Straßenschlachten und Spielfiguren
Die schlechte Laune, die Frank seit Tagen quälte, hatte ihn auch nicht verlassen, nachdem er nach Ivas zurückgekehrt war. Noch immer rumorte die Enttäuschung über den Fehlschlag in Estland und die allgemein schlechte Situation der Freiheitsbewegung im Kopf des jungen Rebellen, was ihm auch leicht anzusehen war. Selbst Julia, die ihm heute die vor kurzem eingerichtete, neue Dorfschule von Ivas zeigen wollte, konnte Franks bedrücktes Gemüt nicht von dessen vielfältigen Sorgen befreien.
Die Tochter des Außenministers selbst war allerdings besserer Dinge, denn sie war seit einiger Zeit aktiv dabei, ihren pädagogischen Auftrag bei den wenigen Kindern der Dorfgemeinschaft entschlossen in die Tat umzusetzen. So schritt sie mit Frank über die mit einer dünnen Schneedecke bedeckte, gefrorene Hauptstraße von Ivas und führte ihn zu einem kleinen Haus, in dessen unterer Etage die winzige „Schule“ eingerichtet worden war. Eigentlich war es nicht mehr als ein großer, liebevoll renovierter Raum, in dem etwa zwei Dutzend Stühle und einige Holztische aufgestellt worden waren.
„Hier unterrichte ich die Kinder von Ivas!“, sagte Julia mit einem stolzen Lächeln und ging durch die Eingangstür des Hauses. Ein Schild mit der Aufschrift „Thorsten-Wilden-Schule“ hing über dem Türsims und Frank musste grinsen, als er das sah.
„Gut, dass ihr sie nicht „Artur-Tschistokjow-Schule“ genannt habt. Nach ihm sind inzwischen so viele Schulen, Straßen und Plätze in Weißrussland und in Litauen benannt worden, dass es schon fast nervt“, meinte Kohlhaas schmunzelnd.
„Mir würde ‚Julia-Wilden-Schule’ am besten gefallen“, scherzte die junge Frau und knuffte Frank in die Seite.
„Ich schlage ‚Schule-zu-Ehren-des-gutaussehenden-Helden-Frank-Kohlhaas’ vor. Wie klingt das?“
„Total bescheuert, Frank!“
Als Julia und ihr Begleiter den Klassenraum betraten, richteten sich die gespannten Blicke von etwa 30 Jungen und Mädchen auf die beiden. Einige Kinder kicherten leise oder flüsterten sich gegenseitig etwas ins Ohr.
„Das ist der Geliebte von Frau Wilden …“, glaubte Frank irgendwo gehört zu haben.
Julia schritt nach vorne zur Tafel und setzte einen halbwegs strengen Gesichtsausdruck auf. Frank blieb im hinteren Teil des Raumes stehen und betrachtete die Szenerie.
„Bei so einer Lehrerin wäre ich sogar 20 Jahre lang freiwillig zur Schule gegangen“, dachte er sich und lehnte sich gegen die Wand.
„Guten Morgen, Kinder!“
„Guten Morgen, Frau Wilden!“
„Heute haben wir einen Gast! Wer könnte das wohl sein?“, fragte Julia in die Runde.
Ein kleines, rothaariges Mädchen meldete sich eifrig und schnipste mit den Fingern.
„Maria!“
„General Frank Kohlhaas! Der größte Held von unserem ganzen Dorf und Land!“, erklärte das kleine Mädchen begeistert.
Der „größte Held“ hinter ihrem Rücken reagierte mit einem verlegenen Lächeln und zwinkerte Julia zu. Wieder sahen ihn einige der Kinder mit grenzenloser Bewunderung an.
Neben der Tafel war ein großes Porträt von Artur Tschistokjow an die Wand gehängt worden, darunter befand sich eine kleine Tafel mit den wichtigsten Lebensdaten des Anführers der Freiheitsbewegung. Auf der anderen Seite, rechts von einem der großen Fenster, hing eine Drachenkopffahne in leuchtenden Farben.
„Heute wird uns General Kohlhaas aus den ersten Tagen des Freiheitskampfes erzählen. Damals haben Artur Tschistokjow, mein Vater und er, wie auch Tausende von anderen tapferen Männern, den Kampf gegen unseren Feind, die Weltregierung, aufgenommen. Es war eine schreckliche Zeit, in der das weißrussische Volk und auch eure Eltern furchtbar gequält und unterdrückt worden sind.“
„Soll…soll ich jetzt nach vorne kommen?“, stockte Frank verunsichert. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Ja, gleich!“, erwiderte Julia fast ein wenig herrisch.
„Wer steht hinter der Weltregierung und will unser Volk zerstören?“, rief die junge Frau.
„Die Logenbrüder!“, gaben die Kinder im Chor zurück.
„Wer sind die Logenbrüder?“
Fast alle Kinder meldeten sich und tuschelten durcheinander. Julia nahm schließlich einen dicklichen blonden Jungen dran.
„Markus!“
„Die … äh … die Logenbrüder sind eine weltweite Geheimorganisation, die sich über alle Länder der Erde verbreitet und seit 2018 die Weltherrschaft hat“, erläuterte der Junge hastig.
Es dauerte noch einige Minuten, denn Julia ließ ihre Schüler dem staunenden Gast noch erklären, welche Gruppe bei den Logenbrüdern das Sagen hatte, wie die Organisation aufgebaut war und was die Ziele der Weltregierung waren. Frank war verblüfft. Die hübsche Lehrerin hatte sich vor seinen Augen in einen weiblichen Tschistokjow verwandelt.
Schließlich winkte sie Frank, der mittlerweile völlig verlegen umherschaute, mit forderndem Blick zum Pult. Kohlhaas überlegte derweil aufgeregt, was er den Kindern alles erzählen sollte.
„General Kohlhaas wird euch jetzt von seinen Erlebnissen erzählen. Es wird mitgeschrieben!“, kündigte Julia an.
„Dann … dann … erzähl’ ich mal was, ja?“, flüsterte der junge Mann.
„Lasse uns alle an deinen Heldentaten teilhaben, mein Schnuckilein …“, hauchte ihm Julia leise ins Ohr und fand Franks Unsicherheit offenbar mehr als amüsant.
„Äh, ich bin der Frank, General Kohlhaas, meine ich … äh … und ich bin aus Berlin. Hallo, Kinder …“, sagte der für seine Unerschütterlichkeit bekannte Anführer der Ordnertrupps. Julia konnte ihr Lachen kaum noch unterdrücken.
Durch eine deutliche Senkung der Öl- und Gaspreise machte sich Präsident Tschistokjow bei seinem Volk in diesem Winter noch beliebter. Jetzt konnte er schon fast auf ein Jahr seiner Herrschaft zurückblicken und den Bürgern seines Landes ging es so gut, wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
Das bedeutete allerdings nicht, dass die wirtschaftliche Krise schon vollkommen bewältigt war, aber nach langen Perioden des Hungerns und Frierens erwies sich das Volk selbst für die kleinsten Verbesserungen seiner Lebenssituation als äußerst dankbar.
Uljanins Kollektivisten beherrschten mittlerweile in ganz Russland die Straßen der größeren Städte. Sie hatten in den letzten Monaten zahlreiche Massenkundgebungen abgehalten und ihre Bewegung weiter gestärkt.
Einige Industriebetriebe in den russischen Metropolen wurden nach kollektivistischen Protesten erst einmal doch nicht geschlossen oder in andere Länder ausgelagert.
Uljanins Kollektivistische Vereinigung für soziale Gerechtigkeit veranstaltete jetzt zudem Armenspeisungen in gigantischem Ausmaß und entschärfte auf diese Weise erfolgreich den sozialen Sprengstoff, der sich in den letzten Monaten gebildet hatte. Finanziert wurden diese kostspieligen Aktionen von den Großbanken der Weltregierung.
Dem einfachen Mann auf der Straße waren diese Zusammenhänge jedoch nicht bewusst. Er hielt zu dem, der ihn fütterte. Uljanins Reihen füllten sich weiter und seine Beliebtheit beim Volk wuchs.
Auf den Bürgersteigen drängten sich die Schaulustigen. Hässliche, zerfallene Hochhäuser umgaben die laut schreiende Masse der Rus und zahllose Russland- und Drachenkopffahnen wehten über den Köpfen der Demonstranten. Immer mehr Leute kamen hinzu. Bald waren die Hauptstraßen von Orel vollkommen mit Menschen verstopft und der Demonstrationszug näherte sich der Innenstadt. Artur Tschistokjow marschierte an der Spitze seiner Getreuen voran, etwa 10.000 waren heute zu dieser illegalen Versammlung gekommen.
An den Straßenseiten riefen ihm einige Bürger Zuspruch zu, andere schimpften, verwünschten ihn und brüllten: „Uljanin! Uljanin!“
Nach etwa drei Kilometern stürmten den Rus die ersten Schwärme der Kollektivisten entgegen und begrüßten sie mit einem Hagel aus Pflastersteinen. Ihnen folgte die Polizei, welche sie langsam umzingelte.
Bald wurden die Ordner unruhig und einige zogen die Köpfe ein, als Wurfgeschosse über ihnen durch die Luft sausten. Aus einer Nebenstraße ertönte plötzlich ein gellender Schrei, dann griffen die Kollektivisten an und die Polizei schoss dazwischen.
Frank und die anderen Rus hatten sich heute nicht weniger als 250 Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt. Artur Tschistokjow hatte darauf bestanden, die Protestmärsche unbeirrt fortzusetzen und nun auch hier in Orel Flagge zu zeigen.
Die Ordner in ihren grauen Hemden feuerten sofort zurück und die ersten Gegner fielen getroffen zu Boden. Dann brandeten die Kollektivisten wie eine wütende Woge in die vorderen Reihen des Demonstrationszuges und es kam zu einer wilden Prügelei.
Als die ersten Panzerwagen durch die Straßen rollten, löste sich die von Angst ergriffene Masse der Rus auf und wandte sich schließlich zu einer wilden Flucht. Weder Artur Tschistokjow noch Frank konnten die Männer von ihrem panischen Rückzug abhalten. Wie aufgescheuchte Gänse stoben sie auseinander und einige von ihnen liefen der prügelnden, schießenden Polizei und den aufgebrachten Mobs der Kollektivisten direkt in die Arme.
Es war eine furchtbare Schlappe. Nur mit Mühe gelang es Frank und seinen treuesten Ordnern aus der Stadt zu fliehen. Als sie aus dem wilden Chaos in eine kleine Gasse geflüchtet waren, zogen sie sich um und warfen ihre grauen Hemden weg, um nicht doch noch von ihren Feinden erkannt und gelyncht zu werden.
An diesem Tag wurden die Rus bis ins Mark gedemütigt. Arturs Getreue schafften ihren Anführer aus der Innenstadt heraus und versteckten ihn in der Wohnung eines Mitstreiters. Beinahe hätte ihn die Polizei in die Finger bekommen.
Orel wurde letztendlich zu einer weiteren, schweren Niederlage für die Freiheitsbewegung. Die übermütigen Kollektivisten suchten die Stadt bis in die Nacht hinein nach ihren Gegnern ab und schlugen jeden zusammen, den sie für einen Rus hielten. Es gab an diesem Tag etwa 60 Tote und Schwerverletzte. Der Feind triumphierte.
Alf war nicht mit nach Orel gekommen. Er hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt und Kohlhaas, der sich abgehetzt und verunsichert nach Grondo durchgeschlagen hatte, konnte ihm jetzt nur noch Recht geben. Tschistokjow selbst kehrte bei Nacht und Nebel nach Weißrussland zurück und verkroch sich dort. Die Medien überschütteten ihn mit Häme und Spott und erklärten, dass die Weltregierung mit ihm und seinem Haufen bald Schluss machen würde. „Tschistokjow und seine Leute sind am Ende angelangt!“, frohlockte der New York Star am nächsten Tag.
Frustriert und verzweifelt hatte sich der Anführer der Rus heute in einen unscheinbaren Raum im hintersten Winkel des Präsidentenpalastes von Minsk zurückgezogen und die Tür hinter sich verschlossen. Er wollte in diesen Stunden niemanden sehen und selbst Wilden hatte er wieder ausgeladen. Leise wimmernd sank der blonde Mann an der Wand herunter und hielt sich den Kopf. Wie zerschlagen, als Häufchen Elend, kauerte er in der Ecke des Raumes und erschien aller Hoffnung beraubt.
Der Versuch, in Orel ein Bein auf den Boden zu bekommen, war grandios gescheitert. Am meisten schmerzte ihn aber die Tatsache, dass so viele Bürger seinen Leuten und ihm nur noch Spott und Hohn entgegen gebracht hatten. Man hatte ihn beschimpft und verlacht. Seine Gegner und die Polizei hatten die Rus innerhalb kürzester Zeit aufgerieben und durch die Stadt gejagt. Anschließend waren sie wie räudige Hunde durch die Gassen geprügelt worden.
Er hatte gerufen, doch war nicht mehr vom Volk erhört worden. Das folgte nämlich jetzt Uljanin und seinen Kollektivisten, die wieder einmal triumphierend durch die Straßen gezogen waren. Der Rebellenführer war furchtbar niedergeschlagen und machte den Eindruck, als hätte ihn seine schon fast sprichwörtliche Zuversicht nun endgültig verlassen. So hätten ihn seine langsam ebenfalls demoralisierten Männer niemals sehen dürfen. Zweifelnd und jammernd hockte er einsam auf dem Boden und gestand sich ein, dass Orel vielleicht der Anfang vom Ende gewesen war.
„Herr, wie soll ich die Diener des Teufels besiegen, wenn du meinen Glauben zerbrechen lässt?“, flüsterte er schluchzend vor sich hin.
Bittere Tränen füllten seine sonst so strahlenden Augen. Tschistokjow wusste keinen Ausweg mehr und versank in einem dunklen Meer des Selbstmitleids.
Vitali Uljanin war für einige Tage in den Nahen Osten geflogen und traf sich dort mit einem führenden Mitglied des Rates der 13 in einem Luxushotel. Heute Morgen waren sie durch einen wundervollen Garten mit prächtigen Ölbäumen spaziert und hatten sich über die Strategien der kollektivistischen Bewegung unterhalten.
Die hohen Herren, die Weisen, schienen große Pläne mit ihm und seiner neuen Massenorganisation zu haben. Der ursprünglich aus Brooklyn in New York stammende Kollektivistenführer war begeistert.
Jetzt hatte er sich mit einem milliardenschweren Konzernboss in einer sonnendurchfluteten Suite eingefunden und wartete gespannt auf dessen weitere Ausführungen.
„Bruder Uljanin, die Spitzen unserer weltweiten Organisation und ich sind fasziniert vom schnellen Anwachsen Ihrer KVSG“, bemerkte das Ratsmitglied und lächelte.
„Das ist erst der Anfang. Ich werde den Kollektivismus zu einer stürmischen Welle ausbauen, welche die ganze Welt überspülen wird!“, erwiderte der spitzbärtige Mann.
Sein Gegenüber runzelte die Stirn und antwortete: „Warten Sie erst einmal ab. Zunächst hat der Kollektivismus die Aufgabe, die unzufriedenen Massen in Russland aufzufangen und damit ihre Kraft zu entschärfen …“
Uljanin wirkte nachdenklich. „Warum gerade Russland, Herr?“
„Warum? Nun, das kann ich Ihnen noch einmal genau erläutern. Brauchen wir den Kollektivismus in Westeuropa?“
„Ich weiß es nicht, Herr!“
„Nein, in West- und Mitteleuropa hat unsere jahrzehntelange Zersetzungsarbeit schon so sehr gefruchtet, dass sich hier keines der alten Völker mehr gegen uns erheben kann. Selbst im Falle einer schweren sozialen Krise würden sich die Reste des deutschen, englischen oder französischen Volkes nicht mehr gegen uns auflehnen können“, meinte der grauhaarige Herr.
„Vermutlich nicht …“, sagte Uljanin.
„Definitiv nicht, Bruder! Vertrauen Sie auf die Weitsicht der Weisen. Die früher einmal mächtigen und wichtigen Völker des Westens sind fest in unserer Hand. Weiterhin sind ihre alten Kulturen, ihre Wertsysteme und auch ihre ethnischen Strukturen schon so sehr zerstört, dass sie zu schwach sind, um sich noch erfolgreich wehren zu können.“
„Sicherlich haben Sie Recht, Herr!“, gab der Kollektivistenführer zurück.
„Gehen Sie davon aus“, flüsterte das Ratsmitglied und sah seinen Logenbruder mit einem sarkastischen Grinsen an.
Dann fuhr er fort: „Auf den ehemaligen Staatsgebieten der westeuropäischen Nationen sind Vielvölkerstaaten entstanden. Die Franzosen, die Deutschen, die Engländer und so weiter sind längst zu Minderheiten in ihren Großstädten geworden und sterben aus. Die vereinzelten Völkersplitter in diesen Gebieten, die wir aus aller Herren Länder dorthin gebracht haben, sind unfähig, sich zu einer gemeinsamen Front gegen uns zusammenzuschließen. In Russland ist das anders!“
Uljanin nickte. „Das russische Volk ist noch nicht ganz vernichtet. Seine Kultur ist nach wie vor stark und der Patriotismus vielfach noch bei den Einwohnern vorhanden!“
Der ältere Herr in dem schwarzen Anzug hob den Zeigefinger und riss die Augen auf: „Richtig! Das haben Sie genau erkannt und hier hat der Kollektivismus seine Arbeit zu leisten. Die brutale Gewalt der kollektivistischen Revolution soll das russische Volk, das letzte Volk Europas, welches uns noch gefährlich werden kann, mitsamt seiner kulturellen und ethnischen Substanz endgültig zu Boden schlagen.
Sie soll mit Flamme und Schwert die Reste des alten Russlands auslöschen, sie soll den letzten Besitz, den die Russen noch ihr Eigen nennen, in unsere Hände überführen.
Wenn das gelungen ist, dann können Sie das kollektivistische Modell auch auf andere Länder ausdehnen. Beispielsweise auf China oder vielleicht auch Indien. Die Weisen beraten noch über die weitere Vorgehensweise.“
Vitali Uljanin erschien begeistert: „Das ist großartig, Herr! Was der Kapitalismus an Zerstörungsarbeit im Sinne des großen Plans nicht geschafft hat, das soll jetzt der Kollektivismus tun!“
Das Ratsmitglied schob den Unterkiefer nach vorne und entblößte seine Zähne. Seine Augen funkelten kalt und zynisch: „Ja, genau so ist es!“
„Wir sind unseren Feinden immer einen Schritt voraus, nicht wahr, Herr?“
„Natürlich! Mit unserer Gerissenheit hat es auf Dauer noch niemand aufnehmen können. Wir messen auch dieser Freiheitsbewegung der Rus keine sonderliche Bedeutung zu. Sie ist lächerlich, klein und unbedeutend.“
Der Chef der KVSG ballte die Faust und knurrte: „Diesen Tschistokjow und seine Anhänger werde ich zerstampfen. Die Wut der Massen werde ich gegen ihn richten und dann Russlands Totenglocke läuten!“
Der Ratsbruder lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück und sprach: „So möge es sein! Läuten Sie die Totenglocke! Läuteten Sie, läuten Sie und lassen Sie ihren dumpfen Klang über Osteuropa erschallen. Läuten Sie so lange, bis alles in Trümmern liegt, bis der letzte Funken Hoffnung von den Stiefeln Ihrer Revolutionäre zertreten ist. Sie sind ein wichtiger Diener des großen Plans, Bruder Uljanin! Vergessen Sie das niemals!“
Der spitzbärtige Mann sah seinen Vorgesetzten demütig an und strich sich durch sein schütteres, dunkles Haar.
„Nein, ich bin stolz, einen so großen Beitrag leisten zu dürfen! Ich werde den Rat der Weisen nicht enttäuschen!“
„Was war denn wieder los?“, wollte Julia wissen und starrte Frank an.
„Was meinst du?“
„Bei eurer letzten Demonstration in Orel!“
Frank verzog seinen Mund. „Frag lieber nicht …“
„Eines Tages erschießen sie dich noch“, sagte die junge Frau besorgt.
„Gut möglich …“, hörte sie als lapidare Antwort.
„Na, toll! Hast du da keine Angst vor, Frank?“
Kohlhaas sah sie an: „Doch! Natürlich habe ich das. Die Sache in Orel war furchtbar und ich bin froh, dass ich halbwegs heil davon gekommen bin.“
„Und trotzdem willst du bei den nächsten Kundgebungen wieder mitmachen?“
„Ja, es wird wohl so sein. Ich bin immerhin für einen großen Teil der Ordnertrupps zuständig.“
„Kann denn Tschistokjow keinen anderen für diese Aufgabe einteilen?“
Der Rebell ließ sich auf einen Stuhl nieder und schwieg.
„Rede doch einmal mit ihm!“, forderte Julia.
Frank winkte ab. „Nein, das ist meine Aufgabe. Vielleicht haben wir ja irgendwann doch Erfolg.“
„Vielleicht, vielleicht …“ Die Tochter des Außenministers erschien nicht sehr zuversichtlich.
„Ich sehe im Fernsehen immer nur Krawalle, Verletzte und Tote!“, bemerkte sie.
Kohlhaas wirkte langsam genervt. „Mal eben die Welt befreien geht halt nicht so einfach!“
Die hübsche Blondine schüttelte den Kopf. „Die Welt befreien? Darunter geht es wohl nicht, was?“
„Es ist nun einmal wichtig, dass wir die Revolution weiter bis nach Russland tragen. Artur Tschistokjow hat es genau erklärt und ich stimme ihm bei seinen strategischen Planungen definitiv zu.“
„Das ist doch ein Kampf gegen Windmühlen, Frank. Unsere Gegner sind viel zu stark. Vielleicht sollte Tschistokjow erst einmal weiter sein eigenes Land aufbauen, bevor er versucht, sich in Russland auszubreiten“, antwortete Julia.
„Davon verstehst du nichts!“, knurrte Frank und sah die junge Frau erbost an.
„Ach, nein? Vielleicht sollte er erst einmal den Menschen helfen, bevor er wieder irgendwo kämpft!“, fügte sie verständnislos hinzu.
„Dein Vater sagt auch, dass wir weiter nach Russland hinein müssen“, erwiderte der Rebell und hob den Zeigefinger.
Julia winkte ab und sprach: „Mein Vater, der ist doch schon lange mit dem Kopf in den Wolken. Ich würde mir jedenfalls wünschen, wenn endlich einmal Frieden wäre.“
„Ich würde mir das auch wünschen, aber es geht halt nicht!“, zischte Frank wütend.
Julia wurde jetzt ebenfalls gereizter und machte Kohlhaas weiter Vorwürfe.
„Ich glaube manchmal nicht, dass du dir auch Frieden wünschst, Frank! Du bist mit so einem Eifer dabei und …“
Der Rebell unterbrach sie barsch: „Doch! Ich will auch in Frieden leben, aber unsere Feinde werden uns nicht in Ruhe lassen! Sei doch realistisch!“
„Und wenn ihr es einmal ausnahmsweise mit Verhandlungen versuchen würdet?“, schlug sie vor.
Frank lächelte sie nur abfällig an und machte den Eindruck, als ob er sie nicht ganz ernst nähme.
„Verhandeln?“, murrte er leise. „Das kannst du ja mal ausprobieren, Julia …“
Nun stellte sich die Tochter des Außenministers zornig vor ihren Freund und sah ihm tief in die Augen. Dieser versuchte ihrem stechenden Blick auszuweichen und machte ein grimmiges Gesicht.
„Was?“, stieß Frank aus.
„Ich würde es ausprobieren!“, sagte Julia energisch.
Kohlhaas antwortete mit einem Kopfschütteln und ging davon.
„Fehlen dir jetzt die Worte, großer General?“, höhnte sie verärgert.
„Halt die Klappe und kümmere dich um deine Grundschulkinder, Mädchen! Du hast überhaupt keine Ahnung, mit wem wir es hier zu tun haben“, konterte Frank.
„Ja, geh nur, großer Held! Auf zu neuen heroischen Taten! Ich verspreche dir auch, dass ich ab und zu nach deinem Grab sehen werde, General!“, schrie Julia.
Kohlhaas würdigte sie keines Blickes mehr und ließ sie einfach stehen. Die Tochter des Dorfchefs starrte ihm schweigend hinterher, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Frank kehrte Ende Januar wieder nach Minsk zurück und hörte sich Tschistokjows Pläne für die Zukunft an. Laut dem Rebellenführer, der sich wieder halbwegs gefasst hatte, gab es für sie alle keine andere Möglichkeit, als weiter zu machen und mit Mühe und viel Überzeugungskraft konnte der weißrussische Agitator seine Getreuen in Russland und der Ukraine dazu bewegen, den politischen Kampf fortzuführen.
Sergej Spehar, das Oberhaupt der Freiheitsbewegung der Rus in Russland war vor einer Woche von Kollektivisten überfallen und fast totgeschlagen worden. Jetzt lag er auf der Intensivstation in einem Smolensker Krankenhaus. Die Behörden warteten darauf, dass er wieder gesund wurde, um ihm den Prozess wegen „illegaler, politischer Aktivitäten“ zu machen. Monatelang waren sie hinter ihm her gewesen. Nun hatten sie ihn endlich dingfest gemacht und auf den Dissidenten wartete mit großer Wahrscheinlichkeit das Todesurteil.
Tschistokjow bestimmte Andrej Luschenko, einen arbeitslosen und äußerst fanatischen Akademiker, zu seinem Nachfolger.
Doch die Ausbreitung in Russland ging nach wie vor nur äußerst schleppend voran und die Zahl der Anhänger der Freiheitsbewegung nahm Anfang 2037 sogar leicht ab.
Tschistokjows Mitstreiter traten nur noch in den Kleinstädten und Dörfern öffentlich auf und beschränkten ihre Aktivitäten lediglich auf den westrussischen Teil. In den Großstädten konnten sie noch immer kaum Boden gewinnen und liefen jederzeit Gefahr, von den Kollektivisten angegriffen zu werden.
Die Mächtigen sahen zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass mehr, die Rus noch übermäßig hart zu bekämpfen. Kollektivistische Gruppen versuchten sich jetzt sogar in Weißrussland, Litauen und Lettland im Untergrund auszubreiten. Peter Ulljewski und seine Männer hoben fast jede Woche geheime Zirkel von ihnen aus und bekämpften sie unerbittlich.
Glücklicherweise eröffneten sich im Frühjahr 2037 neue Konfliktherde, welche die Aufmerksamkeit der Weltregierung auf sich zogen. In Bolivien gelang es rebellischen Gruppen beinahe, die Vasallenregierung zu stürzen, in Palästina nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und einheimischen Arabern in größerem Maße zu und im Iran waren die Freischärler noch immer nicht ganz besiegt.
So wurde der Militärschlag gegen Weißrussland durch den Weltverbund erneut vertagt, da man Tschistokjows Untergang allein durch die kommende kollektivistische Revolution als sicher ansah.
In China und Indien verbreitete sich die Lehre Mardochows nun auch mit rasender Geschwindigkeit und bereits im Februar hatte sich dort eine aufstrebende kollektivistische Bewegung gebildet.
Uljanin führte derweil weiter Massendemonstrationen durch und riesige Menschenmengen mit schwarz-roten Fahnen, den Farben der Kollektivisten, wälzten sich durch die Straßen der russischen Städte. Die Medien unterstützten die KVSG nach Leibeskräften und berichteten fast jeden Tag über ihre neuesten Forderungen und Aktionen.
„Wir werden alle unsere Kräfte auf Estland konzentrieren. Wenn wir nicht bald Erfolgsmeldungen vorweisen können, dann schläft unsere Revolution endgültig ein“, erklärte der weißrussische Präsident.
„Aber was ist, wenn die Sache noch einmal schief geht? Du hast doch Erfolge, hier in Weißrussland. Das Volk ist sehr zufrieden mit deiner Aufbauarbeit“, erwiderte Peter Ulljewski.
„Wir können uns hier auf Dauer keine sichere Burg schaffen. Dafür sind wir einfach zu schwach und unser Land zu klein, auch wenn uns Japan Waffen liefert und die Bürger glücklich sind!“, knurrte der Anführer der Rus verbittert.
Artur Tschistokjow tigerte zerknirscht durch seine Wohnung und überlegte.
„Mitte März muss Estland fallen!“, rief er und schlug mit seiner Faust auf den Wohnzimmertisch. „Ich möchte, dass wir alles mobilisieren, was noch kriechen kann. Die Aktion muss innerhalb eines Tages erfolgreich sein!“
„Unsere Leute vor Ort werden morgen mit den Vorbereitungen anfangen. Ich sage den Männern in Tallinn Bescheid“, gab Peter zu verstehen.
„Die Esten müssten doch langsam begriffen haben, dass es unserem Volk mittlerweile wesentlich besser geht als ihnen!“, sagte Tschistokjow mit einem Anflug von Ungeduld und Wut.
Peter Ulljewski nickte und verabschiedete sich. Er gab noch am selben Tag einige wichtige Informationen an seine Mitstreiter in Estland weiter und ein neuer Ansturm wurde vorbereitet.
Frank, Alfred, Sven und viele andere machten sich daraufhin auf den Weg ins nördliche Baltikum und unterstützten die dortigen Rus bei ihren Werbeaktionen. Sie führten kleinere Kundgebungen in einigen Dörfern durch und verteilten wieder einmal unzählige Flugschriften.
Ende Februar zogen etwa 8000 Demonstranten durch den Süden von Tartus und überrumpelten die örtlichen Sicherheitskräfte. Nur wenige Kollektivisten tauchten an diesem Tag auf und zogen sich schnell wieder zurück, als die Rus Anstalten machten, sie anzugreifen.
Dann war es soweit: Die Freiheitsbewegung der Rus und der weißrussische Staat mobilisierte alles, was möglich war, und setzte zum Sturm auf den baltischen Zwergstaat im Norden an.
Mehrere Tausend bewaffnete Ordner drangen im Morgengrauen in den Süden Estlands vor und besetzten wichtige Knotenpunkte und Gebäude in Tartu. Die dortige Gruppe der Freiheitsbewegung der Rus führte daraufhin einen Protestmarsch durch die Innenstadt durch, wobei sich ihnen auch zahlreiche estische Polizisten und viele Tausend Bürger anschlossen. Nennenswerter Widerstand formierte sich hier nicht.
In Tallinn, der größten Stadt Estlands, sah das schon anders aus. Polizeitrupps und eine kleine GCF-Streitmacht lieferten sich in den Vororten Schießereien mit Tschistokjows Ordnertrupps und versuchten diese am Betreten der Großstadt zu hindern. Bald jedoch mussten sie sich zurückziehen und flüchteten bis zum Hauptverwaltungsgebäude.
Der Anführer der Rus und seine Mitstreiter rückten daraufhin mit Verbissenheit weiter vor. Fahnenschwingend zog eine große Anzahl von Aufständischen gegen Mittag durch die Straßen von Tallinn und versammelte sich auf dem Rathausplatz. Innerhalb weniger Stunden war die Menge auf mehrere Zehntausend Menschen angeschwollen und Artur Tschistokjow beschwor die Ablösung der estischen Vasallenregierung unter tosendem Beifall.
Als ihr der Rebellenführer bis 16.00 Uhr ein Rücktrittsultimatum stellte und ein von ihm organisierter Streik von Fabrikarbeitern für weiteres Chaos in der Hauptstadt sorgte, gab der Sub-Gouverneur Estlands, Lew Danilski, seine Abdankung bekannt und ließ die Ordner das Rathaus ohne Gegenwehr besetzen.
Die estische Polizei leistete daraufhin keine Gegenwehr mehr und legte die Waffen nieder. Alle GCF-Soldaten, zahlenmäßig zu gering vertreten und nun auf sich allein gestellt, zogen sich nach Finnland zurück und gaben Tallinn auf. Die Soldaten der internationalen Besatzungstruppen waren diesmal sichtlich überrumpelt worden und auch aus den umliegenden Ländern marschierten keine weiteren Truppen der Weltregierung ins Baltikum oder gar nach Weißrussland ein.
Das Oberkommando der internationalen Streitkräfte war in diesen Tagen mit anderen Dingen beschäftigt und erfuhr von den Ereignissen in Estland erst einige Zeit später.
Die Freiheitsbewegung der Rus hatte über Nacht einen wichtigen Erfolg errungen und war diesmal auch vom estischen Volk wesentlich stärker unterstützt worden als beim ersten Versuch.
Frank und seine Ordner atmeten auf. Heute hatte es kaum Blutvergießen in den Straßen gegeben und sie konnten ihren Erfolg in Tallinn ohne Blessuren feiern.
Artur Tschistokjow schlachtete die Abdankung des estischen Sub-Governeurs in bisher nie gekannter Weise aus. Über 200.000 Menschen versammelten sich zwei Tage später in Minsk, um den Sieg der Freiheitsbewegung in Estland zu feiern. Sogar der japanische Außenminister Akira Mori überbrachte eine Grußbotschaft seines Volkes. Das weißrussische Fernsehen und die Staatszeitung berichteten tagelang vom erfolgreichen „Ansturm der Revolution“. Auch in Tallinn führten die Rus eine berauschende Massenveranstaltung durch und erklärten die Befreiung des winzigen Landes zu einem überwältigenden Sieg.
Walter Vogel, ein ursprünglich aus St. Petersburg stammender Freiheitskämpfer mit deutschen Vorfahren, wurde von Tschistokjow zum neuen Statthalter Estlands gemacht. Weiterhin proklamierte der Revolutionsführer vor dem estischen Volk die Wiedergründung seines alten Staates. Allerdings wurde dieser dem von ihm neu geschaffenen Nationenbund der Rus hinzugefügt und zur Bündnistreue verpflichtet. Peter Ulljewskis Trupps stürzten sich anschließend sofort auf die wenigen kollektivistischen Gruppen im Land und machten sie unschädlich.
Hatten die internationalen Medien sich bisher eher selten mit Tschistokjow befasst, so änderte sich das mit dem politischen Umsturz in Estland nachhaltig. Die in letzter Zeit weitgehend ignorierte Freiheitsbewegung der Rus wurde nun von der weltweiten Medienwelt mit immer größerer Aufmerksamkeit bedacht.
Die internationale Presse beschimpfte Tschistokjow als „Kriegstreiber“ und „Psychopathen“ und forderte lauthals politische und militärische Gegenschläge. Sie goss einen Schwall des Hasses und der Diffamierung über dem weißrussischen Präsidenten aus und lenkte den Blick der Weltöffentlichkeit diesmal intensiv auf den neu entstandenen Nationenbund der Rus.
Bösartige Fernsehberichte beschuldigten den Anführer der Freiheitsbewegung des Massenmordes an Teilen der Bevölkerung und der aus der Versenkung geholte ehemalige Sub-Gouverneur von Weißrussland, Medschenko, behauptete sogar, dass Tschistokjow schon über 150.000 Menschen habe erschießen lassen und das weißrussische Volk brutal terrorisiere.
Selbst der Weltpräsident ließ es sich jetzt nicht nehmen, Artur Tschistokjow im Fernsehen zu drohen und versprach ihm, dass seine „antidemokratischen Machenschaften“ bald aufhören würden und sich die internationalen Streitkräfte sofort Weißrussland und dem Baltikum widmen würden, nachdem andere Krisenherde befriedet seien.
Die Freiheitsbewegung der Rus hatte mit dem Erfolg in Estland zwar lediglich ein Gebiet mit kaum 1,4 Millionen Einwohnern, nicht viel mehr als in der deutschen Großstadt Köln lebten, einnehmen können, doch hatte dies weitreichende psychologische Folgen.
Das weißrussische Volk und die Menschen im Baltikum standen nun fester denn je hinter Tschistokjow und die Reihen seiner Organisation füllten sich wieder – auch außerhalb seines Herrschaftsgebietes.
Mit gesteigerter Moral gingen seine Anhänger erneut in Russland und der Ukraine auf die Straße. In Luck, im Norden der Ukraine, zogen etwa 12.000 Rus durch die Innenstadt und setzten sich gegenüber den dortigen Kollektivisten durch. Einige kleinere Kundgebungen, beispielsweise in Nowgorod, folgten.
Kohlhaas biss sich leicht auf die Zunge und schlitzte mit einem Küchenmesser das Klebeband an der Seite des Päckchens auf. Endlich hatte er die Zeit gefunden, HOK noch einmal zu besuchen und sich die Battle Hammer Figuren, die der Informatiker für ihn im Internet ersteigert hatte, abzuholen. Wie ein kleines Kind war er mit strahlenden Augen und einem gut verpackten Karton unter dem Arm durch die Straßen von Ivas nach Hause gelaufen.
Mit einem leisen Knirschen riss der junge Mann die Verpackung auf und wühlte einen Berg Styroporkügelchen hervor, dann ertastete er einige Miniaturen aus Zinn und Plastik.
„Geil!“, stieß er aus, lachte laut und hielt einen kleinen Ork in den Händen. „Ein Eberreiter!“
Er postierte Dutzende von kleinen Miniaturen auf dem Küchentisch und murmelte gedankenverloren vor sich hin. „Ein Orkhäuptling, ein Orkschamane, Kobolde mit Speeren, Orks mit Hackebeilen …“
In Minsk hatte sich Frank Sekundenkleber und einige Farben zum Bemalen besorgt. Angesichts der Battle Hammer Armee, die hier vor ihm auf dem Tisch lag, war er sicher, dass er in den nächsten Tagen einiges zu tun hatte.
Nach etwa zwei Stunden kam Alf nach Hause und fand seinen Freund, hoch konzentriert, mit dem Pinsel in der Hand, in der Küche vor. Bäumer wunderte sich.
„Was machst du denn da?“, fragte der Hüne.
„HOK hat mir eine ganze Battle Hammer Orkhorde im Internet ersteigert. Das sind eine ganze Menge Miniaturen, aber er wird mir noch mehr besorgen“, erklärte Frank glücklich und bemalte einen grimmig dreinschauenden Troll aus Zinn.
„Was? Was ist denn das für ein Zeug?“ Alf stutzte.
„Battle Hammer! Kennst du das nicht?“, erwiderte Kohlhaas.
„Nein! Ich spiele nicht mit kleinen Figuren. Bin doch nicht im Kindergarten“, spottete der Mitbewohner.
„Das ist kein Kinderspiel, sondern ein hoch komplexes Strategiespiel. Einfach nur geil. Das habe ich früher in Berlin oft gespielt“, verteidigte sich der Bastler.
„Jetzt räum mal den Krempel vom Tisch. Ich will was essen!“ Bäumer schob einen Haufen Kobolde zur Seite.
„Vorsichtig! Sonst brechen die Schilde ab, die habe ich eben erst angeklebt!“, murrte Frank.
„Guck, mal! Ein Lindwurm für meinen Orkhäuptling. Der kann auf ihm reiten oder auch zu Fuß gehen …“
Alf bekam ein geflügeltes Monster aus Zinn unter die Nase gehalten.
„Na, toll!“, gab dieser nur zurück und verdrehte die Augen.
Frank ließ sich nicht beirren. Bis in die Nacht hinein bemalte er seine neuen Battle Hammer Figuren und schlief erst in den frühen Morgenstunden ein.
Am nächsten Tag bereiteten HOK und Frank wieder eine große Schlacht mit ihren Miniaturen vor. Diesmal spielten sie die Science-Fiction-Version von Battle Hammer. Der korpulente und leicht verschrobene Informatiker hatte einen neuen Spieltisch mit tollem Gelände gebastelt und darauf zwei liebevoll gestaltete Armeen postiert. Für die nächsten Stunden wollten die beiden Spieler ihre strategischen Fähigkeiten miteinander messen. Frank befehligte eine Horde außerirdischer Monster und HOK spielte erneut eine Streitmacht aus Menschen.
„Die Lasergewehre von diesem Trupp schießen auf deinen Riesenkäfer!“, erklärte HOK und richtete seinen dicken Zeigefinger auf eine größere Zinnminiatur. Dann würfelte der Cyber-Freak. „Ha! 6 Treffer! Vier Lebenspunkte weg! Das dicke Vieh ist platt!“
„Mist!“, zischte Frank und entfernte den Riesenkäfer vom Tisch.
Jetzt war er am Zug. Zahllose kleinere Modelle wurden in Richtung von HOKs Menschen bewegt und lieferten sich einige Nahkämpfe. Allerdings war das Würfelglück heute erneut nicht ganz auf Franks Seite.
„Die kleinen Krabbelkreaturen treffen ja gar nichts!“, schimpfte er.
„Ja, so ein Pech aber auch“, kam von HOK.
So ging es noch eine Weile weiter. Letztendlich gelang es dem Informatiker seinen Gegenspieler noch einmal zu besiegen und der füllige Mann stieß einen lauten Jubelschrei aus.
„Ich habe aber auch mal wieder nur Mist gewürfelt!“, erklärte der Verlierer des Spiels.
„Wohl wahr, Frank!“
„Was soll’s …“
„Du hättest mit dem Riesenkäfer und dem Schwarmkönig meine Panzer angreifen sollen“, dozierte HOK.
„Ist ja egal. Es hat auf jeden Fall wieder Spaß gemacht. Wie spät ist es denn?“
„Wir haben 18.13 Uhr!“
Frank riss die Augen auf. „Was? So spät schon?“
„Ja, du wolltest doch heute eine große Schlacht machen!“
„Ersteigere mir noch ein paar Orks im Internet, HOK. Alles, was du kriegen kannst. Das Geld gebe ich dir dann. Ich muss jetzt los!“, rief Frank hektisch.
„Hast du noch etwas vor?“
„Ja, ich wollte mich um 17.30 Uhr mit Julia treffen. Wir hatten eigentlich vor, in Steffens Cafe essen zu gehen.“
„Ei, ei, ei!“ HOK winkte mit seiner speckigen Hand, als ob er sich verbrannt hätte.
Kohlhaas hastete durch das Dorf und erreichte das Haus der Familie Wilden nach einigen Minuten. Mit einem vielsagenden Blick öffnete ihm Julia die Tür und räusperte sich.
„Tut mir wirklich leid, aber das hat sich alles so lange hingezogen. Mein Riesenkäfer ist schon in der zweiten Runde draufgegangen und dann hat HOK …“, stammelte Frank verwirrt.
Julia verzog ihren Mund und schüttelte den Kopf. „Riesenkäfer?“
„Ja, hätte er noch länger ausgehalten, dann wäre es anders gelaufen. Die kleinen Krabbelkreaturen haben allerdings auch nichts gebracht!“
„Habt ihr eine Insektenplage im Garten oder wie?“, fragte die junge Frau und war verwundert.
„Nein! Wir haben Battle Hammer gespielt. Normalerweise habe ich Orks, aber heute habe ich mal die „Hyperraum Termiten“ bei Space Battle Hammer ausprobiert“, versuchte Kohlhaas der hübschen Frau zu erläutern.
„Und deshalb bist du zu spät gekommen?“, kam von Julia.
„Ja, also …“
„Riesenkäfer? Termiten?“, murrte die Schönheit, winkte ab und fasste sich an den Kopf. „Und die sind dir wichtiger als ich?“
Frank stutzte. „Nein, natürlich nicht! Tut mir echt leid, ich habe nur einfach die Uhrzeit vergessen.“
Die blonde Frau musterte Kohlhaas eingeschnappt. „Männer!“, stöhnte sie.