Entscheidung in St. Petersburg

Mittlerweile war eine Stunde vergangen und die Warägergardisten pirschten sich durch die Straßen in Richtung des Mesto Vosstaniya, einem großen Platz im Süden der Uliza Nekrasova.

„Da sind wieder welche!“ Alf deutete auf einige Tausend Kollektivisten, die sich um einen laut schreienden Redner geschart hatten.

„Sind das KKG-Leute?“, fragte Frank unsicher.

„Nein, hauptsächlich gewöhnliche KVSG-Mitglieder. Glaube ich zumindest“, meinte Bäumer.

Einige Volksarmisten kamen herangekrochen und spähten ebenfalls zum Platz herüber. Kohlhaas winkte sie noch näher zu sich heran.

„Wir greifen sie an! Sie werden uns sonst in den Rücken fallen, wenn wir weiter in Richtung des Hauses der Gerechtigkeit vorstoßen!“

Die weißrussischen Soldaten nickten. Keine Minute später gab Frank den Angriffsbefehl und sie stürmten vor. Schüsse tackerten über den Asphalt und schlugen in dem schwarz-roten Haufen ein. Entsetzt starrten die Kollektivisten auf die anrückenden Soldaten und stoben auseinander. Kurz darauf wandten sie sich zur Flucht.

„Weiter!“, knurrte General Kohlhaas. Die Truppe rannte über eine Hauptstrasse, die mit verkohlten Autowracks und Trümmern übersät war. Im Hintergrund brannte ein großes Wohnhaus vor einer Barrikade, hinter der laut lamentierende KKG-Männer das Feuer eröffneten.

Kugeln fegten ihnen um die Ohren und einige Waräger und Volksarmisten gingen zu Boden. Der Rest warf sich auf den Boden und robbte so gut es ging in Deckung. Theodor Soloto und seine Männer waren unterdessen weiter mit ihrem Gegenangriff beschäftigt. Mittlerweile waren noch mehr Polizisten zu den Rus gestoßen und hatten sich in den Gassen rund um das Hauptverwaltungsgebäude verschanzt.

Ein Teil der Demonstranten war in andere Gebiete der Stadt abgezogen, während sich der Rest bereithielt, um die heranstürmenden Kollektivisten aufzuhalten.

Um jedes Haus und jeden Winkel entbrannten jetzt heftige Feuergefechte, die auf beiden Seiten zahlreiche Opfer forderten. Die Verstärkungen aus den Reihen der Volksarmee der Rus näherten sich derweil dem Stadtzentrum, ebenso wie weitere KKG-Trupps.

„Wir müssen uns durch die Hinterhöfe durchschlagen und die Barrikade umgehen“, rief Frank seinem hünenhaften Freund zu und erläuterte ihm seine Strategie.

Etwa 300 Elitesoldaten und der General schwärmten kurz darauf aus und hasteten über einen schmalen Weg zwischen zwei grauen Häuserwänden. Sie schlichen durch verwilderte Gärten und krochen durch hohes Gras, während die restlichen Waräger und Volksarmisten weiter auf die Kollektivisten auf der Barrikade feuerten.

Nach einer Weile hatten sie die Feinde an ihrer Flanke umgangen und gingen nun blitzartig zum Angriff über. Grimmig sprangen sie zwischen den Häusern hervor und schossen auf alles in ihrem Weg. Eine Handgranate schlug mitten unter den KKG-Männern ein und schleuderte einige von ihnen mit zerrissenen Gliedern auf den Asphalt.

Brüllend stürmten schließlich auch die übrigen Rus vorwärts und machten die Gegner in einem brutalen Hauen, Stechen und Schießen nieder. Schweißgebadet und außer Atem rief Kohlhaas die Überlebenden seines Trupps zu sich und sie erreichten endlich die Uliza Nekrasova.

„Der Rest ist auch da!“, stöhnte Frank müde und blickte zu Alf herüber. „Ich kann nicht mehr!“

„Reiß dich zusammen! Wir werden die feindliche Zentrale jetzt einnehmen!“, herrschte ihn Bäumer an.

Von drei Seiten rückten die Rus daraufhin in die Uliza Nekrasova ein und kämpften sich unter großen Verlusten vorwärts.

Die Volksarmisten, die von Osten her angriffen, deckten das Hauptquartier der Kollektivisten zeitgleich mit einigen schweren Salven aus ihren mobilen Mörsergeschützen ein. Nach einer weiteren Stunde war es nur noch eine qualmende Ruine und die noch lebenden Gegner, die sich darin verschanzt hatten, wurden durch einen letzten, kühnen Sturmangriff ausgeschaltet.

General Kohlhaas stieg über Berge von Schutt und einige mit Staub bedeckte Tote hinweg. Irgendwo neben ihm stöhnten einige Verwundete. Ob Freund oder Feind ließ sich auf den ersten Blick nicht mehr erkennen.

Inzwischen war es schon 20.13 Uhr und langsam krochen die Schatten der Nacht hervor, um sich über St. Petersburg zu schieben. Mit blutverschmiertem Gesicht, verdreckter und verschwitzter Uniform und vollkommen erschöpft, schritt Frank durch die zerschossene Eingangstür des Hauses der Gerechtigkeit. Er ging über die mit Gesteinsbrocken bedeckte Treppe ins oberste Stockwerk hinauf und schnappte sich die Drachenkopffahne eines seiner Soldaten.

Kohlhaas verzog sein Gesicht vor Schmerz, Hunger und Müdigkeit, dann hielt er das Banner aus dem Fenster und seine Leute brachen in einen stürmischen Jubel aus.

Sie hatten es tatsächlich geschafft. Das Haus der Gerechtigkeit war eingenommen worden. Vollkommen erschöpft sank der General in sich zusammen und wäre am liebsten an Ort und Stelle eingeschlafen.

Der Verlust ihres Hauptquartiers war für die St. Petersburger Kollektivisten ein schwerer psychologischer Schlag. Nach einigen Stunden brachen sie ihren Angriff auf das Hauptverwaltungsgebäude ab, nachdem sie sich am Widerstand der Ordnertrupps, Volksarmisten und russischen Polizisten die Zähne ausgebissen hatten.

Theodor Soloto zog sich mit dem harten Kern seiner Gefolgsleute im Schutz der Dunkelheit in die Nordstadt zurück und verschanzte sich dort in einigen Häusern. In anderen Stadtteilen gingen die Straßenschlachten zwischen Rus und Kollektivisten noch bis in die frühen Morgenstunden weiter.

Am nächsten Tag nahmen die Soldaten der Volksarmee schließlich auch das Presseviertel ein und fügten ihren Gegnern damit eine weitere, schwere Schlappe zu.

Artur Tschistokjow, der die Nachricht vom Sieg auf dem Krankenbett erfuhr, fiel vor Freude fast aus selbigem heraus. Seine Getreuen hatten die wichtigsten Punkte der zweitgrößten Metropole Russlands erobert und in den folgenden Tagen rissen sie die Kontrolle über St. Petersburg endgültig an sich.

„Dieser Soloto ist geflohen! Kam eben im Radio!“, sagte Frank und nahm einen großen Schluck Mineralwasser zu sich.

„Vermutlich ist er irgendwo im Untergrund der Stadt verschwunden“, mutmaßte Bäumer.

„Heute werden wir nur in ein paar Straßenzügen patrouillieren, sonst nichts“, bemerkte Kohlhaas erleichtert.

„Wie geht es Artur?“

„Peter hat mir vor einer Stunde gesagt, dass sie ihm die Kugel erfolgreich aus dem Oberschenkel entfernt haben. Alles soweit klar!“

„Wir haben es wahrhaftig geschafft. Was für eine Schlacht!“, stieß Bäumer aus.

Sein Freund hielt sich den Kopf und wirkte noch immer matt und ausgelaugt: „Ja, Gott sei Dank!“

Drei Soldaten neben ihnen spielten Karten und lachten laut vor sich hin, andere schliefen. Die meisten wirkten vollkommen abgekämpft und sprachen kaum noch ein Wort. „Wesentlich schlimmer ist die Sapporo-Front auch nicht gewesen“, brummte Frank und gab Alf einen Klaps auf den Rücken.

Dann ging er zum Fenster des Hauses, das sie gestern als Unterkunft besetzt hatten, und schaute auf die schmutzige Straße herab. Keine Menschenseele war zu sehen, irgendwo hörte man lediglich einen Hund bellen.

„Meinst du, dass das alles irgendwann einmal vorbeigeht?“, fragte Frank seinen Freund.

„Es wird noch lange dauern!“, meinte Alf und strahlte dabei erneut seine fast schon sprichwörtliche Gemütsruhe aus.

Die Lage in St. Petersburg beruhigte sich langsam wieder. Zusammen mit der russischen Polizei stellten die Ordnertrupps der Rus und die Soldaten der Volksarmee langsam wieder eine gewisse Ordnung in der gewaltigen Metropole her.

Bis auf kleinere Überfälle und Hinterhalte hielt sich der Widerstand der Kollektivisten jetzt in Grenzen. Peter Ulljewski und seine Trupps begannen mit Verhaftungen und Erschießungen in der ganzen Stadt und waren ununterbrochen unterwegs.

Theodor Soloto selbst war hingegen verschwunden und niemand konnte sagen, ob er sich noch in St. Petersburg befand oder bereits nach Osten geflüchtet war. Der weißrussische Geheimdienst suchte den verhassten Gegner zwar intensiv, doch er fand ihn nicht. Die Kämpfe der letzten Tage hatten auf beiden Seiten über 15000 Tote und unzählige Verletzte gefordert. Nun war die Macht der Kollektivisten jedoch gebrochen und ihre versprengten Haufen wurden von den Rus gnadenlos gejagt. Doch außerhalb der Metropole war der Gegner nicht untätig geblieben. Er hatte weitere Regionen überrannt und Uljanin dachte nicht daran, die Freiheitsbewegung der Rus auf längere Sicht in St. Petersburg gewähren zu lassen.

Die blutigen Unruhen, die Barrikaden- und Straßenkämpfe, sollten erst der Auftakt zu einem noch viel größeren Konflikt sein. Zunächst aber feierte Artur Tschistokjows Freiheitsbewegung erst einmal ihren Sieg.

Bis Ende Oktober blieben Frank und Alfred noch in St. Petersburg und halfen ihren Mitstreitern dabei, die Macht in der strategisch wichtigen Großstadt weiter zu festigen. Sie verbrachten die Tage mit endlosen Patrouillenfahrten durch die weit verzweigten Gassen, führten Verhaftungen durch und stellten Verräter an die Wand.

Sie gingen nun mit ähnlicher Härte wie ihre skrupellosen Rivalen vor, die in den von ihnen beherrschten Regionen jeden politischen Widerstand mit Gewalt ausgemerzt hatten. Artur Tschistokjow kontrollierte jetzt die Fernseh- und Rundfunkanstalten der Stadt und nutzte diese zu einer flächendeckenden Aufklärung der Bevölkerung.

„Es ist wichtiger, die Leute geistig für sich zu gewinnen als sie mit dem Schwert zu zwingen!“, äußerte er häufig in diesen Tagen.

Die internationale Presse und das Fernsehen schenkten den Ereignissen in St. Petersburg diesmal große Aufmerksamkeit. Gift und Galle spuckten sie Tschistokjow entgegen und machten aus ihm ein gewalttätiges Monster. Sie stellten die Kollektivisten durchwegs als „arme Opfer“ dar und berichteten nun fast täglich von den „schrecklichen Menschenrechtsverletzungen“ in Weißrussland und den benachbarten Gebieten.

„Westrussland versinkt im Blut!“, titelte die größte New Yorker Tageszeitung. „Stoppt den verrückten Diktator Tschistokjow!“, riefen die Blätter im Verwaltungssektor „Europa-Mitte“.

Der Weltpräsident und führende Vertreter des Weltverbundes äußerten ihre „tiefe Sorge“ vor den Kameras der Fernsehsender und versprachen ein baldiges Eingreifen in Osteuropa.

Endlich waren die Mächtigen auf Tschistokjow aufmerksam geworden. Der Fall von St. Petersburg hatte sie unerwartet getroffen und inzwischen begannen sie, die Freiheitsbewegung der Rus ernster zu nehmen.

Der japanische Außenminister Akira Mori und sein weißrussischer Kollege Thorsten Wilden bekräftigten hingegen vor der nun hinsehenden Weltöffentlichkeit ihre Bündnistreue. Matsumoto drohte dem Weltverbund sogar und forderte ihn auf, Weißrussland und das Baltikum in Ruhe zu lassen.

Und während sich die Lage auf internationaler Ebene zuspitzte, kehrten Frank und Alfred für zwei Wochen der großen Politik den Rücken und kehrten endlich nach Ivas zurück.

Es hatte den ganzen Tag geregnet und Frank hatte sein Bett kaum verlassen. Seine Glieder waren schwer wie Blei und nur ab und zu schlich er in die Küche, um sich einen heißen Tee zu machen.

Bäumer und Svetlana waren oben in einem Zimmer und wollten ebenfalls nur noch ihre Ruhe haben. Die junge Russin war heute Morgen nach Ivas gekommen, hatte sich kurz mit Frank unterhalten und war dann mit Alf nach oben verschwunden. Kohlhaas war verwirrt, erschöpft und trotz des großen Sieges in St. Petersburg unzufrieden. Als es draußen langsam dunkel zu werden begann, zog er sich seine Sachen an und ging aus dem Haus. Er schlenderte über die schlammigen Straßen des Dorfes und unterhielt sich kurz mit einem jungen Mann, der auch bei den Straßenkämpfen in St. Petersburg dabei gewesen war. Frank kannte ihn kaum. Der gerade einmal 18 Jahre alte Bursche hieß Stefan Weinert und hatte noch unter Sven Webers Leitung mit seinem Einsatz für die Rus begonnen. Durch den Tod seines Freundes und seine ständigen Einsätze in der Ferne hatte Kohlhaas ein wenig den Kontakt zu der nach wie vor sehr aktiven Dorfjugend von Ivas verloren. Jetzt war er froh, sich noch einmal mit einem so eifrigen Nachwuchskämpfer unterhalten zu können.

Nach einer Weile begann es heftiger zu regnen, doch Frank ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil, er genoss es, als die kalten Tropfen auf seine Gesichtshaut prasselten und atmete tief durch.

Bald kam er zum Dorfplatz und blickte sich ein wenig melancholisch um. Die Regentropfen klackerten auf die Häuserdächer um ihn herum und auf das Kopfsteinpflaster zu seinen Füßen. Wie sehr hatte er dieses kleine Dörfchen vermisst und wie weit hatten ihn die Ereignisse der letzten Zeit von Ivas weggetragen.

In den alten Häusern, die ihn umringten, brannten heute Abend nur wenige Lichter und es wurde immer düsterer. Das Licht des Mondes konnte die dicken Vorhänge aus Regenwolken am Himmel kaum noch durchdringen. Frank schlenderte weiter und ging zum kleinen Friedhof.

Von Gras überwucherte Grabsteine mit kyrillischen Inschriften bedeckten die in Dunkelheit gehüllte Wiese. Es waren die Gräber der ehemaligen Einwohner des Dorfes, die hier schon lange vor sich hin verfielen und längst vergessen waren. Lediglich acht Grabsteine auf diesem Feld waren jüngeren Datums. Die meisten der neueren Einwohner von Ivas, die unter Wildens Leitung hier nach Litauen gekommen waren, lebten noch. Ein älteres Ehepaar war zwischen den Jahren 2031 und 2033 hier verstorben und beerdigt worden, weiterhin sechs junge Männer. Letztere waren alle bei den politischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit getötet worden. Frank hatte sie nur flüchtig gekannt. Bis auf einen jedenfalls: Sven Weber, seinen guten Freund.

Zudem gab es noch zwei weitere junge Burschen aus Ivas, die ihr Leben ebenfalls im Befreiungskampf gelassen hatten: Thomas Baastfeldt und Dennis Müller. Doch ihre Körper waren irgendwo fern der Heimat verscharrt und nicht mehr nach Hause überführt worden.

„In welchem Massengrab in Ostasien verrottet ihr, meine Brüder?“, sagte Frank leise und musste an die beiden Freiwilligen des japanischen Krieges denken.

Dann stellte er sich vor das Grab seines Freundes Sven, dessen grauer Stein ihn stumm ansah. Er hockte sich ins nasse Gras und strich mit seiner Hand über die Halme.

„Das hast du jetzt davon, mein Freund. War es das alles wert?“, flüsterte Kohlhaas und betrachtete die Gräber um sich herum. Dann versank er für einen kurzen Augenblick in Gedanken und schwieg.

„Ach, Sven …“, murmelte er schließlich und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Vielleicht liege ich schon morgen neben dir und habe auch meine Ruhe.“

Nachdem Frank einige Minuten vor dem Grab seines Freundes gestanden und nachgedacht hatte, ließ er den dunklen Friedhof wieder hinter sich und ging zurück ins Dorf. Zu Hause angekommen öffnete er eine Flasche Schnaps und leerte sie mit einigen kräftigen Zügen. Eine weitere folgte. Irgendwann schlief er einfach ein und träumte in dieser Nacht von nichts.

Am nächsten Tag ging er zur Mittagszeit zum Haus der Familie Wilden, um Julia zu besuchen. Als ihm die Frau des Außenministers die Tür öffnete, begrüßte sie Kohlhaas freudestrahlend.

„Julia ist oben!“, sagte Agatha.

Frank rannte die Stufen hinauf und näherte sich schüchtern dem Zimmer seiner Angebeteten. „Julia?“

„Komm rein!“, hallte es durch den Flur.

„Hallo! Ich wollte mich nur mal kurz sehen lassen!“, meinte Frank.

„Ja, ich weiß!“, bekam er nur zu hören.

Verdutzt zuckte Kohlhaas zusammen. „Freust du dich denn nicht?“

„Doch, natürlich!“, antwortete die junge Frau und sah ihn traurig an.

„Ich weiß, ich lasse mich fast gar nicht mehr blicken!“

„So ist es!“

„Irgendwann ist der ganze Mist vorbei …“

„Ja, wenn du tot bist!“, sagte Julia und stand auf.

„Mich macht so schnell keiner tot!“, konterte Frank.

Julia schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Du bist ja der große Held. Ich lese von dir in den Zeitungen – wie tapfer du bist. Und wenn ich meinem Vater sehen will, dann brauche ich auch nur noch die Zeitung aufzuschlagen. Gestern war er sogar wieder im Fernsehen, aber hier war er lange nicht mehr!“

Frank gestand sich ein, dass sie vollkommen Recht hatte. Er stand verunsichert herum und sagte daraufhin: „Lass uns doch ein wenig durch das Dorf gehen!“

Sie winkte ab. „Ach, Frank! Das bringt doch alles nichts!“

Der junge Mann riss die Augen auf. „Was bringt nichts?“

„Dieses Geplänkel mit uns. Du hast ja nichts weiter als Krieg im Kopf. Ich spiele für dich doch gar keine Rolle mehr …“

Sprachlos suchte Frank für einen Augenblick nach einer passenden Antwort und bemerkte schließlich: „Nein, das stimmt nicht! Ich liebe dich doch!“

Julia betrachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht und strich sich durch die Haare. „So, so …“

„Warum kommst du nicht wenigstens mit nach Minsk?“

Die Tochter des Außenministers zuckte mit den Achseln. „Ich weiß auch nicht …“

„Dann komm endlich mit mir nach Minsk! Ich will, dass du an meiner Seite bist! Komm einfach mit!“, forderte er.

„Halt! Moment mal! Ich bin nicht einer deiner Soldaten und nehme auch keine Befehle entgegen, Herr General!“, gab Julia wütend zurück.

„Schon gut, so habe ich das nicht gemeint …“, versuchte sie Frank zu beruhigen.

„Was ist denn mit deiner Backe passiert?“

„Nichts! Nur ein Kratzer. War ‘n Schlagring!“, antwortete Kohlhaas mit einem gewissen Stolz.

Jetzt baute sich Julia vor ihm auf. „Weißt du, du Idiot, ich mache mir pausenlos Sorgen, dass du irgendwann draufgehst. Ständig bist du in irgendwelche Konflikte verwickelt. Was man da aus Russland hört, ist doch grauenhaft. Lass endlich einmal die anderen kämpfen! Du hast wahrlich genug Heldentaten vollbracht!“

„Aber ich muss weitermachen! Und dein Vater ebenfalls! Es ist halt so! Das ist unser Schicksal!“

„Und du glaubst, dass sich etwas ändert, wenn ich zu dir nach Minsk ziehe?“, schrie sie und fing an zu weinen.

„Und du glaubst, dass wir hier in Ivas auf Dauer unser ruhiges Leben führen können, wenn wir nicht kämpfen?“, knurrte Kohlhaas zurück.

„Was weiß ich? Ich kann diesen ständigen Krieg jedenfalls nicht mehr ertragen!“, zischte die junge Frau.

Ohne weiter zu zögern nahm Frank sie in den Arm und gab ihr einen Kuss. Sie schmiegte sich wortlos an ihn und weinte lautlos.

„Dieser ständige Kampf macht auch mich kaputt. Er macht uns alle kaputt, aber es ist nicht zu ändern. Das ist eine schreckliche Zeit, in die wir hineingeboren wurden. Ein niemals endender Alptraum. Glaubst du, ich habe mir das ausgesucht, Julia?“

Die Tochter des Außenministers schwieg und küsste ihn zurück.

„Ich liebe dich, mein Engel!“, flüsterte Frank und drückte sie fester an sich. Julia sagte noch immer nichts und verharrte nur leise weinend in seinen Armen.

Kohlhaas blieb die Nacht über bei ihr und verließ das Haus der Familie Wilden erst am nächsten Tag mit einem zufriedenen Lächeln. Fröhlich trällernd schritt er durch das Dorf und fühlte sich so gut, wie seit einer Ewigkeit nicht mehr.

Er hatte das Herz seiner Angebeteten diesmal endgültig erobert. Alle gegnerischen Tendenzen waren nach schweren Gefühlskämpfen besiegt worden. Frank hatte Julias Herz besetzt, gesichert und mit seiner Fahne bestückt.

Seine Freundin hatte ihm in dieser Nacht tatsächlich versprochen, eine Wohnung in Minsk anzumieten. Die schöne Frau wollte von nun an bei ihm sein und Frank war sich sicher, dass sein Traum von trauter Zweisamkeit nun endlich in Erfüllung gehen würde.

So nahe wie in den vergangenen Stunden waren sich die beiden noch niemals zuvor gekommen, so intensiv waren ihre Herzen noch nie miteinander verschmolzen.

Frank hielt sich bezüglich der Details dieser Nacht allerdings vornehm zurück und versorgte seinen neugierigen Freund Alf und dessen Svetlana lediglich mit Andeutungen.

Für heute hatte er sich mit HOK zu einer Runde Battle Hammer verabredet. Immerhin hatten seine Orks noch eine Rechnung mit dem Ritterheer des Informatikers offen. Es wurde ein entspannendes und lustiges Spiel und Frank schaffte zumindest ein „Unentschieden“. Der dickliche Computerexperte hatte ihm einen ganzen Haufen weiterer Miniaturen im Internet ersteigert und Kohlhaas freute sich schon darauf, sie zu bemalen.

Gegen Abend holte er Julia ab und ging mit ihr in Steffen de Vries’ Cafe. Diesmal übernachtete sie in seinem Zimmer. Frank hatte ihr zuliebe extra aufgeräumt und halbwegs Ordnung in seinen „Saustall“ gebracht.

Er fühlte sich in diesen Tagen glücklich wie ein Fisch im klaren Wasser des Ozeans. Es war wundervoll, als er endlich mit Julia im Arm einschlafen und ihre weichen, blonden Haare auf seiner Brust spüren konnte. Der General wollte für immer in Ivas bleiben und Zivilist werden. Sollten doch die anderen ihr Leben im Kampf aufs Spiel setzen. Er hatte sich oft genug in Gefahr gebracht.