter seinen Schreibtisch und holte einen DC-Stick aus der Schublade. Dann blickte er seine Mitarbeiter an.

„Morgen werde ich auf der Kundgebung in Kursk sprechen, anschließend nehmen wir uns Tschistokjows Leute vor!“

„Aber die Rus sind nicht ungefährlich und können sehr aggressiv werden“, meinte ein besorgt wirkender Funktionär.

„Wir haben die Polizei in Smolensk notfalls auf unserer Seite. Zudem werden die Medien jede Ausschreitung Tschistokjows Leuten anhängen und die Werbetrommel für unsere Veranstaltung so massiv rühren, dass sich unserer Kundgebung mindestens das Doppelte oder Dreifache an Menschen anschließen wird!“

„Wie Sie meinen, Herr Uljanin!“, antwortete ein nachdenklicher Funktionär.

„Smolensk wird für Tschistokjow zum Alptraum werden!“, zischte der Kollektivistenführer und ballte seine knochige Faust.