Sven lächelte und schüttelte Frank die Hand, dann setzte er sich ins Wohnzimmer. Alf lagerte schon seit Tagen auf dem Sofa in Franks Zweitwohnung und nickte dem Gast zu.
„Sven! Na, das ist ja eine Überraschung!“, sagte Bäumer, richtete sich auf und stellte den dröhnenden Fernseher aus.
„Ich war in den Dörfern rund um Nowgorod unterwegs, mit Lautsprecherwagen. Bin ganz schön platt!“, erklärte Sven, während ihm Frank ein Mineralwasser brachte.
„Schön, dass du dich mal wieder sehen lässt. Wir waren in letzter Zeit auch nur noch unterwegs und gar nicht mehr in Ivas“, sagte Kohlhaas. „Was machen die anderen denn?“
„Die sind auch ständig nur für die Rus tätig. Flugblätter verteilen, Werbung machen, Lautsprecherfahrten, Demonstrationen und so weiter“, antwortete der junge Mann, den der Krieg in Japan so furchtbar verstümmelt hatte.
Sein verbliebenes Auge starrte Frank und Alfred fragend an: „Was habt ihr denn in Smolensk veranstaltet?“
Kohlhaas grinste. „Du hast ferngesehen, was?“
„Ja!“
„Ach, wir haben ein paar Kollektivisten und GCF-Soldaten aufgerieben. Meine Warägergarde und ich“, bemerkte Frank stolz.
„Das war wirklich ein großer Erfolg!“, meinte der Gast.
„Sven?“
„Ja!“
„Ich hätte dich auch gerne bei den Warägern dabei!“
Der Entstellte überlegte kurz und antwortete dann: „Nein, Frank! Ich habe schon ein Auge und drei Finger im Krieg verloren. Es reicht, wenn ich auf jeder zweiten Demo mit dabei bin, das ist schon gefährlich genug. Ich leite die Jungs aus Ivas an. Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team.“
„Sind die Kleinen, die damals diesen Mist im Nachbardorf gemacht haben, auch noch dabei?“, wollte Alf wissen.
Sven lachte. „Ja, alle sind noch dabei. Die Kurzen sind jetzt auch schon ein wenig älter geworden und haben sich hervorragend bewährt!“
„Der Ziegler auch?“
„Ja, der Michael ist nicht mehr so ein Weichei. Er war bei der ersten Demonstration in Smolensk dabei und hat von den Kollektivisten schwer die Nase eingeschlagen bekommen. Man kann sich auf ihn mittlerweile wirklich verlassen!“
Frank seufzte. „Ich vermisse Ivas so sehr! Manchmal glaube ich, dass mein Hintern irgendwann in der Mongolei landet. Demo hier und Einsatz da – das macht mich manchmal richtig krank!“
Bäumer schien es nicht anders zu ergehen und er nickte. Sven tätschelte mit seiner Hand, an der er nur noch zwei Finger hatte, aufmunternd Franks Schulter und sagte: „Das ist auch bei mir so. Seit Monaten fahren wir die Dörfer und Städte in Russland und im Baltikum ab. Es ist schon hart!“
„Hast du Julia mal gesehen?“, erkundigte sich Kohlhaas.
„Ich war auch selten in Ivas. Habe sie nur einmal kurz in Steffen de Vries Lädchen gesehen“, antwortete der Gast.
„Aha, ich rufe sie heute Abend mal an …“, brummte Frank und wirkte missmutig.
Sven Weber blieb die Nacht über da und die drei Männer genehmigen sich eine gehörige Portion Alkohol. Am nächsten Tag verabschiedete sich der junge Mann und fuhr mit einigen jungen Leuten aus Ivas nach Kromy, einer Ortschaft südlich von Orel, um die von Wilden entworfene Broschüre „Wer sind die Mächte hinter Vitali Uljanin?“ unter das Volk zu bringen.
Zu diesem Thema hatte es in den letzten Tagen sogar einige Berichte im weißrussischen Fernsehen gegeben, welche die Bevölkerung über Uljanins wahre Identität und seine Auftraggeber aufklärten. Der Kollektivistenführer wurde hier als Agent der Weltregierung bloßgestellt und seine Ideologie mit stichhaltigen Argumenten zerrissen.
Mit Zehntausenden von Datendisks und Flugblättern, die überall im Westteil Russlands verteilt wurden, und auch im Internet, startete die Freiheitsbewegung der Rus eine groß angelegte Kampagne gegen den Vorsitzenden der KVSG.
Die Aktion fand bei vielen Russen großen Zuspruch und die Stimmung in den von den Rus besetzten Städten wandte sich zunehmend gegen die Kollektivisten.
Als Frank und Alfred ihren Freund am nächsten Morgen zur Tür brachten, konnten sie nicht ahnen, dass sie ihn niemals mehr wiedersehen würden. Sven Weber bezahlte für die Teilnahme an der Aufklärungsaktion mit seinem Leben.
Der rastlose Kämpfer, der bereits in jungen Jahren so viele Opfer gebracht hatte, wurde nahe Kromy in den Abendstunden von einer Gruppe Kollektivisten überfallen und erschossen.
Die Mörder trafen ihn dreimal in die Schläfe und zwei seiner russischen Begleiter wurden schwer verletzt. Einer von ihnen starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Sven Weber war sofort tot, wie Frank und Alfred später von dem russischen Freiheitskämpfer, der das Attentat überlebt hatte, erfuhren.
Thorsten Wilden überbrachte Kohlhaas die schreckliche Nachricht und dieser blieb für einige Minuten mit weit aufgerissenen Augen fassungslos stehen. Frank wollte es zuerst nicht glauben und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Kurz darauf erfuhr es auch Bäumer, der ebenfalls ungläubig ins Leere starrte und schwieg. Ihr bester Freund aus Ivas war ermordet worden. Man hatte sein Leben in einem Örtchen, dessen Namen sie vorher noch niemals gehört hatten, einfach ausgelöscht. Irgendwo in Russland.
„Was zum Teufel heißt „ubogij“ denn?“, fragte Alf mürrisch und arbeitete sich durch den kyrillischen Text auf dem Computerbildschirm.
„Wieso?“, hörte er aus dem Nebenraum. Frank kam herein.
„Ich bin hier auf der Internetseite der kollektivistischen Vereinigung von Kursk. Hier steht etwas über den Mord an Sven!“
Kohlhaas warf einen Blick in sein digitales Wörterbuch auf dem DC-Stick und betrachtete dann ebenfalls den Bildschirm.
„Ubogij? Das bedeutet „verkrüppelt“. Da steht: „Hässliches, verkrüppeltes Rus-Schwein in Kromy erschossen!“. Diese verdammten Hunde!“, zischte er.
Kurz darauf übersetzte Frank noch einen Teil des Textes und las ihn seinem Freund vor: „Einige der reaktionären Hetzer Tschistokjows hatten sich der Illusion hingegeben, dass sie in unserer Stadt unbehelligt ihre Lügenpropaganda verbreiten können, und kamen nach Kromy.
Nachdem sie den halben Tag diverse Hetzschriften an Passanten verteilt hatten, bekamen sie die wohl verdiente Quittung für diese Frechheit. Ein paar kollektivistische Mitstreiter wollten sie zur Rede stellen, worauf es gegen Abend zu einer Rangelei mit den Rus kam. Es blieb unseren Leuten nichts anderes übrig, als sich mit den erforderlichen Mitteln gegen die Schlägerbande der Rus zu wehren.
Dabei wurden zwei Mitglieder der Freiheitsbewegung, darunter ein besonders hässliches Exemplar, das Artur Tschistokjow offenbar extra zu unserer Abschreckung nach Kromy geschickt hatte, tödlich verletzt. Dieser Vorfall ist dem reaktionären Pack hoffentlich eine Lehre, sich in Zukunft von unserer Stadt fern zu halten! Wir dulden keine Rus in Kromy! Nieder mit Artur Tschistokjow und seiner Lügenhetze!“
„Sie machen sich über die Ermordung Svens auch noch lustig!“, knurrte Bäumer und schloss die Internetseite wieder.
„Denen wird das Lachen schon noch vergehen! Wir sollten mit den Warägern nach Kromy fahren und ein paar von diesen Bastarden aufschlitzen!“, sagte Frank wütend.
„Vergiss es! Das wird Artur nicht zulassen. Die Waräger sind nicht für unsere persönliche Rache geschaffen worden …“
„Ja, ja!“, brummte Frank zurück und ging aus dem Zimmer.
Der Leichnam von Sven Weber war nach Ivas gebracht worden. Frank und Alfred hatten sich auf den Weg in ihr Heimatdorf gemacht, um ihrem Freund die letzte Ehre zu erweisen.
Es war ein trüber Morgen. Die beiden Rebellen hatten sich von einigen Bekannten Anzüge und Krawatten ausgeliehen, denn heute erwartete sie Svens Beerdigung. Eine unruhige Nacht hatte sie gequält und Frank war wieder einmal in hässlichen Gedanken und Trübsal versunken. Er hatte kaum ein Auge zugetan. Alf erging es nicht besser.
Zu traurig und verstört waren die beiden heute, um schon wieder Hass und Rachsucht empfinden zu können. Sie sahen Svens Gesicht wieder und wieder vor ihren geistigen Augen und meistens war es sein jugendliches, schönes Antlitz vor dem Kriegseinsatz in Japan.
Wilden klopfte an der Tür und holte sie ab. Julia und Agatha waren auch dabei und begrüßten sie verhalten. Alle machten sich schließlich mit schweren Schritten auf den Weg zum kleinen Friedhof außerhalb von Ivas. Dort erwartete sie fast das ganze Dorf und Hunderte von Mitstreitern aus Weißrussland, Russland und dem Baltikum, die Sven Weber im Laufe seiner unermüdlichen Aktivitäten kennen gelernt hatten. Artur Tschistokjow war auch dabei und schüttelte ihnen wortlos die Hände.
Irgendwo zwischen den Trauernden in ihren schwarzen Anzügen hörte man Svens Mutter und seinen Vater leise schluchzen. Dort lag er nun, in der mit Blumen geschmückten Holzkiste, der geliebte Sohn, kalt und tot, mit drei Einschusslöchern im Kopf.
Frank und Alfred hatten ihn gestern Abend noch einmal aufgebahrt in der alten Kirche von Ivas gesehen. Grau und blutleer ruhte der Freund in seinem Sarg und sein einziges Auge starrte glasig ins Nichts. Die erstarrten Hände waren auf die Brust des Toten gelegt worden, das getrocknete Blut an seiner Schläfe klebte noch immer in seinen blonden Haaren.
Die beiden harten Kerle hatten wie die Kinder geweint, als sie ihn so sahen und kaum mehr ein Wort über die Lippen gebracht. Sie strichen ihm ein letztes Mal über den Kopf und dankten ihm für die vielen frohen Stunden, die er ihnen geschenkt hatte. Eine gute Fahrt zur anderen Seite, wo die Ahnen auf ihn warteten, wünschten sie ihm noch. Dann war der Sarg geschlossen geworden.
Thorsten Wilden hielt die Trauerrede vor der versammelten Dorfgemeinschaft, seltsam stockend und immer wieder von Tränen unterbrochen. So kannten ihn die meisten nicht.
Schweigend ging der endlose Zug der Trauernden durch die Straßen von Ivas und immer wieder unterbrach ein leises Weinen die grausame Stille. Frank und Alfred warfen eine Schaufel Erde auf den Sarg des guten Freundes, dann gingen sie heim. Mit gesenkten Häuptern, zu Tode betrübt.
„Ohne Sven wären wir beide in „Big Eye“ verreckt“, murmelte Frank und wandte seinen Blick Alf zu.
Der Hüne nickte lediglich und versuchte seine Tränen vor seinem Freund zu verbergen. Schweigend lief er voraus und Kohlhaas trottete ihm langsam hinterher.
Julia gab ihr Bestes, um Frank und Alfred zu beruhigen. Die beiden sprachen seit Tagen von nichts anderem mehr als von blutiger Vergeltung.
„Das bringt uns Sven auch nicht zurück!“, sagte sie immer wieder, doch die Geister der zwei Rebellen waren mittlerweile von der Gier nach Rache besessen.
Gelegenheiten zum Blutvergießen sollten die zwei allerdings noch reichlich bekommen und besonders weise waren ihre ständigen Anfälle von Trauer und Wut auch nicht, aber das war nun einmal ihre Art, mit dem Tod ihres besten Freundes fertig zu werden.
„Sein Opfer darf nicht umsonst gewesen sein!“, hämmerte sich Kohlhaas immer wieder ein, doch diese Phrase konnte seine Verzweiflung kaum lindern.
Mitte November kehrten die Rebellen nach Weißrussland zurück. Julia Wilden reiste mit und verbrachte zusammen mit ihnen einige Tage in Minsk.
Frank bat sie mehrfach, endlich auch in die Hauptstadt Weißrusslands zu ziehen und die junge Frau versprach ihm, es sich zu überlegen. Er wünschte sich ihre Nähe so sehr, doch Julias Sorgen um ihn waren berechtigt und Kohlhaas wusste tief in seinem Inneren auch, dass sie mit vielen ihrer bösen Vorahnungen richtig lag.
Indes wartete der politische Kampf in Russland und der Gegner rückte immer weiter vor. General Kohlhaas zog erneut seine Uniform an, biss die Zähne zusammen und machte weiter.
Etwa 8.000 Anhänger Tschistokjows zogen in den folgenden Tagen durch die Straßen von Kursk und demonstrierten ihre Macht. Es gab zwar wieder einige Auseinandersetzungen mit den dortigen Kollektivisten, aber insgesamt konnten die Rus nicht von ihren Kundgebungen abgehalten werden.
Wenig später kamen Frank und Alfred mit den Warägern in die Großstadt und verhafteten in einer Blitzaktion einige kollektivistische Agitatoren, die sie nach Weißrussland in ein Gefängnis brachten.
Anschließend kehrten sie zurück und beschützten ihre Mitstreiter bei den Werbeaktionen im Norden der Ukraine. In der Nähe von Cernihiv kam es zu einem kurzen Schusswechsel mit einer Gruppe KKG-Männer, ansonsten verlief alles ruhig.
Die Weltregierung hatte mittlerweile so gut wie alle GCF-Verbände aus Russland abgezogen und vor allem in den Nahen Osten, den Iran und andere Regionen verlegt. Die Kollektivisten hatten nun vollkommen freie Hand. Ihre KKG-Trupps ersetzten die entwaffnete russische Polizei in den von der KVSG kontrollierten Regionen und Uljanins bewaffnete Anhänger setzten ihre neue Ordnung mit allen Mitteln durch.
Eine umfassende Liquidierungswelle, der Tausende von missliebigen Personen zum Opfer fielen, erschütterte zuerst den Osten Russlands und es kam zu Zwangsenteignungen in großem Stil.
„Aller Besitz wird in die Hände des Volkes überführt!“, tönte Vitali Uljanin. Das bedeutete allerdings in Wirklichkeit, die Überführung allen Vermögens in die Hände der neuen Machthaber.
Die Großbanken selbst wurden von den Kollektivisten in Ruhe gelassen und nur auf dem Papier verstaatlicht. Die alten Besitzer, die selbst Mitglieder der Logen waren, verblieben in ihren Positionen. Der Führer der kollektivistischen Bewegung offenbarte derweil immer mehr seine großen und zerstörerischen Pläne für Russland. Unter anderem galt es, die Reste der alten Kultur des Landes vollständig zu vernichten und so begannen seine Anhänger auch gegen historische Bauwerke und die wenigen noch verbliebenen Kirchen, Denkmäler und Relikte vorzugehen.
„Das russische Volk und seine Kultur müssen aufgelöst werden! Nur so ist die neue Ordnung der ewigen Gleichheit zu verwirklichen!“, hämmerte Uljanin seinen Funktionären wieder und wieder ein. Diese machten sich mit destruktivem Eifer ans Werk und hinterließen Trümmer und Chaos.
Uljanins ungezügelte Zerstörungswut führte allerdings dazu, dass sich mehr und mehr Russen langsam fragten, ob ihnen die kollektivistische Revolution wirklich den erhofften Segen bringen würde. Wer jedoch öffentlich Kritik äußerte, wurde von den fanatischen KKG-Männern schnell mundtot gemacht.
Artur Tschistokjows Freiheitsbewegung breitete sich inzwischen im Westen des Landes weiter aus und festigte ihre Positionen. Die Aufklärungskampagne über den politischen Gegner und seine Hintermänner hatte gefruchtet.
Tausende von neuen Mitgliedern und Sympathisanten strömten in die Reihen der Rus und die Wucht des kollektivistischen Ansturms gegen den Westteil Russlands schien langsam ein wenig nachzulassen.
Eine Massenversammlung schwarz-roter Aktivisten in Brjansk konnte Anfang Dezember durch die Anhänger Tschistokjows verhindert werden. Ähnlich verlief es in Nowgorod.
Die Warägergarde war ebenfalls weiterhin pausenlos im Einsatz und vertrieb die Kollektivisten aus den Kleinstädten zwischen Orel und Kursk. In Kolpny rückte die 1000 Mann starke Truppe in einer Nacht und Nebel Aktion in die Ortschaft ein und verhaftete mehrere Funktionäre der KVSG, die an Ort und Stelle erschossen wurden. Das Zusammenspiel zwischen den bewaffneten Verbänden der Freiheitsbewegung und den Aktivistentrupps, welche die Dörfer und Städte mit Flugblättern und Datendisks überschwemmten oder Kundgebungen abhielten, funktionierte inzwischen hervorragend und beide Seiten ergänzten sich.
Die soziale Lage in Russland wurde währenddessen immer desolater. Nicht nur die Preise für Lebensmittel stiegen weiter an, sondern auch jene für Gebrauchsgegenstände oder Heizmaterial. Die kollektivistischen Eingriffe in die Wirtschaft und die kompletten Enteignungen von unzähligen Bürgern, verschärften die soziale Not bis zu einem unerträglichen Maß. Es kam zu Hungersnöten und Unruhen, zuerst in Zentralrussland und im Osten, während die Infrastruktur des Landes nun vollkommen zu kollabieren drohte.
Dass es den Weißrussen und Balten hingegen wesentlich besser ging, hatte sich mittlerweile auch in Russland und der Ukraine herumgesprochen. So gab es in den von Tschistokjow und seinen Getreuen verwalteten Regionen weder Hungersnöte noch chaotische Zustände. Im Gegenteil: Die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen des weißrussischen Staatsoberhauptes trugen langsam immer mehr Früchte.
Eine notdürftige soziale Absicherung war etabliert worden, viele Industriebetriebe hatten dank großzügiger staatlicher Subventionen vor der Schließung bewahrt werden können und selbst die Landwirtschaft hatte sich wieder ein wenig erholt. Weiterhin befanden sich die Weißrussen und Balten auch geistig und kulturell wieder in einer Heilungsphase. Die Kriminalität und Verwahrlosung in den Großstädten war rapide zurückgegangen und selbst die Geburtenrate stieg wieder dank der massiven staatlichen Förderung einheimischer Familien leicht an.
An dem schwerfälligen, aber stetigen Wiederaufstieg Weißrusslands, änderte auf Dauer auch der durch die Weltregierung veranlasste Warenboykott nichts. Er erschwerte zwar die Genesung der Wirtschaft, aber er verhinderte sie nicht. Zudem existierten Japan und die Philippinen auch noch als ausländische Absatzmärkte. Das war zwar nicht viel, aber besser als nichts war es allemal.
Vitali Uljanin hatte sich heute in sein Büro im Kreml zurückgezogen und beriet sich mit seinen obersten KVSG-Funktionären über den Fortgang der kollektivistischen Revolution.
„Ich habe einen Stahlarbeiterstreik in Luhansk organisiert. Wenn wir Luhansk haben, dann nehmen wir in Folge auch Donez und die restlichen Städte ein. Damit hätten wir den Osten der Ukraine endgültig unter Kontrolle!“, erklärte Roman Chazarovitsch, der KVSG-Führer der Ukraine.
„Gut!“, knurrte Uljanin und musterte seine Mitarbeiter mit grimmiger Miene.
Ein dicklicher Mann setzte an: „Im Westen Russlands …“
Doch der Kollektivistenführer unterbrach ihn barsch. „Was ist mit dem Westen Russlands? Warum stagniert unser Vormarsch dort auf einmal?“
„In Brjansk haben diese verdammten Rus unsere Kundgebung verhindert!“, fauchte der Funktionär.
Uljanin lehnte sich nachdenklich in seinem Ledersessel zurück und sagte: „Dieser Tschistokjow ist scheinbar stärker als ich gedacht habe!“
„Sie haben einige unserer Unterführer verhaftet oder erschossen. Diese Schweine haben motorisierte Trupps, die aus dem Nichts auftauchen!“, schimpfte ein anderer KVSG-Leiter.
„Die haben wir auch. Wie auch immer …“ Uljanin winkte ab. „Unser Ziel muss es sein, St. Petersburg einzunehmen. Wenn wir auch noch die zweitgrößte Stadt Russlands haben, dann wird uns auch im Westen des Landes niemand mehr aufhalten können! Daher habe ich mich entschlossen, Theodor Soloto, einen unserer besten Redner und Agitatoren, zum Leiter der KVSG-Gruppe in St. Petersburg zu ernennen!“
Die übrigen Anwesenden redeten durcheinander. Einer von ihnen, ein mittelgroßer Mann mit Brille, schwarzem Lockenkopf, langen Kotletten und undurchdringlichem Blick stand auf und lächelte.
„Vielen Dank, Herr Uljanin!“, sagte er.
Der Vorsitzende der KVSG nickte, erhob sich aus seinem Ledersessel und stellte sich vor seine Untergebenen.
„Ich verlange, dass dieser Tschistokjow und seine Brut entschlossener zurückgedrängt werden. Stellt im Westen Russlands mehr KKG-Trupps auf! Führt mehr Demonstrationen durch!
Lasst keinen Rus unbehelligt! Sucht ihre Anführer! Findet heraus, wo sie wohnen! Knallt sie ab! Verstärkt den Terror und den Straßenkampf!“, donnerte Uljanin verärgert.
Die Funktionäre murmelten ihre Zustimmung und verließen den Raum. Der wütende Blick ihres Anführers verfolgte sie.
Noch bevor der Winter des Jahres 2037 über Russland hereinbrach, hatten die Rus ihre Aktionen bis in die Vororte von St. Petersburg ausgedehnt. Die letzte größere Demonstration dieses Jahres fand Mitte Dezember in Kolpino statt. Es kam zu einigen Überfällen durch die Kollektivisten, die selbst eine Massenversammlung abhielten und auf beiden Seiten gab es wieder einmal Verwundete und insgesamt 14 Tote.
Frank und Alfred hatten diesmal nicht an der Demonstration teilgenommen und waren in Minsk geblieben. Wenige Tage später fuhren sie nach Ivas und freuten sich auf ein ruhiges Weihnachtsfest mit gutem Essen und viel Schlaf.
Frank wischte eine Ladung Schnee von der alten Holzbank in der Nähe des kleinen Waldstücks am Dorfrand, legte eine weiche Wolldecke darüber und setzte sich hin. Julia Wilden ließ sich neben ihm nieder.
Sie schwiegen eine Weile und betrachteten die verschneiten Baumwipfel über sich. Irgendwo in der Ferne ertönte das Geschrei eines Tieres, ansonsten hörten sie nur den Wind ab und zu leise durch den Wald streichen.
Die junge Frau schmiegte sich an Franks Schulter und wärmte sich. Er strich ihr sanft durch das weiche, blonde Haar und war in Gedanken versunken.
„Was ist? Du bist heute wieder so verschlossen, Frank“, bemerkte Julia und sah ihn an.
„Ach, schon gut. Mir geht es nur nicht so besonders“, antwortete der Rebell.
„Freust du dich denn nicht, wieder bei mir zu sein?“
„Doch! Sehr sogar! Und am liebsten würde ich auch hier in Ivas bleiben …“
Julia umarmte ihn. „Das wäre schön!“
„Aber es geht nicht. Bald muss ich wieder fort!“
„Ich weiß, du treibst dich immer weiter voran“, sagte die Tochter des Außenministers mit einem gewissen Unverständnis.
Frank starrte auf den schneebedeckten Boden und schnaufte: „Wenn es so weiter geht, dann komme ich bald nie mehr nach Ivas zurück.“
Julia war verwundert und stand von der Bank auf.
„Wie meinst du das?“, fragte sie verwirrt.
Der Anführer der Warägergarde blickte sie mit zynischer Miene an: „Weil ich dann tot bin! Irgendwann wird es mich wohl auch einmal erwischen, so viel Glück hat auf Dauer niemand …“
Von einer Sekunde auf die andere wurde Julia ungehalten. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit Frank ein wenig über ihr beginnendes Pädagogikstudium und ihre Arbeit in der Dorfschule zu plaudern. Dass er jetzt schon wieder mit der alten Leier anfing, machte sie rasend.
„Dann lass endlich einmal die anderen ganz vorne mitkämpfen!“, schimpfte sie.
Der Mann winkte ab und schwieg. Kurz darauf sagte er: „Die anderen kämpfen ja schon. Und sterben auch. Genau wie ich. Sven ist schon tot und bald …“
„Du kannst mich langsam mal, General!“
„Ich tue das doch auch für dich, Julia …“
„Ja, natürlich! Ich freue mich schon darauf, wenn du endlich für mich ins Gras beisst. Genau das habe ich mir immer gewünscht, Frank!“
„Aber …“
„Aber was? Du bist unfähig, ein normales Leben zu führen. Das ist eine Tatsache! ‚Wenn sich der Einzelne für die Gemeinschaft opfert, so ist das die größte Tat, die ein Mensch vollbringen kann!’ Ja, höre nur auf deinen Heiland Tschistokjow und stirb den Heldentod, du Dummkopf!“, wetterte die Tochter des Dorfchefs.
Ihr junger Freund sprang daraufhin zornig von der Bank und stieß einen Fluch aus.
„Rede nicht so mit mir, Julia! Ich bin keiner deiner kleinen Schüler, kapiert? Du hast mir Respekt zu zollen, verstanden!“, brüllte Kohlhaas und baute sich drohend vor der hübschen Frau auf.
Julias blaue Augen funkelten ihn an, dann musterte sie ihn herausfordernd. „Und? Willst du mich jetzt auch zusammenschlagen?“
Frank stockte. „Nein! Natürlich nicht …Ich …“
„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ich hatte mich heute eigentlich darauf gefreut, dich zu sehen, aber dieses Theater…“, sagte Julia enttäuscht. Die blonde Schönheit schüttelte den Kopf und ging schließlich wieder in Richtung Dorf zurück.
„Du bist ein Narr, Frank! Offenbar ist das einzige Glück in deinem Leben der Erfolg in deinen ewigen Kämpfen. Alles andere willst du nicht sehen!“, rief sie ihm noch wütend zu und verschwand.
Kohlhaas blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen und betrachtete den wolkenverhangenen Himmel über sich. Er grübelte vor sich hin. Vielleicht hatte Julia Recht.