Am folgenden Tag wusste Frank Kohlhaas, was die Warägergarde war, nämlich eine von Artur Tschistokjow und Peter Ulljewski neu geschaffene Eliteeinheit der Volksarmee der Rus, sie bestand aus 1000 Mann.
Die besten und fanatischsten Kämpfer aus Weißrussland und dem Baltikum waren in ihr zusammengefasst worden und nun sollte ausgerechnet Frank sie anführen.
Die Männer hatten sich in Reih und Glied auf dem Hof der größten Kaserne von Minsk versammelt und warteten schon auf ihn. Früh morgens hatte man Kohlhaas zu ihnen gebracht. Der General sprang aus einem Armeejeep und musterte lächelnd seine Untergebenen.
Viele von ihnen kannte er, denn sie waren ihm schon früher als Ordner unterstellt gewesen. Die hochgewachsenen Soldaten gaben ihm ein Lächeln zurück und standen stramm.
„Ja priwjestowaju was, Soldati!“, brüllte Frank.
„Mej priwjestowajem wüj, General Gollchaas!“, riefen die Kämpfer zurück.
Frank grinste. „Chorochow!“
Der General und seine Männer machten sich noch am gleichen Tag auf den Weg nach Pskov, einer russischen Stadt nahe der Grenze zu Lettland, wo sich bereits eine große Masse von Rus am Stadtrand versammelt hatte. Artur Tschistokjow selbst führte den wachsenden Demonstrationszug bis vor das Rathaus. Viele Bürger schlossen sich ihm an und nach einigen Stunden war die Menge auf etwa 30000 Menschen angeschwollen.
Franks Truppe kam auf Lastwagen von Süden her in die Stadt und jagte einige Haufen verdutzter KKG-Männer in die Flucht. In der Nähe des Stadtzentrums wurden die Waräger kurz darauf von einigen Kollektivisten beschossen. Sie hielten an und gingen sofort auf ihre Gegner los. Nach wenigen Minuten flüchteten diese direkt in die Arme der Männer auf den nachfolgenden Transportern. Schüsse knallten, zwei Dutzend Kollektivisten wurden niedergestreckt, der Rest rannte davon.
Die örtlichen Ordnungshüter waren auf den blitzartigen Vorstoß vollkommen unvorbereitet gewesen und hatten offenbar auch keine Lust, jetzt auch noch gegen Tschistokjows Leute zu kämpfen. So wurde die Polizeistation der Stadt problemlos besetzt und die überrumpelten Beamten entwaffnet. Schließlich rückte Tschistokjow unter dem Jubel seiner Mitstreiter ins Rathaus ein und verkündete die Befreiung der Stadt.
Sämtliche Ortschaften zwischen Pskov und Velikie Luki waren zeitgleich von den Rus besetzt worden und Peter Ulljewskis Männer begannen sofort mit der Verhaftung der kollektivistischen Anführer in dieser Region.
In Velikie Luki war hingegen das Chaos ausgebrochen. Einige KKG-Trupps und der örtliche kollektivistische Verband bereiteten gerade selbst ihre Einnahme der Stadt vor, als sie, nur einen Tag nach dem Vorstoß nach Pskov, von den Rus überrascht wurden.
Die verunsicherten KKG-Männer errichteten hastig Barrikaden in der Innenstadt, doch Franks motorisierte Warägergarde umzingelte sie und zwang sie zur Aufgabe.
Mehrere tausend bewaffnete Ordner zogen anschließend durch die Straßen und Tschistokjow folgte ihnen. Die meisten Polizisten schlossen sich ihnen an und waren sogar dankbar dafür, dass sie mit den Kollektivisten aufgeräumt hatten. Letztendlich versammelten sich die Rus vor dem zentralen Verwaltungsgebäude und besetzten es. Alfred Bäumer kam an der Spitze eines bewaffneten Haufens in grauen Hemden herangelaufen und begrüßte seinen besten Freund mit lautem Rufen: „Frank! Du hättest mir mal Bescheid sagen können, wann es losgeht!“
Kohlhaas sprang aus dem Lastwagen und fiel Alf in die Arme. „Mensch, Alter! Du bist auch hier?“
Bäumer grinste hämisch. „Klar, du glaubst doch nicht, dass mich Wilden in Ruhe gelassen hätte. Keine Revolution ohne Onkel Alf!“
„Wir haben es geschafft! Velikie Luki ist jetzt auch in unserer Hand!“ Kohlhaas reckte siegesgewiss die Fäuste gen Himmel.
„Demnächst bin ich auch bei eurer mobilen Truppe dabei. Das kannst du Artur sagen!“, bemerkte Alf und wirkte etwas eifersüchtig.
„Da wird er nichts gegen haben. Immerhin weiß er ja, was du drauf hast“, erwiderte der General.
„Ja, das hoffe ich auch. Ich kann es mit jedem Russen dort auf den Lastwagen locker aufnehmen“, tönte Bäumer und knuffte seinen Freund in die Seite.
„Na, dann, Herr Bäumer! Willkommen in der Warägergarde, den Besten der Besten!“, tönte Kohlhaas und sprang mit Alf auf die Ladefläche des Fahrzeugs.
Sie brausten mit dröhnenden Motoren davon, während die übrigen Rus singend durch die Stadt marschierten und anschließend Tschistokjows Rede lauschten.
Die Lastwagenkolonne fuhr an diesem Tag noch durch eine Reihe von Ortschaften und jagte kleinere kollektivistische Grüppchen durch die Straßen. Eine Drachenkopffahne hing von jedem der Lastwagen herab und zahlreiche Einwohner begrüßten die Waräger mit zustimmendem Jubel.
Während die öffentliche Ordnung in Russland weiter vor sich hin zerbröckelte, setzten sich die Rus auch in den umliegenden Ortschaften rund um Smolensk durch. In Pocinok wurden drei von ihnen Ende August von den Kollektivsten erschossen. Einige Hundert Rus zogen daraufhin wütend durch die Ortschaft und suchten sie nach den Tätern ab. Sie stürmten das Haus des örtlichen Kollektivistenchefs und erschlugen ihn. Anschließend erschossen sie noch acht junge Männer, die ihnen von den eingeschüchterten Bewohnern ebenfalls als Mitglieder der KVSG genannt worden waren.
Artur Tschistokjow wies seine Leute daraufhin energisch zurecht und geriet mit einigen seiner Funktionäre in Streit, da jene diesen brutalen Gegenschlag befürwortet hatten.
Nachdem sie das Umland unter ihre Kontrolle gebracht hatten, begaben sie sich am 5. September nach Smolensk. Hier hatten sie bereits früher eine schwere Schlappe erlitten, doch diesmal waren sie besser vorbereitet.
„Glaub mir, die Kollektivisten sind hier im Westen Russlands noch nicht so stark wie rund um Moskau oder vor dem Uralgebirge. Hier befindet sich die KVSG noch im Aufbau und Uljanin ist heute auch nicht da“, bemerkte Frank zuversichtlich und strich sich über seinen verdreckten Uniformmantel.
Alf wirkte nervös und sein Freund klopfte ihm auf die Schulter. „Mach dich nicht verrückt. Diesmal ist es anders“, sagte er ruhig.
Ihr Lastwagen brauste durch die Morgendämmerung und ihm folgte eine ganze Kolonne. Mehrere tausend Rus bewegten sich strahlenförmig auf Smolensk zu. Eine Atmosphäre bitterer Aufgewühltheit war heute über die Straßen der Großstadt gekommen. Irgendwo hatten sich auch die Kollektivisten und die Polizei postiert. Sogar GCF-Trupps waren, wenn auch nicht in großer Zahl, eilig nach Smolensk gerufen worden. Diesmal wurde es ernst. Manche Menschen hasteten verängstigt durch die Gassen, als sie die Lastwagen mit den Drachenkopffahnen an sich vorbeidonnern sahen, andere grüßten freundlich und ein paar junge Mädchen warfen sogar Blumen aus den Fenstern.
An einigen Häusern im Stadtzentrum hingen Russland- und Drachenkopffahnen, an anderen jedoch die schwarz-rote Flagge des Kollektivismus. Die stickige Luft des heutigen Tages verhieß eine Entladung in Rauch und Tod. Franks Handy klingelte, es war Artur Tschistokjow.
„Aha? Wir werden sehen!“, hörte ihn Alf nur nach einer halben Minute sagen, dann drückte Kohlhaas den Anruf weg.
„Einige Hundert GCF-Soldaten sind auch vor Ort – in der Innenstadt. Sie haben sogar ein paar Panzerwagen dabei“, erklärte Frank.
„Panzerwagen?“, stammelte Alf und schluckte.
„Ja, aber wir haben etwas dagegen!“, antwortete Kohlhaas und starrte über die Straße.
Tschistokjows Anhängerschaft schwoll auf fast 20.000 Menschen an. Viele Männer und Frauen mit Russlandfahnen in den Händen stießen von den Bürgersteigen zu ihnen.
Um 9.00 Uhr morgens hatten sich etwa 20.000 Rus im Südviertel und etwa 17.000 im Osten von Smolensk versammelt. Artur führte selbst eine der Gruppen an. Laut brüllend und singend zogen die Demonstranten durch die Gassen, während sich die Warägergarde jedoch von ihnen fernhielt und unabhängig operierte. Die Lastwagenkolonne stoppte kurz und Franks Männer suchten die Straßen nach Gegnern ab. Dann fuhren sie weiter in Richtung Innenstadt, wo sie sofort auf Uljanins Anhänger stießen.
„Da sind die Schweine!“, grollte Kohlhaas. „Dawaj! Dawaj!“
Die Waräger sprangen von ihren Lastwagen und erblickten einige hundert Kollektivsten, die Beschimpfungen schrieen und wüste Drohungen ausstießen. Kohlhaas gab per Funk einige Befehle durch und drei der Lastwagen brausten durch eine Seitenstraße davon.
„Wir nehmen das Saupack in die Zange!“, bellte er Alf entgegen.
Nur Sekunden später prasselten Pflastersteine gegen die Front ihres Lastwagens und ein Schuss schnitt durch die Luft. Mit einem lauten Klirren zerbarst die Windschutzscheibe des LKWs und noch mehr Schüsse folgten.
„Runter!“
Bäumer hechtete hinter das Fahrzeug. Frank und einige Männer folgen ihm.
„Dreckiger Rus-Abschaum! Heute machen wir euch fertig!“, grölten ihnen die Kollektivisten entgegen. Jetzt flogen ganze Wolken von Pflastersteinen durch die Luft und ein Molotow-Cocktail erwischte einen der Lastwagen, dessen Vorderseite sofort in Flammen aufging.
„Warum schießen wir nicht zurück?“, schrie Alf.
„Warte, die anderen kommen gleich!“, gab ihm Frank zu verstehen und lud sein Gewehr durch.
Drei Lastwagen hielten nur Minuten später mit quietschenden Reifen im Rücken des kollektivistischen Mobs an und die Gegner verstummten für einen kurzen Moment.
„Nastuplänje!“, brüllte Frank aus voller Kehle und die Waräger sprangen von den Ladeflächen, um hinter den Fahrzeugen hervorzustürmen.
Ein Kugelhagel aus Schnellfeuerwaffen hämmerte in den Haufen der überraschten Feinde und mehrere von ihnen brachen zusammen.
Laut schreiend stoben die Kollektivsten auseinander und flüchteten in alle Richtungen. Frank und die anderen trieben einige direkt in die Arme der Rus in ihrem Rücken, die sie mit ihren Maschinenpistolen niedermachten. Einen Augenblick später waren die Feinde aufgerieben und suchten das Weite. Keuchende Verwundete und mehrere Tote blieben in Blutlachen liegend auf dem Asphalt zurück.
Franks und Alf hasteten mit versteinerten Gesichtern vorwärts. Ein Russe kam heran. „Was jetzt, General?“
Kohlhaas sah ihn mit kampfeslustigem Blick an, hob sein Gewehr in die Luft und befahl seinen Soldaten wieder in die Lastwagen zu steigen.
Sie fuhren weiter durch einige menschenleere Straßen und näherten sich dem Zentrum von Smolensk. Eine laut schreiende Menge mit Drachenkopffahnen wälzte sich durch die Gasse vor ihnen, diesmal waren es die eigenen Mitstreiter. Die demonstrierenden Rus jubelten, als sie die Waräger erblickten und machten den Lastwagen ehrfürchtig Platz. Hupend brausten diese weiter.
Nach einer Weile hatten sich etwa 40.000 Menschen im Zentrum von Smolensk vereint und die GCF-Soldaten rückten vor, sobald sie die Masse ankommen sahen. Ihnen folgten Tausende von Kollektivisten und einige Trupps bewaffnete KKG-Männer.
„Hier sind wir jetzt!“ Alf arbeitete sich durch den Stadtplan auf seinem DC-Stick.
„Gut, wir greifen sofort an! Zuerst die GCF-Truppen!“, knurrte Kohlhaas und fummelte aufgeregt an den Knöpfen seiner Uniformjacke herum.
Lautes Gebrüll erschallte derweil aus der linken Nebenstraße, doch die Lastwagenkolonne sauste weiter und brach durch eine Polizeisperre. Die Beamten sprangen zur Seite und warfen sich auf den Boden.
„Wir kommen durch den Novo Park, über die Flanke!“
General Kohlhaas gab einige Funksprüche durch, dann rasten die Transportfahrzeuge durch eine verwahrloste Grünanlage. Die Menschenmenge war in Sichtweite gelangt.
„Runter von den Wagen!“, schrie Alf und winkte einige junge Russen zu sich. Die 1.000 Elitekrieger rannten los und postierten sich unweit der GCF-Soldaten, die aufgrund des plötzlichen Erscheinens der Waräger verunsichert zu sein schienen.
„Feuer!“, brüllte Frank und sie knallten los.
Wie mit einer gewaltigen Sense wurden Dutzende von GCF-Soldaten auf einen Schlag dahingemäht, noch bevor sie richtig in Deckung gegangen waren. Der Gegner versuchte sich nun zurückzuziehen, doch die Waräger setzten ihm grimmig nach und richteten ein Blutbad an.
Dann fielen sie über die Masse der Kollektivisten her, die bereits begonnen hatte, den Demonstrationszug der Rus vor sich anzugreifen.
Frank und Alf schossen ein Magazin nach dem anderen leer, schleuderten Handgranaten in die Menge und wüteten wie von Sinnen. Die anderen Waräger taten es ihnen gleich und innerhalb kürzester Zeit waren die Kollektivisten und GCF-Soldaten zurückgeschlagen worden.
Wild flohen sie durch die Gassen und ließen ihre schwarz-roten Fahnen zu Boden fallen, während die Freiheitskämpfer der Rus mit brennendem Hass die Verfolgung aufnahmen. Mit Knüppeln, Eisenstangen, Äxten und Gewehren droschen und schossen sie die Schwärme der Flüchtenden zusammen.
Nach kaum zwei Stunden hatten sie die mit zahlreichen Toten und Verwundeten bedeckten Straßen der Innenstadt in ihre Gewalt gebracht. Wenig später besetzten die bewaffneten Ordnertrupps das Rathaus und andere wichtige Gebäude der Stadt, um anschließend jubelnd durch Smolensk zu ziehen. Artur Tschistokjow selbst hatte ein derartiges Blutvergießen bisher nur in Gomel erlebt. Heute hatten jedenfalls seine Rus gesiegt.
Der Einsatz der Waräger hatte wie ein gezielter Hammerschlag gesessen. Weder die Kollektivisten noch die GCF-Soldaten hatten dem Ansturm der 1000 bestens ausgebildeten und hoch motivierten Elitesoldaten Tschistokjows in Smolensk widerstehen können.
Der Gegner musste schwere Verluste beklagen. Etwa 80 GCF-Soldaten waren getötet worden und um die 500 Kollektivisten. Peter Ulljewskis Truppe begann noch am gleichen Tag mit Verhaftungen, besetzte das KVSG-Hauptquartier der Stadt und ließ einige gegnerische Funktionäre aufhängen.
Smolensk hatte die Vorstufe zum Bürgerkrieg erlebt und die brutale Vorgehensweise der Rus, die den kollektivistischen Methoden diesmal durchaus gleichgekommen war, entsetzte Tschistokjows Rivalen im westlichen Teil Russlands erheblich.
Doch Uljanins Bewegung hatte sich ansonsten unbeirrt nach Westen vorgearbeitet und ihre Anhänger entfalteten auch weiterhin eine ungezügelte Aggression. Im Norden Moskaus, etwa in Vologda und Kostroma, fielen seine bewaffneten Trupps über die Polizisten her und schlugen in tagelangen Straßenkämpfen alles kurz und klein.
Die kollektivistische Rebellion breitete sich nun auch entlang der Wolga aus. Massendemonstrationen fegten Anfang September durch Uljanovsk und Syzran. Einige Tage später hatten die Aufständischen die Macht an sich gerissen. Vitali Uljanin kam wenig später auch nach Balakovo und redete vor über 100000 Menschen. Niemand stellte sich seinen Leuten hier in den Weg, als sie die Stadt besetzten und alle auf offener Straße erschlugen, die sie für „Feinde der Gerechtigkeit“ hielten.
Die internationalen Medien berichteten mit verhaltenem Protest über die Ereignisse und begannen die Methoden der KVSG zu rechtfertigen und schön zu reden. Nur bezüglich der Rus fanden sie wieder die üblichen Worte. Sie sprachen von „Terroristen“ und „Mördern“.
Als nächstes wurde Zarizyn zur Bühne der kollektivistischen Revoluzzer. Ohne jeden Widerstand konnten sich die schwarz-roten Trupps über die Stadt ergießen und die Kontrolle an sich reißen.
Uljanins Revolution breitete sich schließlich bis zum Schwarzen Meer aus und kam dann nach Rostov, wo KKG-Verbände einrückten und den Straßenterror brachten. In der strategisch wichtigen Küstenstadt wüteten sie besonders schlimm und gingen voller Hass auf die zur Zurückhaltung verdammte Polizei und vermeintliche politische Gegner los. Innerhalb eines einzigen Tages gab es mehrere hundert Tote und Verletzte. Ende September war die kollektivistische Woge schon bis an die ukrainische Grenze und vor die Tore Moskaus geschwappt.
Die Rus hatten sich ihrerseits inzwischen auch in Brjansk festgesetzt und ihre Gegner aus der Stadt vertrieben. Frank und zahllose andere Kämpfer trugen die Drachenkopffahnen jetzt weiter nach Süden und nahmen mehrere kleinere Ortschaften ein.
Anfang Oktober rückten einige Regimenter der Volksarmee der Rus in Klincy und die umliegenden Dörfer ein. Tschistokjows Anhänger setzten ihren Vorstoß schließlich bis nach Orel und Kursk fort und der weißrussische Präsident nutzte das allgemeine Chaos und die lethargische Haltung der Sicherheitskräfte, um auch in diesen beiden Städten eine starke Position zu gewinnen.
Weiter nach Osten kamen die Rus jedoch nicht. Zu weit waren die übrigen Regionen von der sicheren Heimat entfernt und zu groß war hier bereits die Übermacht der kollektivistischen Gegner.
„In Nowgorod sind die Kollektivisten noch nicht sehr stark, ihre Hochburgen liegen in Ost- und Zentralrussland“, erläuterte Frank und schaute Artur Tschistokjow erwartungsvoll an.
„Vielleicht du hast Recht!“, gab der Rebellenführer zurück und kratzte sich am Kopf.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren. Die ländliche Region rund um Nowgorod ist sehr groß und die Kollektivisten werden Probleme haben, sie einfach zu überrennen, wenn wir uns dort vorher ausbreiten“, betonte Kohlhaas.
Der Präsident dachte nach: „Das ist gute Strategie, Frank! Wir müssen starke Stellung in St. Petersburg gewinnen, davor liegt Nowgorod!“
„Ja, genau! Und rund um Nowgorod ist ein riesiger ländlicher Raum, der sich bis nach Rybinsk erstreckt. Ihn müssen wir zuerst einnehmen!“
„Uljanin wird Macht in Moskau erringen. So oder so!“, sagte Tschistokjow verärgert.
„Ja, das wird er! Aber wir müssen den Westen Russlands erobern. Das ist alles, was wir zurzeit tun können!“
„Und dann wir breiten uns in nördliche Ukraine aus. Erst Nowgorod, dann Ukraine“, meinte das weißrussische Staatsoberhaupt.
„Die Kollektivsten werden das Gebiet rund um Donez besetzen und vermutlich auch noch weitere Regionen im Westen. Wir können es schaffen zumindest bis Kiew zu kommen, um ihnen die Stirn zu bieten“, fügte Kohlhaas hinzu und deutete auf die Landkarte.
„Kiew!“ Artur blickte ein wenig melancholisch zu seinem deutschen Mitstreiter herüber. „Da ich bin geboren. Mein Heimatstadt. In Kiew wir haben eine sehr aktive Gruppe von unsere Organisation, Frank!“
„Alle Gruppen in der Ukraine sollen sofort mit Aktionen anfangen. Demonstrieren, Flugblätter verteilen und so weiter. Wir müssen dort so viel Sympathien wie möglich gewinnen.“
Tschistokjow lächelte gequält. „Es wird Bürgerkrieg geben in Russland. Ich bin sicher. Aber wie sollen wir ihn gewinnen?“
General Kohlhaas zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht, Artur! Die Übermacht unserer Feinde ist gewaltig, aber wir müssen es trotzdem versuchen.“
„Gut, dann wir gehen zuerst nach Nowgorod. Ich verlasse mich auf dich und die Waräger“, bemerkte der Anführer der Rus und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.
Frank war glücklich, dass Alf da war. Etwa hundert Männer der Warägergarde und er schliefen heute Nacht in einer leeren Turnhalle. Wenn alles ganz still war und man nur noch das leise Atmen und Schnarchen der Soldaten hörte, kam der General manchmal ins Grübeln. Diese Nacht erschien ihm wieder einmal bedrückend. Der in den letzten Monaten, ja in den letzten Jahren, nur mit einem nie enden wollenden Kampf beschäftigte junge Mann, starrte an die brüchige Decke der Halle und ließ die Gedanken durch seinen Kopf wandern. Den Zustand des Sinnierens hatte Kohlhaas in letzter Zeit immer stärker zu unterdrücken versucht, doch in diesen Stunden gelang es ihm nicht. Seine geistigen Scheuklappen, die er sich selbst verpasst hatte, waren für einen Moment abgefallen, so dass er es diesmal nicht verhindern konnte, über sich und sein Leben nachzudenken.
Er hatte nicht zuletzt Julias Bild vor Augen und machte sich Vorwürfe, weil er sie in letzter Zeit so sträflich vernachlässigt hatte. Frank hätte sie haben können und er liebte die junge Frau aus ganzem Herzen, doch er war immer fort. Heute schlief er in Pskov, einer ihm vorher vollkommen unbekannten Stadt in Russland, und wartete darauf, mit seinen Männern in Nowgorod einzurücken. Nowgorod selbst war ihm bisher ebenfalls vollkommen fremd.
„Am Ende haben alle etwas von mir und ich habe von allen nichts“, dachte er sich und wälzte sich unruhig in seinem Schlafsack herum. Mit dieser Aussage hatte er nicht Unrecht und es schmerzte ihn, sich das eingestehen zu müssen. Am morgigen Tag wollte er Julia allerdings auf jeden Fall anrufen und freute sich schon darauf, wieder ihre Stimme zu hören.
Doch so war es bereits in Japan gewesen, als er an der Sapporo-Front gestanden hatte und so würde es immer weiter gehen, wie er fürchtete. Traurig und frustriert lag Frank da und seufzte in sich hinein. War das der Preis seines angeblichen Heldentums? War er denn überhaupt so heldenhaft, wie er manchmal glaubte? Vielleicht erwies sich schon morgen alles als Illusion, als Seifenblase, die zerplatzte und von der nichts übrig bleiben würde…
Artur Tschistokjow, der in diesen Tagen mehr Feldherr als Staatsmann war, und seine Männer nahmen Nowgorod ein. Diesmal verlief alles unblutig. Die Kollektivisten leisteten keinen Widerstand und der größte Teil der Polizisten lief zu den Rus über. Die motorisierte Elitetruppe der Waräger und die entschlossenen Ordnertrupps mit ihren Pistolen und Sturmgewehren wirkten heute abschreckend genug auf ihre Feinde. Die gewöhnlichen Bürger jubelten und erhofften sich endlich Ordnung und Frieden. Schüchtern hingen einige Russlandfahnen aus ihren Häusern und erleichterte Frauen warfen den Rus Blumensträuße zu. Ungeduldig schob sich das Volk durch die Hauptstraßen, um den Rebellenführer aus Weißrussland zu erblicken.
Vor den Kollektivisten schienen viele der Einwohner Nowgorods hingegen Angst zu haben und sahen in Tschistokjow, der schließlich vor 70.000 Menschen eine flammende Rede hielt, einen Beschützer und Befreier.
Frank und Alf atmeten am Ende dieses Tages auf. Es hatte heute keine Kämpfe gegeben und von den kollektivistischen Gegnern war nichts mehr zu sehen.
In den eingenommenen Städten Westrusslands blieben sowohl Soldaten der Volksarmee der Rus als auch Ordnertrupps zurück, um die Stellung zu halten. Ihre Führung übernahm jeweils ein von Artur Tschistokjow ausgewählter Funktionär der Freiheitsbewegung.
Die Besetzung der grenznahen Städte im Westen war ein erster Erfolg, doch angesichts der Tatsache, dass die Kollektivisten den übrigen Teil Russlands mit jedem weiteren Tag ein wenig mehr in ihre Gewalt brachten, war er kaum erwähnenswert.
Mitte Oktober kam Uljanin nach Moskau und brachte seine Leute auf Vordermann. Zahlreiche Kundgebungen und Aufmärsche, Meere von schwarz-roten Fahnen und aufgebrachte Massen erschütterten die Hauptstadt und ihre über 16 Millionen Einwohner. Gelegentlich versuchte die russische Polizei noch, entgegen ihrer Befehle von oben, die Kollektivisten in Schach zu halten und wehrte sich. So brachen in Moskau am 20. Oktober Barrikadenkämpfe aus und etwa 50000 Mitglieder der KVSG begannen auf die Polizei loszugehen. Es folgte eine wütende Auseinandersetzung, die sich bis tief in die Nacht hinzog und einige Menschenleben forderte. Nicht ein GCF-Soldat wurde zum Schutz Moskaus abgestellt und nicht ein Panzer oder Skydragon war zu sehen. Die Verbände der internationalen Streitkräfte hatten sich längst zurückgezogen und ließen die unglücklichen Polizisten, auf die jetzt die Wut der Kollektivisten herniederschlug, einfach im Stich. Letztendlich kapitulierten die Beamten vor Uljanins Anhängern und überließen seinen KKG-Trupps die Straßen der russischen Metropole.
Kuluga und Tula im Süden Moskaus wurden ebenfalls von der schwarz-roten Revolution überrannt, während sie sich auch in Moskau weiter wie ein Lauffeuer ausbreitete. Die Mitglieder der KVSG warteten jetzt nur noch auf Uljanin, der seine Machtübernahme den Massen persönlich verkünden wollte und noch bis zum 25. Oktober in Tula verweilte.
KKG-Verbände rückten derweil auch in Serpuhov und Kolomna ein und rissen die Kontrolle im gesamten Moskauer Süden an sich, schließlich folgte ihnen der Kollektivistenführer und machte sich auf den Weg in die Hauptstadt.
Am 30. Oktober besetzten die Kollektivisten den Kreml und der Gouverneur des Verwaltungssektors „Europa-Ost“, Maxim Blumenew, dankte stillschweigend ab. Uljanin ließ ihn und seinen Führungsstab in den nächsten Tagen nach Nordamerika ausreisen.
„Artur Tschistokjow – Der Retter Weißrusslands gibt auch dir Arbeit und Sicherheit!“ stand unter dem Bild des Anführers der Freiheitsbewegung, das auf die kleine Datendisk in Franks Hand gedruckt worden war. Der General betrachtete gedankenverloren das Foto des entschlossen dreinschauenden Mannes. Wer ihn ansah, konnte erahnen, welche unheimliche Kraft und Stärke in ihm liegen musste. Den Inhalt der Datendisk, wovon die Waräger Tausende in ihren Lastwagen mit sich herumfuhren, war Frank wohl bekannt. Er hatte die Texte und Bildpräsentationen unzählige Male gelesen und angesehen. Die Erfolge des Tschistokjows-Regiments wurden dem Leser vor Augen geführt, während gleichzeitig vor dem „Totengräber Russlands“, also Uljanin, und seinen Kollektivsten gewarnt wurde. Das Gleiche stand, nur etwas komprimierter, auf den Flugblättern, welche die Rus in endloser Zahl in ganz Westrussland verteilten.
Artur Tschistokjow war der „Erlöser“ und „Retter“, Uljanin der „Teufel“ und der „Agent der Logenbrüder“. Die Freiheitsbewegung wollte Russland retten, die Kollektivsten wollten es vernichten. Schwarz und Weiß, Gut und Böse – so hatte Propaganda immer funktioniert und so würde sie auch immer funktionieren, dachte sich Frank. Er selbst hatte sich Tschistokjow inzwischen verschrieben, wie ein Jünger seinem Heiland. Frank hatte für ihn getötet und warf nach wie vor sein Leben ohne Rücksicht auf das eigene Wohl für ihn in die politische Waagschale. Das Gleiche taten sein Freund Alf und die vielen Tausend anderen Rus.
„Ich kenne dich jetzt seit einigen Jahren, aber du bist mir trotzdem noch immer fremd, mein Freund“, flüsterte Frank in sich hinein und starrte Tschistokjows Foto an.
Dann sah er sich kurz um. Lediglich einige laut schwatzende Soldaten standen am anderen Ende der Lagerhalle und rauchten. Kohlhaas saß auf einem breiten Pappkarton und war froh, wenn ihn heute niemand mit irgendwelchen neuen Befehlen oder Nichtigkeiten belästigte.
„Ich vertraue dir, wie ein Kind seiner Mutter“, schoss es dem General durch den Kopf als er Tschistokjows feine und doch kantige Gesichtszüge näher betrachtete. „Enttäusche mich nicht, Artur!“
Als das Wort „Mutter“ in seinem Geist aufblitzte, musste Frank kurz an sie denken. Er hatte sie schon fast vergessen, gestand er sich schuldbewusst ein. Genau wie seinen Vater und seine Schwester, die nun schon seit einigen Jahren tot waren. Konnten sie ihn jetzt sehen? Jetzt gerade, wo er hier still in dieser grauen Lagerhalle in der Kaserne von Minsk auf einem Karton hockte? Was würde sein Vater sagen? Wie würde seine Mutter über ihn denken? Was würden die Eltern von all dem hier halten? Wollten sie einen Sohn haben, der dafür verehrt wurde, dass er gut töten konnte?
Frank kam zu keinem Ergebnis und letztendlich, so erklärte er es sich selbst, musste er allein die Verantwortung vor sich selbst und vor Gott tragen. Diese Welt war zu einem Jammertal geworden, sie hatte sich in ein riesiges Schlachtfeld verwandelt und Frank schärfte sich immer wieder ein, dass er für ein besseres Morgen kämpfte.
„Killing today, for a better tomorrow …“, murmelte Kohlhaas und entsann sich der Textzeile aus einem alten Heavy Metal Lied aus seiner Kindheit. Verstört schüttelte er den Kopf wegen seiner absurden Gedanken.
„Diese Welt hat den Verstand verloren! Du bist das einzige Leuchtfeuer in dieser Nacht aus Wahnsinn und Hass“, sprach er laut zu sich selbst und hielt sich Tschistokjows Bild vor die Augen. Er bohrte seinen Blick förmlich in das Poträt hinein und studierte akribisch jeden Gesichtszug des Rebellenführers.
„Das Gute ist, dass sich das Bild nicht verändert. Niemals kann es sich verändern, es wird immer so sein. Eine unveränderbare Größe. So muss es erhalten bleiben, ewig und unveränderbar. Genau so soll das Bild bleiben. Ja, so ist es gut und richtig“, wisperte Kohlhaas.
„Enttäusche mich nicht, Artur! Wenigstens einmal soll etwas auf diesem verfluchten Planeten wahr und unverfälscht sein …“
Der Vorsitzende der Kollektivistischen Vereinigung für soziale Gerechtigkeit blickte auf die riesige Masse herab. Er stand mitten in ihr auf einer kleinen Bühne, eingebettet in den brüllenden, schwarz-roten Menschenbrei, der an seinen Lippen hing. Der listige Mann hatte seine Aufgabe nun schon zum großen Teil erfüllt, Moskau ertrank in der von ihm entfachten Flut. Jetzt musste nur noch der Westen Russlands genommen werden. Dann ging es weiter in die Ukraine und dann bis tief nach Innerasien. Irgendwann vielleicht sogar bis nach Polen, Tschechien und letztendlich Westeuropa.
Er hoffte, dass es ihm die Mächtigen erlauben würden, den Kollektivismus noch weiter in alle Erdteile zu tragen. Doch es kam darauf an, wie die Weisen entschieden. Es musste zum großen Plan passen und musste ihm dienen. Uljanin selbst war auch lediglich ein Lakai, ein Agent, aber er hatte begonnen, seine Rolle zu lieben.
„Wir werden herrschen! Für immer! Die Völker der Erde sollen uns dienen und demütig vor uns kriechen. Wir werden sie verschlingen, mit Haut und Haar“, sagte der Kollektivistenführer leise zu sich selbst und lächelte in sich hinein.
Vor ihm schrie, brüllte und kreischte der wabernde Menschenteig und wälzte sich durch die Hauptstraßen Moskaus. „Freiheit! Gleichheit! Gerechtigkeit!“, tönte es aus Zehntausenden von Kehlen.
Der Herr der kollektivistischen Bewegung sah die Masse mit einem leichten Anflug von Verachtung an. Viele seiner Anhänger, die ihm heute zujubelten, waren verzweifelte, traurige Gestalten. Verhungerte Gesichter hatten sie, ausgemergelt, ausgepresst, unrasiert, ungewaschen, bleich und schmutzig trotteten sie seinen Befehlen hinterher.
Andere jedoch, allerdings nicht der größte Teil der kollektivistischen Masse, waren aber auch Angehörige der höheren Schichten. Viele Studenten aus besserem Hause waren unter ihnen, denn es war an der Moskauer Universität „chick“ geworden, bei den Kollektivisten zu sein und sich für die Armen einzusetzen. Sie redeten und theoretisierten gerne, rezitierten wieder und wieder die Lehren Mardochows.
Oft wurden diese frechen, selbstgerechten Jungakademiker zu Unterführern der Kollektivisten, ließen sich herab und erzählten den Verzweifelten um sich herum, wie Mardochow und Uljanin ihre Not beseitigen würden. Meistens begriffen die Ungebildeten nicht viel von dem, was ihnen gepredigt wurde, aber das Versprechen einer besseren Zukunft verstanden sie alle.
„Die Revolution hat Moskau erobert!“, rief Vitali Uljanin mit bebender Stimme und hob die Arme in die Höhe.
Tosende Zustimmung erschallte aus dem Menschenteppich um ihn herum und das Meer der schwarz-roten Fahnen wogte hin und her.
„Jetzt ist es vollbracht! Ihr werdet frei sein! Ihr werdet gleich sein! Gleichheit! Gleichheit! Gleichheit!“ Uljanin streckte die Siegerfaust wie ein Triumphator gen Himmel.
Seine Anhänger antworteten ihm mit der gleichen Geste und brüllten „Gleichheit! Gleichheit!“ zurück.
„Aber bevor ich Euch erlösen kann, meine kollektivistischen Mitkämpfer, müssen wir auch den Rest Russlands von den kapitalistischen Ausbeutern und den reaktionären Mörderbanden Tschistokjows befreien!
Diese Wanzen haben einige Städte im Westen besetzt und wir werden sie daraus verjagen! Wir werden diese Verbrecherbrut ausmerzen, mit Stumpf und Stiel! Sie ist schuld daran, dass ich euch noch nicht helfen kann! Sie ist schuld daran, wenn ihr noch immer hungern müsst und ich mein Werk der großen Gleichheit noch nicht vollbringen kann! Die Rus sind die Feinde unseres Kampfes für ein gerechtes Russland!“
Die tobende Masse antwortete mit einem hasserfüllten Getöse, schwang die Fäuste und hob Knüppel und Gewehre in die Luft.
„Wir fangen heute an, alles, was uns an der ewigen Gleichheit hindert, zu vernichten! Folgt mir, meine kollektivistischen Brüder! Folgt mir, wohin ich Euch auch führe, denn ich führe Euch in eine bessere Welt!“
Die Menschen um ihn herum verfielen in eine fiebrige Ekstase und ihre Begeisterung überschlug sich. Uljanin lächelte zufrieden auf sie herab. Wie einfach ihre Geister doch waren.